Detektiv Nobody's


Erlebnisse und Reiseabenteuer.


Nach seinen Tagebüchern bearbeitet


von


Robert Kraft.


11. Band.





I. Die Mammuthöhle von Kentucky.

»Jetzt sind Briefe für dich gekommen, Alfred, eine ganze Menge,« sagte Flederwisch noch am Abend.
Nobody nahm sie. Alle Briefe trugen einen besonderen roten Stempel, in seinem eigenen Sekretariat aufgedrückt, welcher so viel als ?gesichert? bedeutete, d. h. die noch geschlossenen Briefe waren erst im Laboratorium auf eine besondere Weise behandelt worden, um einen etwa darin vorhandenen Explosivstoff, etwa Knallquecksilber, zu zerstören.
Wir selbst sind ja einmal Zeuge geworden, wie ein Brief, als Nobody ihn öffnete, in seiner Hand explodierte, und das war später noch mehrmals vorgekommen.
Es war ein bitteres Lächeln, welches Nobodys Mund umspielte, als er wiederum dieses Zeichen der Vorsicht erblickte. Ja, man ist eben nicht umsonst ein berühmter Detektiv!
»Ich möchte, es käme einmal eine Zeit, da ich sorglos jeden Brief und jedes Paket öffnen darf,« seufzte er leise, als er an das Durchsehen der Briefe ging.
Sie schienen für ihn nichts Besonderes zu enthalten, achtlos überflog er sie und legte einen nach dem anderen beiseite.
Der vorletzte war es, bei dessen Lesen sich seiner eine Spannung bemächtigte, die sich bis zur Aufregung steigerte.
»Sehr geehrter Herr! Mephistopheles naht sich Ihnen abermals - als schwacher Mensch, der um Ihre Hilfe als Detektiv bittet. Bitte, bestimmen Sie Ort und Datum, wo und wann ich Sie sprechen kann. Wollen Sie Brief oder Telegramm postlagernd richten an das Londoner Hauptpostamt unter ?Mephisto?. Denken Sie an Australien zurück, dann werden Sie wissen, daß Sie von mir nichts zu fürchten haben, wie ich auch Ihnen vertraue.
Ihr ergebener
Viktor Sinclaire.«
Schon eine Stunde später ging aus Moskau eine Depesche ab, welche ein Berliner Hotel als Rendezvous bestimmte.
Vierundfünfzig Stunden später, nachts um zwei Uhr, stand Nobody in diesem Berliner Hotel vor der Portierloge.
»Logiert hier ein Herr Viktor Sinclaire?«
»Jawohl, mein Herr - Monsieur Viktor Sinclaire - ist gestern abend hier abgestiegen. Er hat Instruktionen gegeben, daß er Tag und Nacht zu jeder Zeit zu sprechen ist.«
»Der Erwartete bin ich.«
Ein Zimmerkellner führte Nobody hinauf, klopfte an, die drinnen auf und ab gehenden Schritte brachen ab, auf das ?Herein? trat Nobody ein. Die beiden standen sich gegenüber.
Er war noch ganz derselbe. Nur konnte man jetzt nicht von einer ?Teufelsfratze? sprechen, es waren sogar edle Züge, in denen jeder Hohn fehlte. Doch so hatte Nobody ihn ja auch zum ersten Male gesehen, als jener ihn in seinem Arbeitszimmer in Maidstone aufsuchte. Nur bei Gelegenheit konnte dieser Mensch eine solch niederträchtig grinsende Teufelsfratze aufsetzen.
Ob er aber dessen jetzt überhaupt noch fähig war? Nobody las in den geisterhaft bleichen Gesichtszügen eine große Niedergeschlagenheit.
»Darf ich Ihnen die Hand geben?« erklang es fast zaghaft.
»Ich habe noch keinem Hilfsbedürftigen meine Hand verweigert.«
Die Hände lagen einen Moment zusammen.
»Sind Sie noch im Besitze des Unterseebootes?« war Sinclaires nächste, mit Hast gestellte Frage.
»Ja.«
»Gelobt sei Gott, gelobt sei Gott!!« klang es zweimal aus tiefstem Herzensgrunde, und Mephistopheles, der also auch den Namen Gottes im Munde führen konnte, vielleicht gar an ihn glaubte, wie ja überhaupt auch Goethe seinen Höllenfürsten - im Vorspiel - mit dem lieben Gott auf recht gutem Fuße stehen läßt, wischte sich den perlenden Schweiß von der Stirn.
»Bitte, nehmen Sie Platz. Wollen Sie erst etwas genießen?«
»Ich danke.«
Das anfängliche Schweigen, als sich die beiden gegenüber saßen, war begreiflich. Es war ein großer Moment, diese Begegnung.
»Sie sehen,« nahm Sinclaire das Wort, »in mir einen Menschen, der sich einst vermessen für einen Gott hielt, bis er zur Erde niedergeschmettert wurde.«
»Ich begreife.«
»Sie sind es gewesen, der mich niedergeschmettert hat.«
Auch das verstand Nobody, und wie das gemeint war, das zeigte die ganze Folge dieser Erzählungen so weit dieser rätselhafte Mann darin vorkam.
»Ich wollte dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen, und als ich erkannte, eben durch Sie, daß ich doch nur ein elender Stümper bin, da war es mein erstes, um wieder ein demütiger Mensch zu werden, alles das zu vernichten, was mir nur ein Zufall in die Hand gespielt hatte, wodurch ich mich so gottähnlich gefühlt, und auch alles das, was ich je an Mißgeburten und Abnormitäten geschaffen habe.«
Dies alles hatte er bereits damals in Australien zu Edward Scott gesagt.
»Aber ein ingeniöser Geist sind Sie dennoch,« sagte Nobody.
»Nein nein,« wehrte der andere ab. »Sie befinden sich in einem Irrtum. Ich bin nichts weiter als ein Chemiker, der im Laboratorium überraschende Entdeckungen gemacht hat, was aber schließlich doch nur alles auf Zufall beruht. So ist die künstliche Herstellung des Eiweißes tatsächlich meine eigene Erfindung. Damit hört es aber auch fast auf. Sonst würde ich mich nur mit fremden Federn schmücken.«
»Und zum Beispiel das unsichtbar machende Gewebe?«
»Daß dieses die Erfindung eines anderen ist, hatte ich Ihnen bereits damals schriftlich mitgeteilt.«
»Ja, ich entsinne mich. Und die Unterseeboote mit all ihren wunderbaren Erfindungen?«
»Sind alle nicht die Erzeugnisse meines eigenen Geistes, meiner eigenen Kraft. Ich habe nur mir gegebene Rezepte zu verwerten verstanden, ohne selbst ihren Sinn zu verstehen. So kann ich wohl solche Batterien mit unerschöpflicher, elektrischer Kraft in beliebiger Anzahl herstellen, aber das Wesen der ganzen Sache selbst ist mir fremd.«
»Wie sind Sie dazu gekommen? Wer ist dann dieser wunderbare Genius?«
»Mr. Nobody, jetzt habe ich erst eine Bitte an Sie zu richten.«
»Sprechen Sie!«
»Ein Schwur bindet meine Zunge.«
»Und?« konnte Nobody nur fragen.
»Ich bitte Sie, mich niemals zu fragen, wer der Mann gewesen ist, dessen wunderbare Erfindungen ich benutze, noch wie ich dazu gekommen bin. Es ist ein Schwur, den ich meiner Frau geleistet habe, ehe sie mein Weib wurde, und - Sie haben meine Frau doch kennen gelernt. Wollen Sie mir meine Bitte, mich deswegen niemals zu fragen, erfüllen? Nicht einmal eine Frage! Ich könnte doch einmal schwach werden. Wollen Sie mir daraufhin Ihre Hand geben?«
»In Erinnerung an Ihre Gattin, die ich auf jener Argonauteninsel hochschätzen gelernt habe, gebe ich Ihnen meine Hand gern.«
Nobody tat es, und hiermit war ihm ein für allemal die Zunge gebunden.
»Iduna - meine Frau!« erklang es dann seufzend.
»Wie geht es Ihrer Gattin?«
»Sie starb vor einem Jahre.«
Nobody war tief erschüttert. Möglich, daß auch ihr Tod viel mit zur Sinnesänderung dieses Mannes beigetragen hatte.
»Sie starb eines glücklichen Todes,« setzte Sinclaire nach einer Pause noch hinzu, und Nobody hörte heraus, daß jener nicht mehr an seine Gattin erinnert sein mochte.
»Aber andere Fragen, die hiermit nur in weitläufiger Beziehung stehen, darf ich doch noch stellen?«
»Gewiß. Sie wissen selbst am besten, wie weit Sie da zu gehen haben.«
»Sie haben alle Ihre wunderbaren Erfindungen oder Hilfsmittel wieder vernichtet?«
»Alle. Weshalb, das wissen Sie wohl. Sie haben ja genug mit meiner Frau darüber gesprochen. Die Menschheit ist eben noch nicht reif, sie zu benutzen, und in der Hand eines einzelnen Mannes können sie zum Frevel werden, wie ich bewiesen habe. Das habe ich ja auch schon damals alles ausführlich Ihrem Freunde in Australien gesagt. Hat er Ihnen unsere Unterhaltung nicht mitgeteilt?«
»Er tat es.«
»Nun, durch meine Frau und noch mehr durch Sie zur Erkenntnis gebracht, setzte ich meinen Vorsatz durch. Ich vernichtete alles wieder, was ich besaß, was ich je geschaffen hatte. Nur eines zerstörte ich nicht.«
»Was ist das?«
»Das kleine Unterseeboot, welches die Gestalt eines Seelöwen hat. Dieses Mittels bedurfte ich noch, um überall hingelangen zu können, wo ich meine Stationen angelegt hatte, zum Teil mit Menschen besetzt oder vielmehr mit mir willenlos ergebenen Geschöpfen. Und - und - und nun ...«
Wieder mußte sich Sinclaire die dicken Schweißtropfen von der Stirn wischen.
»Und was nun?« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.
»Und nun ist mir dieses Unterseeboot entwendet worden,« erklang es ächzend.
»Von wem?«
»Von einem Manne, der früher meine rechte Hand war, der in alles eingeweiht ist, und dem man alles zutrauen kann. Sie kennen ihn.«
»Wie? Ich soll ihn kennen?«
»Erinnern Sie sich noch des Herrn, welcher damals in London auf der Straße plötzlich das Gedächtnis verlor? Sie wurden von der Polizei gerufen, um ihn zu hypnotisieren.«
»Und ob ich mich dieses Mannes noch erinnere!« rief Nobody in hellem Staunen. »Er nannte sich Edwin Dudley, man fand nichts weiter als einen Brief in seiner Tasche, von einem H. L. Vafour aus Kalkutta.«
Wieder einmal hatte Nobody sein phänomenales Gedächtnis bewiesen.
»Er ist es.«
»Woher wissen Sie, daß ich diesen Herrn in Hypnose zu nehmen versuchte?« war Nobodys nächste Frage.
»Ich habe Sie niemals aus den Augen gelassen, immer in der Hoffnung, mich doch noch einmal mit Ihnen zu verbünden, aber nicht mehr zum Bösen, sondern zum Guten.«
»Daß dieser Dudley eines Ihrer menschlichen Werkzeuge war, vermutete ich schon damals stark. In der Droschke, die er benutzte, hatte er die Photographie einer Gebirgslandschaft hinterlassen, wo an einer Felswand Ihr Konterfei hervortrat. Wie kam es, daß er die Photographie in die Tariftasche des Wagens gesteckt hatte?«
»Offenbar schon in einer Anwandlung von Geistesgestörtheit, welche aber nur die Einleitung zu einer Krise für seine geistige Genesung war. Das plötzliche, zeitweilige Verlieren seines Gedächtnisses muß die Umwandlung, die Befreiung vom tellurischen Bann herbeigeführt haben, was ich übrigens schon einmal erlebte. Dieser Mann - wir wollen den Namen Dudley beibehalten, bei mir hatten die Menschen überhaupt nur Nummern - war also meine rechte Hand, und zuletzt war er mir behilflich, die von mir angelegten Stationen aufzulösen, zu vernichten. Mit einem Male merkte ich, daß Dudley den von mir erhaltenen Instruktionen nicht mehr nachkam. Dudley war verschwunden. Ich hielt ihn für tot. Dann merkte ich zu meinem Schreck, daß hinter meinem Rücken auf den noch vorhandenen Stationen andere Befehle gegeben wurden. Eine fremde Hand mischte sich in alles ein. Und als ich nun von dem Manne erfuhr, der in London das Gedächtnis verloren, dessentwegen Sie von der Polizei geholt wurden, da war mir sofort alles klar. Ich versuchte ihn zu fassen, um ihn unschädlich zu machen - immer vergeblich - er dagegen blieb mir auf der Spur - er kannte ja alle meine Schlupfwinkel und sonstigen Geheimnisse - und vor einer Woche hat er mir nun auch noch das kleine Unterseeboot, den Seelöwen entwendet!«
»Wo ist das geschehen?« fragte Nobody kaltblütig. Er konnte überhaupt noch gar nicht recht die furchtbare Aufregung des anderen begreifen.
»In einer Bucht an der Westküste Englands.«
»Wie kam es sonst? Erzählen Sie doch ausführlicher.«
»Ich hatte die Unvorsichtigkeit begangen, den Seelöwen an der Oberfläche des Wassers bei Tage zu zeigen. Fischer machten Jagd auf das vermeintliche Tier, natürlich ganz vergeblich. Ich legte mich auf den Grund, verließ ihn dann im Skaphander. Als ich am nächsten Tage zurückkehrte, war er zu meinem Schreck verschwunden. Ich sah ihn nochmals, schwimmend, mit aller Kunst gesteuert, und der darin Befindliche kann niemand anders als Dudley gewesen sein.«
»Was für eine so furchtbare Gefahr ist denn dabei?«
»Dieser Dudley war früher ein Schurke erster Klasse - und - er findet in dem Seelöwen ein Buch, welches viele handschriftliche Aufzeichnungen enthält - frühere Pläne von mir - denn - denn - ich wollte doch die ganze Erde umgestalten - ihr ein anderes Aussehen geben - und so - so zum Beispiel wie man ganz Italien, wenn nicht die halbe Erde in die Luft sprengen kann ...«
Nur stoßweise brachte der Franzose die Worte hervor.
»Die halbe Erde in die Luft sprengen?« fragte Nobody, immer ganz gleichgültig. »Wie wollen Sie denn das machen?«
»Durch ein künstliches Erdbeben.«
»Und wie wollen Sie dieses erzeugen?«
»Zum Beispiel - zum Beispiel - indem man das Meer in den Vesuv leitet - und in den Aetna - und es gibt auch noch andere Vulkane.«
»O ja, es gibt deren noch andere, noch genug. Und das ist möglich, das Meer in das glühende Innere des Vesuvs zu leiten? Das brächten Sie fertig?«
»Ja, und in jenem Buche ist die ganz ausführliche Anleitung dazu gegeben.«
Ja, dann freilich! Da hieß es sich beeilen, um jenem das Handwerk zu legen! Aber indem sich Nobody dies sagte, je mehr er sich alle Eventualitäten solch einer künstlichen Eruption ausmalte, desto kälter wurde er nur in seinem Innern, und das war jetzt auch am allernötigsten.
Zugleich tauchte eine andere Frage in ihm auf, welche er hier gleich erledigen wollte.
»Damals aber, als die ?Wetterhexe? auf dem Riff saß, und als der Seelöwe dem englischen Kriegsschiffe den Leib aufschlitzte, da befanden doch Sie sich noch in dem Unterseebote?«
»Ja, das war ich.«
»Weshalb taten Sie das?«
»Ich wußte Sie an Bord der ?Wetterhexe?, sah Sie in Gefahr - ich wollte Sie und die ?Wetterhexe? von dem englischen Kriegsschiff befreien.«
»Wußten Sie denn nicht, daß auch ich bereits unterwegs war, um das Kriegsschiff zu versenken?«
»Erst später sah ich Sie im Skaphanderkostüm, da ward es mir allerdings klar, da aber lag das Schiff bereits auf dem Grunde.«
»Sie haben mir einen sehr schlechten Dienst erwiesen.«
»Wieso?«
»Es sind einige Dutzend brave Seeleute, welche nicht schnell genug an Deck der ?Wetterhexe? kommen konnten, dabei ertrunken.«
In dem bleichen Gesicht malte sich einiges Staunen wider.
»Dasselbe wäre doch auch geschehen, wenn Sie die Tat ausgeführt hätten.«
»Mitnichten, ich hätte das Kriegsschiff viel langsamer zum Sinken gebracht.«
Monsieur Sinclaire zuckte gleichgültig die Achseln.
»Nun, was liegt denn an ein paar Dutzend Menschenleben?«
Da hatte Nobody seinen Mann erkannt! Es war noch immer der ?Herr der Erde?, dem das Leben eines Menschen nicht mehr als das einer Fliege galt. So schnell ändert man seinen Charakter auch nicht. Er war jetzt nur furchtbar gedrückt, daß sich ein anderer im Besitze seines gewaltigen Werkzeuges, des Seelöwen befand, wodurch jener ihm den Rang streitig machen konnte.
Doch Nobody wollte nicht richten. Uebrigens hatte dieser Mephistopheles ja auch schon durch Taten bewiesen, daß er wirklich entschlossen war, seine rücksichtslose Gottähnlichkeit aufzugeben. Nur seine Ansichten über Menschenleben und dergleichen konnte er nicht so schnell ändern, und da teilte er ja das Schicksal mit vielen anderen Männern, welche als Helden, als Feldherren und dergleichen angebetet werden, und das muß auch so sein, das ist der Welt Lauf, das ist ein Naturgesetz, so wie keine Flugschrift und keine internationale Friedenskonferenz jemals den Krieg verbannen wird, jetzt nicht und in alle Ewigkeit nicht.
»Was für Hilfsmittel besitzt nun dieser Mann?«
»Alle, die sich in dem Seelöwen befinden.«
»Was für welche sind das?«
»Nicht mehr und nicht weniger als die, die sich auch in dem Delphin befinden, und dessen Einrichtung kennen Sie ja. Nur ist der Seelöwe noch mit einem Apparat zur Erzeugung von Siglusstrahlen versehen, was bei dem Delphin nicht der Fall ist.«
»Was sind denn das, Siglusstrahlen?«
»Ahso, ich bediene mich ja Ihnen ganz unbekannter Ausdrücke. Die Platten des kleinen Unterseefahrzeuges können mit einer besonderen Art von Strahlen durchleuchtet werden, welche den ganzen Seelöwen für das menschliche Auge unsichtbar machen.«
»Unsichtbar?« mußte Nobody wiederholen.
»Vollständig unsichtbar. Es ist nur die Drehung eines Hebels nötig, und der Seelöwe scheint zu verschwinden.«
Jetzt wurde Nobody auch klar, wie damals der den Delphin begleitende Seelöwe manchmal verschwinden konnte, um dann, wenn er gebraucht wurde, gleich wieder zur Stelle zu sein.
»Wie werden diese Siglusstrahlen denn erzeugt?«
»Herr, da fragen Sie mich zu viel. Das ist eine Erfindung jenes Mannes, über den ich schweigen muß. Ich verstehe nur ihre Anwendung, sogar ihre Erzeugung, nicht aber das Wesen der Sache. Dies alles ist mir selbst ein Rätsel. Ich vermute nur, daß das Tarngewebe beständig solche unsichtbar machende Strahlen aussendet, während der Apparat im Seelöwen sie nur zeitweilig erzeugt.«
»Hat Dudley auch diese unsichtbar machenden Tarnkleider?«
»Nein.«
»Die besitzen Sie selbst noch?«
»Auch nicht mehr.«
»Wo sind die sonst jetzt?«
»Ich sagte Ihnen doch schon, daß ich alles, was ich selbst nicht begriff, vernichtet habe, um mich aus meinem Wahne zu reißen, um wieder das Gefühl eines irdischen Menschen zu haben. So vernichtete ich die Tarnkleider auch damals schon in Australien durch Feuer. Es war eine Voreiligkeit, jetzt sehe ich es ein,« wurde seufzend hinzugesetzt. »Jetzt, bei der Verfolgung dieses Schurken, würden uns diese Kleider die besten Dienste leisten, während er uns gegenüber nun den größten Vorteil hat, da er sich unseren Blicken entziehen kann.«
»Was für Hilfsmittel haben Sie selbst noch, welche der übrigen Menschheit unbekannt sind?«
»Gar nichts mehr, absolut gar nichts mehr. Ich habe Sie in London aufsuchen wollen, ja ich habe - habe sogar - meine Uhr und Kette versetzen müssen, um das Reisegeld bis hierher zu bekommen.«
Da ging Nobody die klare Erkenntnis für die Lage dieses Mannes auf! Er sah den ?Herrn der Erde? mit seinem Klumpfuß hilflos und verlassen durch die Straßen von London hinken, er sah ihn, der über unermeßliche Reichtümer gebot, auf dem Leihamt ... Das war die Rache des Schicksals!
Und jetzt kam dieser einst so maßlos stolze Mann hilfesuchend zu Nobody, bittend wie ein kleines Kind, um sich an den Detektiven, den er einst so verächtlich behandelt hatte, wie an den letzten Strohhalm zu klammern!
Nobody hätte triumphieren können. Im Augenblick aber empfand er nur Mitleid mit dem Manne, der mit so furchtbarer Wucht aus allen Himmeln zur Erde niedergeschmettert worden war.
Dieses Mitleid verdiente er auch wirklich, indem er ja selbst die Veranlassung zu diesem Sturze gegeben hatte, und zwar aus einem edlen Grunde.
Aber gar so schlimm konnte es doch nicht mit ihm stehen.
»Ist es denn möglich! Selbst in Geldverlegenheiten befinden Sie sich?«
»Offen gestanden - ich habe gerade noch vierzig Mark in der Tasche.«
»Aber Sie haben doch überall die reichsten Hilfsquellen, Schätze in barem Gold.«
»Das wohl, nur nicht gerade in England, auch nicht in Deutschland - wohl in Europa weiß ich genug, doch es ist Ihnen ja selbst bekannt, wie dorthin zu gelangen ist. Meist unter der Erde, in Wassertunneln, und das kann ich doch nicht mehr. Und sonst führt der Weg durch Wildnisse, durch glühende Sandwüsten und über Schneefelder, und wie soll ich hinkender Krüppel solche Wege zurücklegen?«
Ja, jetzt erkannte Nobody, wie es mit dem ehemaligen ?Herrn der Erde? stand.
»Nun, dann ist noch nichts verloren. Wir haben ja noch den Delphin.«
»Wo befindet er sich?«
»Sie verloren den Seelöwen an der Westküste Englands - der Delphin liegt in einer Bucht der Ostküste. Dort hatte ich ihn versenkt.«
»Wann haben Sie sich zuletzt überzeugt, daß er sich dort auch wirklich befindet?«
»Das ist nun freilich schon ein Jahr her.«
»Und wenn er sich nun nicht mehr dort befindet?«
»Oho,« lachte Nobody, »so dürfen Sie nicht mit mir sprechen. Wenn nicht, dann nicht - dann wird es eben anders gemacht - aber ob wir uns hier ängstigen und grübelnd fragen, ob das Boot noch dort liegt, das hat absolut keinen Zweck. Wir werden eben hinfahren und zusehen.«
Beschämt schwieg der Herr Mephistopheles, der seine Rolle gründlich verlernt hatte.
»Als ich den Delphin in einem nur mir bekannten Versteck versenkte,« fuhr Nobody fort, »war alles noch in demselben Zustande, wie damals, als ich ihn aus dem großen Walfisch nahm, und so wird es wohl auch jetzt noch sein.«
»Dann ist es gut, dann ist es gut,« atmete Sinclaire erleichtert auf, »dann wollen wir dem Spitzbuben bald das Handwerk gelegt haben.«
»Wo werden wir denn den Seelöwen mit seinem Insassen finden?«
»Ja, ich weiß ja gar nicht, wohin er sich gewendet haben mag.«
»Sie haben gar keine Ahnung?«
»Nicht die geringste.«
»Kennt er denn alle die Stationen, die Sie angelegt haben?«
»Gewiß doch. Dudley ist als Führer eines Unterseebootes ausgebildet, hat mich selbst überallhin begleitet, besitzt auch im Seelöwen noch eine Situationskarte, wie Sie eine im Delphin gefunden haben.«
»Das sind doch einige hundert Stationen.«
»Jawohl.«
»Und Sie haben nicht die geringste Ahnung, auf welcher dieser Stationen wir Dudley mit dem Seelöwen finden könnten?«
»Wie gesagt, nicht die geringste Ahnung.«
»Herr, und da verlangen Sie von mir, ich soll ihn nun auf irgendeiner dieser vielen hundert Stationen, über die ganze Erde verteilt, meistenteils sogar unter der Erde oder auch am Meeresgrunde, zu finden wissen, um ihn dort festzunehmen?«
»Ich glaubte, daß Sie das könnten,« lautete die sehr kläglich gegebene Antwort.
»Herr du meine Güte, halten Sie mich aber für einen scharfsinnigen Menschen!!« rief Nobody in ehrlichstem Staunen.
»Ja, ich habe für Sie stets die größte Bewunderung gehegt. Ach, wenn Sie wüßten - wenn ich so einmal meine Periode hatte, in der mir zum Bewußtsein kam, daß ich mich doch nur mit fremden Federn schmückte - wie klein und armselig ich mir Ihnen gegenüber vorkam, der Sie alles doch nur durch eigene Kraft erreichen!«
Ein größeres Lob war Nobody selten gespendet worden.
Er überlegte.
Merkwürdig! Am Kaspischen Meere hatte er zufällig erfahren, daß sein Freund Flederwisch jetzt auf seiner ererbten Besitzung bei Moskau weile, den mußte er natürlich besuchen, und die geographische Ortsbestimmung in Scotts rotem Buche bezog sich auf einen Punkt neben Moskau, genau wo jenes Landgut lag.
Was sollte er dort erleben? Die nächste Ortsbestimmung bezog sich auf Berlin, und nachdem er auf diesem Landgute jenen überraschenden Brief des Mephistopheles bekommen, hätte er diesen auf alle Fälle nach Berlin bestellt, was so ziemlich auf der Mitte des Weges lag.
Aber Nobody fand dies alles ja schon längst nicht mehr merkwürdig.
Und nun gab die nächste Bestimmung einen gewissen Punkt in Nordamerika an. Nobody zweifelte nicht im geringsten daran, daß er dort Mr. Dudley mit dem Seelöwen finden würde oder doch eine ihn zurechtführende Spur. Das Boot würde jedenfalls auf einem unterirdischen Wasserwege nach diesem Punkte im Innern des Festlandes gelangt sein, der Punkt war sogar höchst interessant, den das rote Buch bezeichnete. Es handelte sich nämlich um die geheimnisvolle und heutigen Tages noch nicht erforschte Mammuthöhle im Staate Kentucky.
Dazwischen fehlte allerdings die Bestimmung des Ortes, wo der Delphin versteckt lag, aber das war doch ganz selbstverständlich, daß sich jetzt Nobody zuerst dorthin begab, diesen Zwangskurs bekam er doch eben jetzt, und alles was selbstverständlich war, führte das rote Buch nicht an.
Aber Nobody hütete sich, dem Franzosen etwas von seinem roten Buche, und was damit zusammenhing, zu verraten. Auch von der Mammuthöhle deutete er vorläufig gar nichts an, stellte keine Frage, ob Sinclaire etwa auch dort eine Station errichtet habe, über, in oder unter der Erde.
»Nun, ich hoffe, Ihr grenzenloses Vertrauen, das Sie in mich setzen, nicht zu täuschen. Apropos - der Seelöwe lag doch auf den Meeresgrund versenkt, nicht wahr?«
»Jawohl.«
»Wie konnte Dudley ihn da heben, um hineinzukriechen?«
»Das ist sehr wohl auch von außen möglich.«
»Ja, aber wie kam Dudley erst auf den Meeresgrund hinab?«
»Er hat sicherlich einen Skaphander besessen, welche Apparate auf allen meinen Stationen durchaus kein Geheimnis waren.«
»Konnten Sie den Seelöwen zur Sicherheit nicht vorher, ehe Sie ihn verließen, unsichtbar machen?«
»Das ist wohl angängig, aber dann war die Gefahr vorhanden, daß ich selbst ihn nicht wiederfinden konnte.«
»Besitzen Sie nicht ein Mittel, Gläser, durch welche der unsichtbare Gegenstand immer wieder sichtbar wird?«
»Ich besaß dieses Mittel aber nicht mehr - ich habe es ebenfalls vernichtet. Wie konnte ich ahnen,« setzte Mephistopheles zu seiner Rechtfertigung hinzu, »daß aus einem meiner willenlosen Werkzeuge mir plötzlich ein Feind erwachsen würde?«
»Haben Sie bemerkt, daß dieser Dudley wirklich Ihnen feindlich gesinnt ist?«
»Genügt es nicht, wenn er mir mein Unterseeboot entwendet?«
»Sie haben recht. Aber hätte er da nicht gleich auf Ihre Rückkehr warten können, um Sie für immer unschädlich zu machen?«
»Unschädlich?« seufzte der Franzose. »Ach, er wußte, einmal aus seinem suggerierten Traum erwacht, wie ohnmächtig ich ohne dieses mein letztes Hilfsmittel, das kleine Unterseeboot, bin, und nun wird er sich in Gedanken ergötzen, wie er mich jetzt so hilflos zurückgelassen hat.«
Nobody blickte nach seiner Uhr.
»Es ist drei Uhr. Der nächste Zug nach Holland, respektive einem holländischen Hafen, geht von Berlin um sechs ab, in drei Stunden. Aber auch ich bin ein Mensch und bedarf des Schlafes. So werden wir erst den Abendzug benutzen, und ich hoffe, so lange bleibt die Erde noch in ihren Fugen, daß wir nämlich nicht zu spät kommen, daß der Bursche nicht etwa schon vorher das Meer in den Vesuv oder in den Aetna leitet, so daß wir statt des schönen Italiens dann nur noch ein Häufchen Unglück vorfinden. Uebrigens zweifle ich sehr stark daran, daß so etwas möglich ist, der liebe Gott sorgt immer dafür, daß Bäume und Menschen nicht in den Himmel wachsen. Wir kleinen Menschlein dürfen wohl einmal einem Berge ein Loch in den Bauch bohren oder eine Landzunge durchschneiden, die selbst auf einer großen Karte nur wie ein Bindfaden aussieht, aber gleich ein ganzes Land in die Luft sprengen - nee, so was gibt's nicht, das kann ich Ihnen gleich im voraus sagen, und ich werde Ihnen dann sogar eine Berechnung aufstellen, was für ein enormer Druck dazu gehört, um etwa den Vesuv aus den Angeln zu heben. Ich verstehe nämlich auch etwas von statischen Berechnungen. Also gehen wir jetzt schlafen. Wegen der Hotelrechnung brauchen Sie keine Sorge zu haben.«




Am Abend des nächsten Tages trafen die beiden in London ein. Auf dem Bahnhofe erhielt Nobody, der sehr auffallend sein Taschentuch in der Hand trug, nach einem gewechselten Erkennungszeichen von einem Herrn ein ziemlich umfangreiches Paket eingehändigt.
Es enthielt einen Skaphanderanzug, den Nobody schon von Berlin aus durch eine chiffrierte Depesche bestellt hatte.
Sie verließen den Bahnhof gar nicht, warteten nur auf die Ablassung eines anderen Zuges, welcher nach der Ostküste ging.
Es ist also sehr bemerkenswert, daß sich Nobody nicht erst einmal nach Hause begab, was er doch sehr gut hätte tun können, und in Maidstone wußte man jedenfalls nicht einmal, daß Nobody hier durch London kam, sicher hatte er das Besorgen des Skaphanders ganz geheim einem seiner vertrauten Beamten übertragen.
Nach wenigen Stunden verließen die beiden den Küstenzug wieder in einem kleinen Hafenstädtchen, Nobody schlug einen Strandweg ein, bald hörte dieser auf, aber Nobody wußte sich in der mondlosen Nacht zurechtzufinden, es ging am sandigen Strand entlang, dann kamen Kalkfelsen, eine halbe Stunde Klettertour, wobei Nobody den mühsam Hinkenden an der Hand geleitete, manchmal ihn auch mehr trug denn führte, bis er auf einem vorspringenden Felsenriff Halt machte, an dem das Wasser bei glatter See nur ganz wenig schäumte.
»Wir sind am Ziel. Setzen Sie sich ruhig hin, bis ich mit dem Delphin wieder auftauche.«
Nobody legte den Skaphanderanzug an und glitt ins Wasser. Schon nach zehn Minuten tauchte er vor Sinclaire wieder auf, d. h. aus der Dunkelheit; denn sonst war nichts zu sehen, die Nacht war stockfinster.
»Alles in Ordnung. Der Delphin liegt hier, mit dem Rücken aus dem Wasser, die Luke ist offen. Ich habe aber noch kein Licht gemacht, hier kreuzen viele Zollkutter, und ich will jeden Argwohn vermeiden. Geben Sie mir Ihre Hand.«
Sinclaire wurde hinabgeleitet, bekam schwankende Eisenplatten unter die Füße, er stieg die Leiter hinab, Nobody schloß die Luke wieder, schon senkte sich der Delphin unter seiner am Hebel liegenden Hand, und gleichzeitig flammte das elektrische Licht auf.
Und ebenso flammten auch des Franzosen Augen auf, als er sich in dem ihm so wohlbekannten Unterseeboote umsah, es lag sogar etwas von dem alten, maßlosen Stolze in seinem Blicke.
Aber Nobody wußte genau, was er tat. Er hatte sich reiflich überlegt, ob er wenigstens noch einen anderen Begleiter mitnehmen sollte, ob er sich allein dem Franzosen anvertrauen durfte, daß ihn dieser nicht etwa hypnotisierte oder tellurierte oder sonst etwas mit ihm machte.
Nein, er durfte ihm vertrauen. Sinclaire hatte ihm während der langen Reise noch gar viel offenbart, was wir nicht wiedergeben wollen, teils weil es uns nicht interessiert, teils um dem weiteren Verlaufe der Erzählung nicht vorzugreifen.
Jedenfalls aber hatte ihm dieser Mann sein Innerstes offenbart, und vorläufig, solange man jenen Dudley nicht hatte, durfte Nobody ihm unbedingt vertrauen, das hatte er mit untrüglicher Gewißheit erkannt. Später vielleicht hatte er einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen, nämlich wenn der ?Herr der Erde? nach Festnahme jenes Mannes keinen Konkurrenten mehr zu fürchten hatte. Doch in dieser letzteren Annahme konnte sich Nobody auch irren, das war noch abzuwarten.
Alles war noch genau so, wie Nobody es zuerst gefunden hatte. In dem Unterseeboote gab es ja auch wenig genug zu verrücken.
»Nun handelt es sich darum, wohin wir zunächst unsern Kurs nehmen,« sagte Nobody, der schon vorher den Helm abgeschraubt hatte und sich jetzt auch des Gummianzugs entledigte.
Er breitete auf dem heruntergeklappten Tisch den Situationsplan aus.
»Ja, das muß ich ganz Ihrem Scharfsinn überlassen,« war die schon wieder kleinlaute Antwort des Franzosen.
Nobody mußte immer wieder über dieses grenzenlose Zutrauen zu seiner Findigkeit staunen.
»Zum Donnerwetter, haben Sie denn nur wirklich gar keine Ahnung, wohin sich der Ausreißer gewendet haben könnte, wohin ihn das größte Interesse zieht?« lachte Nobody.
»Nein, gar nicht. Er kann am Nordpol sein oder am Südpol oder ...«
»... oder anderswo. Das ist freilich ein etwas großes Terrain, das wir abzusuchen haben, da ist das blinde Huhn, das auf dem Misthaufen einen Diamanten findet, weit besser daran als wir. Na, probieren wir's aufs Geratewohl. Ich habe nämlich manchmal fabelhaftes Glück ...«
»Das ist es eben!« fiel der Franzose eifrig ins Wort. »Ich habe Sie doch lange, lange Zeit beobachtet, und nie, nie ist Ihnen etwas mißglückt.«
»Hm. Das darf man doch nicht so ohne weiteres behaupten. Das kommt nämlich daher, weil ich als Detektiv selten etwas unternehme, von dem ich nicht ganz bestimmt weiß, daß ich Erfolg haben werde. Trotzdem, ich habe wirklich eine glückliche Hand. Probieren wir's also aufs Geratewohl, ich will mir überhaupt ein bißchen die Welt ansehen, und ich denke, Sie als Mentor können mir Dinge zeigen, die sonst auf den unterirdischen Fahrten meinem Auge entgangen wären.«
»Das kann ich allerdings.«
»Was bedeutet dieser schwarze Fleck hier?«
Scheinbar ganz planlos hatte Nobody seine Fingerspitze auf die Karte gelegt.
»Das ist die berühmte Mammuthöhle im Staate Kentucky, Bezirk Edmondson.«
»Aha! Die habe ich mir schon immer gern einmal ansehen wollen. Sie soll acht englische Meilen lang sein, nicht wahr?«
»So weit sind ihre Gänge bisher nur erforscht worden. Ein weiteres Vordringen wird durch Kohlensäuregase unmöglich gemacht.«
»Richtig, ich entsinne mich. Es haben schon genug Forscher und Abenteurer darin ihren Tod gefunden.«
»Seit der Erfindung des von einem Schlauche unabhängigen Tauchapparates, dessen Vervollkommnung man ja Ihnen zu verdanken hat, sind schon vier weitere Unglücksfälle zu verzeichnen. Die Eindringlinge sind nicht wieder zum Vorschein gekommen, offenbar haben sie sich wieder verirrt, obgleich sie beim Vorgehen Bindfaden oder Draht abwickelten.«
Der Franzose hatte es recht höhnisch gesagt.
»Sie kennen diese Mammuthöhle?«
»Und ob ich sie kenne!« lachte Sinclaire.
»Sie haben eine Station dort?«
»Ja, am Ende der Höhle, das sich ziemlich vierzig englische Meilen vom Ausgange entfernt befindet. Das heißt, nicht eigentlich eine Station, sondern - sondern - hm, da ist ein Geheimnis dabei, ich weiß nicht, ob ich mich Ihnen anvertrauen darf ...«
»Na, hören Sie mal, Freund!« nahm Nobody einen entrüsteten Ton an. »Wenn Sie jetzt noch so sprechen, dann ...«
»Pardon, pardon,« fiel der Franzose ihm hastig ins Wort. »Im Hintergrunde der Höhle haben die dort in der Umgegend hausenden Ureinwohner Amerikas, die von den jetzigen Indianern verdrängt wurden, ihre Heiligtümer untergebracht.«
»Goldene?«
»Goldene und silberne, meist Gefäße und Schmucksachen.«
»Wie kommt es, daß diese Leute da eindringen konnten?«
»Ich habe mit Gewißheit konstatiert, daß die Kohlensäurequelle erst seit neuerer Zeit fließt, allerdings mit Jahrhunderten zu rechnen.«
»Hm. Und da haben Sie wohl Vorkehrungen getroffen, daß man auch mittels des Skaphanders nicht dorthin vordringen kann, vielleicht durch eine Falltür oder sonst etwas Aehnliches?«
Der Franzose zuckte die Achseln.
»Mein Gott,« entgegnete er ohne Verlegenheit. »Was man besitzt, oder was man doch für sein gutes Eigentum hält, das sucht man auch gegen fremde Hände zu schützen, und Segen hat das Gold, welches direkt gefunden wird, noch nie in die Welt gebracht.«
»Mit der letzteren Bemerkung haben Sie recht,« sagte Nobody sehr ernst; »aber ich bitte Sie höflichst, bei solchen Bemerkungen, welche solch versteckte, furchtbare Andeutungen enthalten, den Namen Gottes aus dem Spiele zu lassen. - Warum haben Sie denn die Goldsachen nicht abgeholt?«
»Ich weiß so viele Goldlager, daß ich derartige Kleinigkeiten nicht mehr nötig habe, wenn ihr Wert auch viele Millionen beträgt.«
Es muß aber bemerkt werden, daß diesmal der Franzose das ohne jede Anmaßung gesagt hatte, Nobodys ernster Blick hielt ihn in Schach, und von dem Manne, der Uhr und Kette versetzt, hätte ein hochtrabender Ton in dieser Hinsicht auch sehr lächerlich geklungen.
»Außerdem,« setzte er noch hinzu, »bin ich von jeher ein Freund von Antiquitäten gewesen und liebe es, alles in seiner Ursprünglichkeit zu lassen, so daß ich auch dort die Arrangierung der Heiligtümer nicht gestört habe.«
»Führt nach der Mammuthöhle ein unterirdischer Wasserlauf?«
»Jawohl.«
Sinclaire bezeichnete die Linie, welche an der Küste von Nord-Carolina ihren Anfang nahm und durch ganz Nordamerika ging, sich aber auch noch nach überall hin verzweigend, welche Kanäle wiederum Seemündungen hatten, so daß man auch noch von anderen Stellen aus eindringen konnte.
»Diesen Tunnel kann der Delphin verfolgen?«
»Diesen und alle anderen, man kann im Stillen Ozean wieder herauskommen, das ganze nordamerikanische Festland kreuz und quer unter der Erde durchfahren. Nur eine Passage unter Zentralamerika hinweg gibt es nicht.«
»Und man braucht das Unterseeboot gar nicht zu verlassen?«
»In Amerika nirgends.«
In Nobody regte sich schon wieder mächtig die Abenteuerlust, diese geheimnisvollen Pfade unter der Erde zu verfolgen.
»Gut, so sei diese Mammuthöhle unser nächstes Ziel! Vorwärts, die Anker gelichtet! - wenn wir das auch nicht nötig haben. Ich bediene den Tiefgang, übernehmen Sie die Steuerung. Den Kurs werde ich Ihnen immer angeben, ich bin in diesen Gewässern zu Hause.«
Schon saß Nobody am Apparat. Der Franzose zögerte noch.
»Aber warum gerade nach der Mammuthöhle?«
»Ja, wohin sonst? Geben Sie einen besseren Ratschlag, wo Dudley mit dem Seelöwen zu finden ist.«
»Das kann ich nicht, aber ... wenn es dem Manne um Gold zu tun ist, so weiß er Quellen, aus denen er es viel leichter schöpfen kann, und aus historischen Seltenheiten hat sich Dudley nie etwas gemacht.«
»Aber er weiß, was in der Mammuthöhle zu holen ist?«
»Gewiß, er hat mich sogar zweimal dorthin begleitet.«
»Monsieur Sinclaire, glauben Sie an Ahnungen?«
Der Franzose war ob dieser unvermuteten Frage sehr überrascht.
»An Ahnungen? Nein.«
»Aber ich. Und ich will Ihnen gestehen, daß ich die meisten meiner Erfolge ahnungsvollen Einflüssen zu verdanken habe - ob Sie es glauben oder nicht. Auf nach der Mammuthöhle!« - -
Die Fahrt durch den englischen Kanal und dann die lange Reise durch den Atlantischen Ozean verlief ohne Unterbrechung, immer unter Wasser.
Sinclaire machte mehrmals darauf aufmerksam, daß es in der Nähe oder auch direkt unter ihnen auf dem Meeresgrunde etwas Merkwürdiges zu besichtigen gäbe, ein gesunkenes Wrack mit wertvoller oder seltener Ladung, oder ein Schiff aus alten Zeiten, oder eine besondere Quelle, die aus dem Meeresboden hervorbrach, eine große unterseeische Höhle oder sonst ein Naturphänomen; aber Nobody wollte sich nicht aufhalten lassen, der ?Felsenmaulwurf?, wie er sich selbst gern nannte, der seinen Kopf in jedes Loch stecken mußte, zeigte nicht einmal Interesse für die unterseeische Höhle, von deren Seltsamkeit Sinclaire ihm nicht genug erzählen konnte.
Freilich war ja auch das Ziel ein ganz ähnliches; die rätselhafte Mammuthöhle - und erst jetzt konnte Nobody nicht begreifen, daß er diesem noch gar nicht gründlich untersuchten Naturwunder noch keinen Besuch abgestattet hatte.
Die Steuerung des Unterseebootes, wozu schließlich nur ein Mann nötig war, bedienten sie abwechselnd; da man aber täglich doch nicht zwölf Stunden schlafen kann, waren sie auch oft genug zusammen und unterhielten sich.
Nobody hatte viel aufklärende Fragen zu stellen. Wir wollen nur dreierlei hervorheben.
Ja, der ?Herr der Erde?, im Seelöwen verborgen, hatte sich damals, als die vier Männer zur Tauchübung den Delphin verlassen, in diesen geschlichen und etwas vom Mechanismus entfernt, so daß das Unterseeboot nicht mehr seine ganze Kraft entwickeln konnte.
Weshalb hatte er dies getan? Nicht etwa darum, weil er mit dem Seelöwen dem größeren Boote nicht folgen konnte, was gar nicht zutraf.
Nur, um die vier Männer und besonders Nobody zu mystifizieren, d. h. auf gut deutsch: um sich einen Jux zu machen.
Dann später hatte er, in sein Tarngewebe gehüllt, die richtige Funktion wiederhergestellt.
Oder aber, um die Sache ernster zu nehmen, kann man auch sagen: er tat es, um Nobodys Urteilskraft zu prüfen.
Aus demselben Grunde war er ihm auch in das Serail gefolgt, wobei sich jetzt herausstellte, daß er noch ein drittes Tarngewand besessen hatte.
Eine reine Mystifikation aber war, wie er einen anderen Mann, der tatsächlich sein Doppelgänger gewesen war, als Mumie in den Bleikasten gelegt hatte, wobei sich wiederum herausstellte, daß er schon immer im Hause des Mannes, mit dem er sich von jeher hatte verbünden wollen, herumspioniert hatte, daher auch öfters über Nobodys Pläne orientiert war, so daß er ihm z. B. auch in das Serail folgen konnte.
So war durch das Hängen also nicht der Tod eingetreten, er war wieder zu sich gekommen, das eingespritzte Konservierungsmittel war an sich ganz unschädlich, wie Nobody ja überhaupt alles vorausgesagt hatte, so daß er schließlich gar nichts Neues erfuhr.
Abgesehen von diesen Schwächen aber, einer großen Eitelkeit entspringend, erkannte Nobody trotzalledem in ihm einen hochgebildeten und genialen Mann. Daß er sich bei der ersten Begegnung so überaus klein gezeigt hatte, das war die begreifliche Folge des furchtbaren Sturzes gewesen, den er zwar selbst herbeigeführt, der aber durch die Entwendung des letzten Unterseebootes, wodurch er aller seiner Hilfsmittel plötzlich beraubt wurde, ihm doch etwas gar zu sehr beschleunigt gekommen war.
Bei einer Fahrt von vierundzwanzig Knoten in der Stunde erreichten sie die Ostküste Amerikas in fünf Tagen. Ehe das Land in Sicht kam, und nachdem man sich vergewissert hatte, daß kein Schiff in der Nähe war, stieg der Delphin noch einmal an die Oberfläche empor, eine genaue Ortsbestimmung wurde gemacht, der genaueste Kurs bestimmt, und dann ging es wieder unter Wasser weiter, ohne jede Schwankung der Kompaßnadel, und eine Stunde später steuerte der Delphin direkt in eine große Oeffnung hinein, welche sich in einer Tiefe von etwa fünfzehn Metern unter der Meeresoberfläche in dem felsigen, steil abfallenden Ufer befand.
Jetzt übernahm Sinclaire allein die Steuerung. Er mäßigte die Fahrt bis auf zehn Knoten und sendete einen intensiven Blendstrahl voraus.
»Ich habe diese Tour zwar schon mehrmals gemacht,« sagte er, »habe ein sehr gutes Ortsgedächtnis, welches durch Gewohnheit besonders für solche unterirdische Fahrten außerordentlich geschärft ist, ich brauchte die Karte gar nicht zu kontrollieren, ich entsinne mich noch jeder Ecke und jedes sonstigen Hindernisses, aber bei solchen unterirdischen Wasserläufen treten oftmals ganz bedeutende Aenderungen ein, noch viel mehr als bei oberirdischen Flüssen.«
»Und ich muß Sie auf etwas aufmerksam machen,« entgegnete Nobody. »Es wäre ja ein großer Zufall, aber es könnte doch möglich sein, daß auch Dudley diesen Weg genommen hat, vielleicht erst vor kurzem, daß wir ihn hier finden, der Seelöwe kann uns vielleicht gerade entgegenkommen.«
»Nun, und was dann?«
»Und was dann? Er kann den Seelöwen unsichtbar machen, während er unseren Lichtschein schon kilometerweit erblickt.«
»Das ist nicht der Fall.«
»Wieso nicht?«
»Dieser Lichtstrahl ist nur für uns sichtbar, indem wir ihn durch die magnetisch gemachten Platten erblicken. Draußen ist von ihm nichts zu sehen, da ist der Delphin in Dunkel gehüllt, also auch so gut wie unsichtbar.«
Wieder bekam Nobody etwas zu hören, was er noch nicht gewußt hatte, und dies war während dieser Fahrt schon mehrmals der Fall gewesen. In dem Instruktionsbuche, welches Nobody damals vorgefunden, war eben durchaus nicht alles verzeichnet, was man mit dem Unterseeboote anstellen konnte, indem man verschiedene Handgriffe an dem Hebelwerk in Kombination brachte, so daß man also solche Vorrichtungen gar nicht so leicht durch Zufall entdecken konnte.
Jedenfalls hatte sich der Verfertiger des Unterseebootes auf diese Weise ein Uebergewicht über die anderen Leute, welche sonst den Delphin zu bedienen wußten, vorbehalten wollen.
Die Mammuthöhle liegt an der westlichen Seite der Cumberlandsberge, welche Ausläufer des großen Alleghanygehirges sind. Von der Küste bis zu diesen Bergen ist die Gegend zuerst schon sehr bevölkert, steht unter vollständiger Kultur, ist von vielen Eisenbahnen durchkreuzt, welche ansehnliche Städte und große Dörfer berühren, dann wird die Gegend schon mehr einsam, das ist die Region der Farmen und Ansiedlungen, dazwischen auch noch Prärien und Wälder, allerdings ohne jeden Indianer - auf der Westseite dagegen sind die Abhänge der Cumberlandsberge noch heute mit mächtigen Urwäldern bedeckt, in denen noch so mancher weiße und rote Jäger sein Dasein fristet, wenn man auch nicht an selbständige Jägervölker denken darf. Dazu sind hier die Zeiten doch schon vorbei.
Dies alles wußte Nobody bereits aus eigener Erfahrung, das sagte ihm auch die Spezialkarte von Nordamerika.
Bei dieser Schnelligkeit von zehn Knoten mußte man die Mammuthöhle in ungefähr dreißig Stunden erreicht haben. Die unterirdischen Tunnel waren immer vollständig mit Wasser gefüllt, oft traten die Wände zurück, man konnte sich vorstellen, daß sich hier große Seen befanden, viel einfacher aber war es, nur an Grundwasser zu denken, und weiter war es ja auch nichts.
Oft genug gewahrte Nobody, wenn er einen Lichtstrahl nach oben sendete, über sich in der Decke Oeffnungen von einem bis drei Meter Durchmesser, manchmal waren solche vertikale Schächte ziemlich dicht zusammen, und in den meisten gewahrte man ein nach oben führendes Rohr.
Das waren ganz einfach Brunnen, von Ansiedlungen, Dörfern und ganzen Städten, und in den meisten hätte man im Skaphander an die Oberfläche der Erde steigen können, vorausgesetzt, daß sie oben nicht zugemauert waren, was ja aber nicht immer der Fall zu sein braucht. Durch einige sah Nobody überhaupt das Tageslicht herabschimmern und zweimal erblickte er einen Schöpfeimer. Da hatte man sich eben noch nicht bis zu einem Pumpwerk verstiegen.
Dann aber, nach einer Fahrt von vierundzwanzig Stunden, hörten diese zeitweiligen Brunnen ganz auf, und da befand man sich schon unter den Cumberlandsbergen.
Es war nachmittags gegen vier Uhr, als der Wassertunnel, den man gegenwärtig verfolgte, sich merklich verengerte.
»Nur noch einige Minuten, dann sind wir am Ziel,« sagte der am Steuer sitzende Franzose, aber mehr die Felswände beachtend als die Situationskarte, nach der er sonst steuerte. »Vorher aber muß ich einmal halten und den Delphin im Skaphander verlassen.«
»Wozu?«
»Ich habe hier ein künstliches Hindernis angebracht, welches ...«
Die Drehung eines Hebels, mit einem Ruck war der Delphin auf die Stelle gebannt, und gleich an den Gesichtszügen des Franzosen erkannte Nobody, daß etwas Besonderes geschehen war.
»Was gibt es?«
»Das Hindernis ist von fremder Hand beseitigt worden,« flüsterte Sinclaire.
»In was besteht es denn?«
»Es ist ein weitmaschiges Drahtnetz - aus jenem unverwüstlichen Metall gefertigt - es muß vor das Fahrwasser gespannt sein, den ganzen Tunnel ausfüllend, so daß kein größerer Gegenstand passieren kann - und es ist abgelöst worden - dort liegt es am Boden.«
Nobody sah dann auch wirklich im Scheine des nach unten gerichteten Strahles ein breites Netz am Boden liegen, von einer Wand bis zur anderen reichend.
»Es hat sich eben durch irgendeinen Zufall abgelöst.«
Des Franzosen Aufregung war außerordentlich.
»Nein, nein, das ist bei der Konstruktion ganz ausgeschlossen - und niemand anders als Nummer zwei kennt die Handgriffe, es umzulegen - Dudley befindet sich hier!«
Plötzlich bekam der Delphin wieder Leben, schwenkte aber zur Seite, ging unter Sinclaires Hand rückwärts und kroch so in einen äußerst schmalen Seitentunnel, von dem Nobody bisher noch gar nichts bemerkt hatte. Der Franzose mußte hier jeden Zentimeter kennen, denn es war im Verhältnis zu dem Delphin ein wahres Mauseloch zu nennen, in das er das Unterseeboot mit solcher Sicherheit steuerte.
Hier blieb der Delphin am Boden liegen, nach vorn die Schnauze gerichtet, aus welcher der Blendstrahl hervorquoll und so den Haupttunnel erleuchtete.
»Hier bleibe ich liegen,« zischte der Franzose mit glühenden Augen zwischen den Zähnen hervor, »und sollte ich wochenlang hier lauern - meine Augen werden nicht vor Müdigkeit zufallen - denn vorbeikommen muß der Seelöwe hier wieder - und dann, und dann ...«
Er vollendete seine Drohung nicht. Der Franzose glich in diesem Augenblicke wirklich einer auf die Maus lauernden Katze, wie er so zusammengeduckt an dem Steuerapparat saß.
Wenn Nobody auch mit der größten Spannung erfüllt wurde, so verlor er doch seine Ruhe nicht.
»Ich will Ihnen glauben, daß sich das Netz sonst auf keine andere Weise niederlegen ließ, also muß der Seelöwe hier wohl passiert sein. Weshalb hat er das Netz hinter sich nicht wieder aufgerichtet?«
»Das ist unmöglich.«
»Weshalb unmöglich?«
»Das Netz läßt sich nur von dieser Seite aus wieder befestigen, nicht von der anderen. Die Einrichtung dazu kann ich Ihnen nicht erklären, das muß ich Ihnen später zeigen. O, ich wußte mich wohl vor jedem Verrat zu schützen!«
»Nun gut, Dudley kann mit dem Seelöwen ja hiergewesen sein, er ist schon wieder zurückgefahren und hat es nicht für nötig befunden, das Netz hinter sich wieder aufzurichten.«
»Ebenfalls ausgeschlossen. Bei der Rückfahrt richtet sich das Netz von selbst wieder empor.«
Nobody wußte gar nicht mehr, was er sagen sollte. Der Franzose schien seiner Sache felsenfest sicher zu sein, das hörte man schon aus seinem Tone.
Nur noch einen Zweifel hegte Nobody.
»Ja, der Seelöwe braucht aber doch nicht gerade wieder hier vorbeizukommen, er kann doch seine Fahrt direkt fortsetzen.«
»Wohin?«
»Nun, durch ganz Amerika, bis er im Stillen Ozean wieder herauskommt.«
»Ausgeschlossen!« lautete wiederum die Antwort. »Besehen Sie sich doch die Karte. Wir befinden uns nicht mehr in einem Haupttunnel, sondern in einem Nebenschacht, und der endet blind, eben dort, wo es hinauf nach der Mammuthöhle geht, kaum einen Kilometer von hier entfernt.«
Nobody beugte sich über die Karte. Richtig, das war ja ein blinder Nebentunnel! Doch dieser war so klein angegeben, daß er es nur für eine Verwischung der Tusche gehalten hatte, und Sinclaire hatte hierüber bisher noch gar keine Aeußerung getan.
Dann freilich mußte der Franzose wohl recht haben, und umsonst zeigte er wohl auch nicht solch eine Sicherheit, so wie die Katze nicht vor einem Loch lauert, in dem sich nicht ganz bestimmt eine Maus aufhält.
»Und was wollen Sie tun, wenn der Seelöwe hier vorbeikommt?«
»Ihn leckschießen, so daß er augenblicklich sinkt,« antwortete Sinclaire, das pneumatische Rohr, welches sich vorn an der Schnauze des Delphins befand und ebenfalls vom Steuerapparat aus bedient wurde, spielen lassend.
»Ist der Seelöwe nicht aus demselben Metall hergestellt wie dieses Unterseeboot?«
»Aus demselben, nur noch mit einer weichen Schicht und mit einem richtigen Seelöwenfell überzogen.«
»Der Delphin hier wurde einmal von einem Schiffe aus beschossen, ich sah die große Hartgußkugel aufschlagen, es gab einen furchtbaren Ruck, trotzdem hinterließ das Geschoß nicht den geringsten Eindruck.«
»Das stimmt, aber gegen eine dieser kleinen mit Elektrizität geladenen Glaskugeln ist das Metall nicht gefeit, sie reißt ein Loch hinein, schlägt durch und durch.«
Das war für Nobody wieder etwas Neues. Er hatte ja auch an seinem eigenen Unterseeboot daraufhin keinen Versuch anstellen können.
»Liegt der den Seelöwen Steuernde ganz einfach darin, oder schützt ihn noch ein besonderer Skaphander vor ...«
Der Franzose hatte sofort verstanden, lebhaft sprang er auf.
»Sie haben recht! Sobald das Wasser eindringt, würde Dudley ertrinken. Und lebendig muß ich den Schurken haben! Bitte, halten Sie einstweilen Wache, während ich rasch den Skaphander anlege, um sofort zur Stelle sein zu können, sobald der Seelöwe sinkt. Aber Sie müssen ihn auch treffen, er könnte wie ein Blitz vorbeischießen.«
Der Franzose wollte Nobody Instruktionen geben, wie er das Rohr zu richten habe, was er ja vielleicht auch besser verstand als Nobody, aber dieser sagte, er solle sich lieber beeilen, den Gummianzug anzulegen, was doch nur eine Minute währte.
Sinclaire tat dies, prüfte erst noch einmal jene Vorrichtung, durch welche ein Taucher aus dem Innern des Bootes gleich hinaus ins Wasser geschleudert werden konnte, und dann setzte er sich wieder an den Apparat, die Hebel, welche das Rohr lanzierten, in beiden Händen, immer noch wie zum Sprunge geduckt.
Nobody sah durch das Glas des Taucherhelms Sinclaires Gesicht, und jetzt war das wieder die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze. Der einstige ?Herr der Erde?, der sich des größten Teiles seiner Macht freilich begeben hatte, mußte auf den Mann, der ihm auch noch das Letzte geraubt, einen ganz besonderen Ingrimm geworfen haben. Oder vielleicht mochte auch noch irgendein anderer Grund zu diesem furchtbaren Haß vorhanden sein.
Eine Stunde verging. Regungslos saß der Franzose am Apparat, die glühenden Augen in den vorausgeschickten Lichtstrahl geheftet. Und Nobody fragte sich, wie das werden sollte, wenn es dem Mr. Dudley belieben sollte, eine Woche lang dort am Ende dieses blinden Tunnels mit seinem kleinen Unterseeboote zu verharren.
Dann gab es auch noch etwas zu bedenken, was ein Warten hier vielleicht ganz zwecklos machte, aber ...
Zum ersten Male während dieser Reise bereute Nobody, doch nicht lieber einen Begleiter mitgenommen zu haben, dem er vertrauen durfte. Es war doch sehr riskant, das Unterseeboot jetzt im Taucheranzuge zu verlassen, um einmal auf Spionage zu gehen.
Allerdings hätte der Franzose ihn ja schon längst im Schlafe ermorden können, aber jetzt mit einem Male hatte sich dieser Mann verwandelt, war wieder in seinen alten Charakter zurückgefallen, war jedenfalls jeder Rücksichtslosigkeit fähig. Er schien sich wieder als ?Herr der Erde? oder gar als Höllenfürst zu fühlen, danach sah dieses Gesicht mit den glühenden Augen ganz aus.
Der Franzose sollte Nobodys Plänen entgegenkommen, wozu er kein Gedankenleser zu sein brauchte.
»Mister Nobody,« sagte er, ohne die Richtung seines Blickes zu ändern, und er brauchte seine Stimme wegen des Helms nur wenig lauter ertönen zu lassen.
»Was gibt's?«
»Würden Sie es unternehmen, im Skaphanderanzuge bis zum Ende dieses Tunnels vorzudringen?«
Da war es!
»Wozu?« fragte Nobody zunächst vorsichtig, als hätte er nicht schon denselben Gedanken gehabt.
»Um auszukundschaften, was Dudley dort hinten treibt. Ich könnte das ja selbst machen, während Sie hier Wache halten und eventuell auf das vorbeikommende Boot schießen, aber es handelt sich um einen Schleichweg, und ich bin kein besonders starker Mensch, das Fortbewegen unter Wasser macht mir außerordentliche Beschwerden, und ich habe Sie schon oft unter Wasser beobachtet, Sie sind im Skaphander wie ein Fisch, und außerdem möchte ich doch lieber das pneumatische Rohr bedienen, da sich um einen einzigen Schuß alles handelt. Wollen Sie?«
»Hm,« brummte Nobody, »wäre es nicht besser, wenn wir beide uns auf die Suche machten? Wenn die Metallplatten nicht gegen die elektrischen Kugeln geschützt sind, so müssen auch die kleinen Luftgewehre genügen, um ein Loch ...«
»Nein, deren Durchschlagskraft genügt nicht,« fiel ihm der Franzose ins Wort. »Aber ich weiß, Sie mißtrauen mir, Sie haben auch allen Grund dazu, und dennoch tun Sie mir unrecht. Ich bin niemals ein Verräter gewesen, habe niemals Undank gekannt. Hören Sie mich an, Mister Nobody: bei dem Andenken an meine edle Gattin, die ich über alles geliebt habe in der Welt, schwöre ich Ihnen zu ...«
»Schon gut, schon gut, das genügt,« war es jetzt Nobody, welcher unterbrach, und er griff bereits nach einem Skaphanderkostüm.
Sinclaire gab ihm Instruktionen, wie er sich dem Seelöwen gegenüber, wenn er ihn finden oder ihm gar begegnen würde, verhalten solle, schilderte ihm nochmals die Beschaffenheit des Tunnels, wie man zuletzt in die Mammuthöhle hinaufgelange, dann legte er sich mit aufgeschraubtem Helm und mit allem sonstigen ausgerüstet in den sogenannten Schlagkasten, dessen Einrichtung schon beschrieben wurde, ein Druck, der Kasten wurde mit Vehemenz umgekippt, und Nobody befand sich im Wasser.
Das erste, was er konstatierte, war die vollständige Finsternis, während im Innern des Delphins durch die durchsichtig gemachten Platten das Wasser doch hell erleuchtet gewesen war. So stimmte es also, was Nobody kaum hatte glauben mögen: durch eine Veränderung des Scheinwerfers konnte der von ihm erzeugte Lichtstrahl für den draußen Befindlichen unsichtbar gemacht werden.
Unfaßbar, wie das möglich, ist das ja nicht. Auch wir im alltäglichen Leben sind ja ständig von solchen Wundern des Lichts umgeben, uns fällt das nur gar nicht mehr auf. Man denke nur an die Ablenkung des Lichtstrahles durch ein Prisma, wie er dabei in seine Grundfarben zerlegt wird. Oder man zünde am Tage eine Lampe an, halte ein großes Stück Pappe davor, in der sich ein kleines Loch befindet - man wird nichts Auffälliges dabei beobachten. Sobald man aber durch schwarzgefärbtes Glas blickt, sieht man durch das Loch in der Pappe einen scharf abgegrenzten Lichtstrahl hervordringen - für uns freilich ganz selbstverständlich, aber durchaus nicht für die Augen des forschenden Physikers, welcher jeder Naturerscheinung auf den Grund gehen will.
Die Taucherlaterne war nicht mit solch einer Vorrichtung versehen, und so durfte Nobody nicht wagen, sie anzuzünden. Es war auch nicht nötig. Der Tunnel hatte von hier aus bis zu seinem Ende, wie Sinclaire behauptet, keine Abzweigung mehr, die Wände waren glatt, so brauchte Nobody seine Hand nur an einer Wand entlanggleiten zu lassen.
Auf diese Weise strebte er rüstig vorwärts, mit den Füßen den ebenen Boden berührend. Der Tunnel, also ganz mit Wasser gefüllt, war nur fünf Meter hoch. Kam ihm der Seelöwe entgegen, so mußte er das schon auf eine ziemlich bedeutende Entfernung voraus am Wasserdruck fühlen. Daß er sich hier unsichtbar gemacht hatte, war wohl ganz ausgeschlossen, um so mehr, weil, wie Sinclaire sagte, in diesem Zustande der elektrische Strom, der hierzu das ganze Boot durchlaufen mußte, in dem darin befindlichen Menschen ein höchst unangenehmes Vibrationsgefühl erweckte, was trotz aller sonstigen Vollkommenheit des Fahrzeuges nicht hatte beseitigt werden können.
Und wozu sollte sich denn der Seelöwe hier unsichtbar machen? Es war vielmehr ganz sicher zu erwarten, daß Dudley, der hier gar nicht so sehr bekannt war, zu seiner Sicherheit einen starken Blendstrahl vorausschickte.
Fuhr der Seelöwe ziemlich dicht am Boden, dann mußte sich Nobody schnell auf den Grund werfen, der ihn durch seine dunkle Färbung vollkommen verschwinden ließ, und das mußte immer möglich sein; denn so tief, daß der Seelöwe den Grund streifte, durfte er niemals dirigiert werden.
Genau elf Minuten, wie er dann an seiner wasserdichten, am Handgelenk festgeschnallten Uhr konstatierte, war Nobody gewandert, und wenn es bis zum Ende des Tunnels vom Delphin aus nur ein Kilometer war, so konnte er nicht mehr weit entfernt sein, als er plötzlich einen hellen Lichtstrahl vor sich auftauchen sah. »Der Seelöwe, da kommt er!!«
So blitzartig, wie dieser Gedanke gewesen, so sank Nobody auch auf den Grund nieder, und diese Schnelligkeit war auch sehr nötig.
Denn ihn umgab nicht atmosphärische Luft, sondern Wasser, welches die Lichtstrahlen außerordentlich absorbiert, der Lichtschein war ihm also schon viel näher, als ein Unkundiger geglaubt hätte - und da sauste es auch schon über ihn hinweg, ein umgekehrter Komet, den Lichtschein nach vorn gerichtet, und da verschwand es auch schon wieder in der finsteren Ferne.
Nobody auf und zurück! Hier, wo er sich nicht im Zaume zu halten brauchte, schlug dem eisernen Manne das Herz gar gewaltig.
Was würde er in den nächsten Minuten zu sehen bekommen? Was für eine furchtbare Tragödie würde sich unter der Erde in dem schauerlichen Wassertunnel abgespielt haben?
Jetzt durfte er seine Laterne in Brand setzen, was mittels magnet-elektrischer Zündung geschah, und in ihrem Scheine strebte er eiligst vorwärts, viel schneller als auf dem Herweg, dabei aber doch die linke Wand im Auge behaltend, wo in einer Spalte der Delphin lag.
Eine Zeiterinnerung sagte Nobody, daß diese Spalte jetzt gleich kommen mußte. Daß er kein Licht sah, darüber durfte er sich nicht wundern, ebensowenig, keinen Schuß gehört zu haben. So etwas gab es hier nicht. Und diese finstere Totenstille, in der sich alles zugetragen haben mußte, was nun auch geschehen sein mochte, wirkte nur um so schauerlicher.
Da war die Spalte! Aber das mußte eine andere sein, der Delphin lag nicht darin ...
Halt! Nobody stutzte. Ein jäher Schreck durchfuhr ihn!
Der Boden bestand aus weichem Kalkstein, war ein wenig schlammig, und deutlich konnte Nobody die Spur von dem Kiel des Delphins, der auf dem Grunde gelegen hatte, erkennen.
Jawohl, das war dennoch dieselbe Spalte, hier hatte der Delphin gelegen.
Und jetzt war er weg, so wenig zu sehen, wie etwas vom Seelöwen. Auch kein Lichtschein in der Ferne. Nur tote Finsternis starrte dem Spähenden entgegen.
Noch dachte Nobody an keinen Vorwurf.
»Entweder hat Sinclaire ihn mit der elektrischen Kugel gefehlt, oder das Leck ist nicht genügend groß gewesen, um den Seelöwen sofort zum Sinken zu bringen, und Sinclaire ist ihm mit dem Delphin nachgeeilt. Dann muß auch ich diese Richtung einschlagen.«
Und Nobody richtete seine Schritte rückwärts, mit aller Gewalt jedes aufsteigende Mißtrauen an die Zuverlässigkeit des Franzosen, wie auch jede aufsteigende Furcht, einer Todesahnung entspringend, von sich bannend, und man bedenke nur die Situation, hier in dem finsteren, todesstillen, unterirdischen Wassertunnel nur auf sich selbst angewiesen zu sein, ein Taucher, der sich nur für fünf Stunden auf seine Luftbombe verlassen kann, so hier unten entlangzuwandern, und man wird begreiflich finden, daß auch ein Nobody einmal von Todesangst hätte befallen werden können.
Aber kraft seines Willens wußte er solche Gedanken eben von sich fernzuhalten, und er war noch immer voll guten Mutes, als er auch nach einer Viertelstunde kein Licht und kein Wrack und keinen Delphin und keinen Seelöwen bemerkte.
»Hm. Die Verfolgung hat sich doch ziemlich weit erstreckt, und wer weiß, ob Sinclaire den Seelöwen überhaupt einholen kann, der ja noch schneller ist als der Delphin. Nun, Sinclaire weiß schon, wann er umzukehren hat und ebenso, daß ich mir unterdessen selbst zu helfen weiß.«
Also immer weiter zurück!
Nach einer weiteren Viertelstunde zweigte sich ein Nebentunnel ab, und zwar in gar nicht so scharfem Winkel, man konnte sehr im Zweifel sein, welchen man als die Fortsetzung dieses Tunnels hier bezeichnen sollte.
Nobody freilich befand sich nicht im Zweifel darüber, welchen Weg der Delphin zur Herfahrt benutzt hatte, er brauchte deshalb gar nicht den Kompaß zu Rate zu ziehen.
Aber wer sagte ihm, daß der Seelöwe zur Flucht diesen direkten Weg eingeschlagen hatte? Nobody wußte gar nicht, wohin dieser Seitentunnel führte, das konnte vielleicht ebenfalls ein direkter Weg nach irgendeinem Ausgangspunkt sein, und bald würden noch viel mehr solche Abzweigungen kommen.
Irgendeine Spur fand Nobody nicht, aus der er hätte schließen können, wohin sich die Unterseefahrzeuge gewendet, und so blieb ihm gar nichts anderes übrig, als hier zu warten.
»Sinclaire weiß doch, daß der Apparat nur für fünf Stunden Luft enthält, er wird schon zeitig genug zurückkommen, und wenn er deshalb die Verfolgung aufgeben muß.«
Aber nun abgesehen davon, daß in die Zuverlässigkeit des Franzosen kein Mißtrauen zu setzen war - - wenn dem Delphin nun selbst etwas zugestoßen war? Oder man konnte auch den Fall annehmen, daß der leidenschaftliche Franzose in seiner vom Haß diktierten Gier, den verräterischen Dudley unschädlich zu machen, nicht an seinen Begleiter dachte oder doch die Zeit verpaßte. Was dann?
Bei Aufwerfung dieser Fragen rann über Nobodys Rücken doch ein kalter Schauer herab.
Doch gleich war das wieder vorbei, und dann kam sogar sofort ein Gedanke, der eine Todesfurcht überhaupt gar nicht mehr zuließ.
»Nun, was ist dann weiter? Dann gibt es auf der Erde einen Menschen weniger, der sowieso auf und unter der Erde nichts mehr zu suchen hat, und dem es daher verdammt gleichgültig ist, wieviel Stunden und Minuten er seine Lunge noch mit Luft füllen kann.«
Anderthalb Stunde befand er sich bereits im Wasser, und eine halbe Stunde wartete er hier noch. Nur noch für drei Stunden Luft im Reservoir!
»Diese werde ich benutzen, um mir erst einmal die Mammuthöhle zu besehen, wenigstens das hintere Ende.«
Nobody ging wieder zurück bis an jene Spalte, hier blickte er nach der Uhr, löste vom Gürtel die kleine Schiefertafel und schrieb darauf:
»Ich steige in die Mammuthöhle hinauf, bin spätestens um sieben Uhr wieder zurück.«
Die Schiefertafel legte er so hin, daß Sinclaire sie unbedingt sehen mußte, und daß dieser gewissenhaft Umschau hielt, wenn er den Taucher hier noch nicht zur Stelle fand, das war doch selbstverständlich.
So hatte Nobody sich für seinen Ausflug zwei Stunden vorgenommen, dann besaß er noch immer für eine Stunde Luft.
Jetzt nicht mehr vorsichtig schleichend, hatte er den Kilometer in zwölf Minuten zurückgelegt, bis ihm eine Steinwand Halt gebot.
Aber an dieser hing eine Drahtleiter herab, aus jenem unverwüstlichen Metall hergestellt, dessen Ursprung Nobody von dem Franzosen nicht mehr erforschen durfte, den dieser wahrscheinlich selbst nicht kannte.
Nobody stieg im Wasser trotz der schweren Bleisohlen ohne Mühe hinauf, hätte sich ja auch gleich durch Ansammlung von Luft, die er dann aber unbenutzt wieder hätte ausstoßen müssen, nach oben treiben lassen können, kam in einen senkrechten Schacht, der immer noch mit Wasser angefüllt war, so daß das Wasser im Tunnel also unter einem starken Drucke stand, bis Nobody nach einer Schicht von etwa vier Metern den Kopf herausstreckte.
Aber den Helm abzuschrauben, daran durfte er nicht denken! Das war keine atembare, atmosphärische Luft, sondern das war Kohlensäuregas, mindestens die Luft stark mit solchem geschwängert, und Nobody bedauerte nur, nicht seinen selbstkonstruierten Apparat zur Hand zu haben, mit welchem er den Kohlensäuregehalt der Luft bestimmen konnte. Nobody hatte ja schon einmal viel mit Kohlensäuregas zu tun gehabt, was in der Erzählung ?Die Magnetinsel? beschrieben wurde.
Nur noch wenige Sprossen höher, dann erblickte Nobody über sich eine Felsendecke und vor ihm eröffnete sich ein horizontaler Schacht, in dem er bequem aufrecht stehen konnte.
Um schneller vorwärtszukommen, entledigte er sich der schweren Bleisohlen, sie hier gleich zurücklassend, und so drang er leichten Schrittes vorwärts.
Dieser Schacht bot nichts Bemerkenswertes. Nobody, sich die Richtung der Magnetnadel merkend, zählte dreiundfünfzig Schritte, noch war kein Seitentunnel gekommen, da erweiterte sich der enge Schacht zu einer weiten und hohen Halle, und ...
Da war es schon! Auf Galerien, in die Steinwand eingemeißelt, standen goldene und silberne Vasen und Urnen, nicht eben geschickt gearbeitet, ohne weiteren Zierrat, und lagen in kleinen Haufen Schmuckgegenstände verschiedener Art, wie Armspangen, Halsketten und dergleichen, ebenfalls sehr plump gefertigt.
Särge, Mumien und andere Raritäten fehlten, und außerdem war es nicht allzuviel, was die Ureinwohner Amerikas, über welche wir in völliger Unkenntnis sind, soweit es Nordamerika anbetrifft, hier zusammengehäuft hatten, obgleich das Edelmetall genügte, um aus einem armen Mann einen vielfachen Millionär zu machen, und wenn man gewußt hätte, was hier zu holen war, so hätten die Yankees die Mammuthöhle schon längst erforscht, trotz allen betäubenden Kohlensäuregases.
Doch an den Wänden zeigten sich noch verschiedene andere Ein- oder Ausgänge, da konnte ja auch noch mehr aufgespeichert liegen.
Nobody interessierte sich sehr wenig für solche Altertümer, zumal, wenn er daran jegliche Kunst vermißte, und noch weniger konnte ihn das Gold reizen. Da er aber nun einmal hier war und noch viel Zeit hatte, mußte er die Sache natürlich auch weiter untersuchen.
Zunächst konstatierte er, daß absolut keine Spur einer fremden Hand oder eines menschlichen Fußes zu entdecken war. Allerdings war das schwer zu bestimmen in dem felsigen Boden, die Gefäße waren sowieso nicht in Reih und Glied gestellt, aber es machte doch auch gar nicht den Eindruck, als ob hier vor kurzem ein Schatzgräber eingesackt hätte, und hinterlassen hatte er auch nichts.
Nobody prüfte den Kompaß und schritt der nächsten Tür zu, welche die Natur ohne Beihilfe einer menschlichen Hand geschaffen hatte.
Er kam in einen Gang, welcher in eine kleinere Kammer führte, deren Decke feucht war und einige Tropfsteinbildung zeigte. Diese Kammer hatte wiederum drei Ausgänge, den einen benutzte Nobody mit der Absicht, in der nächsten Kammer umkehren zu wollen.
Die Tropfsteinbildung nahm immer mehr zu, die nächste Kammer zeigte schon ganz abenteuerliche Formen, außerdem rieselte ein Bach herab, der in einer Bodenspalte verschwand.
Hier kehrte Nobody also um, schritt den Gang zurück und ... in eine ziemlich weite Halle, ausgefüllt mit den riesigsten Stalaktiten, also von der Decke herabhängenden Tropfsteinen, wie graue Eiszapfen aussehend, welche einen in der Mitte dieser Halle befindlichen Teich mit schwarzem Wasser gleichsam von oben einzäunten.
»Nanu, wie komme ich denn hierher?«
Sein erster Blick galt dem Kompaß, seinem einzigen Führer in diesem Reiche der Nacht, wo es wohl noch eine linke und eine rechte Hand gab, sonst aber jeder Unterschied der Richtung aufhörte.
Der Kompaß stimmte, d. h. Nobody hatte die rechte Richtung zum Rückweg eingeschlagen, und es darf wohl geglaubt werden, daß sich dieser Detektiv auf so etwas verstand.
Die betreffende Richtung beibehaltend, kam er abermals in eine Stalaktitenhöhle, ein weiterer Gang führte ihn wohl wieder in eine Kammer mit glatten Wänden, in der er aber noch nicht gewesen war, hier hörte er sogar einen Bach rauschen, den er dann in einer Tropfsteingrotte von enormen Dimensionen erblickte.
Nun war für Nobody kein Zweifel mehr vorhanden.
»Die Magnetnadel wird abgelenkt oder ist einmal abgelenkt worden.«
Ein jäher Schreck durchzuckte ihn, obgleich er sich schon mit einem Gedanken an den Tod ausgesöhnt hatte, eben weil er sofort voll und ganz erkannte, was die Ablenkung der Magnetnadel durch eine Eisenader zu bedeuten hat.
Ein anderer, Unerfahrener, hätte vielleicht geglaubt, sich mit Leichtigkeit wieder zurückfinden zu können, er hatte sich doch gar nicht so weit von dem Wasserschachte entfernt, Nobody wußte aber sofort, in welcher Lage er sich befand, hier in diesem Labyrinth, wenn die Magnetnadel versagte oder nur ein einziges Mal versagt hatte.
Ja, er hatte an diese Möglichkeit sogar schon vorher gedacht, ehe er nur den ersten Gang betreten, hatte aber das Vorhandensein einer Eisenader - etwas anderes kann die Magnetnadel nach menschlichen Erfahrungen nicht ablenken - in dieser Gesteinsart für ausgeschlossen gehalten.
Nobody wußte trotz aller seiner feinen Instinkte, in denen er mit jeder nordamerikanischen Rothaut wetteifern konnte, durchaus nicht mehr, von wo er gekommen war, was jetzt vorn und was hinten war, was links und was rechts. Das galt alles nur noch für seine eigene Person, für seinen Körper.
Hier gab es nur zweierlei: entweder sich auf den Zufall verlassen oder ... einer höheren Eingabe folgen.
Nobody blieb ruhig stehen, wo er stand, schloß die Augen und konzentrierte all seine Gedankenkraft darauf, den Rückweg nach dem Wasserschachte zu finden.
Nach einiger Zeit, deren Länge sich bei solcher Geisteskonzentration jeder Berechnung entzieht, kam ihm die deutliche Erkenntnis, es war ihm, als ob ihm eine innere Stimme zuflüstere, sich nach rechts dem ersten Ausgange zuzuwenden.
Ohne Zögern folgte Nobody dieser inneren Stimme, die Sokrates seinen Dämon nannte. Auch Nobody hatte diesen ?Dämon?, worunter hier aber ein guter Geist zu verstehen ist, schon oft in bösen Lagen zu Rate gezogen, fast stets hatte diese innere Stimme wahrgesprochen, also doch nicht immer - und auch diesmal war es nicht der Fall!
Nach Durchschreiten einiger Gänge und Grotten wurde Nobody von dem anfänglich so sicheren Gefühl verlassen, große Mutlosigkeit bemächtigte sich seiner - er hatte sich in dem Labyrinth eben total verirrt!
Noch für zwei Stunden Luft! Jetzt ging er zum planlosen Suchen, zum Umherirren aufs Geratewohl über. Selbstdenken hatte hier gar keinen Zweck. Nur darauf mußte er achten, daß er die Kammern wieder erkannte, in denen er schon gewesen, besonders natürlich die ersten, wonach er sich ja sofort wieder orientiert hätte.
Es war nichts. Die Gänge, Kammern und Höhlen bekamen wieder glatte Wände, aber Nobody befand sich schon ganz anderswo, das war schon eine andere Gesteinsart.
Noch für eine Stunde Luft, noch für eine halbe. Am Gürtel befand sich ein mit dem Tornister durch einen Schlauch verbundener Apparat, welcher genau angab, wieviel Luft sich in der Bombe noch befand, und da brauchte man nicht auf eine Zugabe zu hoffen. Der Apparat zählte zuletzt minutenweise, und wenn der Zeiger auf der Null stand, hauchte in diesem Augenblick die Luftbombe ihren letzten Atem aus.
»Na, dann ist es eben vorbei mit mir,« sagte sich Nobody, als er sich resigniert auf den Boden niedersetzte und den Rücken gegen die Wand lehnte.
Er dachte an einige Personen, die er auf der Erde besonders liebgehabt hatte, spekulierte etwas, ob es wohl ein Jenseits und ein Wiedersehen nach dem Tode gebe, und dann machte er einige Reflexionen über den Selbstmord.
Der Selbstmord ist eine Feigheit! Wer sich selbst tötet, um seinem Schicksale, um einem Uebel aus dem Wege zu gehen, ob er dieses nun verdient hat oder nicht, ist ein schwächlicher Feigling! Da hilft nun alles nichts, alles Gegengerede ist leere Sophisterei! Von den erbärmlichen Wichten, die eine selbstverübte Schuld nicht abbüßen wollen, gar nicht zu sprechen.
Ausnahmen gibt es überall. Niemand soll über einen Selbstmord richten, welcher einem Grunde wie etwa dem Liebeskummer entspringt. Es gibt Verzweiflungen, denen der irdische Mensch nicht gewachsen ist. Und selbst die Tat des erwerbsunfähigen, langsam dem Tode entgegensiechenden Mannes, der zum Stricke greift, weil er sein letztes bißchen Vermögen nicht dem Arzte und Apotheker opfern, sondern seiner Familie erhalten will, hat nichts Feiges, sondern sogar etwas Heldenhaftes, mindestens etwas Edles an sich.
Aber sonst heißt es: durch!!! Solange man noch atmen und die Glieder regen kann, muß man mit dem Trotze des Prometheus gegen das Schicksal und gegen alle Götter ankämpfen.
Und mit diesem letzten Gedanken sprang Nobody wieder auf, um von neuem nach der ersten Kammer zu suchen. Ganz zwecklos! Es war ein planloses Umherirren, das ihn nicht zum Ziele führte.
Noch zehn Minuten - noch fünf - noch drei - noch zwei Minuten ...
In einer Minute berührte der Zeiger die Null, dann hatte der Lufttornister ausgepustet. Dann ein Ringen und Schnappen nach Luft, dann ein Hinstürzen, ein konvulsivisches Zucken, wobei die Augen aus den Höhlen zu treten scheinen ...
Na, wenn man die Wahl zwischen zwei Todesarten hat, wählt man natürlich die leichteste.
Der Tod durch Einatmen von Kohlensäure ist sogar sehr angenehm. Leute, welche in eine reine Kohlenatmosphäre gerieten, wurden augenblicklich, schon nach dem ersten Atemzuge von Starrkrampf befallen, und dann, noch rechtzeitig wieder zu sich gebracht, wußten sie nur von angenehmen Träumen zu erzählen. In Kohlensäure erstickt man also durchaus nicht, wie oft behauptet wird, allein durch Mangel an Sauerstoff, sondern Kohlensäure ist ein direkt wirkendes Gift. Man hat sie auch oft anstatt Chloroform, Lachgas und anderer Betäubungsmittel angewendet.
Also lieber unter angenehmen Träumen hinüberschlummern, anstatt schnappend die Augen aus dem Kopfe verlieren.
In der letzten halben Minute schraubte Nobody schnell den Helm ab; nun einen tiefen Atemzug gemacht, noch einen, und nun ... immer noch einen und immer so weiter geatmet.
Es war nämlich die reinste, köstlichste atmosphärische Luft, welche die Lunge einsaugte.
Nobody konnte sich nicht helfen, er mußte aus vollem Halse lachen - ein Lachen der Erleichterung, der glücklichen Dankbarkeit gegen den, der auch unter der Erde wohnt.
Wie kam das? Daß der hintere Teil der Mammuthöhle mit Kohlensäure erfüllt ist, davon hatte Nobody schon früher gehört. Dasselbe hatte auch Sinclaire versichert, und der mußte es doch wissen, obschon die beiden sonst wenig hierüber gesprochen hatten. Zum Beispiel konnte Nobody nicht gerade mit Bestimmtheit behaupten, jener hätte direkt gesagt, daß auch die Grotte, in welcher die alten Heiligtümer lagen, wegen Kohlensäuregasen nur mit dem Skaphander betretbar sei, er hatte im allgemeinen nur von der Mammuthöhle gesprochen, und wie der vordere Teil von etwa vier englischen Meilen, so konnte ja auch der hinterste Teil frei von Kohlensäure sein, indem diese ihre Quelle in der Mitte der Höhle hatte und irgendwo einen Ausweg fand, der sich, da die Kohlensäure schwerer ist als die atmosphärische Luft, dann sicher am Boden befinden mußte, sodaß das Gas nach unten fortsickerte.
Sei dem, wie es wolle - Nobody hatte den Taucherhelm ganz umsonst getragen, er konnte atmen. Ja, wenn er vernünftigerweise nicht noch in den letzten Sekunden den Entschluß gefaßt hätte, lieber eines angenehmen Todes zu sterben, wäre er sogar in dem Taucherhelm erstickt.
Es lag etwas Spaßhaftes darin, wie dies alles gekommen war.
Sonst aber konnte Nobody seine Lage durchaus nicht spaßhaft auffassen. Schließlich war es noch genau dasselbe, als da er in dem Taucherhelm atmen konnte. Nur hatte er jetzt mehr Zeit, nach dem Ausgange zu suchen, dem richtigen, gangbaren, denn der durch den Wasserschacht war ihm doch nun ohne Skaphander verschlossen, und jener andere bekannte Ausgang lag vierzig englische Meilen von hier entfernt, und Nobody hatte nicht die geringste Ahnung von einer Richtung, und dann mußte er immer damit rechnen, doch noch in eine Kohlensäureatmosphäre hineinzukommen.
Wir überspringen weitere vierundzwanzig Stunden.
Daß Nobody wiederum am Boden lag und seinen Tod erwartete, ist zu glauben. Einige Stunden hatte er geschlafen, sonst war er gewandert, rastlos gewandert, und dieses planlose Umherirren, dabei immer all seine Sinne anstrengend, hatte ihn mehr erschöpft als die Zurücklegung des doppelten Weges im Eilmarsch unter anderen Verhältnissen. Und nun dazu dieser nagende Hunger!
Während des Schlafes hatte er im Traume immer das rote Buch gesehen.
Ja, die nächste Bestimmung gab den 38. Breitengrad und den 72. Längengrad an, wozu noch Minuten und Sekunden hinzukamen. Der bezeichnete Ort, wo Nobodys ferneres Schicksal auf ihn wartete, mußte jenseits der Cumberlandberge im Staate Virginia liegen, also gar nicht so weit von hier.
Aber Nobody bezweifelte sehr, daß er dieses nächste, ihm prophezeite Schicksal noch erleben würde. Wenn man von solchem Hunger geplagt wird, da ist man wenig vertrauensselig, da gibt man den ganzen Glauben für ein Stückchen Brot hin.
Sonst allerdings hatte sein Gleichmut ihn nicht verlassen.
»Ich werde konstatieren, wie lange ein normaler Mensch das Hungern aushält, dabei alle auftretenden Erscheinungen beobachten, die Pulsschläge zählen und darüber Notizen machen. Wenn man doch einmal in die Mammuthöhle so weit vordringt und man findet mein Skelett, daneben liegend meine Notizen, so wird man sagen; dieser Nobody war doch ein ganzer Kerl, auch noch in seinen Todesstunden hat er der Wissenschaft einen wichtigen Dienst geleistet.«
Papier und Bleistift hatte er bei sich, mußte sich aber, um dazuzugelangen, erst des Gummianzuges entledigen, den er noch immer trug, wie er auch den Taucherhelm immer mit sich geschleppt hatte, übrigens gar nicht so schwer, und Nobody ließ nicht gern etwas im Stich.
Aufzuknöpfen war der wasserdichte Anzug natürlich nicht, er mußte vollkommen abgestreift werden. Nobody erhob sich also - in diesem Augenblicke übermannte ihn eine große Schwäche, schnell lehnte er sich, um nicht niederzustürzen, gegen die Felswand, auch den Kopf mit dem Ohr dagegen.
»Eine Minute, Herr Doktor, ich muß eine neue Drahtrolle anknüpfen.«
»Wir haben Zeit genug, hier scheint die Welt mit Brettern vernagelt zu sein.«
Wohl selten hat ein Mittel, um einen Ohnmachtsanfall zu verhüten, solch eine gute Wirkung erzielt, wie diese deutschen Worte, die an Nobodys Ohr drangen. Jedenfalls wirkten sie besser als eine kalte Dusche.
Im Nu war jede Schwäche verschwunden.
»Hallo!!!« schrie Nobody mit einer Lungenkraft, wie nur ein Mensch brüllen kann, der über einen wohlgefüllten Magen verfügt. Denn mit leerem Magen ist eigentlich schlecht brüllen.
»Ja, hier müssen wir umkehren, hier geht's wieder einmal nicht weiter. Wieviel Meter?«
»Achthundertzweiundzwanzig.«
»Winkel?«
»Dreiundzwanzig Grad und ...«
Nobody hatte erkannt, daß die Stimmen nur hörbar waren, wenn er das Ohr fest gegen die Wand preßte. Dennoch mußte er sich bemerkbar machen können. Schnell löste er die Luftpistole vom Gürtel, klopfte mit dem soliden Kolben gegen die Felswand.
Kein Gegenzeichen. Nobody legte wieder das Ohr dagegen.
»Kohlensäuregehalt?«
»Hundert.«
»Also immer noch reine Kohlensäure.«
O weh! So hatten auch jene Taucherhelme über den Köpfen, mußten schon sehr laut sprechen, um sich nur einander verständlich zu machen.
Doch es gab kein anderes Mittel, Nobody klopfte aus Leibeskraft immer weiter, dazwischen manchmal das Ohr gegen die Wand legend.
»Wir wollen den letzten Gang wieder zurück und dann ... seid mal still ... st ... klopft da nicht etwas?«
Jawohl, da klopfte etwas - Nobody klopfte jetzt mit Stiefelhacken und allem, was er nur zum Klopfen verwenden konnte.
»Wirklich, da tickt etwas.«
»Es muß hier in der Wand sein.«
»Legen Herr Doktor doch einmal das Telephon daran.«
»Ich tu's schon.«
Ha, dort waren die Taucherhelme mit Telephonen ausgestattet!
»Hallo, hallooohhhh!!!« brüllte Nobody.
»Bei Gott, eine menschliche Stimme! Wer ist dort?!«
»Ich bin in einer Höhle eingeschlossen, aus der ich den Ausgang nicht wiederfinden kann!!« schrie Nobody.
Ein allgemeines Durcheinander von Stimmen, besonders wurde auch gestaunt, daß der Eingeschlossene Deutsch spreche, bis die Stimme, welche dem mit Doktor angeredeten gehörte, energisch Ruhe gebot.
Jetzt ging die Unterhaltung glatt vonstatten.
»Können Sie denn atmen?«
»Ganz gut.«
»Sie fühlen keine Beschwerden?«
»Nein, hier ist die Luft frei von jeder Kohlensäure. Aber mich plagt seit bald sechsunddreißig Stunden der Hunger.«
»Wo befinden Sie sich?«
»Das weiß ich nicht.«
»Das muß ich aber erst konstatieren. Wie sind Sie nach dort gekommen?«
»Das kann ich so nicht erklären.«
»Haben Sie einen Kompaß?«
»Ja.«
»Wie steht die Nadel gegen die Wand, zu welcher Sie sprechen?«
»In einem Winkel von etwa 32 Grad westlicher Ablenkung.«
»Stimmt, wir sprechen in entgegengesetzter Richtung, aber deshalb ist noch durchaus nicht gesagt, daß wir auch gegen dieselbe Wand sprechen, wir können unter Umständen meilenweit voneinander entfernt sein.«
»Ich verstehe schon, wir müssen den Zeitunterschied zwischen zwei Schallwellen messen.«
»Haben Sie eine Uhr bei sich?«
»Jawohl. Den besten Chronometer, nach der Greenwicher Sternwarte justiert, er differiert um keine Sekunde.«
»Ich ebenfalls. Dann werden wir es schnell haben. Welch Zeit haben Sie?«
»Zweiundzwanzig Minuten vor elf Uhr. In wenigen Sekunden sind es nur noch einundzwanzig Minuten - aufgepaßt - - - jetzt!!!«
»Stimmt. Wir müssen ja ganz dicht zusammen sein. Noch einmal. Bei zwanzig Minuten sagen Sie eins, zehn Sekunden später sage ich zwei.«
Der Unterschied von zehn Sekunden stimmte. Danach mußten sich die beiden Sprecher wohl gegenüberstehen. Aber der eine Chronometer brauchte vom anderen nur um eine Sekunde zu differieren, so konnte die Entfernung bei der Vorzüglichkeit, mit welcher jeder Stein den Schall leitet, viel besser als die Luft, einige hundert Meter betragen.
Es gibt noch ein anderes Mittel, um die Entfernung durch Schallwellen zu konstatieren, und zwar braucht dies nur auf einer Seite zu geschehen. Nobody kannte es, drüben der deutsche Gelehrte verstand ebenfalls die Berechnung, und sie wandten die sogenannte doppelte Oszillationsmethode an. Eine Beschreibung derselben ist hier unmöglich; denn in der Theorie ist sie ebenso kompliziert wie einfach in der Ausführung.
Auf beiden Seiten wurde ein verschiedener Takt geklopft, im halben, dreiviertel, dreifünftel und so weiter, bis die beiden Takte zusammenflossen, und da war das Resultat gezogen.
»Gewiß, wir stehen uns direkt gegenüber,« versicherte drüben der deutsche Gelehrte, »es handelt sich nur noch um die Dicke dieser Felswand.«
»Haben Sie Werkzeuge?«
»Zwei Spitzhacken. Wir sind hier aber in einer reinen Kohlensäure-Atmosphäre, durch das kleinste Loch wird das giftige Gas zu Ihnen hinüberdringen und Sie betäuben, Sie töten, ehe wir imstande sind, die Oeffnung genügend zu erweitern, daß wir Ihnen einen Luftapparat zustecken können.«
»Sie haben einen Luftapparat in Reserve?«
»Noch zwei, das Nobody-System.«
Nobody hatte noch gar nicht gewußt, daß man diesen Skaphandern, die er auch nur verbessert hatte, schon seinen Namen gegeben. Offiziell war das auch nicht geschehen.
»Schlagen Sie die Oeffnung nur dicht am Boden, die schwere Kohlensäure kann nicht so leicht emporsteigen.«
»Hat sie denn dort drüben Raum, um sich am Boden zu verbreiten?«
»Raum genug, hier sind noch zahllose Gänge und Kammern.«
»Dann muß es gelingen, dann frisch ans Werk. Mut, nur Mut, Landsmann, und wenn die Wand auch viele Meter dick wäre, wir kommen durch!«
»Halt, noch eins. Wie tief befinden Sie sich in der Mammuthöhle?«
»Ungefähr zehn Meilen, englische.«
So weit war noch kein Mensch in diese Höhle vorgedrungen, wenigstens kein Forscher, der seine Entdeckungen bekannt gemacht hätte. Viele andere hatten ja schon bei dem Versuche ihr Leben gelassen.
Und jetzt erkannte Nobody, daß die innere Stimme ihn gestern doch nicht so ganz betrogen hatte - ein gütiger Gott war es gewesen, der ihn nicht immer im Kreise durch die Kammern und Gänge hatte laufen lassen, sondern ihn immer geradeaus bis hierher geleitet halte.
Darüber dachte Nobody noch weiter nach, während drüben die Spitzhacken schon zu arbeiten begannen.
Bald verstummte das Pochen wieder, es wurde in anderer Weise gegen die Wand geklopft, Nobody legte sein Ohr an.
»Hallo, Landsmann!«
»Ich höre.«
»Wir sind hier nicht schlecht erstaunt.«
»Worüber?«
»Wie sieht denn dort drüben die Wand aus?«
»Grau - es ist Kalkstein.«
»Merken Sie nichts von einer künstlichen Mauerung?«
Schon ging Nobody eine Ahnung auf, als er mit einem Messer an dem nicht allzu harten Stein kratzte, obgleich er noch nichts bemerken konnte.
»Nein.«
»Hier zuerst auch nicht, aber es ist nur eine starke Schicht von einem zementartigen Mörtel, dahinter kommt eine regelrechte Mauerung von Bruchsteinen.«
»Bitte, halten Sie sich nicht auf, ich bin dem Hungertode nahe.«
Die Spitzhacken nahmen ihre Arbeit mit verdoppeltem Eifer auf.
Also eine künstliche Mauerung! Jetzt begann Nobody klar zu sehen.
Er hatte doch den Franzosen gefragt, ob er Vorkehrungen getroffen habe, um seine goldenen Schätze in der Mammuthöhle zu schützen, um ein Vordringen bis ans Ende der Höhle unmöglich zu machen, vielleicht durch Anbringen einer Falltür oder dergleichen.
Daraufhin hatte Sinclaire erst die Achseln gezuckt und dann gesagt: »Mein Gott, was man besitzt oder für sein gutes Eigentum hält, muß man doch gegen fremde Hände beschützen.«
Also es war keine direkte Bestätigung gewesen, aber Nobody hatte daraus entnehmen müssen, daß Sinclaire wirklich Vorkehrungen getroffen hatte, um in sein Heiligtum eindringende Menschen zu vernichten.
Jetzt sah er seinen Irrtum ein. Er war dem Franzosen sogar Abbitte schuldig. Dieser hatte nur eine Mauer aufgeführt, um Eindringlinge abzuhalten, ihr ein ganz natürliches Aussehen gebend, und tatsächlich war das auch Schutz genug. Denn wem fiel es denn ein, an jeder Stelle der zahllosen Gänge und Kammern die Spitzhacke anzusetzen? Es wäre ja der allergrößte Zufall gewesen, wäre das einmal entdeckt worden.
Nun war auch erklärlich, wie die Luft hier frei von Kohlensäure sein konnte. Diese hatte ihre Quelle eben noch vor der Mauer. Früher mochte sie auch diesen Raum erfüllt haben, aber jetzt nicht mehr, so wenig wie zu Zeiten der alten Amerikaner, die sicher noch keine Skaphander besessen hatten.
Da prasselte in Kniehöhe ein spitzes Eisen durch die Wand, noch einige Schläge, und eine Hand wurde hindurchgesteckt.
»Keinen Viertelmeter dick,« sagte eine jetzt viel vernehmlichere Stimme.
»Haben Sie nicht etwas zu essen bei sich?« fragte Nobody, aber noch immer gegen die Wand schreiend, denn den Mund an das Loch zu legen durfte er nicht wagen, er hätte die jetzt einströmende Kohlensäure eingeatmet.
»Leider nicht,« lautete die Antwort, »wir sind ja im Skaphander, dessen Helm wir doch nicht losschrauben dürfen, und sind daher darauf angewiesen, zum Essen immer nach dem Vorderteil der Höhle zurückzugehen.«
»Doch, ich habe ein Stück Hartbrot in der Tasche,« ergänzte eine andere Stimme, und die auftauchende Hand hielt einen großen Schiffszwieback.
Nobody begann denselben mit den Zähnen zu zermalmen, selten hatte ihm etwas so geschmeckt wie diese steinharte Mehlpappe, und dabei fühlte er förmlich, wie seine Kraft mit jedem Bissen zurückkehrte.
Immer mehr erweiterte sich das Loch unter kräftigen Schlägen.
»Wissen Sie, was ein Skaphander ist?« wurde drüben gefragt.
»Gewiß doch, ich trage ja selbst einen, das heißt ich habe den Helm abgeschraubt, in meiner Bombe ist keine Luft mehr.«
»Ah. Sie haben einen Tornister?«
»Ja.«
»So brauchen Sie vielleicht nur eine Bombe. Sehen Sie zu, ob das Schraubengewinde und sonst alles paßt.«
Die Metallkugel wurde ihm zugesteckt, sie paßte, bald funktionierte alles wieder, und als Taucher kroch Nobody durch das inzwischen genügend erweiterte Loch.
Im Scheine von Laternen, ebenfalls durch künstlich zugeführte Luft gespeist, erblickte Nobody vier Männer, Glockenhelme über den Köpfen, auf den Rücken den Tornister - eben fast genau solche Skaphander, wie Nobody einen trug, nur daß bei den Höhlenforschern der wasserdichte Gummianzug unnötig war.
Mit Staunen wurde der Ausgegrabene betrachtet.
»Herr, wer sind Sie?« wurde Nobody von dem einen gefragt, hinter dessen Helmglas ein intelligentes, blondbärtiges Gesicht zu sehen war.
Nobody hatte sich schon alles zurechtgelegt. Er war nicht geneigt, sich zu offenbaren.
»Anton Schumann ist mein Name,« entgegnete Nobody also ohne Zögern, »auch ich bin dabei, die Mammuthöhle zu erforschen.«
»Doktor Latte. Wie sind Sie denn hinter diese Mauer gekommen?«
»Herr Doktor - nichts für ungut - aber bedenken Sie, daß ich sechsunddreißig Stunden ohne Nahrung bin ...«
»Sie haben recht. Vor dem Ausgange der Höhle steht mein Zelt, von zwei Jägern bewacht, dort finden Sie alles. Sind Sie fähig, die zwanzig Kilometer noch zu marschieren?«
»Ich bin es.«
»Wir müssen mit der Zeit geizen oder vielmehr mit der Luft. So werden Sie verzeihen, wenn ich selbst hierbleibe. Mein Diener Franz wird Sie begleiten, und Franz ist ...«
»Eine Begleitung ist ja gar nicht nötig, ich sehe einen Draht abgewickelt, den brauche ich ja nur zu verfolgen ...«
»Selbstverständlich werden Sie begleitet! Sonst habe ich doch keine Minute Ruhe, Sie können ja unterwegs liegen bleiben! Und Franz hat wahre Bärenkräfte, der kann Sie, wenn es sein muß, den ganzen Weg tragen. Also auf Wiedersehen, Herr Schumann, ich bin zwei Stunden später am Ausgang.«
Der Gelehrte griff schon wieder zur Spitzhacke, und Nobody folgte dem breitschultrigen Manne, welcher immer den am Boden liegenden Draht im Scheine seiner Laterne behielt.
Es sei nur bemerkt, daß Nobody während dieses Weges mehrfach menschliche Skelette liegen sah, zum Teil noch bekleidet - nur später, mehr dem Ausgange zu, schienen sich wilde Tiere an den Leichnamen vergriffen zu haben, eben weil dort keine Kohlensäure mehr herrschte - und auch alter Draht und Bindfaden war noch genug zu sehen, und man bedurfte dieses Ariadnefadens auch noch bis zuletzt; denn überall zweigten sich noch immer Gänge ab. Den ehemaligen Besitzern dieser Knochengerüste hatte freilich der Leitfaden nichts genützt, sie waren wohl meist Opfer der Kohlensäure geworden, welche sich, wie Nobody später erfuhr, nur periodenweise entwickelte, was um so gefährlicher war.
»Hier können wir atmen, mein Gasmesser zeigt keine Kohlensäure mehr an,« sagte eine Stunde nach dem Abmarsch der Führer, ein an seinem Gürtel hängendes Glasfläschchen prüfend betrachtend, und schraubte seinen Helm ab, welchem Beispiel Nobody folgte.
Es war das erste Wort des Führers gewesen und sollte das letzte sein, es war ein äußerst schweigsamer Mensch, und Nobody richtete keine Frage an ihn.
Da endlich erblickte er das Licht der Sonne wieder! Nobody saugte die warmen Sonnenstrahlen förmlich in die Lungen ein.
Es ist nur ein Hügel, in welchem die Mammuthöhle ihren Anfang nimmt, die Umgegend bewaldet. Unter Fichten waren zwei Zelte aufgeschlagen, zwei Männer, durch ihr ganzes Aeußere die professionellen Jäger verratend, von dem deutschen Gelehrten als Führer und Beschützer engagiert, waren eben dabei, das Mittagessen zu bereiten.
Das Hauptgericht war schon fertig, und Nobody langte hinein in den Schmortopf, wie ein Mann, der seit länger denn sechsunddreißig Stunden keinen Bissen in den Mund bekommen hat, abgerechnet ein Stückchen Hartbrot.
Die beiden Jäger waren schon halbe Rothäute geworden, waren über jede Neugier erhaben, und Franz war ein guterzogener, respektvoller Diener, der in dem Fremden einen ?Herrn? erkannte.
Nach kaum einer halben Stunde war Nobody gesättigt.
»Franz!«
»Der Herr befehlen?«
»Sie sind ständig in Diensten des Herrn Doktor Latte?«
»Jawohl, mein Herr.«
»Wie ist in Deutschland seine Adresse?«
Der Diener nannte sie ihm.
»Wer sind die zwei anderen, die bei ihm waren?«
Es waren gemietete amerikanische Bergleute, Arbeiter.
»Sagen Sie dem Herrn Doktor meinen besten Dank, und er würde noch von mir hören.«
»Sehr wohl, mein Herr.«
»Und das ist für Sie und für die beiden anderen, teilen Sie mit ihnen.«
Nobody hatte seiner Brieftasche eine Hundertpfundnote entnommen und sie dem Diener gegeben - und dann hatte Nobody schon seinen Tornister mit dem Gummianzug unter den linken, den Taucherhelm unter den rechten Arm genommen, und er schlug sich seitwärts in die Büsche.
»Ja aber,« hörte er nach einer kleinen Weile noch einmal hinter sich rufen, und er konnte sich den biederen Franz deutlich vorstellen, wie er mit weitaufgerissenem Maule dastand, »ja aber ... heernse! ...«
Nein, Nobody hörte nicht. Er setzte seinen Verduftungsprozeß fort.
Wir wollen diese Angelegenheit hier gleich erledigen.
Ein Jahr später suchte in Deutschland ein junger Gelehrter für ein Werk, seine Reise durch Nordamerika beschreibend, erläutert durch Photographien, Skizzen und Aquarelle, einen Verleger. Er fand keinen. Solche wissenschaftliche, sehr teure Werke haben doch nur eine beschränkte Anzahl von Käufern, sonst kommen sie zur freien Benutzung in Bibliotheken, und nun die enormen Herstellungskosten, besonders, wenn farbige Bilder dabei sind - solche Werke können nur durch wissenschaftliche Gesellschaften oder auf dem Wege der Subskription veröffentlicht werden, und da muß es schon etwas ganz Bedeutendes sein und der Verfasser schon einen berühmten Namen haben. Oder er muß das Werk auf seine Kosten herstellen lassen, wozu viel Geld gehört.
Der junge Gelehrte war weder berühmt noch ein Kapitalist. Auch kein Geschäftsmann, der sich zu helfen wußte. Er hatte sein kleines Vermögen mit einer wissenschaftlichen Reise verspekuliert.
Da wurde ihm unvermutet durch eine Bank eine Geldsumme angewiesen, welche für die Herstellungskosten dieses Werkes überreichlich genügte. Der Ueberweisende nannte sich Anton Schumann, nur ein kleiner Vermerk, daß das Geld eben für Veröffentlichung dieses Werkes bestimmt sei, sonst nichts weiter.
Und wer da weiß, wie es im Herzen solch eines Mannes aussieht, der da gern möchte und nicht kann, der weiß auch, was für einen überglücklichen Menschen Nobody gemacht hatte.
Nobody bekam das Werk dann später in die Hand, er mag auch genügend Exemplare gekauft und verschenkt haben. Von einem Abenteuer in der Mammuthöhle, wie die Expedition darin einen eingeschlossenen Menschen gefunden und befreit habe, wie sich dieser dann auf englische Weise verabschiedet hatte, davon war nicht einmal eine Andeutung gemacht worden. Das Werk war überhaupt streng wissenschaftlich gehalten, der Mammuthöhle selbst nur wenige Seiten gewidmet.
Jedenfalls aber hatte der deutsche Gelehrte die goldenen Heiligtümer nicht gefunden, war gar nicht so weit vorgedrungen, mochte er darin auch noch viel mehr als vierzig englische Meilen abgelaufen haben. Es ist eben ein unentwirrbares Labyrinth, noch heutigen Tages unerforscht.




Zwei Tage später sehen wir Nobody jenseits der Cumberlandberge über eine Prärie reiten, auf der eine Rinderherde weidete.
Dann kam etwas Wald, und wie er diesen umritten hatte, erblickte er vor sich eine stattliche Farm liegen, umgeben von kultiviertem Land.
Nobody stieg ab, nahm mit dem Sextanten die Sonne auf, die weitere Berechnung ergab, daß es diese Farm war, wo sein weiteres Schicksal ihn erwarten sollte.
Wie er auch ganz unfreiwillig hierhergeführt worden wäre, konnte er diesmal nicht nachträglich konstatieren, jedenfalls aber hätte der Weg ihn sowieso hier vorübergeführt, er hätte sowieso hier Rast gehalten.
Es waren biedere Leute, welche den Fremden mit mehr als selbstverständlicher Gastfreundschaft aufnahmen.
Am Nachmittage war Nobody gekommen, er übernachtete hier, ohne noch zu wissen, was er hier sollte.
Durch Porträtieren der ganzen Familie, wozu, wie schon früher oft gezeigt, Nobody ein großes Talent besaß, hatte er die Gastfreundschaft überreichlich vergolten.
Am anderen Morgen saß er mit dem Farmer, dessen Kindern und einigen Knechten beim Frühstück.
»Wißt,« sagte der alte Farmer, »wenn Ihr nichts weiter zu tun habt, dann bleibt doch noch hier, Ihr malt mir das ganze Haus ab.«
Da kam die Frau herein.
»Der Brunnen ist schon wieder verstopft, ich kann kein Wasser bekommen.«
Sofort wurde Nobody von einer Ahnung durchzuckt, daß jetzt sich ihm ein Schicksal nahe.
Die Männer begaben sich hinaus. Der Brunnen war gemauert, nur mit Brettern zugedeckt, ein Pumpwerk mit Rohr führte hinab.
Das Rohr war verstopft. Wurde es gehoben, dann gab es wohl für einige Zeit wieder Wasser, verstopfte sich aber bald abermals. jedenfalls war etwas nicht in Ordnung. Zu sehen war nichts, auch wenn man eine Laterne hinabließ. Dabei war der Brunnen so tief, daß auch die längste Stange nicht hinabreichte.
»Ja, das hilft nichts,« sagte der Farmer, »da muß jemand hinunter, das Ding muß aus dem Brunnenschacht heraus. Wenn's nur nicht wieder eine Leiche ist, daß die Frauenzimmer ganz rabiat werden.«
»Ist denn schon einmal eine Leiche im Brunnen gewesen?«
»Ein Neger, schon halb verwest. Wie wir dann später erfuhren, war er drei Wochen zuvor auf Allans Farm, die vier Stunden von hier entfernt ist, in den Brunnen gestürzt und nicht wieder zum Vorschein gekommen. Hier in unserem Brunnen tauchte er wieder auf.«
»Wie ist das möglich?«
Der alte Farmer kannte seine Wasserverhältnisse ganz genau. Hier überall unter der Erde war Grundwasser, aber kein stehendes, sondern fließendes, und was nun irgendwo in einen Brunnen fiel und untersank, geriet in die Strömung, und wenn der tierische Kadaver durch die sich im Innern entwickelnden Gase wieder in die Höhe getrieben wurde, so konnte er sehr leicht einmal in den Brunnenschacht geraten, dort die Röhre verstopfend. Ratten und anderes Viehzeug waren schon oft genug herausgeholt worden, einmal sogar eine menschliche Leiche.
Es klingt dies entsetzlicher, als es in Wirklichkeit ist. Man weiß ja bei keiner Quelle, aus der man mit Wohlbehagen trinkt, ob nicht in der dichten Nähe ein Kadaver im Wasser liegt. Kleinere tote Tiere sind ja überhaupt immer vorhanden. In Aegypten ist man allein auf das Nilwasser angewiesen, und es ist dort den arabischen Einwohnern nicht abzugewöhnen, alle Kadaver und allen Schmutz in den Nil zu werfen, und wenn der Europäer das Wasser auch filtriert - meistenteils aber nicht! - es ist doch immer dasselbe Wasser, und dennoch stößt sich niemand daran.
Und ist es denn bei uns viel anders? Ob das Wasserleitungswerk nun aus Flüssen oder Seen gespeist wird, oder ob es Grundwasser pumpt - bei jedem Glase Wasser müßte man immer daran denken, was das alles schon umspült, was da alles schon drin gelegen hat. Und wer tut es?
Man braucht es auch nicht. Fließendes Wasser hat eine wunderbare Oxydationskraft, d. h., es führt schnellstens organische Substanzen, welche schädlich werden könnten, in unschädliche anorganische über. Nur fließend muß es sein. Bei stehenden Gewässern ist das etwas anderes.
In einem Brunnen, welcher mit fließendem Grundwasser in Verbindung steht, kann ein Kadaver im Laufe der Zeit vollständig verwesen, es schadet der Gesundheit nichts. Daß es ekelhaft ist, ist eine andere Sache. Bei solchen Brunnen muß man nur gerade die sonstige Sicherheitsmaßregel vermeiden, nämlich den Saugkorb, die Filtervorrichtung, welche sonst eine Verstopfung verhüten soll. Jeder fremde Gegenstand soll vielmehr ins Rohr dringen, es verstopfend, um dann gleich entfernt werden zu können.
Diese Farmer hier dachten sich gar nichts mehr dabei, auch wenn sie einmal eine Leiche aus dem Brunnen fischten. Da gibt es ja noch ganz andere Verhältnisse. Ach, was wird nicht alles in der Welt getrunken! Man denke nur an unsere Soldaten in Afrika, an die Offiziere, welche vielleicht sonst die Türklinke nur mit dem Handschuh anfassen - mit welchem Hochgenuß die dort aus einer Regenpfütze schlürfen, zerstampft von Rinder- und Pferdehufen, erfüllt mit allen möglichen und unmöglichen Substanzen.
Fürwahr, bei jedem Glase Wasser sollte man an unsere Brüder in Afrika denken und ein diesen zugute kommendes Opfer bringen.
Nobody erbot sich, die Sache zu untersuchen, er sei so ein halber Fischmensch. Aller überflüssigen Kleidungsstücke sich entledigend, glitt er in dem Rohre hinab.
Wirklich, schon mit den Füßen fühlte er, daß es nur eine menschliche Leiche sein könne, welche sich vor die Rohrmündung gelegt hatte.
Ein Seil wurde ihm hinabgelassen. Nobody tauchte unter, legte dem menschlichen Körper die Schlinge unter die Arme und kletterte wieder hinauf.
Das Seil wurde emporgezogen, eine männliche Leiche kam zum Vorschein, nur in dem ersten Stadium der Zersetzung, angetan mit einem baumwollenen Anzuge - und tieferschüttert erkannte Nobody den schon bejahrten Mann wieder, dem er einst in London das Gedächtnis wiedergegeben hatte.
O Wunder! Mr. Dudley, der Steurer des Seelöwen! Er war es!
Also Sinclaire schien seine Rache doch erreicht zu haben. Und hier sollte sein Opfer wieder zur Oberwelt emporsteigen!
Von Verletzungen war nichts zu bemerken.
Nobody selbst ritt nach dem nächsten Städtchen, um den Sheriff zu holen. In dieser Stadt hatte er auch seinen Skaphander zurückgelassen, gleichzeitig gab er ein Telegramm nach Philadelphia an eine ihm bekannte Firma auf, dann kehrte er mit dem Sheriff nach der Farm zurück.
Dieser konnte nur ein Protokoll aufnehmen, er gab die Leiche, bei welcher sonst nicht das geringste gefunden wurde, frei, sie wurde in der Nähe der Farm begraben.
Nobody blieb noch, zeichnete, wußte sich nützlich zu machen - am liebsten hätte man den Gast ganz dabehalten.
Einige Tage später brachte für ihn die Post ein Paket, aus Philadelphia kommend. Es enthielt zwei Luftbomben und schwere Bleisohlen.
Nobody wußte den Farmersleuten etwas zu erzählen, er sei Ingenieur, wolle dieses Grundwasser einmal untersuchen - und er ließ die Leute staunen und denken, was sie wollten, er verschwand in seinem Skaphanderkostüm in dem Brunnen, um nicht wieder zum Vorschein zu kommen, und was man deswegen an der Oberfläche der Erde dachte, das war Nobody ebenfalls ganz gleichgültig.
Bemerkt sei nur doch, daß er sich wiederum einen anderen Namen gegeben hatte.
Er war noch nicht weit aus dem Bereiche des Brunnenschachtes gekommen, sank noch immer tiefer, als er in der Ferne durch das Wasser zwei Lichtscheine leuchten sah, einen helleren und einen schwächeren, und sofort ward ihm seine Ahnung zur Gewißheit.
Bald befand er sich an Ort und Stelle.
Da lag der große Delphin, und sein aus den Augen kommender Blendstrahl beleuchtete den auf der Seite liegenden Seelöwen, der außer einem wie durch eine Explosion gerissenes Loch im Vorderteil eine offene Klappe zeigte, wodurch er sich mit Wasser gefüllt hatte. Aber sein elektrisches Licht funktionierte immer noch.
Und daneben lag ein Taucher im Skaphanderanzug, im Herzen einen Dolch, und die Züge, welche Nobody durch das Helmglas erblickte, waren die des Franzosen, der sich einst Mephistopheles oder den Herrn der Erde genannt hatte.
Niemand war Zeuge des furchtbaren Dramas geworden, das sich hier unter der Erde im Wasser abgespielt hatte. Aber Nobody konnte sich alles lebhaft vorstellen.
Sinclaire war ein Opfer seiner Rachsucht geworden, Dudley hatte ihn mit sich genommen in den Tod, und diesmal würde Sinclaire nicht wieder erwachen.
Nobody begab sich also nicht wieder durch den Brunnenschacht zur Erdoberfläche zurück, er verstand es, sich auch unter Wasser in das Innere des völlig unverletzten Delphins zu begeben, und er kannte auch den Weg zur Küste zurück.

II. Der neue Cagliostro.

New-York, die Repräsentantin des Landes, in dem der Dollar und der Humbug herrschten, hatte wieder einmal eine neue Sensation.
Sennor Jose di Renardo nannte sich der Spanier, der sich die nordamerikanische Zentrale ausgesucht hatte, um von hier aus seine neue Lehre in die Welt zu schleudern.
Eigentlich war sie gar nicht neu, vielmehr uralt, nämlich die Lehre von der Wiedergeburt des Menschen und jeder anderen lebenden Kreatur.
In Indien läßt sie sich bestimmt 4000 Jahre zurückverfolgen, die Beden aber, die heiligen Schriften der Indier, rechnen mit Zehntausenden von Jahren, und es ist ja auch die Lehre der modernen Theosophie (Erkenntnis Gottes), deren Anhänger in Amerika nach Hunderttausenden zählen (nach der letzten Angabe waren es rund achtmalhunderttausend, nur Erwachsene). In London haben die Theosophen großartige Vereinshäuser und Bibliotheken, in Frankreich breitet sich die Lehre der Theosophie erstaunlicherweise besonders unter der Arbeiterbevölkerung aus, in Deutschland hat das theosophische Gemeinwesen, von Berlin aus dirigiert, schon recht festen Fuß gefaßt, und wenn man bedenkt, daß theosophische Eltern ihre Kinder doch natürlich in demselben Glauben erziehen, so dürfte man ihnen fast zustimmen, daß die heutige Generation bei ihrer nächsten Wiederverkörperung die Theosophie in der Schule gelehrt findet, zumal da sie ganz auf christlicher Basis steht. Den heute herrschenden Realismus und Materialismus betrachtet der Theosoph nur als eine vorübergehende Krankheit, die zur Gesundung führt - und dem stimmen die meisten Geisteshelden bei, wie die meisten Theosophen überhaupt zur Elite der Menschheit gehören, nicht nach dem Gelde gemessen, sondern nach Geist und Charakter, obschon gerade in Amerika die reichsten Leute Theosophen sind. Kant, Schopenhauer, Goethe - sie würden sich heute zur Theosophie bekennen, sie waren schon zu ihrer Zeit Theosophen, nur daß es damals diesen Namen noch nicht gab.
»Die Seele ist unsterblich und verkörpert sich nach dem Todesschlafe wieder. Wie du dich bettest, so wachst du auf. Das gilt auch für die Wiedergeburt. Alles, was du jetzt bist und kannst, hast du dir schon in einem früheren Leben verdient. Alles, was du jetzt lernst, kommt in deinem nächsten Leben als Anlage oder Talent wieder zum Vorschein. Laß dich nicht dadurch beirren, daß du im Alter deine körperlichen und sogar deine geistigen Kräfte verlierst. Du wirst doch auch jeden Abend nach anstrengender Tagesarbeit müde und abgespannt, bist nicht fähig zu außergewöhnlichen Leistungen; deine Kraft hat sich verbraucht. Aber am nächsten Morgen erwachst du mit frischen Kräften. Und hüte dich vor jeder Sünde! Es gibt eine ewige Gerechtigkeit! Was du einem anderen Menschen tust, das wird dir wiedervergolten werden, wenn nicht in diesem, dann in einem nächsten Leben! Denselben Schmerz, den du körperlich oder geistig einem anderen zufügst, mußt auch du auskosten!«
Das sind kurz zusammengefaßt die Lehren der Theosophie, und es sind gewiß goldene. Man brauchte gar nicht an eine Wiedergeburt zu glauben - wer nach diesen Grundsätzen lebt, der hilft mit, die Erde in ein Paradies zu verwandeln, und für seine eigene Person ist er auf dem Wege zum höchsten Glück, welches diese Erde gewähren kann.
Nun handelt es sich darum, wie lange die Pause zwischen Tod und Wiedergeburt währt. Da herrscht im Lager der Theosophen Streit, wenn auch kein entzweiender. Die ungeduldigste Partei berechnet den Todesschlaf auf rund zweihundert Jahre, die geduldigste, die am längsten schlafen möchte, spricht gar von 6000 Jahren.
Da erschien bei einem New-Yorker Verleger ein Buch, betitelt ?Meine neue Lehre von der Wiedergeburt?, in welchem der Verfasser, Jose di Renardo, klipp und klar bewies, daß der normale Mensch, der eines normalen Todes stirbt, so im 70. bis 90. Jahre, höchstens dreißig Jahre im unbekannten Jenseits schlafend weile, bis sich seine Seele wieder in einem Mutterleibe einfindet.
Die Richtigkeit seiner Behauptung bewies Renardo einmal mathematisch. Der Mensch verschläft ein Drittel seines Lebens - nämlich die Kinderjahre mit eingerechnet - also kann auch der Todesschlaf nur ein Drittel der Lebensdauer währen. Das führte er durch Vergleichung der einzelnen Lebensperioden mit den Stunden des Tages noch viel mehr und sehr geschickt aus.
Zweitens bewies er die Richtigkeit seiner Lehre dadurch, daß er sich selbst entsinnen konnte, schon zum vierten Male geboren zu sein, d. h., er konnte mit Bewußtsein auf schon drei Lebensperioden zurückblicken. Freilich hat ja jeder Mensch Millionen von Jahren zu durchlaufen, er muß viele Tausende von Wiedergeburten durchmachen, hat er doch einmal als Affe im Urwald gesessen - bei Sennor di Renardo langte eben das Bewußtsein nur für drei Lebensperioden zurück.
Das erste Leben, auf das er sich noch jetzt mit aller Deutlichkeit erinnern konnte, begann er am 13. April des Jahres 1624, an welchem Tage er im jetzigen Kanton Uri als das achte Kind eines gewissen Lukas Fiebli geboren wurde, der in einem kleinen Flecken das ehrsame Schusterhandwerk betrieb. Auch der kleine Franzi, also der jetzige Sennor Jose di Renardo, wurde zum Schuster bestimmt, und zwar kam er mit schon sehr jungen Jahren auf ein Schemelchen; denn er hatte den Vorzug, nicht die Schule besuchen zu brauchen.
In dem Buche beschrieb Sennor di Renardo seinen langen Lebenslauf vor 250 Jahren als Franzi Fiebli im Kanton Uri ganz ausführlich, mit allen Einzelheiten, zum Beweis, wie klar sich der Mensch auf seine früheren Leben erinnern kann, wenn er geistig einmal so gediehen ist. Er wußte noch genau, wie oft er den Knieriemen zu schmecken bekommen hatte, wie ein durchreisender österreichischer Edelmann seine Stiefel besohlen ließ und die Bezahlung vergaß, er wußte viel von dem Schweizer Bauernkrieg zu erzählen ... doch auf Einzelheiten lassen wir uns nicht ein.
Er war schon ein tiefsinniger Schusterjunge gewesen, wurde als Schustergeselle noch tiefsinniger, und am aller tiefsinnigsten als Schuhmachermeister, als ihm Frau und sämtliche Kinder an der Pest gestorben waren.
Dieser Welt überdrüssig, zog sich der tiefsinnige Franzi Fiebli im Kanton Uri als Einsiedler in eine Höhle zurück. In seinem zweiundvierzigsten Lebensjahre. Und in dieser Höhle, die bald zum Wallfahrtsorte wurde, hat er noch sechsundvierzig Jahre verbracht, hochgeehrt in der weitesten Umgegend, als Heiliger, besucht von Wallfahrern aus aller Herren Ländern.
Hier in dieser Einsamkeit kam Franzi Fiebli die Erkenntnis der Unsterblichkeit seiner Seele, aber in anderem Lichte als im christlichen, und als er im achtundachtzigsten Lebensjahre starb, wußte er ganz bestimmt, daß er demnächst wiedergeboren würde.
Nach diesem langen Leben war ihm ein neunundzwanzigjähriger Todesschlaf zu gönnen.
Als Franzi Fiebli wieder zum Bewußtsein erwachte, sah er sich von Lakaien und Kammerjungfern umgeben, und er lag in einer goldenen oder doch vergoldeten Wiege, an der sich eine Grafenkrone befand. Aber da hieß er natürlich nicht mehr Franzi Fiebli, sondern ... Komtesse Heloise de Reginald.
Denn die Seele ist geschlechtslos. Manchmal wird's bei der Wiedergeburt ein Junge, manchmal ein Mädel. Wie's trifft. Also nicht etwa regelmäßig abwechselnd. Es ist gerade wie beim Skatspiel. Wie die Karten gegeben werden.
Also jetzt lag der ehemalige Schusterjunge und Eremit Franzi Fiebli aus Uri als die kleine Gräfin Heloise de Reginald in einer goldenen Wiege, die in der Nähe von Paris in einem prächtigen Palaste stand.
Die kleine Gräfin Heloise war ein tiefsinniges Kind. Und je mehr sie heranwuchs, desto tiefsinniger wurde sie. Besonders, als ihr etwa im sechzehnten Jahre zum Bewußtsein kam, daß sie schon einmal gelebt hatte, daß sie früher der Schusterjunge und späterer Eremit Franzi Fiebli im Kanton Uri gewesen war, so vor hundert Jahren, wurde sie ganz und gar tiefsinnig. Am schwersten fiel ihr aufs Herz, daß sie oder er damals nicht hatte lesen und schreiben können. Das hatte sie nun bereits nachgeholt; nun beschloß sie aber, sich ganz ihrer geistigen Ausbildung zu widmen. Sie lernte Lateinisch und Griechisch und viel mehr noch. Ihre Studien wurden nur einmal unterbrochen durch die Heirat, welche sie mit dem Marquis Gustave de Laquilles einging. Dann studierte sie weiter. Dann kam Franzi Fiebli ins ... pardon, die Marquise Heloise de Laquilles ins Wochenbett, und dann noch einmal, und dann noch einmal. Dazwischen wurde immer emsig studiert. Dann brach die französische Revolution aus, und am 5. Februar 1792 wurde die Marquise Heloise de Laquilles - kch - geköppt. Auf der neuerfundenen Guillotine, mittels welcher man schon vorher ihren Herrn Gemahl einen Kopf kürzer gemacht hatte, auch ihren einen Sohn, die Tochter folgte dann später nach, der dritte Sohn starb auf der Galeere. (Das konnte die Mutter natürlich erst erfahren, als sie wiedergeboren wurde.)
Nach einundfünfzig Studienjahren folgten achtzehn Jahre Ferien im Jenseits.
Am 26. Juni 1810 hatte eine alte Frau in einem stattlichen Hause der Lagunenstadt Venedig sehr viel zu tun, und zum Vorschein kam wiederum der ehemalige Schusterjunge Franzi Fiebli aus dem Kanton Uri, dann später Marquise Heloise de Laquilles, und diesmal war es wieder ein Junge geworden, der sich als Heimstätte eine venezianische Patrizierfamilie namens Manelli ausgesucht hatte.
Der kleine Manuelo Manelli war ein tiefsinniges Kind. Diesmal kam er bereits im vierzehnten Jahre zur Erkenntnis, daß er schon zweimal gelebt hatte. Hierdurch aber wurde er nicht noch mehr tiefsinnig, sondern er beschloß, diesmal besonders seine körperlichen Kräfte zu entwickeln, sich zum Athleten auszubilden, und er durfte auch ganz seinen Neigungen leben, weil er schon früh verwaiste. Doch er vergaß beim Hantelstemmen auch nicht seine geistige Weiterbildung, und alles fiel ihm um so leichter, weil er ja schon als Marquise Heloise durch fast fünfzigjähriges Studium einen guten Grund gelegt hatte, worauf er sich noch sehr gut besinnen konnte. Allerdings nicht, daß er nun gleich in der Wiege hätte Französisch und Englisch und Deutsch und Lateinisch und Griechisch sprechen können, sondern es war nur ein außerordentliches Sprachentalent vorhanden, er lernte diese Sprachen mit fabelhafter Leichtigkeit, so wie alles andere, was er als Marquise sich angeeignet hatte.
Dann reiste der mit stählernen Muskeln versehene Manuelo sehr viel in der Welt herum, er genoß das Leben sogar mit vollen Zügen, bis ihn ein heißblütiger Landsmann in Odessa wegen eines Liebeshandels vor die Mündung seiner Pistole forderte.
Manuelo hatte den ersten Schuß, schoß daneben, dann hörte er die Pistole seines Gegners knallen, gleichzeitig spritzte ihm das Feuer aus den Augen, und dann war Manuelo mit den stählernen Muskeln tot. Die Kugel war ihm durch den Kopf gegangen, was er freilich erst erfuhr, als er ungefähr 30 Jahre später als Jose di Renardo an seinem eigenen Grabe stand.




Was lachst du, geneigter Leser? Hat dieses Kapitel nicht ganz ernsthaft angefangen? Wurde nicht von goldenen Lehren gesprochen? Und auch der Schreiber dieses ist ein überzeugter Anhänger der Lehre von der Wiedergeburt.
Und nun sieh dich einmal in der theosophischen Literatur um. Dieser Spanier brachte durchaus nichts Neues vor, er machte es nur viel kürzer. Sonst gibt es noch genug Menschen, Adepten nennen sie sich, welche sich auf Tausende von Wiedergeburten besinnen können, welche als wesenlose Geister schon bei der Erschaffung der Erde zugegen waren, alles haarklein erzählen, auch auf anderen Planeten haben sie schon gehaust!
Und du glaubst ihnen nicht? Dann laß es bleiben. Deinetwegen besteht die Theosophie ruhig fort und findet andere, welche ... nicht alle werden.
Ja, das ist es eben! Die Ziege ist unstreitbar ein nützliches Tier, sie gibt Milch, Käse, Glacéhandschuhe und andere schöne Dinge; aber sie gehört ins Gebirge, wo sie sich ausklettern kann; im Tale macht sie nur unnütze Bocksprünge, und wird sie gar als Haustier in der Stube gehalten, so richtet sie Schaden an, dann wird sie verrückt, hält den Tisch für ein Gebirge, springt hinauf und schmeißt dabei das ganze Geschirr herunter. Capito?
Sonst war das Buch des Spaniers recht vernünftig gehalten. Vor allen Dingen warf er alles Uebersinnliche über Bord, womit sich sonst die meisten Theosophen ständig herumbalgen. Denn mit Ausnahme derer, welche das Gebirge als ihre wahre Heimat erkannt haben, gefallen sich die meisten Theosophen in Bocksprüngen, sie wollen durch geistige Ausbildung und durch gewisse physische Methoden, wie die indischen Fakire solche ausüben, in sich übernatürliche Fähigkeiten ausbilden, wollen Hexenmeister werden, die Kupfer in Gold verwandeln können, Geisterbeschwörer und dergleichen, so greift leider die Theosophie immer mit in den Spiritismus über, und aus diesem Gemengsel entsteht ein Sumpf, in welchem die meisten Theosophen eben in lächerlicher Weise herumpatschen, wirklich eine Lächerlichkeit für ihre andersdenkende Mitwelt.
Von Spiritismus und von der Möglichkeit, sich übernatürliche Fähigkeiten aneignen zu können, wollte aber dieser Spanier durchaus nichts wissen. Das sei alles Humbug. Lebe, um das Leben zu genießen, natürlich weise, daß niemals ein Katzenjammer nachfolgt, und um es in höchster Potenz genießen zu können, mußt du deine geistigen und körperlichen Fähigkeiten soviel wie möglich ausbilden, was dir ja in deinem nächsten Leben immer wieder zugute kommt! Aber sonst - Enthaltung von Fleisch, geistigen Getränken, geschlechtlichem Verkehr - alles Mumpitz!
Hätte der Spanier nicht seine eigene Person eingesetzt, sein Buch würde verflucht wenig Käufer gefunden haben. Die Theosophen sind durchweg aus ethischen Gründen Vegetarier und Abstinenzler, wollen womöglich nur in platonischer Geistesehe leben, und dann die kurze Todesdauer - die wurden gleich vor den Kopf gestoßen, und was brauchten denn die Amerikaner so einen hergelaufenen Spanier! Und für die übrige Welt existiert die Theosophie überhaupt nicht, höchstens brachten Zeitungen durch Auszüge aus dem verrückten Buche den allerneuesten Witz.
Da erregte eines Tages die Aufmerksamkeit des Publikums ein Reiter, der seinen prachtvollen andalusischen Rappen durch die Hauptstraßen tänzeln ließ. Die Erscheinung war wirklich wert, daß auch der eiligste Geschäftsmann stehen blieb und jenem bewundernd nachblickte. Nicht etwa phantastisch herausgeputzt, nicht einmal eine Tigerdecke - alles hochmodern - aber ein prachtvolles Roß und nun die Gestalt des Reiters - alles wie aus einem Guß.
»Wer ist denn das?«
»Ich weiß es nicht.«
Als aber der elegante Reitersmann alltäglich zu derselben Stunde sein herrliches Roß im spanischen Tritt durch die Straßen lenkte, wußte man es bald.
»Das ist der Jose di Renardo, Sie wissen schon, der das verrückte Buch von der Wiedergeburt geschrieben hat - der frühere Schusterjunge Franzi Fiebli aus dem Kanton Uri - Sie wissen, vor 250 Jahren - der dann als eine französische Gräfin wiedererwachte - und dann als Italiener erschossen wurde - - hahahaha!!!«
Aber das Lachen wollte gar nicht recht aus der Kehle herauskommen.
Geld, ja, Geld!! Und besonders in Amerika hat das Gold einen ganz merkwürdigen, bezaubernden Klang.
Und Geld hatte der Mann! Ueber Nacht war wieder einmal ein New-Yorker Millionär zum Bettler geworden, sein Palast, den er in der vornehmen, kostspieligen Umgegend New-Yorks besessen - New-York liegt nämlich auf einer nicht allzu großen Insel - war unter den Hammer gekommen. Dieser Spanier hatte das Höchstgebot gemacht. Allerdings war ein Zufall dabei gewesen. Die Veräußerung war nicht genug bekannt geworden. Sonst hätten sich um das rare Grundstück, herrlich an der Küste in einem Parke gelegen, Geldfürsten beworben, gegen die der Spanier nicht hätte aufkommen können.
Die Anzahlung allein betrug zweimalhunderttausend Dollar, alles übrige konnte in Hypotheken stehen bleiben. Der Spanier hatte die Zahlung in barem Gelde geleistet.
Als dies bekannt ward, wurde der Theosoph schon mit ganz anderen Augen angesehen. Und was man nun über seinen Haushalt und über seine Lebensweise erfuhr, von den Dienern, von den Lieferanten, vom Weinhändler - und nun diese Gestalt auf dem herrlichen Roß - und dann am Strande, es war gerade Badesaison, und dort baden Männlein und Weiblein untereinander, nur genügend mit Trikots bedeckt - diese prachtvolle Figur, alles Muskel und dabei vom wunderbarsten Ebenmaße - und wie nun dieser Kerl schwimmen und springen konnte - kurz und gut, es dauerte gar nicht lange, der Spanier hatte sich durchaus um keinen Menschen bekümmert, hatte niemandem das Leben gerettet, war keinem durchgehenden Pferde in die Zügel gefallen - nur wie von einem Magneten angezogen, näherten sich ihm ein paar tonangebende Sportsmen, die nicht genug von seiner Liebenswürdigkeit zu erzählen mußten, und bald darauf hielt Sennor Jose di Renardo seinen Einzug in die beste New-Yorker Gesellschaft, wo der Mensch erst mit mindestens zehn Millionen anfängt, ein wirklicher Mensch zu sein.
Der Spanier besaß keine zehn Millionen, daraus machte er gar kein Hehl, und dennoch wurde er als ?Mensch? anerkannt - sogar als ein Mensch, vor dem sich alle anderen ?Menschen? beugten. Bald rissen sich die Gesellschaften und Klubs um ihn.
Vor allen Dingen war der Spanier mit den brünetten, markanten Zügen ein unübertrefflicher Tänzer, der aus jedem weiblichen Hundertkilogewicht mit Elefantenfüßen in seinen stählernen Armen eine leichtbeschwingte Fee machte. Es ist nicht lächerlich aufzufassen, daß diese Kunst des Tanzens zuerst erwähnt wird. Nirgends wird so leidenschaftlich getanzt wie in Nordamerika, dabei ist der Yankee durchweg ein scheußlicher Tänzer, und daher ist in diesem Lande, wo das Weib herrscht, der beste Tänzer von vornherein Hahn im Korbe, in den Arbeiterspelunken sowohl wie in der 5. Avenue bei den wirklichen Menschen und bei den Uebermenschen, die erst mit der hundertsten Million anfangen.
Auch sonst ein Gesellschafter, ein ritterlicher Kavalier, wie man hier noch keinen gesehen hatte, und dabei von einer schier allumfassenden Bildung.
Die Lehre seines Buches hielt er auch in der Gesellschaft aufrecht, benutzte jede Gelegenheit, um davon zu sprechen, obgleich es keine theosophischen Kreise waren, in die er zuerst eingeführt wurde.
Was war er eigentlich jetzt, bei seiner vierten Wiedergeburt, deren er sich wenigstens bewußt war? Sonst hat die Seele ja schon viele Tausende von Verkörperungen durchzumachen, in menschlicher Gestalt, von seinen vorherigen Perioden als Tier und sogar als Pflanze gar nicht zu sprechen. Reicht das Alter unserer Erde dazu nicht aus, so hatte sich die Vorentwickelung eben schon auf anderen Planeten abgespielt, die jetzt nicht mehr lebensfähig sind.
Als was war er also diesmal geboren? Wo kam er eigentlich her?
Nun, das stand ja alles in dem Buche. Zum vierten Male wurde er am 9. Februar des Jahres 1847 geboren, wonach er jetzt 34 Jahre alt war, was man ihm gar nicht angesehen hatte - aber diesmal war er in der Wahl seiner Eltern nicht so vorsichtig gewesen. Er war in Madrid als Säugling vor die Tür des Findelhauses gelegt worden. Im zehnten Jahre wurde er von einem kinderlosen Ehepaare namens di Renardo adoptiert, im vierzehnten Jahre ging er zur See, trieb sich in aller Herren Ländern umher, und dann - ja, dann war mit einem Male Biographie zu Ende - dann reiste er noch immer in der Welt umher, aber nicht mehr als Matrose, sondern als vornehmer Herr, der Länder und Menschen studierte, dabei immer Körper und Geist ausbildend.
Es fehlte nicht an solchen, die in dem interessanten Spanier einen aufs Plündern bedachten Abenteurer oder vielleicht sogar Hochstapler erblickten. Er hatte auch so etwas von einer verwegenen Abenteurerphysiognomie.
Die Vorsichtigsten zogen zunächst schnell Erkundigungen in Madrid ein. Jawohl, die Angaben stimmten, im Waisenhaus erzogen, als Jose di Renardo von einem biederen Kleinbürger erzogen, dann zur See gegangen - freilich auf Nimmerwiedersehen.
Woher hatte er denn da mit einem Male das viele Geld bekommen? Solche Fragen mußten natürlich sehr geschickt vorgebracht werden, man hatte den Sennor doch nun einmal schon in der Gesellschaft aufgenommen, aber di Renardo gab bereitwilligst Auskunft.
Nun, ganz einfach; vor hundert Jahren war er doch die Marquise Heloise de Laquilles gewesen, und vor Ausbruch der Revolution, schon alles Kommende ahnend, wenn auch nicht den Tod auf der Guillotine, hatte das herzogliche Ehepaar alle ihre Besitztümer in bares Geld verwandelt, in Gold, und mehr als zwei Millionen Francs waren es gewesen, welche sie in der Nähe von Paris vergraben hatten.
Auf diesen Goldschatz hatte er sich schon in seinem nächsten Leben erinnert, als der Venezianer Manuelo Manelli. Aber da war er einmal schon reichlich mit irdischen Gütern gesegnet gewesen, hatte sehr verächtlich über den schnöden Mammon gedacht, und dann, als er sich doch einmal nach Paris begeben wollte, nur um zu sehen, ob der Goldschatz noch dalag, war das Duell dazwischengekommen, welches seinem dritten Leben ein Ziel setzte.
In diesem Leben war die Erinnerung etwas später gekommen, wahrscheinlich weil diesmal der Todesschlaf von nur neun Jahren nicht ganz genügt hatte. Endlich aber war sie doch gekommen, als Matrose, achtzehn Jahre alt, hatte er sich nach Paris begeben und dort richtig den Goldschatz noch vorgefunden, den er nun nach und nach anzapfte, mit dem Gelde seine Reisen und Studien bestreitend.
Die Zuhörer sperrten, mit Respekt zu sagen, Maul und Nase auf. Und da mit einem Male wurde bekannt, daß der Spanier tatsächlich jene Anzahlung größtenteils mit französischen Goldmünzen geleistet hatte, von denen keine später als im Jahre 1790 geprägt worden war, welche zum Teil schon Sammlerwert besaßen!
Was sollte man dazu sagen? Da hieß es bald einfach zu glauben.
»Wo hatten Sie denn das Gold vergraben?« fragte eine junge, wegen ihrer Offenherzigkeit bekannte Dame.
»Pardon, Gnädige - der Schatz ist noch längst nicht vollständig gehoben - hunderttausend Goldstücke sind doch eine gar gewaltige Last - und die Gegend ist jetzt staatliches Eigentum, ich kann den betreffenden Ort nicht kaufen - ich muß, wenn es auch mein gutes Eigentum ist, doch sehr vorsichtig sein - die Rechte der Wiedergeburt, daß man sich selbst als Erben bezeichnet, werden ja gerichtlich noch nicht anerkannt - und also ...«
Natürlich, den Ort, wo ein noch ungehobener Schatz liegt, verrät man doch nicht, da hört jede Freundschaft und jede Galanterie auf.
Mißtrauische Leute vermuteten auch hier einen Schwindel. Wer weiß, woher er die alten Goldmünzen hatte! Geschichtskenner wollten ihn überführen.
Da kamen sie aber schlecht an! Ein gründlicher Sprachenforscher mußte zugeben, daß der Spanier genau den Schweizer Dialekt sprach, welcher vor 250 Jahren im Kanton Uri geredet wurde, und nun gar über die Verhältnisse am Hofe Ludwigs XVI. und über den Ausbruch der französischen Revolution wußte der Spanier Einzelheiten zu erzählen, mit einer Frische, daß auch der Ungläubigste fast zu der Ansicht kommen mußte, dieser noch junge Spanier sei wirklich ein lebendiger Zeuge all jener Vorgänge und der vertrauteste Freund der höchsten Personen gewesen.
»Ja, da weiß man gar nicht mehr, was man dazu sagen soll,« meinten die gelehrtesten Geschichtsforscher untereinander, »der ist in politische und persönliche Verhältnisse eingeweiht, über welche man höchstens noch unter dem Eide der Verschwiegenheit in geheimen Archiven nachlesen kann.«
Kurz, gerade diese Zweifler mußten wider ihren Willen die anderen in ihrer Gläubigkeit immer mehr bestärken.
Und nun kam noch hinzu, daß der Spanier nach und nach zeigte, was für phänomenale Eigenschaften er besaß, an deren Realität überhaupt nicht gezweifelt werden konnte. Dabei gab er sich frei von jeder Renommage, er überließ alles dem Zufall, daß sich dies so nach und nach offenbarte.
Eines Abends kam in einem glänzenden Zirkel das Gespräch auf die Mnemotechnik oder vielmehr auf Gedächtniskünstler, wie solche ab und zu auftauchen: Giordano, der seine ganze Bibliothek auswendig kannte, der Engländer Grey, der Jesuit Gregor von Frinaigle, der Deutsche Reventlow und andere, von Wunderkindern, die nur einmal wie die Meteore aufleuchten, gar nicht zu sprechen.
Der Spanier wurde um seine Ansicht befragt, ob solch ein fabelhaftes Gedächtnis angeboren sei, oder ob sich da die Betreffenden gewisser Kunstkniffe bedienen.
»Je nachdem,« lautete die Antwort des Allwissenden. »Alles, was man gelernt hat, kommt im nächsten Leben als angeborenes Talent wieder zum Vorschein. Ich habe als Marquise de Laquilles unter Frinaigle eifrigst Mnemotechnik getrieben, wohl zehn Jahre lang übte ich täglich drei Stunden - als Manuelo Manelli konnte ich das längste Gedicht, das ich nur einmal schnell durchlas, sofort auswendig, ich setzte die mnemotechnischen Uebungen noch immer fort, und so bin ich in diesem Leben noch weit größerer Leistungen fähig. Darf ich Ihnen eine Probe abgeben?«
Es wurde ihm ein Artikel aus einer soeben erst erschienenen, wie man sagt, noch druckfeuchten Zeitung vorgelesen; im Stuhle zurückgelehnt, die Augen geschlossen, hörte der Spanier zu und wiederholte dann den ziemlich langen Artikel Wort für Wort. Dann hielt ein anwesender Geistlicher eine Predigt aus dem Stegreife, sie wurde nachstenographiert - di Renardo gab die viertelstündige Rede ebenfalls Wort für Wort wieder, sogar mit den vorgekommenen Korrekturen und Wiederholungen.
Das Staunen ob dieses fabelhaften Gedächtnisses war groß. Es sollte aber noch ganz anders kommen.
Wir schildern nur das letzte Experiment, welches wohl kaum noch übertroffen werden konnte.
Der Spanier legte zwei Bogen Papier vor sich hin und nahm in jede Hand einen Bleistift. Jetzt ließ er sich ein Thema geben, über welches er einer anderen Person in englischer Sprache einen Aufsatz diktieren wollte, während ihm selbst irgend etwas in französischer Sprache zudiktiert werden sollte.
Ein Herr hatte zufällig einen längeren französischen Geschäftsbrief bei sich, ganz belanglos, und erbot sich, diesen vorzulesen, so schnell, daß jemand noch nachschreiben konnte.
Das doppelte Diktieren fing an. Erstaunlich war schon daß der Spanier mit seiner linken Hand ebenso schnell schrieb wie mit der rechten. Nach zehn Minuten hatte di Renardo das ihm gegebene Thema in einem Aufsatze im gewandtesten englischen Stile behandelt und den ihm diktierten französischen Geschäftsbrief, der sehr viel schwierige Ausdrücke enthielt, mit beiden Händen niedergeschrieben - aber nicht französisch, sondern mit der linken Hand die italienische Uebersetzung, mit der rechten die deutsche - und zwar tadellose Uebersetzungen, wie dieser Sprachen kundige Herren bestätigen konnten.
Man stand vor einem unfaßbaren Rätsel. Und das hier war doch handgreifliche Wirklichkeit, da konnte nichts angezweifelt werden!
»O, das ist ja nur eine Spielerei!« sagte der Spanier bescheiden. »Die Hauptsache ist, daß hierdurch der Beweis erbracht wird, wie man sein Gedächtnis, oder sagen wir gleich, seinen Geist durch Uebung ausbilden kann, und zwar jeder Mensch, jeder! Denn wollen die Herrschaften bedenken, daß ich vor 250 Jahren, als ich in Uri als Kind eines armen Schuhmachers geboren wurde, nicht einmal eine Schule besuchte, und ich starb im achtundachtzigsten Jahre, ohne lesen und schreiben gelernt zu haben, fühlte auch sonst durchaus keine besondere Geisteskraft in mir. Mein Gedächtnis war damals ganz beschränkt. Nur fortgesetzte Uebung bringt so weit, allerdings innerhalb mehrerer Lebensläufe, und daß ich damals mit dem Bewußtsein starb, immer wieder geboren zu werden, das eben brachte mich darauf, mich fernerhin ausschließlich meiner Ausbildung zu widmen, was ich im nächsten Leben denn auch sofort begann, und daher jetzt diese Erfolge.«
Ja, die Wiedergeburt, das war doch schließlich die Hauptsache! Was für Perspektiven eröffneten sich mit einem Male diesen reichen Leuten!
»Jeder Mensch wird wiedergeboren?«
»Natürlich, jeder Mensch! Auch jedes Tier. Da gibt es keine Ausnahme. Und immer währt der Todesschlaf ungefähr ein Drittel der Lebensdauer.«
»Aber man erinnert sich doch nicht mehr seines früheren Lebens.«
»Das allerdings nicht. Um das zu erreichen, dazu ist ein besonderes Training nötig, besondere Uebungen.«
»Was für Uebungen?«
»Pardon - das muß mein Geheimnis bleiben. Denn es ist eine zu große Gefahr vorhanden.«
»Was für eine Gefahr denn?«
»Wenn das Allgemeingut der Menschheit würde, so würde sehr bald alles bare Geld von der Erde verschwinden, und das müßte die größten Schwierigkeiten hervorrufen, auch Ungerechtigkeiten, und das veranlaßt zu haben, geht gegen mein Gewissen.«
»Alles bare Geld von der Erde verschwinden? Wir verstehen nicht!«
Dabei aber bemächtigte sich der ganzen Gesellschaft augenblicklich eine fieberhafte Spannung, man sah den Gesichtern an, daß sie recht gut wußten, was jener meinte, sie hatten schon selbst daran gedacht, er sollte es nur einmal aussprechen.
»Nun, wenn jeder bestimmt wüßte, daß er sich auf sein früheres Leben mit allen Einzelheiten entsinnen kann, so würde er wohl Sorge dafür tragen, daß er selbst Erbe seines Vermögens wird. Das heißt, er würde dies vergraben. Das ist aber der höchste Eigennutz, und ganz abgesehen davon, daß dann das Erbteil den Kindern entzogen wird, würde durch Mangel an barem Gelde bald auch die ganze Menschheit leiden.«
Ja, der Spanier hatte ausgesprochen, was alle schon gedacht hatten. O, wie herrlich wäre es, wenn man sein Geld mit sich ins Grab nehmen könnte, um es dann nach einem angenehmen Todesschlafe gleich wieder zu besitzen!
»Das geht gegen Ihr Gewissen?«
»Ja.«
»Sie haben aber doch selbst als Marquise de Laquilles Ihr ganzes Geld vergraben.«
»Ja, um es vor Räubern zu retten, um es meinen Kindern zu erhalten, von denen ich nicht ahnte, daß auch sie der Wut des Volkes zum Opfer fallen würden. Und lebte jetzt noch ein einziger Erbe der Grafen von Reginal oder der herzoglichen Familie der Laquilles, so würde ich unter allen Umständen den Goldschatz mit ihnen teilen.«
Es war Tatsache, wie man sich unterdessen ebenfalls orientiert hatte, daß diese beiden Geschlechter vollständig ausgestorben waren.
»Ach, bitte, bitte, mein bester Sennor, sagen Sie mir doch, wie ich mit Bewußtsein immer wieder geboren werde, daß ich mich auf mein früheres Leben besinnen kann!«
Es war natürlich eine Dame, die so zu betteln anfing. Nun aber einmal das Eis gebrochen war, wurde der Spanier auch von anderen Seiten mit Bitten bestürmt, sein Geheimnis preiszugeben.
»Nun, Ausnahmen gibt es immer, und mit Auserwählten würde ich sie machen.«
»Bin ich nicht eine Ausnahme?« lächelte zuerst wieder die liebreizende, junge Dame, die Tochter eines amerikanischen Stahlkönigs, die als Mitgift rund fünfzig Millionen Dollar mitbekommen sollte.
»Der Unterricht könnte nur mündlich geschehen.«
»Selbstverständlich, wenn es der anderen Welt ein Geheimnis bleiben soll.«
»Und Sie müssen ihr schriftliches Ehrenwort abgeben, das Geheimnis zu bewahren.«
»Selbstverständlich, selbstverständlich!!«
»Und zweitens muß der Betreffende ebenfalls daraufhin sein Ehrenwort abgeben, mit seinem Wissen keinen Mißbrauch zu treiben.«
»Was für einen Mißbrauch?«
»Kein Geld zu vergraben oder sonstwie beiseite zu schaffen, um es im nächsten Leben wieder zu besitzen. Es geht dies eben durchaus gegen meine Ansicht über den Wert des Geldes. Dieses gehört den Kindern, oder es mag wohltätigen Stiftungen vermacht werden - jedenfalls muß es für die Menschheit lebendig erhalten bleiben und nicht tot in der Erde oder sonstwo liegen.«
Es war eigentlich etwas Ungeheuerliches, was der Spanier da ganz gelassen aussprach, und doch schien er in das Herz all dieser Herren und Damen sehen zu können.
»Hahahaha, an so etwas denken wir ja gar nicht!!« wurde gelacht, nur klang es sehr erzwungen.
»Außerdem,« fuhr di Renardo fort, und er sagte das Folgende ganz offen, ohne jede Spur von Befangenheit, wie er überhaupt trotz aller sonstigen Bescheidenheit außerordentlich offenherzig sein konnte, welche in Verbindung mit seinem stolzen Aeußeren dem schönen Manne vortrefflich stand, »außerdem bin ich nicht in der Lage, solche Lektionen unentgeltlich zu erteilen. Meine Mittel sind beschränkt, und ich ...«
»Aber natürlich, natürlich,« erklang es sofort im Chor, »verlangen Sie doch dafür, was Sie wollen!«
»Dann, meine Herrschaften, bitte ich Sie, sich zu mir bemühen zu wollen. Verzeihen Sie, wenn ich Ihnen eine gewisse Stunde vorschreibe - nur geht meine Ausbildung dem Gelderwerb vor, deshalb lebe ich nach einem genauen Stundenplan, den ich unwiderruflich einhalte - so wollen wir die Stunde doch zwischen elf und zwölf Uhr vormittags festsetzen, nicht wahr?«
Unter stürmischem Beifall wurde der Vorschlag angenommen.
Und am anderen Tage ging die Geschichte los.
Sie hatten es nicht erwarten können, die sich in ihrem nächsten Leben so gern wieder ihres jetzigen erinnern wollten, schon morgens um acht Uhr rollte an dem Strandpalast Equipage nach Equipage vor, bis sie sich zu Dutzenden stauten.
Aber in seinem Hause zeigte di Renardo, was ein stolzer Spanier zu bedeuten hat; der ging nicht von seinem Stundenplane ab, und da saßen sie nun mit vor Spannung geröteten Gesichtern, Herren und Damen, Greise und fast noch Kinder, und der prächtige Wartesaal konnte trotz seiner Weite ihre Menge kaum fassen.
Endlich, Punkt elf Uhr, öffnete sich eine bisher verschlossene Flügeltür, ein reich livrierter Diener erschien und bat die nächste Person, einen alten Herrn, ihm zu folgen.
Er wurde von dem ?Maestro?, welchen Namen der Spanier bereits bekommen hatte, empfangen. So mußten die anderen wenigstens annehmen. Denn jeder wurde einzeln empfangen, jeder kam allein wieder heraus. Auf diese Weise bekam ja auch jeder zu erfahren, was da drin verhandelt wurde. Aber das Ehrenwort band eines jeden Zunge.
Heute konnte keine Unterrichtsstunde in ?bewußter Wiedergeburt? gegeben werden. Es wurde jetzt eine andere Einrichtung getroffen, der Maestro opferte noch eine Stunde seiner kostbaren Zeit.
Damit solcher Massenandrang nicht wieder stattfand, mußte sich jeder, der an dem Unterricht teilnehmen wollte, einen Tag zuvor schriftlich anmelden und erhielt eine Einladung, am anderen Tage früh um zehn Uhr im Strandpalast zu sein, wo er zunächst verpflichtet wurde, und dann konnte er von elf bis zwölf an dem gemeinsamen Unterricht teilnehmen. Oder er wurde wegen Andrangs auf einen anderen Tag bestellt - oder er erhielt eine Absage, was ebenfalls vorkam, allerdings sehr selten.
Wieviel der Unterricht kostete? Ja, nur immer jeder einzelne wußte, wieviel er für die Stunde bezahlte. Ehrenwort!
Etwas kam ja in die Oeffentlichkeit. Wer nicht täglich hundert Dollar übrig hatte, brauchte nicht erst hinzuschreiben.
Merkwürdig war, daß die Zeitungen weder über die ?Wiedergeburtler? spotteten, noch den Spanier des Schwindels verdächtigten. Daran war das Verhalten der großen Zeitungen schuld. Diese hatten natürlich sofort Berichterstatter hingeschickt, welche sich teils für solche ausgaben, teils unter anderen Gestalten auftreten mochten; die Hauptsache war, daß jeder bezahlen konnte.
Was sie gesehen und sonst erlebt hatten, davon durften die Berichterstatter ja keine Veröffentlichung bringen. Solch einen groben Vertrauensbruch darf keine große Zeitung begehen, eigentlich ja auch keine kleine, kein Ehrenmann.
Aber so viel durften sie doch sagen, daß in dem Strandpalast alles mit rechten Dingen zuging, jeder Vater könne seine Tochter unbesorgt hinschicken, an dem Sennor di Renardo sei durchaus nichts auszusetzen, und nach welcher Façon man selig werden wolle, das sei doch jedermanns eigene Sache, besonders im freien Amerika.
Die kleinen Schundblätter tischten ihren Lesern ja oft genug tolle Sachen auf, aber das war freie Erfindung, die waren es, welche schwindelten, und in einem Beleidigungsprozeß, den der Spanier gegen solch eine Zeitung anstrengte, wurde diese zu einer ganz gehörigen Zahlung an die Armenkasse verurteilt.
Also auch Gericht und Polizei hatte der Wundermann auf seiner Seite. Man konnte doch übrigens auch seine Diener ausfragen. Die waren durchaus an kein Ehrenwort gebunden. In den Saal, wo die Unterrichtsstunden gegeben wurden, kamen die freilich nicht - aber sie konnten bezeugen, was für einen tadellosen Lebenswandel, rastloser Arbeit gewidmet, der Spanier auch in seinem Hause führte.
Die kleinen Schundblättchen mußten schließlich schweigen, das Publikum wollte nichts Schlechtes mehr über den Spanier hören. Der gründete einfach eine neue Sekte, weiter nichts.
Und als nun gar offenbar wurde, daß der Spanier 25 000 Dollar einer wohltätigen Anstalt vermacht hatte und noch jede Woche beträchtliche Summen zu wohltätigen Zwecken ausgab, doch jedenfalls das Honorar, welches er den Geldgrößen abnahm, da hatte er das Volk vollends auf seiner Seite. Jetzt hätte er sich sogar als Schwindler entlarven lassen können, man hätte es ihm verziehen.
Die Folge davon war, daß jetzt sein Buch schnell in Hunderttausenden von Exemplaren abgesetzt wurde.
Die Aufgeklärten glaubten deswegen ja noch immer nicht an solch eine Wiedergeburt, aber es wurde doch gelesen, und ... man mußte blind sein, um nicht die Umwandlung zu erkennen, welche dieses Buch in ganz Amerika und besonders auch in England hervorrief. Man schien am Anfang einer neuen Aera zu stehen, die eine neue Religion mit sich brachte.
Und sechs Wochen später, nachdem der Wundermann seine geheimen Unterrichtsstunden eröffnet hatte, zeigte der Stahlkönig Ephraim P. John, der über die eine Milliarde schon hinaus war, die Verlobung seiner Tochter Helen mit Sennor Jose di Renardo an.




In dem Wartesalon saßen drei Herren und fünf Damen, an der Tür stand ein Diener, einen Zettel in der Hand.
Ein Glockenton erscholl.
»Lord Edgar Hasting,« sagte der Diener, auf den Zettel blickend.
Ein junger, eleganter Herr erhob sich und schritt durch die vom Diener geöffnete Tür.
Es war ein Schreibzimmer, alles höchst elegant, aber praktisch, ohne Nippsachen und dergleichen. Sennor di Renardo trug einen schwarzen Gesellschaftsanzug, und ebenso sah man in dem Zimmer auch nichts, was an die alchimistische Studierstube eines Doktor Faust erinnert hätte.
»Lord Edgar Hasting?«
»Ist mein Name.«
»Angenehm. Haben Sie mein Buch gelesen?«
»Ja.«
»Sie wollen Unterrichtsstunden nehmen?«
»Ja.«
»Wissen Sie, in welcher Weise der Unterricht stattfindet?«
»Nein. Ich habe in England einen Freund, welcher ebenfalls zehn Stunden bei Ihnen nahm, Sie kennen seinen Namen ...«
»Ich kümmere mich um die Namen gar nicht,« fiel ihm der Spanier, der hier etwas anders auftrat als in der Gesellschaft, wenn auch durchaus nicht anmaßend - er war eben der Lehrer, der andere der Schüler. »Da Ihr Freund selbstverständlich sein Ehrenwort hält, können Sie ja auch nichts wissen. Also daß man erst sein Ehrenwort schriftlich zu geben hat, das wissen Sie doch?«
»Das weiß ich.«
»So lesen Sie diese Zeilen durch, ob Sie sie unterschreiben wollen.«
Das Schriftstück war hektographiert. Der Unterschreibende verpflichtete sich auf sein Ehrenwort, über nichts zu sprechen, was er hier erfahren würde. Ganz kurz gehalten, war doch nichts vergessen worden.
»Ja.«
»Wollen Sie das unterschreiben?«
»Gewiß.«
»Bitte, setzen Sie sich an den Schreibtisch, hier ist die Feder - so ... ich danke. Bleiben Sie gleich sitzen. Dieses Ehrenwort bindet, auch wenn Sie mit einem falschen Namen unterschrieben haben.«
»Aber, Sennor,« fuhr der junge Herr auf, »ich bin Lord Edgar Hasting, Peer von Eng ...«
»Bitte, ist alles schon dagewesen,« wurde er kalt unterbrochen. »Uebrigens macht mir das gar nichts aus, es gibt hier gar nichts zu verraten, ich möchte es nur nicht in die breite Oeffentlichkeit dringen lassen, um nicht von Neugierigen überlaufen zu werden. Also Sie haben bereits unterschrieben. Wenn ich Sie nun nach Ihren Vermögensverhältnissen frage, so ist das schon etwas, worüber Sie zu niemandem mehr sprechen dürfen.«
Ahaaa!! Der ?nervus rerum? zeigt sich bereits.
»Selbstverständlich nicht.«
»Nun, wie sind Ihre Vermögensverhältnisse? Danach richtet sich der Preis der Unterrichtsstunde.«
»Geehrter Sennor,« lächelte der junge Engländer, »ich bin ein sehr begüterter Lord und ...«
»Sie sind reich?«
»Ja.«
»Sehr reich?«
»Auch das kann ich bejahen.«
»Uebersteigt Ihr jährliches Einkommen 100 000 Dollar oder 20 000 Pfund Sterling?«
»Ja.«
»Dann kostet die Unterrichtsstunde für Sie 250 Dollar,« lautete jetzt der kurze Bescheid.
»Jede?«
»Ja, jede.«
»Und wieviel Unterrichtsstunden sind nötig, um das Bewußtsein zu bekommen, daß man sich im nächsten Leben dieses jetzigen erinnert?«
»Jeden Tag eine bis zu Ihrem Lebensende - oder nur heute diese einzige - das kommt ganz auf Sie an.«
Der Lord zog bereits seine Brieftasche.
»Es ist sofort zu bezahlen?«
»Sofort - und so jedesmal im voraus.«
»Ich habe nur so viel englisches Geld bei mir - kann es eine Fünfzigpfundnote sein?«
»Ganz gleichgültig.«
Der Maestro im Gehrock nahm die weiße, knisternde Banknote und ließ sie in einer Kassette verschwinden.
»Eine Quittung gebe ich nicht. Ich habe die Bemerkung nicht nötig, aber ich mache sie doch, daß ich nämlich dieses Geld für mildtätige Zwecke verwende. Ich will durch meine Unterrichtsstunden nichts verdienen.«
Auch der Spanier setzte sich, seitwärts vom Schreibtisch, während der Lord vor diesem saß.
»So. Nun drehen Sie sich etwas in dem Stuhle herum, blicken Sie mich an, bitte - so. Haben Sie eine gesunde Lunge?«
»Die habe ich Gott sei Dank.«
»Auch keinen Schnupfen?«
»Auch nicht,« lächelte der junge Engländer erheitert.
»Bitte, fassen Sie die Sache ganz ernsthaft auf. Vielleicht haben Sie von mir Charlatanerie mit allerhand Hokuspokus erwartet - das gibt es hier absolut nicht. Aber ernsthaft müssen die Uebungen aufgefaßt werden! Wie lange können Sie wohl den Atem anhalten?«
»Eine Minute sicher,« entgegnete der so zurechtgewiesene Lord.
»Das genügt. Jetzt ziehen Sie einmal den Atem ein - nur durch die Nase! - solange ich sekundenweise bis fünfzehn zähle - füllen Sie Unterleib und Brust ganz mit Luft - dann halten Sie die Luft fünfzehn Sekunden lang an - dann stoßen Sie die Luft innerhalb von fünfzehn Sekunden wieder aus. Und das mehrmals hintereinander. Fangen Sie an, ich zähle.«
Indisch! Das war eine der Uebungen, welche die indischen Fakire Yoga nennen, wodurch sie sich übernatürliche Fähigkeiten aneignen wollen.
Der Lord tat es, der Spanier zählte dreimal sekundenweise bis fünfzehn. Nur zweimal, dann konnte der Schüler wieder wie gewöhnlich atmen.
»Das ist nur die Vorbereitung. Während Sie nun einatmen, sagen Sie zu sich selbst die fünfzehn Worte: Jetzt ziehe ich das Bewußtsein ein, daß ich im nächsten Leben mit vollem Bewußtsein erwache! - Dann, während Sie den Atem anhalten, sagen Sie zu sich selbst die fünfzehn Worte: Ich besitze das Bewußtsein, daß ich mich in meinem nächsten Leben an das jetzige erinnere! - Dann stoßen Sie wieder langsam den Atem aus und sagen sich im stillen dabei die fünfzehn Worte: Jetzt stoße ich jeden Zweifel aus, daß ich im nächsten Leben mit Bewußtsein erwachen werde! - Haben Sie mich verstanden?«
»Ja.«
»Fünfzehn Worte sind es nur deshalb, um ein ungefähres Zeitmaß zu haben, wie es ja überhaupt allein auf den Sinn, auf den Geist des Textes ankommt. Sie müssen diese Worte mit aller Geisteskraft in sich auffangen, bis sie Ihnen mit ehrlichster Ueberzeugung in Fleisch und Blut übergegangen sind. Dazu schließen Sie am besten die Augen. Solange Sie aber die Worte nicht auswendig können, blicken Sie einstweilen auf dieses Papier.«
Der Spanier nahm einen Zettel vom Schreibtisch, auf dem die drei Verslein hektographiert standen.
»So, nun machen Sie es mir einmal vor.«
Der Lord tat es, atmete und betete seine Verschen herunter.
»Gut. Das ist die ganze Uebung. Den Erfolg werden Sie mit der Zeit selbst kennen lernen. Sie haben die Wahl, diese Uebungen hier in meinem Hause in Gesellschaft von anderen Schülern und Schülerinnen vorzunehmen - gegenwärtig sind vierzehn zusammen - oder allein in einem separierten Zimmer. In Gesellschaft dürften Sie gestört werden, aber das ist eine Schwäche, die müssen Sie besiegen, desto kräftiger wirken dann die Gedanken, während es wiederum ganz falsch ist, seine Gedanken überhaupt nicht konzentrieren zu können. So ist es am besten, erst allein in der Einsamkeit zu beginnen.«
»Ich verstehe. Ja, ich bitte zunächst um ein separiertes Zimmer.«
»Dann der zweite Teil, die Hauptsache: Diese Suggestion gewinnt erst ihre volle Kraft, wenn der Schüler vorher und hinterher jedesmal ein von mir magnetisiertes Elixier einnimmt.«
Ahaaa!! Jetzt kam auch endlich das berühmte Elixierchen zum Vorschein!
Der Spanier hatte sich rasch erhoben, öffnete einen Wandschrank, welcher auf Stellagen eine Menge von weiten Glasröhren enthielt und ferner eine mittelgroße Flasche mit einer hellroten Flüssigkeit. Diese nahm der Wundermann und füllte eine der auf einer Seite geschlossenen Glasröhren, sogenannte Probiergläschen, bis nicht ganz zum Rand.
»Darf ich fragen, was das ist?« wurde der Lord jetzt selbständig.
»Ein von mir selbst zubereitetes Elixier, mein Geheimnis. Uebrigens ganz harmlos. Oder glauben Sie, ich werde einem Menschen etwas zu trinken geben, wodurch ich ihn schädigen könnte? Für alles, was man tut, ist man verantwortlich, sogar für jeden Gedanken, und alles muß abgebüßt werden, wenn nicht in diesem, dann in einem anderen Leben. Die Hauptsache ist auch, daß ich jedesmal frisch magnetisiere, das ist eben der Grund, warum die Uebungen nur hier in meinem Hause vorgenommen werden können.«
»Man kann sie nicht bei sich in der Wohnung vornehmen?«
»Da hätten sie gar keinen Zweck. Dieses Elixier hier gibt den Ausschlag.«
»Kann man denn das nicht kaufen?«
»Nein, denn die Hauptsache ist, daß ich jedesmal kurz vor dem Einnehmen frisch magnetisiere. Nun passen Sie auf, machen Sie sich bereit zum Trinken. Eins - zwei - drei!!«
Der Spanier hatte den Daumen auf die Oeffnung der Glasröhre gesetzt und diese so dreimal mit steifem Arm geschüttelt, genau wie es die Homöopathen machen, wenn sie Flüssigkeiten mischen - und wie die jetzigen Heilmagnetiseure, wenn sie Wasser und dergleichen magnetisieren.
»Schnell!« rief der Spanier, das geschüttelte Gläschen mit der rötlichen Flüssigkeit dem Lord hinhaltend. »Schnell - trinken Sie - schnell - mit jedem Moment verliert es etwas von seiner Wirkungskraft - es geht rapid!«
Der junge Engländer zögerte, aber es war nur der Bruchteil eines Moments - entweder mußte er jetzt trinken oder gehen - dann hatte er das Fläschchen ergriffen und geleert. Es waren ja nur wenige Tropfen, sie schmeckten nach gar nichts. Und auch der scharfsichtige Spanier hatte schwerlich etwas von dem Zögern bemerkt.
»So. Sie zeigen kein Mißtrauen, und das ist mit die Hauptsache. Nun werden Sie ein Zimmer angewiesen bekommen, wo Sie die betreffende Atem- und Gedankenübung vornehmen. Ich komme manchmal zu Ihnen, Sie erhalten noch einige solcher Elixiere, immer von mir frisch magnetisiert.«
Er drückte auf einen Knopf, sofort trat hinter einer Portiere ein Diener hervor.
»Kabinett Nummer 18.«
Der Diener machte eine einladende Verbeugung, der Lord folgte ihm durch eine der drei Türen, kam auf einen teppichbelegten Korridor, der sehr viele Türen besaß, dicht nebeneinander, aber nur mit Portieren verhangen, und an jeder befand sich eine Nummer.
Es war kaum anzunehmen, daß dieser Palast in der ersten Etage schon früher so viele kleine, dicht nebeneinandergelegene Kabinetts besessen hatte, das mußte für diesen Unterricht wohl erst eingerichtet worden sein, darauf wiesen sogar noch Spuren hin.
Das kleine Kabinett, von welchem der Diener die Portiere zurückschlug, enthielt nur einen Tisch mit Glas und Wasserflasche, zwei bequeme Fauteuils und ein Sofa, machte aber doch durch die mit Teppichen verkleideten Wände einen recht lauschigen Eindruck, wurde auch durch diese Möbel vollkommen ausgefüllt.
»Bitte, nehmen Sie Platz,« sagte der Diener oder Assistent, »setzen Sie sich recht bequem und befolgen Sie die Anweisungen. Hier ist die elektrische Klingel, Sie brauchen nur zu drücken, dann fällt Ihre Nummer, ich bin sofort zur Stelle.«
Die Portiere rauschte zurück.
Lord Hasting setzte sich in einen Lehnstuhl, blickte auf das Papier in seiner Hand herab, welches die drei Verslein enthielt.
Als nach einer Viertelstunde der Spanier das Kabinett betrat, vollständig geräuschlos, mußte sein neuer Schüler die Verslein wohl schon aus dem Kopfe können; denn er saß mit geschlossenen Augen da, vorschriftsmäßig langsam ein- und ausatmend, und dazwischen eine ebenso lange Pause machend.
»Wie geht es Ihnen?«
Erschrocken fuhr der Engländer zusammen. Er sah den Spanier vor sich stehen, der schon ein Gestell mit solchen Glasröhren auf den Tisch gesetzt hatte und noch eine Flasche mit der rötlichen Flüssigkeit in der Hand trug.
»Sie sind erschrocken?«
»Ja, sehr, ich gestehe es.«
»Es wird die Zeit kommen, da nichts mehr Sie erschrecken kann - eben durch diese Uebung werden Sie dazu gelangen. Ich wollte Ihnen ein Elixier geben. Doch zunächst: wie befinden Sie sich? Fühlen Sie etwas?«
»Ja. Es ist mir wie ein inneres Brennen.«
»Richtig. Dann haben Sie Ihre Gedanken auch zu konzentrieren verstanden. Trotzdem ist das die Wirkung des magnetischen Elixiers, dieses würde aber ohne Ihre Gedankenkonzentration nicht wirken. Weiter erklären kann ich Ihnen die Sache nicht. Sie sehen übrigens angegriffen aus.«
»Ich gestehe, daß ich mich wirklich schwach fühle,« lispelte der Lord.
»Dann hören Sie lieber auf. Man soll im Anfang nichts übertreiben. Nur seien Sie versichert, daß diese Schwäche durchaus kein böses Zeichen ist. Im Gegenteil, Sie werden gesunden - seelisch gesunden - ein ganz anderer Mensch werden. Jetzt müssen Sie aber erst, um die Wirkung zu vervollkommnen, noch ein Elixier nehmen, und dazu müssen Sie erst noch ein paar Atemzüge mit jenen Gedanken machen. Schließen Sie die Augen!«
Der Lord tat es, atmete tief, während der Spanier aus der Flasche eine Glasröhre füllte und sie geräuschlos dreimal schüttelte.
»Jetzt - schnell - trinken Sie!«
Der Engländer leerte rasch die dargereichte Phiole.
»So. Das war die erste Lektion. Werden Sie morgen wiederkommen?«
»Ich werde kommen.«
»Noch einige Ratschläge: Nehmen Sie diese Uebungen nicht zu Hause vor, nirgends! Sie sind ohne mein magnetisiertes Elixier für die Zwecke, welche Sie und ich beabsichtigen, nicht nur völlig zwecklos, sondern sie können Ihnen zum direkten Schaden erwachsen. Zweitens: bedenken Sie immer, daß Sie für alles, was Sie tun und sogar denken, vor einer ewigen Gerechtigkeit zur Verantwortung gezogen werden. Drittens: versäumen Sie keine Gelegenheit, Ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten auszubilden, was Ihnen im nächsten und ja auch schon in diesem Leben zugute kommt. Von Vergnügungen haben Sie ja gar keinen Nutzen, das ist ja auch nur ein kurzer Rausch, dem gewöhnlich die Reue folgt. Es gibt aber Freuden, denen keine Reue folgt - Sie verstehen - geistige, das Sichversenken in ein schönes Gemälde, noch besser in die Natur. Das ist nur ein einziges Beispiel. Vielleicht den höchsten Genuß aber gewährt die systematische Ausbildung des Körpers, der Muskeln, der Geschicklichkeit. Das gewährt sogar eine rein ästhetische Freude. Es wird die Zeit kommen, da dies allgemein erkannt wird, während unsere Geistesarbeiter heute noch verächtlich über so etwas denken. Lesen Sie darüber in meinem Buche, besonders die schräg gedruckten Stellen.«
Der Lord erhob sich, und dabei blickte er den Spanier mit großen, mit ganz seltsamen Augen an.
»Und schließlich noch eins, Mylord,« nahm der Spanier noch einmal das Wort, und mit einem Male schlug er den höflichsten Ton an, »ich bitte um Verzeihung, wenn Sie mich etwas schroff gefunden haben sollten. Ich muß das Verhältnis eines Lehrers zu einem Schüler wahren, sonst werde ich von diesen Herrschaften mit Fragen überhäuft, die ich gar nicht beantworten kann, und aus einem strengen Unterricht würde eine gemütliche Unterhaltung werden. Das geht nicht. Ich hoffe, Ihnen in der Gesellschaft wiederzubegegnen, und dann werden Sie mich von einer anderen Seite kennen lernen. Mylord, ich habe die Ehre.«
Fünf Minuten später schritt Lord Hasting, welcher zu Fuß gekommen war, die schöne, nach New-York führende Allee entlang.
Schwermütige Gedanken schienen ihn zu beherrschen, so schüttelte er wiederholt den Kopf, bis auch leise Worte von seinen Lippen kamen.
»Schade, jammerschade - - so ein genialer Mensch - - von allen Göttern zum Liebling auserkoren - - bestimmt, ein Führer der Menschheit zu werden ... ach, es ist zum Weinen!«
Und dann, nach einer Pause, setzte er noch hinzu: »Dies dürfte einen Kampf geben, wie ich ihn noch nicht erlebt habe.«
Er wurde von einem Mietswagen überholt, der das Zeichen ausgesteckt hatte, daß er frei sei. Der Lord hielt ihn an.
»Können Sie mich nach der City fahren?«
»Jawohl, Sir.«
»Fünfte Avenue, blaues Haus.«
»Mr. Ephraim John?«
»Ganz richtig.«
Nach fast einstündiger Fahrt rollte der Wagen durch die Promenadenstraße, in welcher sich die Stadtwohnungen der reichsten Männer der Welt zusammengedrängt haben.
Im blauen Hause, ein Palast, so genannt nach dem blaugeäderten Marmor, hatte der Stahlkönig Ephraim John sein New-Yorker Domizil aufgeschlagen.
Der Lord war wohl nicht angemeldet, daß er seine Droschke schon vor der Einfahrt verließ und den kurzen Vorpark zu Fuß durchschritt.
»Mr. John hat jetzt keine Sprechstunde und auch für diese, zwischen zwölf und eins, ist eine vorherige Anmeldung unumgänglich notwendig,« wurde ihm an der Portiersloge bedeutet, und da hätte auch die Visitenkarte mit beigefügtem Paß nichts ändern können. Was machte sich solch ein amerikanischer Großindustrieller aus einem englischen Lord - - mit Ausnahme, er war geschäftlich mit ihm verbunden, konnte etwas an ihm verdienen.
»Bitte, übergeben Sie ihm dies, dann wird mich Mr. John sofort empfangen.«
Der Portier nahm das zugeklebte Kuvert, legte es in einen Kasten, zog an einem Griff, es zischte - der Brief wurde jedenfalls pneumatisch weiterbefördert.
Nach kaum einer Minute zischte es wiederum, ein Glockenton, und der Portier nahm aus dem aufgeschraubten Kasten ein Kärtchen.
»Lord Edgar Hasting ... Mr. John erwartet den Herrn.«
Ein Diener nahm den angenommenen Besuch ins Schlepptau. Die Röhren der Dampfheizung aus Goldblech - - mag diese Andeutung genügen, wie es im Innern dieser Villa aussah.
In desto größerem Kontrast stand das Arbeitszimmer des Hausherrn, in welches der Lord geführt wurde.
Von bureaumäßiger Einfachheit, Bücher- und Aktenschränke, auch nicht gerade sauber, der Teppich fadenscheinig, an mehreren Stellen, wo ein Auf- und Abwandernder regelmäßig kehrt machte, sogar durchlöchert, überall mit Häufchen von Zigarrenasche bedeckt, auf der rechten Seite des einfachen Schreibtisches war eine förmliche Einbuchtung eingebrannt, nämlich von der Zigarre, die immer dorthingelegt wurde.
Mr. Ephraim John war ein Mann von über sechzig Jahren, der gewaltige Kopf von schneeweißen Haaren gekrönt, eine Jupitergestalt. Der Stahl, mit dem er von Jugend auf zu tun gehabt, hatte ihm etwas von seinen Eigenschaften verliehen. Sein allabendliches Dankgebet war, noch immer täglich sechzehn Stunden arbeiten zu können.
Bei dem Eintritt des Lords knöpfte der Milliardär, der in seinem Hause eine Dampfheizung aus purem Golde hatte, sein fadenscheiniges, an den Ellenbogen durchgescheuertes Röckchen zusammen, und hiermit knöpfte er auch sein ganzes Wesen zu.
»Sie sind ...«
»Muß ich mich erst legitimieren?«
Der Lord griff mit beiden Händen in sein Gesicht, es war, als ob er an der Haut zöge, und als er die Hände wieder entfernte, war aus dem jungen Engländer ein alter, faltiger Chinese mit Schlitzaugen geworden.
Des Milliardärs Rock blieb zugeknöpft, über sein Gesicht aber flog es wie Sonnenschein, als er dem Besuch, der sich ebenso schnell wieder in einen jugendlich aussehenden Germanen verwandelt hatte, die breite Hand hinhielt.
»Sir Willcox - - nein, bleiben wir bei Nobody - diese freudige Ueberraschung!«
Nobody, in den sich nun der Lord Edgar Hasting verwandelt, hatte dem Stahlkönig einmal einen durchgebrannten Kassierer mit dem ganzen Gelde zurückgebracht, dabei hatte er mit diesem gediegenen Yankee eine wirkliche Freundschaft geschlossen.
Ein Diener brachte Gläser und eine Flasche Wein, alles andere hatte Nobody abgeschlagen, nur noch eine Kiste Zigarren holte der Milliardär selbst aus dem Schubfache des Schreibtisches, dann saßen sich die beiden gegenüber.
»Hier ist Feuer. Es ist meine Sorte, die ich seit vierzig Jahren rauche. Und das ist selbstgekelterter Wein, aus meiner Aepfelplantage bei Sorrich. Das ist ein Weinchen, was, he? Bleibt mir doch mit euren Rhein- und Moselweinen vom Leibe.«
Pfui Deiwel, war das eine Stinkatori! Vielleicht drei Cent, was unseren Dreierzigarren entspricht. Na ja, seit vierzig Jahren immer dieselbe Sorte - damals hatte der jetzige Milliardär noch den großen Hammer geschwungen. Und das ?Aeppelweinchen? war niederträchtiger Essig.
»Wie geht es Ihnen denn, mein Lieber?«
»Nein, erst muß ich mich nach Ihrer Gattin erkundigen. Ich habe von einem Unfall gehört?«
Das stählerne Gesicht des Stahlkönigs nahm einen Ausdruck der tiefsten Niedergeschlagenheit an.
»Ach - beim Staubwischen - fällt die mir von der Trittleiter - - erst war's gar nichts - aber eine Gehirnerschütterung ...«
Die Gattin dieses Milliardärs kletterte selbst auf die Trittleiter, um Staub zu wischen? Nun, die Gattin des Pariser Rothschild macht noch ganz andere Hausarbeiten, und die hat nicht von vorn angefangen, die war schon bei ihrer Verheiratung eine tonangebende Modedame. Es geht eben in solchen Häusern ganz anders zu, als es in Zeitungsromanen geschildert wird. Die ?Herrschaft? glaubt's, das Dienstmädchen lacht über den Skribifax.
Mr. John beschrieb den Unfall näher. Es war nicht gerade Grund zur Besorgnis vorhanden - und doch - Appetitlosigkeit - häufiges Erbrechen ...
Der Milliardär hatte nichts weiter zu berichten, er schwieg und blickte den befreundeten Detektiv mit einem eigentümlich forschenden Blicke an, als ob er eine besondere Frage erwarte.
»Und Miß Helen?«
»Danke, die ist wie ein Fisch im Wasser.«
Der forschende Blick wurde nur noch erwartender, diesmal aber wollte keine Frage mehr kommen, und so ergriff Mr. John wieder das Wort.
»Ach, mein lieber Nobody - ich könnte Sie recht gut brauchen - ich hatte neulich eine Gesellschaft - ein Familienfest - an die zweihundert Gäste - und wie es die diesmal getrieben haben - die zehn Prozent sind überschritten - siebenunddreißig Löffel, fünfundzwanzig Gabeln, sieben Teller, zwei Saucieren, und sogar eine ganze Bratenschüssel - von anderen Sachen gar nicht zu sprechen - ach ...«
Was wollte der mit Löffeln und Bratenschüsseln? Geneigter Leser, gestatte eine Einschaltung.
Der Schreiber dieses hat einen Rattenpintscher, welcher, wie die meisten seines Geschlechts, an Kleptomanie leidet. Wenn er, obgleich schon satt, die Bratwurst vom Teller maust, wird er verhaun. Er weiß es, geduldig nimmt er die Prügel hin - und dann maust er weiter. Aber deswegen kommt er nicht ins Irrenhaus, auch in keine Nervenheilanstalt, wird nicht vom Psy - chi - a - ter untersucht - er wird verhaun, obgleich es nichts nützt.
Menschen sind wohl manchmal arme Hunde, aber es sind doch ganz andere Geschöpfe, so einfach verhaun dürfen sie nicht werden, höchstens noch in Afrika, und das ist auch ganz gut angebracht, wenn's auch nichts nützt.
Wiederum anders, wenn das zweibeinige Geschöpf fürstliches Blut in seinen Adern hat. Der Fall mit der Fürstin Wrede ist ja wohl bekannt, welche in allen Hotels Silberzeug zusammenge ... ge ... gesammelt hat. Es war entschuldbar, sie konnte nichts dafür, der Psy - chi - ater schickte sie in eine Nervenheilanstalt.
Ach, du lieber Gott, wenn das alles herauskäme, und wenn Kläger vorhanden wären, was für eine Unmasse von Nervenheilanstalten müßten wir noch bauen!!
Vor zwei Jahren erschien ein Buch, welches die in höchsten Berliner Kreisen herrschenden Verhältnisse aufdeckte. Es wurde gleich polizeilich konfisziert.
Aber auch in dem Romane von August Stinde ?Der Liedermacher? sind diese Verhältnisse der höheren und höchsten Kreise schon sehr anschaulich beschrieben.
Wenn sich die Frau Geheimrat oder die Gräfin Soundso ein neues Silberservice anschafft, wird gleich von vornherein soundsoviel Prozent auf den Aussterbe-Etat gesetzt. Bei jedem ?fife o' clock? und an jedem ?jour fixe?, bei jeder Gesellschaft gehen mindestens soundsoviele silberne Löffel und andere Sachen aus dem Silberkasten ab, verschwinden in Aermeln, Taschen und besonders beim Hüsteln, wobei man sich doch das Taschentuch vorhalten muß, im Busenausschnitt.
Ja, was will man denn dagegen machen? Soll sich etwa jeder Gast vor dem Abschied bis aufs Hemd ausziehen? Es sieht doch schon nicht schön aus, wenn der Gastgeber beim Abschied erst einmal mit den flachen Händen an dem Anzuge herunterfährt.
Ach, du lieber Gott, was da zusammenge ... gesammelt wird! Von den großen Geschäften und Warenhäusern gar nicht zu sprechen, was für Schriftstücke da im Privatkontor unterzeichnet werden müssen, von welchen Namen! Wir sprechen hier nur von der gesellschaftlich anerkannten, konventionellen Mauserei, die gewissermaßen erlaubt ist.
Aber das geht noch viel weiter.
Hast du schon einmal so einen exklusiven Ball gesehen - keinen Subskriptionsball, da hat schließlich jeder Zutritt - sondern so etwas ganz Feines?
Wie das flimmert und funkelt, was für ein kolossaler Wert in diesen Halsketten und Armbändern und Ohrringen und Agraffen stecken muß!
Und ich sage dir: Das ist alles Simili! Das sind alles falsche Juwelen und falsche Perlen, meistenteils auch noch gefaßt in schwachvergoldetem Messing!
Das heißt, diese Damen haben den echten Schmuck, aber den lassen sie zu Hause, für Gesellschaften legen sie die genaue Imitation an. Die berühmte Sängerin zeigt auf der Bühne ihren echten Schmuck - für die Gesellschaft vertauscht sie ihn mit einer genauen, wertlosen Nachahmung. Weshalb? Damit nichts verloren geht, was man niemals am Boden wiederfindet.
Du glaubst das nicht? Ziehe Erkundigungen ein. Freilich nicht bei Personen, welche das selbst mitmachen - sondern bei entlassenen Kammerjungfern, Kammerdienern und Lakaien. Die werden es dir erzählen können. -
»... ach - und der Türkisenschmuck meiner Tochter - eine doppelte Halskette - ein uraltes Stück - eine Fassung, wie sie gar nicht mehr gemacht werden kann - noch aus den Kreuzzügen ...«
»Er ist gestohlen worden?«
»Gestohlen? Um Gottes willen! Es war doch ein intimes Familienfest - lauter gute Bekannte - beim vierten Walzer war er mit einem Male weg.«
»Sie kann ihn doch verloren haben.«
»Ja, das kann sie.«
»Ihre Diener?«
»Na, hören Sie, meine Diener kenne ich doch - und kein Fremder war dabei ... ach, diese Familienfeste! - ich sage Ihnen - von den siebenunddreißig Löffeln und den fünfundzwanzig Gabeln will ich noch gar nichts sagen - auch nichts von der großen Bratenschüssel - aber der Türkisenschmuck ... gehen Sie mir doch weg mit Ihren Familienfesten!«
»Haben Sie die Sache denn nicht einem Privatdetektiven übergeben?«
»Mein Gott, Nobody - es war doch ein ganz intimes Familienfest!«
Nobody machte eine Kopfbewegung, als wolle er einen Gedanken von sich schütteln.
»Ein - intimes - Familienfest!« wiederholte er langsam die Worte, die der Milliardär schon so häufig gebraucht hatte. »Mr. John, ich habe Ihnen noch gar nicht zur Verlobung Ihrer Tochter gratuliert.«
Ja, das war es wohl, weswegen Mr. John den befreundeten Detektiv vorhin immer so eigentümlich angeblickt hatte. Wenn er schon von dem Unfall seiner Gattin erfahren, mußte er doch erst recht von der Verlobung seiner Tochter mit Sennor di Renardo gehört haben, ganz New-York sprach ja von nichts anderem.
Doch was sollte er sagen? Jetzt mußte er erst die richtige Gratulation in Empfang nehmen.
Da beugte sich Nobody vor, und der alte Mann erschrak fast - was der plötzlich für Augen machte!
»Aber, Mr. John,« erklang es in flüsterndem Tone und ganz langsam, »ich kann - Ihnen - nicht gratulieren.«
Der glückliche Brautvater mochte seinen Ohren nicht trauen.
»Was?! Warum denn nicht?!« stieß er hervor.
»Dieser - Sennor Jose di Renardo - ist - ein - Gauner!«
Es war eine seltsame Szene. Der alte Mann lehnte sich langsam in den Armstuhl zurück, auch den Kopf hintenüber, und langsam führte er die geballte Faust gegen seine Stirn.
»Ach, meine Ahnung! Ach, meine arme Helen!« hauchte er, weiter nichts.
Eine lange, lange Pause trat ein. Als der alte Milliardär dann wieder den Kopf senkte, waren seine Züge so stahlhart wie gewöhnlich, wenn er seine Millionen dirigierte.
»Wieso?« erklang es kalt.
Jetzt war es Nobody, der ganz langsam seine Achseln hob und erst nach einer Weile wieder sinken ließ.
»Mr. John - ich habe noch nicht den geringsten Anhalt - noch nicht den geringsten Beweis - aber - ich lese es in seinen Zügen, in seinen Augen - und obgleich ich ein Mensch bin, darf ich kühn behaupten, daß ich mich hierin nie, niemals irre!! - und ich lese in diesen Augen, daß dieser Spanier ein abgefeimter Schurke ist!«
Ja, das war wirklich kühn, nur auf einen Blick hin solch eine Behauptung aufzustellen!
Der alte Stahlkönig blieb bewegungslos.
»Mr. Nobody - zweimal schon haben Sie mir gegenüber Menschen verdächtigt, für deren Ehrenhaftigkeit ich meinen Kopf zum Pfande eingesetzt hätte, und Sie hatten keinen anderen Grund anzugeben als den, daß Sie in den Augen der Betreffenden eine dem Bösen dienende Seele erkennen könnten - das erstemal war ich furchtbar aufgebracht gegen Sie, mit harten Worten wies ich Ihnen sogar die Tür - und dann mußte ich Sie bittend zurückholen, weil Sie in prophetischem Schauen nur zu wahr gesprochen hatten - es war ein infamer Schurke, dem ich mein grenzenloses Vertrauen geschenkt hatte - und auch beim zweiten Male sollten Sie furchtbar recht behalten ... und jetzt zum dritten Male mag ich nicht mehr an Ihrer ahnungsvollen Beschuldigung - und ich selbst, ja - ich selbst - ich selbst ...«
»Sie selbst haben einen Verdacht?« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe.
»Nein. Nicht den geringsten, den ich beweisen, mir selbst definieren könnte. Ich lese auch in seinen Zügen und Augen nichts. Aber ... als ich dem Spanier zum ersten Male begegnete - wie eine Welle der Antipathie flutete es mir entgegen - und so stets zuerst bei unserem Zusammensein - meine Hand wird von der seinen stets wie von einem entgegengesetzten Pol zurückgestoßen - und doch muß ich den Mann hochachten - wie reimt sich das zusammen?«
»Ja, das nennt man eben Antipathie, das ist die warnende Stimme des Unbewußten. Lassen Sie uns den Charakter dieses Spaniers sezieren. Das können Sie wohl am besten. Ich bin erst gestern hier eingetroffen, habe ihn erst zweimal gesehen.«
Also auch bei solch einer Charakterisierung, sogar wenn es sich um den zukünftigen Schwiegersohn handelte, ging es hier ganz geschäftsmäßig zu.
»Ein untadelhafter Ehrenmann,« begann Mr. John seine Schilderung. »Kein Spieler, kein Trinker, trotzdem kein Mucker - ich würde ihm mit Freuden meine Tochter anvertrauen und sogar sofort mein ganzes Vermögen; denn ich wüßte es in guten Händen. Ueber meine geheime Abneigung habe ich mir selbst immer Vorwürfe gemacht, hatte sie bereits besiegt. Nicht einmal einen einzigen anonymen Schmähbrief habe ich über den Bräutigam meiner Tochter erhalten. Er genießt eben allgemein eine unbeschränkte Hochachtung.«
»Wie denken Sie über seine Lehre, über die ganze Geschichte mit der Wiedergeburt?«
»Mein Gott - jeder wird nach seiner Fasson selig - meine Frau glaubt noch heute fest an das Vorhandensein einer Hölle mit einem feurigen Schwefelpfuhl und anderen Martereinrichtungen, und dennoch haben wir zweiundvierzig Jahre lang so harmonisch nebeneinander leben können.«
»Ob der Sennor selbst von der Wahrheit seiner Lehre überzeugt ist? Und nun seine früheren drei Leben, an die er sich erinnern will!«
»Mister Nobody - das ist das eine, worüber wir lieber gar nicht sprechen wollen. Das ist Religion - und Religion kann man nicht verstehen, sondern nur glauben. Ich gehörte viele Jahre zu der Sekte der Quäker. Und ich kann nur sagen, daß mich in den Versammlungen manchmal etwas erfaßte, was mich zu begeisterten Reden zwang, was ich wirklich für den heiligen Geist hielt. Und das muß ich noch heute aufrecht halten. Für so etwas hat die abwägende Vernunft gar keine Worte. Jedenfalls ist di Renardo nicht einer einzigen Lüge oder auch nur Aufschneiderei zu überführen. Alles, was er spricht, hat Hand und Fuß. Und wissen Sie, wozu dieser Mann bestimmt sein könnte?«
»Ein Apostel der Menschheit zu werden.«
»Sie haben mir das Wort von der Zunge genommen. Nein, nicht nur ein Apostel, sondern ein Heiland. Was für Segen der schon gestiftet hat, ganz im stillen, nur durch seine Lehre - Sie glauben es gar nicht. Ganz New-York scheint sich zu verwandeln. Unsere vergoldeten Frauenzimmer, diese bisherigen Tagediebinnen, fangen mit einem Male an zu arbeiten. Sie wollen lernen, immer lernen, oder beschäftigen sich sonst mit nutzbringenden Arbeiten. Bei den Weibern ist das schließlich begreiflich. Aber auch schon sehr viele unserer eleganten Pflastertreter sind von den Straßen verschwunden, haben sich beim Vater oder sonstwo ins Kontor gemeldet. Wie lange es anhalten wird, ist ja eine andere Sache - und doch, ist das nicht fast ein größeres Wunder als die Auferweckung eines Toten? Und ich kenne zwei Spieler, welche, eingedenk ihrer Wiedergeburt, ihre unselige Leidenschaft endlich besiegt haben - ja, ich kenne sogar einen Morphiumsüchtigen, zuletzt von allen Anstalten als unheilbar zurückgewiesen, welcher sich jetzt durch eigene Kraft emporgerafft hat, erschüttert von dem Gedanken, seinen nächsten Lebenslauf als Idiot anzufangen, und immer wieder, als menschliches Tier des freien Willens beraubt, bis ihn die Schöpfung wieder eines freien Menschendaseins für würdig erachtet. Ist das nichts?«
»Doch, das ist etwas. Und wie steht es mit dem Goldvergraben?«
»Was, mit dem Goldvergraben? Ach so, ich verstehe. Na, da hat sich Renardo geirrt. Da kämen doch höchstens wirklich reiche Leute in Betracht - und es könnte sich doch nur um Metall, um wirkliches Gold oder Silber handeln, das man vergräbt, Papier dürfte sich auch in gutem Verschluß nicht so lange unter der Erde halten - und bedenken Sie, daß auf den Zentner nur 25 000 Dollar gehen - i, das merken die Banken ja gar nicht.«
»Wissen Sie, daß der Spanier zuerst erwähnte, es hätte jeder sein Ehrenwort daraufhin abzugeben, daß er kein Geld durch Vergraben den Erben entziehe, der Menschheit, und davon steht nichts in den Verpflichtungen, die man zu unterschreiben hat.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich habe erst vorhin eine Unterrichtsstunde genommen.«
»Richtig. Aber früher hat auch das drin gestanden. Das habe erst ich ihm ausgeredet, das hat er dann gestrichen. Denn nach meiner Ansicht kann jeder Mensch mit seinem Gelde machen was er will, und die reichsten Leute haben mit nichts begonnen.«
»Und wenn der Spanier nun doch mit diesem Geldvergraben rechnete?«
Der Milliardär blickte den Frager starr an. Er hatte wohl etwas aus dem Tone gehört.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich habe Ihnen doch einmal einen Vortrag mit Experimenten über Hypnotik gehalten. Wenn der Spanier seine Schüler und Schülerinnen, die er doch unter vier Augen nehmen kann, nun hypnotisiert, sie ausfragt, ob und wo sie Geld vergraben haben ...«
Ein gleichzeitiges Kopf- und Handschütteln unterbrach den Sprecher.
»Nobody, da sind Sie einmal im Irrtum. Bedenken Sie nur immer, daß 25 000 Dollar in Gold einen Zentner wiegen, und das ist eine Last, die geschleppt sein will. Renardo hat gegenwärtig mindestens vierzig Schüler. Das mindeste Honorar ist pro Stunde 100 Dollar, er verlangte aber noch ganz andere Summen. Drüben meine Nachbarn, die Mrs. Elliot mit ihren beiden Töchtern, müssen für die Stunde 500 Dollar bezahlen - jede!! Ihnen kann ich's sagen. Jose nimmt täglich 6000 Dollar ein, mindestens. Und wenn der Unterrichtsbriefe herausgeben wollte - was meinen Sie wohl! Das kann ja einmal schnell aufhören - aber - das ist eben ein Finanzgenie - der versteht aus allem Gold zu machen - der brauchte keinen reichen Schwiegervater. Der pfeift überhaupt aufs Geld. Er verschenkt ja fast alles, für sich selbst braucht er nicht den zehnten Teil. Aber sonst - Nobody, Sie haben recht - irgendwas ist mit meinem Schwiegersohne nicht in Ordnung - das müssen Sie herausbringen - und dann brechen Sie ihm den Hals.«
Es war gewiß recht eigentümlich, wie der alte, biedere Mann über den sprach, den er bisher als seinen Schwiegersohn betrachtet hatte, und jetzt sollte der Charakter des Yankees immer mehr zum Vorschein kommen. Er hatte schon zuerst geahnt, daß es kein reelles Geschäft sein könnte, und jetzt wollte er sich darüber vergewissern.
»Und wenn es nun der Fall wäre - was würde Miß Helen dazu sagen?«
»Meine Tochter? Das ist eben die Tochter von Ephraim John.«
Das war deutlich genug gesagt.
»Die Verlobung wurde nicht von Liebe diktiert?«
»Gott, was heißt Liebe! Die Liebe kommt erst in der Ehe. Dieser Spanier ist jetzt eben der erste Löwe von New-York - ist er's nicht mehr, ist ein anderer da, um den sich alle Weiber reißen. Daß sie nicht zu schnell zugreifen, dafür sorgen wir Alten schon. Also wenn er's verdient, brechen Sie ihm nur ruhig den Hals. Es hat ja noch Zeit, mit der Hochzeit hat's noch eine gute Weile, gerade jetzt bei der Krankheit meiner Frau.«
»Aber Sie werden ihn doch noch immer als Ihren zukünftigen Schwiegersohn empfangen?«
»Na, selbstverständlich! Niemand erfährt etwas davon, am allerwenigsten meine Tochter. Ich werde Ihnen doch keinen Strich durch die Rechnung machen. Na, trinken wir noch eine Flasche? Ein famoses Weinchen, was?«
»Nein, ich muß danken, meine Zeit ist gemessen, ich habe etwas Wichtiges vor,« wehrte Nobody mit einem heimlichen Schaudern ab.
»Na, da nehmen Sie wenigstens noch eine Zigarre. Jawohl, vierzig Jahre rauche ich schon diese Sorte, und sie wird immer besser.«




In einen rotsamtnen Schlafrock gehüllt, saß Sennor Jose di Renardo vor seinem Schreibtisch und las die mit der Morgenpost eingegangenen Briefe flüchtig durch, eine Unmasse, mit denen er heute nicht mehr fertig werden würde, und führte manchmal die Tasse mit Kakao an den Mund.
Vorgestern war sein Assistent auf der Straße überfahren worden, war in einem Hospital gestorben, ohne das Bewußtsein wiedererlangt zu haben.
Noch an demselben Tage hatte in einer Abendzeitung ein Inserat gestanden, worin Sennor di Renardo einen Kammerdiener suchte.
Denn den Namen ?Assistent? hatten nur die Schüler dem Manne gegeben, der statt des Maestros manchmal durch die Kabinette und gemeinsamen Säle ging, um Wünsche zu befriedigen. In Wirklichkeit war es wohl nur ein Diener gewesen.
Ein gewandter Kammerdiener verlangt, selbstgeschriebene Offerten mit ausführlichem Lebenslauf brieflich zu richten an Unterzeichneten ... nichts weiter.
Schon gestern waren die Offerten massenhaft eingelaufen. Die nach ihren Briefen Auserwählten hatten zu heute früh um acht eine Bestellung erhalten.
Es war nur ein einziger Brief, den der Spanier jetzt zum zweiten Male durchlas. Dieser, mit schöner Handschrift und richtig geschrieben, lautete:

»Sir! Ich wurde am 5. Dezember 1854 in Eccels bei Manchester, England, geboren. Mein Vater besaß eine Schaubude, in der er als Akrobat und Taschenspieler auftrat. Wie meine Geschwister mußte auch ich dieses Gewerbe lernen. Wir zogen in Großbritannien und Irland von Stadt zu Stadt. In meinem zwanzigsten Jahre starb der Vater. Wegen Streitigkeiten wurde die Schaubude verkauft. Da mir das unstete Artistenleben niemals gefallen hatte, wurde ich Diener bei ...«
Es folgten die Angaben von vier Dienerstellen mit beiliegenden Zeugnisabschriften, nur die besten. Die vierte Herrschaft hatte Harry Peterson, wie er sich unterschrieb, nach Amerika begleitet, vor zwei Monaten war er entlassen worden, ohne besonderen Grund, der Diener war eben überflüssig geworden, das sagte auch das Zeugnis, seitdem war es ihm noch nicht gelungen, wieder eine Stelle zu erhalten.
Eine als Briefbeschwerer dienende Uhr verkündete mit silbernem Schlage die achte Stunde.
Der Maestro stand auf, schlug den rotsamtnen Schlafrock um seine mittelgroße, schlanke Gestalt und begab sich hinaus in eine lange Halle, in welcher gegen zwanzig Männer standen, die zur Auswahl Bestellten.
»Stellt euch alle einmal der Reihe nach auf.«
Nach einigem Durcheinander war das geschehen. Der Spanier schritt die Reihe langsam ab, in jedes Auge das seine bohrend. Es waren die verschiedensten Gestalten, alte und junge, im feinsten Gehrock waren sie erschienen und halb zerlumpt, und ebenso verschieden waren die Gesichter, von der aristokratischen Gentlemanmiene an über das Jockeigesicht hinweg bis zur Galgenphysiognomie.
Es waren wenige Augen darunter, welche den durchbohrenden Blick des Spaniers aushalten konnten. Vor einem semmelblonden Jüngling mit ebenso offenen wie intelligenten Zügen, einfach, aber adrett gekleidet, blieb der Spanier einen Moment stehen.
»Wie heißen Sie?«
»Harry Peterson, Sir,« lautete die fröhliche Antwort, und obgleich sich der Blick des Spaniers jetzt in Feuer zu verwandeln schien, das sich bis ins Herz bohrte, hielten ihm die blauen Augen doch mit unbefangener Heiterkeit stand.
Nur ein leichtes Kopfnicken, dann schritt Renardo weiter die Reihe entlang.
»Jetzt streckt einmal eure Hände aus!« kommandierte er dann.
Diese Männer, alle schon Diener gewesen, wußten schon, weshalb, sie wendeten von allein vor dem Vorbeigehenden die Hände mit gespreizten Fingern hin und her. Es ist ja selbstverständlich, daß ein Diener, besonders wenn er zum Servieren benutzt werden soll, keine häßlichen, übermäßig plumpen Hände haben darf, die immer den Eindruck der Unsauberkeit machen, mögen sie auch noch so gut gewaschen sein, das hängt am meisten auch von den Nägeln ab.
Wieder blieb der Maestro vor dem semmelblonden Jüngling stehen. Es waren schlanke, wohlgeformte Finger mit tadellosen Nägeln, die ihm vorgehalten wurden, wenn auch durchaus nicht etwa feine, sogenannte aristokratische, deren Besitzer weiter nichts zu tun hat, als sich mit seinen Händen zu beschäftigen, der sich täglich die Nägel von einem Manikuren polieren läßt. Diese trotz alledem kräftigen Hände mußten recht wohl zugreifen können und hatten es auch schon getan.
»Harry Peterson aus Eccels, geboren am 5. Dezember 1854?«
»Jawohl, Sir.«
»Kommen Sie mit! Ihr anderen könnt gehen. Jeder wird an der Portierloge einen Dollar erhalten. Wer damit nicht zufrieden ist, bekommt gar nichts.«
Das war sogar sehr nobel. Die sich Meldenden hätten natürlich gar nichts beanspruchen dürfen.
»Folgen Sie mir!«
Der neue Diener, der wenigstens die sicherste Aussicht hatte, es zu werden, folgte ihm in das Arbeitszimmer zurück.
»Setzen Sie sich!«
Nobody setzte sich. Denn es war kein anderer als Nobody, der sich auf diese Weise Zutritt in das Haus des Wunderdoktors verschafft hatte, aber in anderer Gestalt als in der eines Schülers, der für jede Stunde tausend Mark zahlen mußte.
Wieder einmal hatte dieser Detektiv seine Menschenkenntnis glänzend bewiesen. Als Lord Hasting war er dem Spanier noch mehrmals in Gesellschaften begegnet, und hier hatte er ihn gründlich studiert.
Ja, das war ein Abenteurergesicht, und mehr noch die Seele eines Abenteurers, und was dem Detektiven am allermeisten auffiel, das waren die seltsamen Hände. Diese wachsgelben, wunderbar feinen Finger schienen wie aus Elfenbein gedrechselt zu sein, hart wie Elfenbein fühlten sie sich auch an, dann plötzlich schienen sie sich in weiches Wachs zu verwandeln, und so konnten sich diese sehnigen Finger auch nach allen Richtungen biegen, als wären gar keine Knochen darin.
»Das ist ein professioneller Taschenspieler,« lautete Nobodys Urteil, »oder ich will mich hängen lassen - und zwar ein gottbegnadeter Taschenspieler, der es vielleicht sogar mit mir aufnehmen kann.«
In einer Gesellschaft wurden einmal Kartenkunststückchen und andere Handfertigkeiten gezeigt, aber der Spanier beteiligte sich nicht daran, sagte vielmehr, er übe wohl seine linke Hand ein, um sie ebenso gebrauchen zu können wie seine rechte, doch nur zu nützlichen Zwecken, zu solchen Spielereien habe er keine Zeit.
Das änderte in Nobodys Urteil nichts. Er fand das vielmehr ganz begreiflich.
Nun handelte es sich nur darum, wie er das besondere Vertrauen des Spaniers erwerben könne. Da passierte der Unfall mit dem ?Assistent?, die Annonce erschien, und sofort war Nobodys Entschluß gefaßt.
Jenen Brief geschrieben, sich als ehemaligen Taschenspieler und Akrobaten ausgegeben, bei der Vorstellung ein intelligentes, offenes, ehrliches Gesicht aufgesetzt, recht treuherzige Augen - - wir haben gesehen, wie der Spanier gleich für dieses Gesicht Interesse zeigte, und dann schien der Brief den letzten Ausschlag zu geben.
Also ein ehemaliger Taschenspieler behagte ihm als Diener? Wieder ein Grund zum Mißtrauen - oder eigentlich der erste definitive Grund.
Sonst sei nur noch bemerkt, daß der Spanier ruhig die ehemaligen Herrschaften in England wegen ihres früheren Dieners hätte befragen können. Das waren Nobodys Vertrauensmänner, für solche Fälle hatte sich der Detektiv natürlich immer vorgesehen, und auch wegen der Artistenfamilie Peterson hätte er nicht Lügen gestraft werden können.
Und nun saß er neben dem Schreibtisch und sah zu, wie der Spanier mit seinen gelben Elfenbeinfingern die Briefe und Papiere wegpackte.
Dann wandte er sich dem Diener, der als solcher erst noch zu engagieren war, zu.
»Erzählen Sie mir noch einmal ganz ausführlich Ihren Lebenslauf.«
Unbefangen tat es Nobody, alias Harry Peterson.
Erst hörte Renardo, in seinen Stuhl zurückgeneigt, gleichmütig zu. Doch warum nahmen seine Augen plötzlich einen so stechenden Ausdruck an, warum beugte er sich nach und nach immer mehr vor und bohrte seinen Blick förmlich in die Augen des Sprechenden?
Aha!! Jetzt wußte Nobody, woran er war!
»Mister Hendrick schien manchmal an Geldmangel zu leiden, und eines - ein - einnn - es Morg - Mooo ...«
Plötzlich wurde des Sprechenden Zunge schwer, und immer schwerer, seine Augenlider gerieten in eine schnelle Vibration, schlossen sich aber nicht, dagegen verschoben sich die Augäpfel ganz nach oben, bis nur noch das Weiße zu sehen war, und so saß Nobody zur Statue erstarrt da.
»So,« dachte er dabei, »jetzt halte du mich für hypnotisiert, und nun fange an!«
Dieses Augenverdrehen war eingeübtes Kunststück, welches ihm so leicht wohl niemand nachmachte.
»Hören Sie mich sprechen?«
»Ja,« lallte Nobody mit schwerer Zunge.
»Sie werden mir gehorchen!«
»Ich - gehorche.«
»Mir auf alle meine Fragen der Wahrheit gemäß antworten!«
»Der - Wahrheit - gemäß.«
»Wie heißen Sie?«
»Harry - Peterson.«
»Wann und wo sind Sie geboren?«
»Am 5. - Dezember - 1854 - bei Manchester.«
»Haben Sie mir auch sonst die absolute Wahrheit erzählt betreffs Ihres Lebenslaufs?«
Der Spanier konnte zufrieden sein. Und das war wiederum ein sicherer Beweis, daß dieser Mann irgend etwas zu fürchten hatte! Nobody konnte ebenfalls zufrieden sein.
»Sie werden also auch von niemandem zu mir geschickt?«
»Nein.«
»Niemand hat Sie beauftragt, mich und meine Handlungen zu beobachten?«
Der Beweis eines bösen Gewissens ward ja immer stärker!
»Nein.«
»Sie haben sich ganz aus freiem Willen bei mir gemeldet?« überzeugte sich der Mann mit dem bösen Gewissen immer noch einmal.
»Ganz aus - freiem - Willen,« versicherte der Hypnotisierte mit lallender Zunge.
Der Spanier räusperte sich, ein Zeichen, daß jetzt etwas Neues kommen würde.
»Sie sind schon einmal bestraft?«
Das war eine Frage, die gar nicht so leicht zu beantworten war. Doch Nobody hatte sich schon auf alles vorbereitet.
»Nein.«
»Haben Sie einmal irgend etwas begangen, weswegen Sie gerichtlich hätten bestraft werden können? Die Wahrheit!«
Es wäre doch eigentlich ganz nett gewesen, hätte Nobody einen Raubmord oder doch wenigstens einen Diebstahl gestanden, dann hätte er vielleicht mehr Vertrauen genossen. Aber lieber nicht.
»Nein.«
»Gut. Ich werde Sie als meinen Diener engagieren.«
Jawohl, als Dieb oder dergleichen hätte er von ehemaligen Komplicen belästigt werden können.
»Ich da - da - danke.«
»Sprechen Sie fließender, ich befehle es Ihnen!«
»Ich danke Ihnen, Sir.«
»Sie werden mir von jetzt an unbedingt gehorchen!«
»Ich gehorche unbedingt.«
»Alles, was ich Ihnen befehle, werden Sie ausführen!«
»Alles!«
»Wenn ich Ihnen also befehle, ermorden Sie meine Frau! - was werden Sie dann tun?«
Oho! Nun brauchte man nicht mehr von einem Argwohn zu sprechen!
»Ich werde Ihre Gemahlin ermorden.«
»Und Sie werden nicht nach dem Grund forschen, weshalb ich meine Frau ermorden lasse.«
»Niemals.«
»Und so werden Sie auch jeden anderen von mir gegebenen Befehl ausführen, jeden!«
»Jeden!!«
»Ohne nach irgend welchem Grunde zu fragen, auch sich selbst nicht.«
»Das werde ich niemals tun.«
»Und Sie werden auch niemals Gewissensbisse empfinden.«
»Niemals.«
»Wissen Sie, was man unter einem willenlosen Werkzeug versteht?«
»Ja.«
»Sie werden also von jetzt an mein willenloses Werkzeug sein.«
»Ihr willenloses Werkzeug.«
»Und was Sie hier beobachten, was Sie mich treiben sehen, davon werden Sie zu keinem Menschen sprechen.«
»Selbstverständlich nicht,« entgegnete der Hypnosierte, der es wenigstens sein wollte, und dieser Befehl war auch wirklich überflüssig gewesen.
Eine Pause trat ein, der Spanier überlegte offenbar.
Jetzt wird er mir noch einen posthypnotischen Befehl geben, wenn auch nur zur Prüfung, dachte Nobody.
Aber dies sollte nicht geschehen.
»Ich werde Sie jetzt erwachen lassen.«
Hierzu waren noch besondere Instruktionen nötig, welche nicht ausführlich geschildert zu werden brauchen. Der Hypnotisierte sollte erinnerungslos erwachen, das heißt insoweit, daß er nicht mehr wußte, wie er jetzt hypnotisiert worden war, was er alles gesagt hatte. Wohl aber sollten alle sonstigen Befehle noch ihre Gültigkeit haben. Als Stichwort, wonach er jedesmal - sofort wieder in hypnotischen Schlaf fiel, wurde ihm ?Artaxerxes? gegeben, ein Name, der wohl nicht so häufig genannt wird, und dann schärfte ihm der Spanier noch besonders ein, daß dieses Wort nur wirken solle, wenn er selbst es aussprach. Doch schien er zu wissen, daß dies nicht immer geht, der Betreffende fällt gewöhnlich, wenn ein anderer oder er selbst zufällig dieses Stichwort ausspricht, in Hypnose.
Hoffentlich läßt er mich nicht zu oft die Augen nach oben verdrehen, dachte Nobody, sonst gewöhne ich mir noch das Schielen an.
»Erwachen Sie!!!«
Nobody klapperte etwas mit den Augen und ließ sie wieder herunterrutschen.
»... und eines Morgens sagte Mister Hendrick, daß er mich leider entlassen müsse,« vollendete er den begonnenen Satz.
»So so. Nun, Sie gefallen mir. Sie scheinen doch auch eine ziemliche Bildung zu besitzen.«
»Ich habe mich während meiner Freistunden stets bestrebt, etwas zu lernen, und das muß ja ein Diener auch.«
»Ganz recht, wenn er nicht immer nur Stiefel putzen und Sachen ausklopfen will. Lassen Sie mich etwas prüfen, wes Geistes Kind Sie sind.«
Der Spanier stellte einige Schulfragen aus der Geographie, Geschichte und anderen Elementarfächern - der Diener antwortete zu vollkommener Zufriedenheit, wenn er auch keinen Anspruch auf höhere Bildung machen konnte.
»Das genügt. Sie sind ein aufgeweckter Kopf - das genügt mir. Ich werde Sie schon noch weiterbringen. Sie wissen doch, daß ich hier vormittags Unterrichtsstunden gebe?«
»Ja, Sir.«
»Worüber?«
»Ueber die Wiedergeburt, wie man sich der früheren Lebensläufe erinnern kann.«
»Haben Sie mein Buch gelesen?«
»Ja, Sir, noch ehe ich daran dachte, bei Ihnen eine Stellung zu finden. Ich habe mich stets für so etwas interessiert.«
»Sie glauben auch an meine Lehre?«
Nobody heuchelte etwas Verlegenheit.
»Sir, wenn ich offen sein soll ...«
»Schon gut, schon gut,« fiel ihm der Spanier sofort ins Wort, »ich dränge niemandem meine Lehre und einen anderen Glauben auf, mich freut es vielmehr, daß Sie so offen sind. Wissen Sie, welche Stellung mein früherer Kammerdiener, der vorgestern durch Ueberfahren seinen Tod fand, bekleidet hat?«
»Nun, er verrichtete eben die Obliegenheit eines Kammerdieners.«
»Nicht so ganz. Für mich selbst brauche ich eigentlich gar keine fremde Hand. Er war gewissermaßen mein Assistent, der meinen Schülern und Schülerinnen zur Verfügung stand. Dabei trug er eine Livree. Darin eben möchte ich jetzt eine Umwandlung schaffen. Sie sollen mein wirklicher Assistent werden, der sich den Herrschaften im Gesellschaftsanzug zeigt.«
»Wenn ich den Anforderungen genügen kann ...«
»Davon ganz abgesehen. Das können Sie. Es ist einfach genug. Nur ein paar Handreichungen, weiter nichts. Doch davon später. Jetzt ist für mich die Hauptsache, daß ich Sie als meinen Assistenten auch in die vornehmen Gesellschaften, die ich besuche, einführen möchte.«
»O, Sir, ich bin bisher nur immer ein ...«
»Still! Was Ihnen dazu noch fehlen sollte, werde ich Ihnen schnell beibringen. Hauptsächlich ein paar gewandte Redensarten. Das ist ja alles Larifari. Also Sie sind als Akrobat ausgebildet?«
Nobody oder vielmehr Harry Petersen zählte auf, als was alles er sich produziert hatte. Als Artist in solch einer kleinen Zirkusbude hatte er sehr vielseitig sein müssen. Seiltänzer, Feuerfresser, Jongleur, Athlet, der ungeheuere Gewichte hob - wenn diese auch hohl waren - Schlangenmensch, Kunstschütze und Gott weiß was.
Der Spanier hörte der langatmigen Aufzählung mit äußerstem Interesse zu.
»Zeigen Sie Ihre Arme.«
Den Rock brauchte Nobody nicht auszuziehen, der Spanier befühlte die Muskeln nur, und Nobody gab sich alle Mühe, obgleich er sie scheinbar mit aller Macht anspannte, sie so schlaff wie möglich zu machen.
»Gut, sehr gut. Sie haben das Zeug zu einem wirklichen Athleten in sich, Sie brauchten nichts weiter als ein systematisches Training.«
Ha, wenn du wüßtest! - lachte Nobody innerlich.
»Und was haben Sie als Eskamoteur geleistet, speziell durch Fingergewandtheit?«
Nun, was so ein kleiner Budiker eben für den Hausbedarf braucht - - die ausgezogenen Handschuhe verschwinden lassen, ein Taschentuch, ein Geldstück ...
»Können Sie den Wechselbalg machen?«
»O ja, das kann ich wohl.«
»Lassen Sie sehen.«
Der Spanier griff in die Hosentasche und brachte zwei Silberdollar zum Vorschein. Den einen gab er dem Diener, den anderen behielt er selbst.
Mit einem Male war dieser aus seiner Hand verschwunden. Jedenfalls klemmte er zwischen den Fingern unterhalb der flach hingehaltenen Hand.
»Nun geben Sie mir Ihren Dollar - also Wechselbalg.«
Nobody verstand. Er nahm seinen Dollar zwischen Daumen und die Spitzen des Zeige- und Mittelfingers, also ganz natürlich, legte ihn in die flache Hand des Spaniers - aber nur scheinbar - vielmehr eskamotierte er den Dollar unter seine Hand, so daß er auf deren Rücken zwischen den Fingern klemmte, während der Spanier zur gleichen Zeit seinen eigenen Dollar herauf in seine Handfläche eskamotierte.
Es hatte ausgesehen, als ob Nobody dem Spanier einen Dollar gegeben hätte, ganz natürlich, es hätte jemand seine Nase dicht daran halten können, wohl schwerlich hätte er etwas gemerkt - während doch in Wirklichkeit noch immer jeder seinen eigenen Dollar hatte.
Das nennt der Taschenspieler einen Wechselbalg - und der Gauner! Was hiermit für Tricks ausgeführt werden können - und für Gaunereien! - ist wohl begreiflich.
Nobody hatte dabei mit Absicht nicht seine ganze Geschicklichkeit entwickelt, trotzdem es, wie schon gesagt, so gut gelungen war, daß wohl niemand etwas von einem ?Wechselbalg? gemerkt hätte. Auch der Spanier war zufrieden.
»Gut. Ganz nett gemacht. Zu vervollkommnen ist allerdings alles. Ich bemerkte, daß Sie den Dollar mit dem Daumennagel schoben. Tun Sie das immer?«
»Ja, so lehrte es mich mein Vater.«
»Machen Sie es mir ein paarmal vor.«
Nobody eskamotierte den Dollar mehrmals hin und her, daß er bald auf dem Handrücken, bald in der Handfläche lag.
»Sie müssen das Geldstück nicht mit dem Nagel, sondern mit der fleischigen Daumenspitze schieben, und es nicht zwischen Mittel- und Ringfinger, sondern zwischen Mittel- und Zeigefinger hindurchgleiten lassen. Es dürfte Ihnen dies zuerst schwer fallen, aber die großen Vorteile werden Sie später erkennen. Sehen Sie, so.«
Jetzt eskamotierte der Spanier den Dollar in seiner Hand hin und her, und Nobody ... war verblüfft! Dieser Spanier hatte eine fabelhafte Fertigkeit darin, auf diese Weise konnte Nobody es ihm nicht nachmachen. Besonders war schwer zu begreifen, wie er das Geldstück, wenn er die Handfläche nach unten hielt, aus den Fingern heraus zwischen die Ballen klemmte, so daß er dann auch noch die Finger spreizen konnte, um im nächsten Augenblick den Dollar wieder auf dem Handrücken zu haben.
»Können Sie es auch mit der linken Hand?«
Nobody konnte manches mit der linken Hand: fechten, Billard spielen, schreiben - aber zum ?Wechselbalg? hatte er seine linke Hand doch nicht völlig in der Gewalt. Ueberhaupt war es besser, der Spanier erfuhr gar nichts von seinen weiteren Fähigkeiten.
»Nein, das kann ich nicht.«
»Einseitig aber ist der Mann, der nichts mit beiden Händen kann - und wenn Sie in den Gesellschaften mein brauchbarer Partner sein wollen, müssen Sie das alles noch lernen, hähähähä.«
Es war ein teuflisches Grinsen, welches das sonst so schöne, edle Antlitz entstellte - und nun der brennend rote Schlafrock - da war ein Mephistopheles in neuer Ausgabe - - - und dabei ließ der Spanier den Dollar in der linken Hand abwechselnd verschwinden und wieder zum Vorschein kommen.
Jetzt nahm der Spanier aus einer Schublade ein Kartenspiel.
»Können Sie die Volte schlagen?«
»Jawohl, das kann ich.«
»Machen Sie es mir vor.«
Nobody nahm das Spiel und ließ bald die unterste Karte nach oben, bald die oberste Karte nach unten schnellen, und zwar nicht nur beim Mischen, sondern auch während er das Kartenspiel scheinbar ganz ruhig in der Hand hatte, nur mußte er dabei mindestens auch die andere Hand darauflegen.
Hierin war Nobody Meister. Da konnte ihm niemand etwas vormachen. Er entwickelte mit Absicht nur nicht seine ganze Geschicklichkeit. »Können Sie die Kreuzvolte schlagen?«
»Nein - von einer Kreuzvolte habe ich noch gar nichts gehört,« war Nobodys aufrichtige Antwort.«
Der Spanier nahm das Spiel, zeigte die unterste und die oberste Karte, nahm das Spiel nur in eine Hand, in die rechte, nur eine Fingerbewegung, die aber auch beim schärfsten Hinsehen nicht sichtbar war, also mehr richtige Hexerei, und die beiden Karten hatten ihre Plätze gewechselt, jetzt lag die unterste Karte zu oberst und umgekehrt, und immer nur ein leichtes Handsenken, stets lagen die Karten wieder anders. Es war wie ein farbiges Schattenspiel.
Nobody war vollständig verblüfft! Wie selten in seinem Leben! Er wußte überhaupt gar nicht, wie der Spanier das machte, das war ihm etwas ganz Neues!
Und jetzt nahm der Maestro das Kartenspiel in die linke flache Hand und wiederholte hier das Wechseln der Karten mit derselben fabelhaften Schnelligkeit.
Und wieder trat das teuflische Grinsen hervor, während er so, gelassen im Stuhl sitzend, die farbigen Karten in seiner scheinbar regungslosen Hand spielen ließ, ihnen förmlich Leben gab.
»Sehen Sie? Das müssen Sie alles noch lernen, wenn Sie mit mir jene vornehmen Gesellschaften besuchen wollen, hähähä. Aber das läßt sich auch alles lernen, besonders wenn man solch einen Lehrmeister wie mich hat, hähähä.«
Nun wußte Nobody Bescheid. Also ein Falschspieler. Bisher hatte er allerdings noch in keiner Gesellschaft eine Karte angerührt. Er suchte sich erst einen Partner.
Das Kartenspiel wurde weggelegt.
»Sie werden natürlich niemandem etwas sagen, was Sie hier zu sehen bekommen haben, und was Sie noch lernen sollen.«
»Aber Sir ...!« stellte sich Nobody beleidigt. Er mußte ja unter dem posthypnotischen Befehle stehen.
»Schon gut. Ich vertraue Ihnen. Was für einen Gehalt beanspruchen Sie?«
»Bei Mister Hendrick erhielt ich ...«
»Lassen Sie. Ihre Stellung hier ist ja eine ganz andere. Sie sollen meine rechte Hand werden. Ich gebe Ihnen bei freier Station und Garderobe monatlich hundertfünfzig Dollar.«
»O, Sir ...«
»Ruhig. Das ist gar nicht so viel für das, was ich mit Ihnen vorhabe, und ich bemerke gleich, daß Ihnen meine Kasse zu jeder Zeit offen steht. Kennen Sie New-York?«
»Einigermaßen. Ich war ja zwei Monate außer Stellung ...«
»In zwei Monaten kann man noch nicht sämtliche Straßen New-Yorks kennen lernen. Und das müssen Sie gründlich. Um zwölf Uhr mittags sind Sie hier fertig. Dann gebe ich Ihnen bis sechs frei. Während dieser sechs Stunden sollen Sie in New-York und Brooklyn herumwandern, um sämtliche Straßen kennen zu lernen. Vorher orientieren Sie sich theoretisch auf dem Straßenplan, am Nachmittage kommt die Praxis daran, bis Sie jeden Winkel kennen. Wie man das am schnellsten erlernt, dazu werde ich Ihnen mnemotechnische Hilfsmittel geben.«
Nichts war Nobody angenehmer, als dies zu hören. So sollte er täglich für sechs Stunden sein freier Herr sein. Da konnte er diese Zeit für seine eigenen Zwecke verwenden. Denn ihm war in New-York und Brooklyn kein Winkel mehr fremd.
»Können Sie reiten?«
»Das kann ich, sogar sehr gut. Wir hatten einmal eine kleine Manege, ich trat als Reitkünstler auf.«
»Sogar sehr gut?« wiederholte der Spanier geringschätzend. »Nun, wir werden sehen. Können Sie rudern und segeln?«
»Rudern wohl, das ist ja ganz einfach, aber segeln? Ich habe noch nie ...«
»Sie werden es lernen, Sie sollen mein Boot führen, ich angle nämlich gern, besonders bei Nacht, zumal bei Neumond, wenn die Fische am besten anbeißen, hähähä.«
Was hatte der Kerl dabei wieder so zu grinsen? Daß der Maestro ein großer Freund von nächtlichen Segelpartien war, wußte man bereits in der Gesellschaft. Einem Segelklub hatte er sich bisher noch nicht angeschlossen.
»Wo haben Sie Ihre Sachen?«
»Im Boardinghaus von Grillman, in der Waterstreet, wo ich logierte.«
»Sie werden sich Ihre Sachen heute nachmittag besorgen. Nur, damit diese nicht dort liegen bleiben. Sonst müssen Sie doch wohl ganz neu eingekleidet werden. Wenn Sie dann meine Schüler bedienen - oder beobachten, will ich sagen, ein Diener sollen Sie ja gar nicht sein - kann ich Ihnen einstweilen einen schwarzen Anzug geben, der Ihnen passen wird. Sie sind also über das ganze Hauspersonal gesetzt, verstehen Sie?«
»Sehr wohl, Sennor.«
»Daß Sie sich mit keinem Diener gemein machen, brauche ich Ihnen wohl nicht erst zu sagen.«
»Sicher nicht, Sir.«
»Ihnen steht das ganze Haus offen. Wissen Sie, was ich damit sagen will?«
»Nun, ich kann überall hingehen.«
»Mehr noch. Ich kann nur intelligente Leute brauchen. Wenn ich Ihnen die Erlaubnis gebe, jede Tür zu öffnen, so müssen Sie auch davon Gebrauch machen. Verstanden? Sie müssen wissen, wo Sie sich befinden, Sie müssen das Terrain kennen lernen. Nur immer aufgeweckt sein! Ich hoffe Sie an mich für Lebenszeit zu fesseln, dieses Haus soll Ihre engere Heimat werden.«
Für Lebenszeit ist ein bißchen lange, dachte Nobody, und so will der also auch seine Gattin hier wohnen lassen? Hm, das muß sicher einen bestimmten Grund haben.
Der Spanier blickte nach der Uhr.
»Neun Uhr. Wir haben noch eine Stunde Zeit. Die wollen wir gleich benutzen. Dieses Haus hat nämlich einige Geheimnisse, und die will ich Ihnen sofort zeigen.«
Renardo erhob sich und öffnete den Wandschrank, der die Gläschen und die Flasche enthielt.
»Sehen Sie die kleine Erhöhung an der Wand?«
Nein, auch Nobodys Falkenauge konnte beim besten Willen nichts sehen.
»Fühlen Sie - hier, wo ich den Finger liegen habe.«
Es gehörte ein feines Tastgefühl dazu, um die winzige Erhöhung hinter der Tapete zu bemerken.
»Drücken Sie kräftig darauf!«
Nobody tat es, ein kaum merkliches Geräusch, und neben dem Schreibtisch hatten sich aus dem Parkettfußboden vier zusammenhängende Felder herausgehoben, sich um Angeln gedreht. In der Oeffnung zeigte sich der Anfang einer steilen Holztreppe.
»Gestatten Sie eine Frage, Sennor?«
»Immer zu.«
»Das ist doch ein dem Hauspersonal unbekanntes Geheimnis, nicht wahr?«
»Selbstverständlich.«
»Ich habe nicht bemerkt, daß Sie vorhin die Tür, durch welche ich eintrat, verschlossen haben. Es wird ja jeder wohl erst klopfen oder sich sonst an melden müssen - wenn nun aber doch einmal jemand unvermutet hier eintritt?«
»Bravo!« sagte der Spanier mit sichtlicher Freude. »Diese Ihre Frage zeigt mir, daß Sie intelligent sind, daß Sie für alles Interesse haben und selbst denken können. Immer stellen Sie solche Fragen, ich werde nie müde werden, sie zu beantworten. Nein, ich kann nicht überrascht werden. Alle drei Türen sind dennoch verschlossen, der Verschluß kann nur elektrisch ausgelöst werden, dort vom Schreibtisch aus. Das zeige ich Ihnen dann.«
»Aber der frühere Besitzer dieses Hauses weiß doch davon.«
»Auch nicht. Dieser Palast ist schon über hundert Jahre alt, der Erbauer war ein Sonderling. Noch vieles der inneren Einrichtung stammt von ihm, so auch dieser gleich in die Wand eingemauerte Schreibtisch, was Sie wohl an der altertümlichen Form erkennen. Der frühere Besitzer hatte mir nichts Absonderliches über dieses Haus mitgeteilt. Uebrigens hat er sich erschossen. Ich vermutete in dem alten Schreibtisch ein Geheimfach, suchte und fand es nach langer Mühe, und unter anderem lag in dem Geheimfach auch ein Bauplan dieses Hauses, mit Angabe der geheimen Gänge und so weiter. Da auch noch anderes darin lag, so kann ich mit Sicherheit annehmen, daß der frühere Besitzer nicht darum wußte, also wohl auch kein anderer Mensch.«
Was für andere Sachen in dem Geheimfach noch lagen, das freilich durfte der Diener nicht so ohne weiteres fragen. Aber hübsch war es doch, wie ihm der Spanier alles gleich so anvertraute. Natürlich, er durfte es ja, er hatte aus ihm ja ein stummes, willenloses Werkzeug gemacht.
»Wohin führt die Treppe?«
»Das werde ich Ihnen zeigen. Kommen Sie mit!«
Renardo im Schlafrock stieg zuerst hinab und hatte gleich darauf eine brennende Laterne in der Hand.
»Hier ist der Hebel, den Sie nur nach links zu schieben brauchen, so schließt sich das Parkett von selbst wieder, und durch eine Drehung nach rechts kann man die Tür von hier unten aus öffnen. Aber sie kann offen bleiben. Sie werden meine Lebensgewohnheiten kennen lernen. Es ist ganz ausgeschlossen, daß jemand mein Studierzimmer betreten will. Meine Sprechstunde ist von elf bis zwölf, wegen des Unterrichts habe ich noch die Stunde zuvor zugegeben - sonst bin ich absolut für niemanden zu sprechen.«
Sie hatten das Ende der Treppe erreicht, ein kleiner Absatz, und eine neue hinabführende Treppe zeigte sich.
»Von alledem hat der frühere Besitzer des Hauses nichts gewußt?«
»Sicher nicht. Er hätte gerade hier Bauveränderungen vornehmen, durchbrechen müssen, was nicht der Fall war. Dieser Schacht wird für einen Schornstein gehalten, ist es aber nicht - es ist ein falscher, ein Vexierschornstein. Jetzt sind wir im Parterregeschoß, nun geht es in den Keller hinab.«
Es war ein niedriger und enger, gemauerter Gang, den sie im Scheine der Laterne durchschritten.
»Es sind sechsundachtzig Meter, zu denen Sie hundert Schritt gebrauchen dürfen - falls Sie nämlich hier einmal im Finstern gehen müßten. Können Sie sich ungefähr nach der Richtung orientieren?«
»Ich glaube, wir bewegen uns nach der Richtung, in welcher das Meer liegt.«
»Sehr wohl, er führt nach der Küste. Jetzt befinden wir uns bereits unter dem Parke. Ich vermute, daß dieser unterirdische Gang einmal von Schmugglern angelegt worden ist.«
Nobody hatte zweiundvierzig Schritte gezählt, als der Spanier stehen blieb und mit der Laterne seitwärts leuchtete, wo sich in der Wand eine Nische zeigte.
»Diese Nische birgt mein besonderes Geheimnis,« sagte er plötzlich in sehr scharfem Tone, »und es wird Ihnen niemals einfallen, die Nische zu untersuchen!! Verstanden?«
»Aber, Sennor ...« stieß Nobody wie erschrocken ob solch eines Verdachtes hervor, und dabei sagte er sich: gut, daß du mich gleich darauf aufmerksam machst.
»Während Ihnen sonst alles offen steht, werden Sie niemals diese Nische auch nur betreten! Verstanden?«
»Niemals!«
Nobody sah auch nichts weiter als eine graue Wand, keine Fuge darin.
Sie setzten den Weg fort, bis sich wieder eine nach oben führende Treppe zeigte, hinter welcher sich eine den Gang abschließende Wand befand.
»Ursprünglich,« erklärte der Spanier, »führte dieser Gang direkt bis ans Wasser. Er ist aber zugemauert worden, auch von außen ist jetzt nichts mehr davon zu sehen, und so ist es auch viel besser.«
»Und wohin geht die Treppe?«
»In das zum Palaste gehörende Bootshaus.«
Sie erstiegen die aus nur wenigen Stufen bestehende Treppe.
»Hier sehen Sie wieder einen Hebel - eine Drehung nach rechts, und die Falltür öffnet sich.«
Nachdem Nobody die letzten Stufen hinter sich hatte, sah er sich in einem Raume, in welchem alles, was zur Ausrüstung mehrerer Segelboote gehört, untergebracht war. Das einzige Fenster war mit einer von innen angebrachten Jalousie verschlossen.
»So, das genügt vorläufig zu Ihrer Orientierung. Hier durch diese Tür geht es in das eigentliche Bootszimmer, in welchem wir keine Laterne brauchten, da die Fenster unverhangen sind. Aber eben deswegen will ich es gar nicht betreten, es könnte doch jemand gerade seine Augen auf das Bootshaus gerichtet haben, er braucht nur einen Schatten zu bemerken - - ich bin äußerst vorsichtig.«
Ja, das hatte Nobody bereits bemerkt. Nur gegen den Mann, den er zu seinem willenlosen Werkzeug gemacht hatte, brauchte er es nicht zu sein.
»Solch ein unterirdischer Gang hat sehr viele Vorteile,« erlaubte sich der Diener zu bemerken.
»Welche?« fragte der Spanier sofort lebhaft.
»Nun, Sie können sich aus dem Hause entfernen, und die Dienerschaft glaubt, Sie befänden sich noch immer in Ihrer Wohnung.«
»Ja, aber was für ein Vorteil ist das?«
Es war ein offenbares Mißtrauen, welches in dieser Frage lag.
»O, es ist doch etwas ganz anderes, ob die Diener den Herrn zu Hause wissen oder nicht. Es ist die Geschichte mit den Mäusen und der Katze.«
»Richtig, sehr richtig,« bemerkte der Spanier zufrieden. Er durfte den neuen Diener wohl in alles einweihen, aber selbst wissen durfte dieser nicht.
»Dazu ist nur nötig,« fuhr Nobody fort, »daß auch niemand das Bootshaus betreten darf.«
»O, dafür habe ich natürlich Sorge getragen! Das Bootshaus hat seine eigene Umzäunung, hier in diesem Teile des Parkes hat überhaupt niemand etwas zu suchen. Und was für Vorteile der unterirdische Gang sonst noch hat, das werden Sie mit der Zeit erfahren. Jetzt wollen wir den Rückweg antreten, diesmal sollen Sie immer die Türen öffnen und schließen, damit Sie diesen Weg später allein gehen können.«
Nobody wußte diesen und die anderen Hebel zu handhaben, wenn er dabei auch nicht seine ganze Findigkeit entwickelte, um nicht gleich zu viel Intelligenz zu zeigen.
Als sie an der Nische vorübergingen, blieb der Spanier wiederum stehen.
»Das ist nämlich der Zugang zu einem Begräbnis?« sagte er.
»Zu einem Begräbnis?« durfte der Diener mit Recht staunend wiederholen.
»Ja. Hier liegt Artaxerxes begraben.«
Mit einem Male gerieten Nobodys Lider in schnelle Vibration, bis seine Augen sich wieder ganz nach oben verdreht hatten.
»Ich befehle Ihnen, daß Sie niemals untersuchen, was für eine Bewandtnis es mit dieser Nische haben könnte!!« sagte der Spanier in schärfstem Tone.
»Niemals - werde ich - sie - untersuchen,« lallte der vorgeblich Hypnotisierte mit schwerer Zunge.
»Auch in Gedanken werden Sie sich niemals mit dem Geheimnis dieser Nische beschäftigen!«
»Auch in - Gedanken - nicht.«
»Wachen Sie auf!«
Die Augen kehrten in ihre natürliche Lage zurück, Nobody nahm wieder sein erstauntes Gesicht an.
»Nein, nein, davon ist keine Rede,« sagte Renardo schnell, »es war nur ein Spaß. Kommen Sie! Ich habe gleich Empfangsstunde. Es haben sich vier neue Schüler angemeldet, und Sie sollen schon dabeisein.«
Oben in dem Schreibzimmer wieder angekommen, holte Sennor Renardo aus dem Nebenraum, der wohl seine Garderobe enthielt, einen schwarzen Anzug und Wäsche, wieder nebenan war das Zimmer des Kammerdieners oder Assistenten gewesen, welches Nobody jetzt sofort bezog, er kleidete sich um, alles saß ihm wie angegossen, dann erhielt er Instruktionen wegen des baldigen Empfangs der alten und der neuen Schüler.
Die Instruktionen waren einfach genug.
»Es ist ja alles Schwindel,« gestand jetzt der edle Spanier seinem neuen Assistenten gegenüber mit lobenswerter Offenheit. »Das Elixier ist nichts weiter als Wasser mit einem bißchen übermangansauren Kali drin, damit es eben nach etwas aussieht. Mein Schütteln hilft ebensowenig etwas. Die Einbildung tut viel. So ist das innere Brennen eine Erscheinung, welche sich bei jedem Schüler zeigt, er braucht vorher so etwas durchaus noch nicht von einem anderen gehört zu haben. Und eben deswegen, durch diese Einbildungskraft, kommen doch manchmal Fälle von Krämpfen und dergleichen vor, deshalb muß in dem allgemeinen Saale immer ein Assistent sein, der auch manchmal durch die Kabinette geht. Meine vorige Hilfe war ein Dummkopf, ich konnte ihn gar nicht anders als in eine Dienerlivree stecken. Bei Ihnen wird das etwas anderes sein.«
Einer Frage konnte sich Nobody jetzt doch nicht enthalten.
»Aber das ist doch Tatsache, daß Sie sich Ihrer früheren Lebensläufe erinnern können.«
Der edle Spanier brach in ein heiteres Lachen aus.
»I Gott bewahre, das ist doch alles Mumpitz, so was gibt's gar nicht!«
Nun mußte Nobody auch fortfahren.
»Also Sie selbst glauben auch gar nicht an eine Wiedergeburt?«
Da plötzlich wurde di Renardo wieder sehr ernst.
»Doch - daß jede lebendige Kreatur immer wieder geboren wird, das ist meine feste Ueberzeugung, diese Erkenntnis kam mir in einer Art Offenbarung, und das läßt sich auch mit meinem Glauben an einen gerechten Gott und seinen eingeborenen Sohn und an den heiligen Geist vereinen, den ich als frommer Christ habe, so wahr mir meine Schutzpatronin helfe, welche die heilige Jungfrau Maria selbst ist.«
Und der Spanier neigte sich und schlug gegen seine Brust ein frommes Kreuz, und hierbei war keine Verstellung!
Es war gut, daß Nobody nicht zu sprechen brauchte - denn er war im Augenblick sprachlos vor Staunen, ja vielleicht vor Schreck.
Wie konnte man sich solch eine Verworfenheit mit solch einer aufrichtigen Frömmigkeit zusammenreimen? Und doch! Man denke nur an die Raubritter, welche sich schon vorher Absolution holten, ehe sie den zur Messe reisenden Kaufmann plünderten und schunden - man kann noch an vieles andere denken, bis in die allermodernste Zeit hinein. Was ist es denn anders, wenn sich zwei verschiedene Landeskirchen, die aber doch an ein und denselben Gott glauben, grimmig befehden, früher mit Feuer und Schwert, jetzt durch gehässige Gemeinheiten aller Art - zu Ehren des Gottes, der da will, daß man seinen Nächsten wie sich selbst lieben soll? Oder was ist es denn anderes, wenn bei einem Kriege in den beiden feindlichen Ländern in der Kirche Gott um den Sieg der ?gerechten Sache? das heißt um Vernichtung des Feindes angefleht wird?
In dumpfem Träumen, ihrer selbst noch nicht recht bewußt, läßt sich das heute noch die große Masse bieten. Nur der wahrhaft moralische Mensch wendet sich heute schon mit Abscheu von diesen gotteslästerlichen Greuelszenen und die unbestechliche Weltgeschichte wird dereinst ihr Urteil über uns fällen. Krieg muß sein - ja - er wird auch nie aussterben - stets wird der Stärkere den Schwächeren auffressen - aber wollt ihr rauben und plündern und morden, dann singt ein donnerndes Barrit zu Ehren irgendeines Kriegsgottes, aber keinen Psalm zu Ehren des Gottes der Liebe.
Ja, was konnte denn aber Nobody dem Spanier vorwerfen? Eigentlich noch gar nichts. Nun ja, daß er etwas gegen seine Ueberzeugung lehrte, diese reichen Leutchen am Narrenseil führte.
Nun, das ließe sich schließlich verzeihen. Deshalb kann man sogar noch ein Ehrenmann bleiben, wie der Inseratenteil jeder unserer heutigen Zeitungen zeigt, wo ja auch die Hälfte purer Schwindel ist, berechnet für diejenigen, welche nicht alle werden, welche direkt betrogen werden wollen.
Und verteilte der Spanier nicht großmütig seine Beute unter das notleidende Publikum? So konnte man ihn nicht einmal einen Raubritter, sondern mehr einen ?edlen Räuber? nennen, der es nur den Reichen nimmt, um es den Armen zu geben, und so einer hat stets die Sympathie des Volkes für sich gehabt, hat sie noch heute im Volksroman, was einer psychologischen Beachtung sehr wohl würdig ist. Denn das ist nicht so einfach, wie sich mancher denkt. Des Volkes Stimme ist Gottes Stimme. Früher räuberte man unter Einsetzung des eigenen Lebens mit Pistole und Dolch, und es waren Helden; heute wird durch Inserate mit Schönheitsmitteln und Patentmedizinen und Gründungsprospekten geräubert, und es sind Schufte.
Jedenfalls aber war dieser Spanier trotz aller Genialität und trotz aller wahrhaften Frömmigkeit kein passender Schwiegersohn für Mr. Ephraim John, und den triftigsten Grund wollte Nobody schon noch herauskriegen, vielleicht war er in jener Nische zu suchen.
Dem neuen Assistenten waren die Kabinette und der gemeinsame Saal gezeigt worden, dann kleidete sich der Maestro um, und die beiden waren bereit, die neuen Schüler, welche sich angemeldet und eine Einladung bekommen hatten, zu empfangen.
Nobody sollte also nicht mehr wie der frühere Kammerdiener hinter einer Portiere stehen, sondern mit dabeisein, dem Maestro Handreichungen leisten usw.
Wer die neuen Schüler oder Schülerinnen waren, wußte er noch nicht. Ein im Wartesaal stehender Diener las die Namen von einem Zettel ab, so wie wir es schon gesehen haben.
»Zuerst kommen zwei sehr reiche Damen aus Philadelphia, welche extra hergereist sind, um sich dereinst ihres jetzigen Lebens erinnern zu können. Ich empfange beide zusammen. Wenn irgend möglich mache ich die Geschichte immer en gros ab.«
Der Maestro klingelte, sie traten ein, eine ältere und eine jüngere Dame.
Es ging genau so zu, wie Nobody selbst es als Lord Hasting durchgemacht hatte, dieselben Fragen und Erklärungen und alles. Nur diese beiden Damen verhielten sich etwas anders. Als die ältere das magnetisierte Wasser getrunken hatte, fiel sie in Ohnmacht, und die jüngere hatte Lust, nachzufallen.
Der Maestro fing die ältere auf, Nobody griff schnell nach der jüngeren, und da sonst alles fertig war, brachten sie zusammen die beiden, nachdem der Ohnmachtsanfall vorüber war, in ein Kabinett, aber zusammen in eins, wie sie es gewünscht hatten.
Noch einmal einige Instruktionen, und Meister und Hilfslehrer kehrten in das Empfangszimmer zurück.
»Das Wasser schmeckte stark nach Lakritze,« hörte Nobody noch die eine sagen, »ob das eine Folge des Magnetisierens ist?«
»Ich finde eher, es hat nach heiligem Geist geschmeckt,« sagte die andere.
»Aber wirklich ein schöner Mann, dieser Spanier. Ob er die Helen John ...«
Das andere ging für Nobodys Ohr verloren.
»Verrückte Frauenzimmer,« brummte der Sennor, als er das Schreibzimmer wieder erreicht. »Nach Lakritze und nach heiligem Geist! - Jetzt, Peterson, kommt einer der reichsten Leute Amerikas, wenn er's auch nicht sein will, der immer ganz bescheiden auftritt. Aber ich ziehe meine Erkundigungen ein. Auch soll er ein merkwürdiger Sonderling sein. Den muß ich allein vornehmen, damit ich ihn ordentlich schröpfen kann.«
Ein Klingelzeichen, die Tür öffnete sich und herein kam ...
Himmel - Nobody traute seinen Augen nicht - dieses kleine, dicke Männchen - den Rachen so weit wie möglich aufgerissen ... Mr. Cerberus Mojan, Schwefel, Schmieröl, Schokolade, Indianerhäuptling, Käsefabrikant und Novellist &c. p. p.
Zunächst gab es einen Krach. Mojan hatte seinen Rachen zugemacht, um ihn zum normalen Sprechen öffnen zu können.
»Entschuldigen Sie gütigst - bin ich hier richtig? - Ist das hier das Zimmer, wo man wiedergeboren wird?«
Das fing ja gleich vielverheißend an! Doch der Spanier blieb der höfliche und dennoch sachgemäße Maestro im Gesellschaftsanzug, und er wußte ja, daß er einen Sonderling vor sich habe, hatte es vorhin selbst gesagt.
»Bitte, Mr. Mojan, treten Sie näher.«
Gravitätisch, den Bauch möglichst weit herausgereckt, marschierte der Schmierölonkel heran. Der Maestro war gegen ihn von vornherein bedeutend zuvorkommender als gegen Lord Hasting, selbst als vorhin gegen die beiden Damen.
Sonst aber ging es auch hier so zu, wie bei den anderen.
»Haben Sie mein Buch gelesen?«
»Ei gewiß doch.«
»Glauben Sie an meine Lehre?«
»Ich? Nee.«
Das war schon in einer Weise hervorgebracht, daß Nobody gleich eine Anwandlung von Lachlust verspürte.
»Sie glauben nicht daran, daß Sie wiedergeboren werden?«
»Nee.«
»Sie glauben wohl überhaupt gar nicht an eine Unsterblichkeit der Seele?«
»Nee.«
»Ja, geehrter Herr, das müssen Sie aber!«
»Muß ich?«
»Sonst haben die Uebungen gar keinen Zweck. Erst müssen Sie an die Unsterblichkeit Ihrer eigenen Seele glauben.«
»So? Na, dann glaube ich einfach dran.«
»Ihr Glaube muß aber aus ehrlichster Ueberzeugung stammen.«
»Aus ehrlichster Ueberzeugung!« versicherte Mojan, die Hand auf seinen Schmerwanst legend.
Hiermit aber war diese Sache auch sofort erledigt - ein Zeichen, wie es dem Spanier nur auf zahlungskräftige Schüler, d. h. auf das Honorar ankam.
Mojan bekam die Verpflichtungen zu lesen und unterschrieb sie ohne weiteres.
»Das Honorar pro Stunde beträgt tausend Dollar.«
Oho! Dieser Yankee wurde ja von dem Maestro außerordentlich hoch eingeschätzt! Und hatte er vorhin nicht gesagt, dieser Mr. Cerberus Mojan sei einer der reichsten Männer Amerikas? Daß der ehemalige Schmierölagent, der auch noch mit allen möglichen anderen Sachen handelte, ein sehr reicher Mann war, das wußte auch Nobody, aber so hoch taxierte er ihn doch nicht. Nobody hatte nämlich über die Vermögensverhältnisse seines alten Freundes tatsächlich noch keine Erkundigungen eingezogen, das widersprach ganz seinem Charakter. Und während ein Lord Hasting nur auf 250 Dollar eingeschätzt worden war, sollte dieses Männchen hier gleich runde tausend Dollar zahlen ...
Mr. Mojan sperrte denn auch seinen Rachen sperrangelweit auf - - aber das mußte wohl eben nur einmal eine unbedingt notwendige Uebung seiner Kiefern gewesen sein; denn nachdem er sie wieder zugeklappt hatte, sagte er ganz ruhig:
»Nur tausend Dollar? Mehr nicht? Ich dachte mir die Geschichte viel teuerer.«
Und ebenso gelassen brachte er seine Brieftasche zum Vorschein und entnahm ihr einen ?Greenback?, eine Tausenddollarnote, die eine grüne Rückseite hat.
Dann kamen die weiteren Auseinandersetzungen daran, die Mojan ganz vernünftig mit anhörte, und dann wurde ihm das magnetisierte Wasser gereicht.
»Rosenlikör?« schmunzelte Mojan beim Anblick der roten Flüssigkeit.
»Nein, gar kein Alkohol. Trinken Sie, schnell, schnell! Mit jedem Moment schwindet etwas von dem Magnetismus.«
Der kleine Dicke spitzte seine Lippen und saugte wie eine Biene, und dann machte er ein unbeschreibliches Gesicht.
Sonst aber war er ganz vernünftig, er wünschte die Uebung in dem gemeinsamen Saale vorzunehmen, der Assistent nahm ihn ins Schlepptau.
Nobody hätte als neuer Assistent nicht erst Instruktionen zu bekommen brauchen. Als Lord Hasting hatte er eine zweite Stunde in dem gemeinsamen Unterrichtszimmer genommen und wußte daher schon Bescheid.
Es war dies ein geräumiger Saal, dessen Decke in der Mitte durch eine Säule gestützt wurde, um diese war in weitem Kreise ein rundes Polster gezogen, auf dem gegen dreißig Personen Platz nehmen konnten. So waren die Schüler und Schülerinnen wohl dicht zusammen, brauchten sich aber, wenn sie nicht wollten, doch nicht zu sehen, ihre Blicke und Gedanken wurden nicht abgelenkt. Bei jedem Platze befand sich der Knopf einer elektrischen Klingel.
»Bitte, wollen Sie hier Platz nehmen und Ihre Uebungen beginnen. Konzentrieren Sie Ihre Gedanken immer auf jene fünfzehn Worte, lassen Sie sich durch nichts stören. Hier ist eine Klingel - wenn Sie meiner bedürfen, bin ich sofort zur Stelle.«
Mojan setzte sich, zog eine mächtige Hornbrille hervor, pflanzte sie auf seine kulbige Nase, hielt das Papier mit den holographierten Verschen dicht vor die Augen und fing, während er den Atem einzog, laut zu beten an, soweit man eben mit einziehendem Atem laut sprechen kann:
»Jetzt ziehe ich das Bewußtsein ein, daß ich im nächsten Leben mit voller Erinnerung erwache - hoooooh,« setzte er stöhnend hinzu, und dann schnappte er weiter wie ein keuchender Jagdhund, oder vielmehr wie ein überfetter Mops, dem die Zunge aus dem Halse hängt.
»Es ist nicht nötig, daß Sie die Worte laut aussprechen, Sie sollen sie nur für sich denken.«
»Ich denke immer laut.«
»Das dürfte Ihnen aber mit der Zeit schwer fallen. Können Sie den Atem nicht so lange anhalten?«
»Ich werde mich daran gewöhnen. Lassen Sie mich allein. Ich besitze das Bewußtsein, daß ich - - machen Sie, daß Sie fortkommen! - - mich in meinem nächsten Leben - - naus!! - - in das jetzige erinnere - - - höööööh - jetzt stoße ich jeden Zweifel aus, daß ich im nächsten Leben mit Bewußtsein ...«
Der Assistent mußte sowieso hinaus, um neue Schüler zu empfangen. Er war nur gespannt, wie sich das mit Mr. Mojan noch weiter entwickeln würde.
Die Einzelkabinette füllten sich, sämtliche Plätze in dem gemeinsamen Saale waren besetzt. Der Maestro ging umher, jedem von Zeit zu Zeit ein neues Elixier reichend, auch der neue Assistent mußte dabei behilflich sein.
Er wurde wiederholt gerufen, besonders von Damen. Die eine fühlte plötzlich ein unerträgliches Brennen in der Magengegend, einer anderen wurde übel, die dritte war einer Ohnmacht nahe. Allerdings war dies alles nur Einbildung, und dennoch beruhten die Erscheinungen auf Tatsache. Sie waren eben samt und sonders Opfer ihrer Einbildung, welche ja sogar Wunder bewirken kann. Wem in dem gemeinsamen Saale etwas Besonderes passierte, mußte diesen verlassen, und es wurde ihm geraten, die nächste Stunde in einem Einzelkabinett zu nehmen, bis er so weit vorgeschritten sei, zwischen den anderen zu atmen, ohne sie zu stören und selbst gestört zu werden.
Mojan benahm sich durchaus vernünftig. Jetzt hatte er das stille Atmen heraus, sprach nicht mehr laut, bewegte nicht einmal die Lippen, brauchte auch nicht mehr den Zettel vor die Augen zu halten. Mit geschlossenen Augen saß er da, in langen Zügen ein- und ausatmend.
Nobody hätte ihn gar nicht für so vernünftig gehalten. Aber eben deswegen traute er dem Braten nicht recht.
Ein zweites Elixier hatte Mojan schon erhalten, jetzt, als sich auch Nobody gerade in dem Saale befand, teilte der Maestro wieder Tränklein aus seiner magnetischen Flasche aus, vorher die betreffende Person durch leichte Berührung aus ihrem Tiefsinn weckend, dann nur leise zu ihr flüsternd. Hier mußte natürlich alles möglichst geräuschlos zugehen.
Wiederum trat der Maestro zu dem kleinen Dicken, schüttelte das Probiergläschen mit der roten Flüssigkeit, berührte seine Schulter.
Mojan schien es nicht zu merken. Er hatte die Augen geschlossen, atmete tief ein und aus.
»Sir!«
Keine Antwort, Mojan atmete.
»Sir, nehmen Sie ein Elixier!«
Endlich, als er stärker am Arm gerüttelt wurde, schlug Mojan die Augen auf, blickte ganz verwirrt um sich, griff sich an die Stirn.
»Wo bin ich?« murmelte er wie geistesabwesend.
»Hier, nehmen Sie ein magnetisches Elixier.«
Aber Mojan nahm das Glas nicht, starr waren seine Augen auf den Spanier gerichtet, langsam erhob er sich, und mit einem Male trat aus seinem fetten Mopsgesicht ein staunend-freudiges Lächeln hervor, so breitete er die Arme aus, gegen den Spanier.
»Wie ist mir denn - - ist es denn möglich - - Mama - meine Mama - - endlich sehen wir uns wieder!!«
So flüsterte er in freudigstem Staunen, bis sich seine Stimme zuletzt ins hellste Jauchzen verwandelte.
Doch zu einer Umarmung kam es nicht, der Spanier war schnell zurückgewichen, verdutzt betrachtete er den kleinen Dicken.
»Was wollen Sie?!« Das kleine dicke Männchen blieb in seiner vor Seligkeit verklärten Stellung.
»Mama - du lebst noch - und du hast deinen Kopf wieder - den sie dir abgehackt hatten ...«
Jetzt begann Mojan an seinem eigenen Schädel herumzufingern, und immer größer ward der Ausdruck seines Entzückens.
»Und auch ich habe meinen Kopf wieder - - du weißt doch, Mama, mir hatten sie ihn doch auch abgehackt - - ja, jetzt besinne ich mich auf alles - - Mama, meine liebe, liebe Mama - - erkennst du denn deine Hortense nicht wieder?«
Jetzt waren auch alle anderen aufmerksam geworden. Was hier vorlag, war ja ganz klar. Das Wunder war geschehen. Einer der Schüler hatte schon jetzt die Erinnerung an eines seiner früheren Leben wiedererlangt. Sonst verstanden sie es wohl noch nicht so ganz, nur Nobody machte sich schon bereit, seine Lachmuskeln zu beherrschen, und köstlich war auch anzusehen, wie das kleine dicke Männchen den Spanier immer umarmen wollte, und dieser, immer verdutzter werdend, vor jenem zurückwich.
»Herr, Sie sind wohl ...«
»Mama - dieses unverhoffte Wiedersehen - aber was ist denn das - warum hast du denn Hosen an?!«
Nun wußte der Maestro, woran er war, und er raffte sich empor.
»Mein Herr, folgen Sie mir!«
Und schleunigst trat er den Rückzug an. Mojan folgte ihm wirklich - aber ebenso Nobody. Wie sich das noch weiter entwickelte, da mußte er unbedingt dabeisein. Er wurde denn auch ganz ruhig in dem Arbeitszimmer geduldet, jedenfalls hatte der Spanier sogar die Anwesenheit seines Assistenten gewünscht.
Kaum hatte der Spanier sein Heiligtum erreicht, als er kurz kehrt machte. Er setzte das abweisendste Gesicht auf; aber auch Mojan benahm sich jetzt ganz anders.
»Mein Herr, was soll diese Komödie?« begann Renardo kurz.
»Komödie? Jetzt weiß ich, woran ich bin. Ich bin Ihnen sehr dankbar, daß Sie mir die Erinnerung an mein früheres Leben zurückgegeben haben. Wie Schuppen ist es mir von den Augengefallen. Nicht wahr, Sie waren die Marquise Heloise de Laquilles geborene Komteß de Reginald, welche am 5. Februar 1792 auf der Guillotine hingerichtet wurde?«
Wieder verlor der Spanier, was bei ihm sonst wohl selten vorkam, gänzlich seine Fassung, nämlich deshalb, weil der kleine Dicke diese Frage jetzt so ernst an ihn richtete.
»Ja, ich kann nicht leugnen ...«
»Was leugnen?« fiel Mojan ihm sofort ins Wort. »Sie haben es doch in Ihrem Buche und auch sonst öffentlich behauptet. Sind Sie nicht diese ehemalige Marquise Heloise de Laquilles?«
»Ja, die war ich,« mußte der Spanier zugeben; es blieb ihm ja gar nichts anderes übrig.
»Nun,« fuhr das kleine dicke Männchen mit unerschütterlicher Ruhe fort, »und ich bin niemand anders, als Ihre unglückliche Tochter Hortense, Prinzeß de Laquilles. Ich mußte vierzehn Tage nach Ihnen die Guillotine besteigen. Jetzt plötzlich - vorhin, wie ich so atmete, besonders als Sie mir das zweite Elixier reichten - ist mir die Erinnerung an diesen meinen vorigen Lebenslauf voll und ganz zum Bewußtsein gekommen.«
Der Spanier erblaßte bis in die Lippen. Er mochte schon Verwicklungen kommen sehen, deren Möglichkeit er noch gar nicht erwogen hatte. Mit aller Gewalt mußte er sich zusammenraffen.
Aber er sollte gar keine Zeit gewinnen, das Wort zu ergreifen.
»Also Sie erkennen mich nicht als Ihre Tochter an?«
»Mein Herr, hier liegen doch ganz andere Verhältnisse ...«
»Ich frage, ob Sie mich als Ihre Tochter Hortense anerkennen oder nicht?«
»Nein. Da müßten Sie erst ...«
»Mutter!« erklang es da in vorwurfsvollem, schmerzlichem Tone, und ein dementsprechendes Gesicht wußte auch der geborene Komiker zu ziehen. »Mutter, du verleugnest also deine Tochter?!«
»Ja,« entgegnete der Spanier, und jetzt fing er an zu lachen. Denn das Ganze lief schließlich doch nur auf eine Komödie hinaus.
Da aber mit einem Male ward das Gesicht der ehemaligen Prinzeß Hortense und des jetzigen Mr. Cerberus Mojan wieder äußerst ernst.
»Gut,« sagte er in entschiedenem Tone, »gut - wenn die Mutter ihr eigenes Kind so behandelt, dann hört jede Rücksicht auf - nun weiß ich, woran ich bin - ich gehe jetzt - aber ich komme wieder - ich rufe die Gerechtigkeit an - ich verlange das Erbteil meines seligen Vaters - wenigstens die Hälfte davon - eine Million Francs. Oder wollen Sie mir die gleich freiwillig geben?«
»Hahahaha,« lachte der Spanier, »so eine Komödie ist mir doch noch nicht passiert! Und wenn Sie meine Tochter sein wollen, so müssen Sie doch auch wissen, wo wir damals die zwei Millionen Francs vergruben, Sie waren doch selbst dabei.«
»Allerdings weiß ich das, so genau, als hätten wir sie erst gestern vergraben.«
»Nun, wo denn?«
»Dort, wo jetzt bei Paris das sogenannte Bologneser Wäldchen steht, unter dem mittelsten der drei großen Kastanienbäume. Na, stimmt das nicht?«
Hallo, was war das?! War Cerberus Mojan in die Verhältnisse dieses modernen Cagliostro tiefer eingeweiht, als Nobody ahnte? Denn warum ward das brünette Gesicht des Spaniers mit einem Male ganz aschgrau?
Dann aber brach er in ein schrilles Gelächter aus.
»So gehen Sie doch hin und holen Sie sich Ihren Teil!«
»Allerdings werde ich mich nach Paris begeben, ich fürchte nur, es ist ganz zwecklos, Sie haben doch sicher schon das ganze Goldnest ausgehoben. Wollen Sie mir das nicht lieber gleich sagen, damit ich nicht unnötig die weite Reise mache?«
»Sie sind ein Narr!!« ging der Spanier jetzt zu einer anderen Verteidigung über.
»Also ich habe recht? Es ist dort nichts mehr zu holen? Gut, dann rufe ich das Gesetz an. Ich verlange das Erbteil meines seligen Vaters, als legitime Tochter habe ich überhaupt mehr zu beanspruchen als die Mutter. Auf Wiedersehen, Frau Mama! Schade, daß es so gekommen ist!«
Und Mojan wandte sich der Tür zu, blieb an derselben noch einmal stehen, blickte zurück, mit einem Gesicht, in dem sich wiederum der größte Schmerz mit Enttäuschung paarte.
»Mutter - meine Mutter - du, die du mich mit Schmerzen gebarst - deren Milch ich trank - du kannst wirklich dein eigenes Kind verleugnen?!«
»Machen Sie, daß Sie hinauskommen!«
»Wehe mir Unglücklichem! Ach - ich - armes - Mädchen!«
Mit diesem letzten Seufzer öffnete das kleine dicke Männchen mit den Bartkoteletten die Tür und stampfte mit seinen Bratwurstbeinchen hinaus.
Nobody hätte sich am liebsten auf den Boden gelegt und sich vor Lachen gewälzt.
Doch er war der Diener, und jetzt galt es, seinen Herrn zu beobachten.
Dieser war nach Weggang dessen, der ihn erst so ins Bockshorn gejagt hatte, weniger erregt, als man hätte annehmen sollen.
»So ein Hanswurst!« lachte er ärgerlich. »Hätte ich nur meinem Vertrauensmann Glauben geschenkt, der mich vor diesem Yankee als vor einem unverbesserlichen Spaßvogel warnte - ich würde ihn gar nicht empfangen haben. Na, einmal und nicht wieder! Ich will gar nicht mehr daran denken, diesen großen Tag soll mir niemand verderben können.«
Und er begab sich mit seinem Assistenten in die Kabinette und in den Saal zurück, um seinen Schülern und Schülerinnen weitere Tränklein und gute Lehren zu verabreichen.
Nobody konnte überlegen.
Das Lachen tötet, sagt ein französisches Sprichwort. Das heißt, das Lächerlichmachen. Und der unfehlbare Maestro war mit seiner Wiedergeburt einmal lächerlich gemacht worden. Es war übrigens zu verwundern, daß noch niemand seiner Gegner, deren er ja noch immer genug hatte, auf diesen Gedanken gekommen war, eine Unterrichtsstunde zu nehmen und dann so plötzlich eine Erinnerung an ein früheres Leben zu simulieren. Die Zeitungsangriffe, welche die ganze Lehre früher ins Lächerliche gezogen hatten, waren dagegen ja gar nichts gewesen, die hatte der Maestro überwunden, tatsächlich besiegt.
Das hier war wieder so eine geniale Idee von Cerberus Mojan gewesen, er konnte sie sich patentieren lassen. Auch Nobody mußte sich gestehen, nicht darauf gekommen zu sein - abgesehen davon, daß so etwas gar nicht in seinem Plan lag. Er wollte ja den Spanier nicht als Lehrer der schnellen Wiedergeburt unmöglich machen, sondern in ihm einen mutmaßlichen Gauner entlarven.
Der Maestro ignorierte also die Komödie, die ihm der Yankee gespielt. Vielleicht hatte er recht. Die Erregung in dem Saal war nur eine geringe, sprechen durfte man nicht, und der Spanier gab keine Erklärung. Ja, wahrscheinlich würde er später daraus noch Vorteil schlagen können, dazu war er ganz der Mann. Hier lag ja einmal ein Beweis vor, wie jemand durch diese Lektionen die Erinnerung an sein früheres Leben erlangen konnte.
Es handelte sich nur darum, was Cerberus Mojan weiter tun würde. Der Spanier glaubte jedenfalls, jener habe ihm nur einmal einen Streich spielen, eine Komödie aufführen wollen, das war ihm gelungen, und nun war die Sache erledigt.
Hieran aber zweifelte Nobody. Der kannte seinen alten Freund, dessen Zähigkeit so weit ging, mit einem Käsefaß um die ganze Erde zu fahren, um den verfaulten Quark zu verbessern, doch besser denn dieser Spanier!
Nun, es würde sich ja zeigen, wie sich die Sache weiter entwickelte, ob noch etwas danach kam oder nicht.
Und was war das gewesen mit dem Bologneser Wäldchen bei Paris, wo unter dem mittelsten der drei Kastanienbäume der goldene Schatz vergraben gewesen sein sollte?
Nobody hatte unterdessen seine Ansicht geändert. Mojan hatte einfach irgendeinen Ort in der Nähe von Paris angegeben. Es brauchten ja dort gar keine Kastanien mehr zu stehen. So, nun sollte der Spanier einmal beweisen, daß diese Angaben seiner ?wiedergeborenen Tochter? nicht stimmten. Denn das war ja ganz offenbar, daß der Spanier seine Louisdore anderswoher hatte; aus seiner ?vergrabenen Erinnerung?, wenn man sich so ausdrücken darf, stammten sie jedenfalls nicht. Da war sicher irgend etwas Dunkles dabei. Und eben weil Renardo gleich erkannt hatte, wie schwer er da einen Gegenbeweis antreten konnte - etwa gar noch angenommen, daß Mojan jetzt schnell nach Paris fuhr und im Bologneser Wäldchen, wo vielleicht wirklich drei alte Kastanienbäume standen, einen Topf mit einigen Goldmünzen aus der Revolutionszeit vergrub - deswegen war er so bis in die Lippen erblaßt. Doch gleich hatte er die Grundlosigkeit seines Schreckes eingesehen und hatte laut aufgelacht. Solch eine Manipulation des Yankees wäre ihm ja nur von größtem Vorteil gewesen, da wäre ja gleich der Beweis der Wahrheit seiner Angaben erbracht - und überhaupt, dieser geriebene Spanier würde sich schon in jeder Lage zu helfen wissen. -
Die Unterrichtszeit war vorüber, die Räume wurden von den Dienern gesäubert.
»Wenn ich,« sagte Renardo zu seinem neuen Assistenten, »mittags zu Hause speise - und zwar nehme ich meine Hauptmahlzeit wirklich mittags ein, nicht erst nach englischer Sitte um vier oder gar erst abends - so nehmen Sie daran teil, damit wir immer zusammen sind; denn Sie haben noch viel zu lernen. Heute aber habe ich etwas vor, und so können auch Sie außerhalb essen. Sie besorgen Ihre Sachen, dann sehen Sie sich sonst um in New-York, wie ich Sie ungefähr anweisen werde.«
Das geschah sofort, Renardo bezeichnete auf der Karte einen besonderen Stadtteil, den der Assistent durchstreifen sollte, um dann theoretisch alle Straßennamen zu kennen und sich später auch praktisch zurechtzufinden. Es war eine vollkommene Lektion, welche der Lehrer dem Schüler erteilte, wenn auch so kurz wie möglich.
»Weshalb ich solch eine Ortskenntnis von Ihnen verlange, werden Sie später erfahren. Spätestens um sechs Uhr werden Sie wieder hier sein.«
»Spätestens um sechs Uhr.«
»Haben Sie Geld?«
»Ich habe noch ...«
»Hier, nehmen Sie - hundert Dollar.«
Oho, war dieser Spanier freigebig! Freigebig, wie alle Abenteurer sind - und Räuber und verwandte Charaktere.
»Es ist nicht nötig, daß Sie sich etwas davon anschaffen. Sie müssen doch ganz neu eingekleidet werden, das geschieht morgen. Trinken Sie?«
»Sehr mäßig, Sennor.«
»Waren Sie schon einmal betrunken?«
»O nein, Sennor.«
»Na! Sie werden von jetzt an niemals wieder ein alkoholisches Getränk anrühren, auch nicht das einfachste Bier! Verstanden?«
»Zu Befehl, Sennor - niemals mehr,« versicherte der neue Assistent mit militärischem Gehorsam. Er stand doch unter hypnotischer Suggestion, und von dieser machte der Spanier auch noch weiteren Gebrauch.
»Sie werden vor jedem alkoholischen Getränk einen unbegreiflichen Widerwillen empfinden.«
»Gewiß, Sennor!«
»Gut. Sie sind eben Abstinenzler, was hierzulande ja gar nicht auffällt, auch wenn man es über Nacht wird. Und ich habe heute nacht mit Ihnen noch etwas Besonderes vor, wozu Sie gar klare Augen haben müssen. Nun gehen Sie!«
Die letzten Worte hatte der Spanier in ganz eigentümlichem Tone gesagt - der Inhalt selbst war ja schon eigentümlich genug gewesen - aber es hatte auch etwas wie Hohn oder doch Spott darin gelegen. Und hatte der Spanier nicht schon vorhin von einem ?großen Tage? gesprochen, den er sich von niemandem verderben lassen wolle?
»Vielleicht bringt mir schon diese Nacht völlige Aufklärung,« dachte Nobody, als er das Haus verließ. »Denn irgend etwas Lichtscheues hat der vor, und vor seinem hypnotisierten Diener braucht er ja keine Geheimnisse zu haben. Ha, wenn der wüßte! Uebrigens wäre es mir ganz lieb, wenn die Sache nicht gar so schnell ginge und ich selbst mehr durch eigene Kraft erreiche, als daß er mich gleich in alles einweiht.«
Zunächst begab er sich in jenes Boardinghaus in der Waterstreet, wo er wirklich Wohnung genommen und seine Sachen zurückgelassen hatte, als der stellenlose Diener Harry Peterson. In solchen Dingen war Nobody ja nun vorsichtig. Die Sachen gab er zur Besorgung einem Gepäckträger, dann schlug er die Richtung nach jenem Stadtteil ein.
Zu lernen gab's dort nun freilich nichts für ihn. Gerade hier kannte Nobody jede Straße und jeden Winkel, sogar unter der Erde.
Das schnell wachsende New-York hat den Charakter Londons angenommen, den man aber auch bei den großen orientalischen Städten findet, z. B. in Konstantinopel; die einzelnen Gewerbe und Kaufleute haben sich zusammengefunden, bilden ganze Stadtteile; in dieser Gegend hausen fast nur Schneider, dort lauter Schuster, in jenem Straßenviertel findet man nichts weiter als Hutmacher. Dann haben wieder die Banken ihre eigenen Straßen, die Buchdruckereien usw.
Hier im Maquartviertel, nach der durchgehenden Hauptstraße so genannt, hatten sich hauptsächlich Buchhändler niedergelassen, und dazwischen manchmal ein Laden mit alten Möbeln, Waffen und anderen Raritäten, kleine Schaufenster, vor denen sich enthusiastische Briefmarkensammler drängten, - auch ganz echte Lumpensammler, und das alles paßte zusammen, denn auch die Buchhändler waren meist Antiquare.
Ferner befindet sich hier das Rochester-Kolleg, ein Museum, in dem alles mögliche und unmögliche alte Lumpenzeug zu sehen ist, der Strick, mit dem der oder jener Verbrecher aufgehangen worden ist, das Wickelbett, in dem Washington gesteckt hat, und tausend andere solcher Sehenswürdigkeiten, von einem spleenigen Yankee namens Rochester bei Lebzeiten gesammelt und der Stadt New-York zusammen mit einem palastähnlichen Gebäude als Museum vermacht, alles bis auf den Hausmannsposten und den wöchentlichen Essenkehrer aufs beste fundiert.
Weshalb hatte der Maestro seinen Assistenten gerade in diese Gegend geschickt? Wenn ihm ein Verdacht aufstieg, so unterdrückte Nobody ihn doch gleich wieder. Reelle Beweise wollte er in die Hände bekommen, sich nicht mit Ahnungen befassen! Und die Unhaltbarkeit eines Verdachtes lag schon in dem Wörtchen ?gerade?. In irgendeine Gegend New-Yorks mußte er seinen Diener doch zuerst schicken, wenn dieser nun einmal die ganze Stadt kennen lernen sollte. Es handelte sich nur darum, warum der Assistent in den Straßen überhaupt so gut Bescheid wissen sollte. Nun, das klärte sich vielleicht schon heute nacht auf.
Nobody hätte Mittel und Wege gewußt, diese Gegend zu verlassen und in anderer Gestalt in anderen Stadtteilen seinen Geschäften nachzugehen, aber er wollte lieber äußerst vorsichtig sein. Morgen würde er dies viel leichter bewerkstelligen können, dafür wollte er Sorge tragen. Außerdem wußte er gar nicht, was er jetzt sonst tun sollte. Cerberus Mojan aufsuchen? Aber dessen Adresse oder das Logis, welches jener sonst bei seinem Aufenthalt in New-York bezog, doch irgendein Hotel, kannte er nicht, und in dem großen New-York ist's gar schwer, jemanden aufzufinden.
So verschob er dies alles auf morgen, bummelte in diesem Viertel herum, scheinbar die Straßenschilder studierend, falls er beobachtet würde - was er aber bezweifelte, der Spanier hatte doch von seinem unter einem hypnotischen Banne stehenden Diener nicht das geringste zu befürchten - bis er sich gegen fünf Uhr auf den Heimweg machte.
In der letzten Vorstadt, von welcher aus eine gerade Chaussee nach der Strandvilla führte, wurde Nobody von einer Equipage überholt, in welcher Sennor Renardo mit noch einem anderen Herrn saß, einem Nobody wohlbekannten, tonangebenden Sportsman.
Renardo ließ sofort halten und Nobody einsteigen, stellte ihn dem Herrn als seinen neuen Assistenten vor, behandelte ihn ganz als Gentleman. Die beiden hatten schon über Pferde und Reiten gesprochen, fuhren darin fort, wobei der Maestro immer wieder seine Lehre von der rückerinnernden Wiedergeburt anzubringen wußte.
Nobody, ins Gespräch gezogen, verstand mitzureden; aber nicht mehr, als er als ein gewandter Diener mit einiger Bildung durfte.
Der Herr stieg bei den letzten Häusern der Vorstadt aus.
»Werden wir das Vergnügen haben, Mister Peterson, Sie übermorgen an unserem Klubabend begrüßen zu können?«
»Wenn Sie erlauben, wird mich Mister Peterson begleiten,« sagte schnell Renardo.
»Sehr gut gemacht,« lobte er dann, als die beiden in der weiterfahrenden Equipage allein waren, seinen Diener. »O, Sie brauchen nur noch ganz wenig Schliff, dann können Sie sich in jeder Gesellschaft bewegen. Das ist ja überhaupt alles nur dummes Zeug, einige Redensarten und Komplimente, nichts weiter. Sind Sie im Maquartviertel gewesen?«
Der Spanier examinierte wie ein Schulmeister, und der Schüler war sehr fleißig gewesen. Aber dann kamen auch recht eigentümliche Fragen.
»Sind Sie auch im Rochester-Kolleg gewesen?«
»Wo die alten Raritäten zu sehen sind? Ja, früher einmal.«
»Vorhin nicht?«
»Nein.«
»Können Sie sich noch entsinnen, wie das Haus von außen aussieht?«
»O ja, so ziemlich!«
»Wo befindet sich der Haupteingang?«
»In der Rellstreet.«
»Wieviel sind, wenn Sie von der Maquartstreet kommen, vor dem Haupttor noch Nebeneingänge?«
Nobody wußte es ganz genau, wollte aber nicht gar zu orientiert erscheinen.
»Das weiß ich freilich nicht.«
»Nur noch einer, zu der Portierswohnung führend, für das Publikum natürlich verschlossen. Sehen Sie, so weit müssen Sie es in der Topographie New-Yorks noch bringen, daß Sie alles dies wissen. Selbstverständlich ist das nicht mit einem Male zu verlangen. Wir haben ja auch noch viele Jahre Zeit dazu.«
Hallo! Wozu war solch eine ungeheuer genaue Kenntnis New-Yorks für den Spanier so nötig? Warum sollte sich auch sein Assistent eine solche aneignen? Aber viele Jahre diesem Herrn zu dienen, dazu hatte Nobody noch weniger Lust.
»Sind Sie müde?«
»Durchaus nicht.«
»So werden wir bei dem günstigen Winde gleich eine kleine Segelpartie unternehmen.«
Es geschah alsbald. Der Spanier kleidete sich in ein weißes Sportkostüm, Nobody erhielt aus einer vorrätigen Garderobe einen einfachen, derben Anzug. Sie verließen die Villa durch eine Hintertür, durchschritten den Park, kamen an eine hohe, runde Mauer, welche dicht am Strande stand, der Spanier schloß die Tür auf - die Mauer umschloß das elegante Bootshaus, dem sie schon heute vormittag auf unterirdischem Wege einen Besuch abgestattet hatten.
Der Zweck dieser Mauer war nicht recht ersichtlich, da man doch annehmen mußte, daß dieses Bootshaus schon immer zu dem ganzen Grundstück gehört hatte, und sie war schon alt, der Spanier hatte sie nicht etwa erst aufführen lassen.
Begreiflich aber wurde die undurchsichtige Schutzmauer sofort, wenn man annahm, daß früher hier auch Damen gewohnt hatten, welche beim Baden nicht von der Villa aus beobachtet werden wollten, und die früheren Besitzer hatten sich eben nicht mit einer einfachen Holzwand begnügt, hatten alles aufs solideste haben wollen.
An der Anlegestelle schaukelten mehrere kleinere und größere Boote, zum Rudern und zum Segeln eingerichtet, das eine war eine Miniaturjacht mit einer kleinen Kajüte.
Renardo wählte ein mittleres Boot, Nobody half mit, es aus dem Ruderhaus auszurüsten, dann setzte sich der Spanier ans Steuer, sein Diener mußte rudern, und er hatte nicht geprahlt, sein Herr hatte an keinem Manöver etwas auszusetzen, so daß gleich zur Kunst des Segelns übergegangen werden konnte.
Hiervon hatte Peterson ja nichts verstehen wollen, und ein gar zu gelehriger und genialer Schüler durfte er nicht sein, das hätte doch auffallen können. Immerhin lernte er das Wenden und Halsen und die sonstigen Griffe schnell genug.
»Sie haben in Ihrem ganzen Leben noch nicht gesegelt?«
»Noch nie, Sennor.«
»Noch gar kein Segel in der Hand gehabt?«
»Nein, ich bin noch niemals in einem Segelboot gewesen.«
»Dann läßt sich das, wie Sie sich alles so schnell aneignen, nur dadurch erklären, daß Sie schon in einem Ihrer früheren Leben viel gesegelt haben, vielleicht Seemann gewesen sind. Das kommt nun als natürliche Anlage wieder zum Vorschein.«
Nobody staunte. Denn der Spanier hatte nicht etwa scherzhaft oder spöttisch gesprochen. Der tiefste Ernst hatte schon im Tone gelegen. So war dieser Mann also selbst ein überzeugter Anhänger seiner Lehre, er glaubte selbst an das, was er schrieb und sagte, darin war er ein ganz aufrichtiger Charakter.
Nun reime sich das zusammen, wer da kann! Nobody vermochte es nicht - wenigstens nicht so ohne weiteres.
Schon nach einer halben Stunde traten sie den Rückweg an, der bei dem günstigen Winde ohne Schwierigkeit vonstatten ging, nur mußte der Assistent jetzt ganz allein Segel und Steuer bedienen, und als er das Boot bis direkt an die Anlegestelle dirigierte, erntete er von seinem Meister das höchste Lob.
»Nur noch einige solche Lektionen, dann sind Sie imstande, mich vollständig zu vertreten. Heute nacht allerdings muß ich das Boot noch selbst führen. Auch müssen Sie erst die verschiedenen Leuchtfeuer und anderen Zeichen kennen lernen, nach denen Sie sich bei Nacht orientieren. Jetzt werden Sie sich schlafen legen, damit Sie um zehn Uhr wieder frisch sind.«
»Wir segeln auch heute nacht wieder?« erlaubte sich der Assistent zu fragen.
»Jawohl,« lächelte der Spanier, »das ist ja eben die Hauptsache, auf solche nächtliche Segelpartien müssen Sie eingeübt werden. Diese nächtlichen Exkursionen sind aber geheimzuhalten, verstanden?«
»Gewiß, Sennor, wenn Sie es wünschen.«
»Wünschen? Das ist ja die Hauptsache. Sie werden also zu keinem Diener, zu keinem anderen Menschen davon sprechen.«
»Sicher nicht.«
»Alle Leute müssen nämlich glauben, daß wir uns zu Hause befinden. Doch darüber erhalten Sie noch genauere Instruktionen.«
Also um ein künstliches Alibi handelte es sich! Das ließ ja schon tief blicken. Nobody wurde immer gespannter.
Sie begaben sich durch den Park in die Villa zurück, und gehorsam legte sich Nobody schlafen. Das ihm angewiesene Zimmer befand sich dicht neben dem Schlafkabinett des Maestros.
Um zehn Uhr wurde er von diesem geweckt.
»Es ist Zeit, stehen Sie auf. Kleiden Sie sich an und begeben Sie sich in mein Arbeitszimmer.«
»Darf ich Licht anzünden?«
»Gewiß, benehmen Sie sich ganz ungeniert. Die Diener wissen es nicht anders, als daß ich fast die ganze Nacht arbeitend verbringe, das habe ich auch von meinem früheren Leibdiener und Assistenten verlangt, er mußte wenigstens immer in meinem Zimmer zugegen sein, und das verlange ich natürlich auch von meinem neuen Assistenten.«
So hatte also auch schon Nobodys Vorgänger, der auf der Straße durch Ueberfahren seinen plötzlichen Tod gefunden, den Spanier immer auf seinen nächtlichen Schleichwegen begleitet.
Diesmal wurde der Weg durch die Diele des Schreibzimmers genommen. Dieses blieb hellerleuchtet, aber die Falltür wurde wieder geschlossen.
Im Scheine der Blendlaterne ging es weiter durch den unterirdischen Tunnel nach dem Bootshause; ehe dieses aber betreten wurde, verlöschte der Spanier die Laterne. Er wußte auch im Dunkeln jeden Gegenstand zu finden, obgleich in der Neumondnacht bei wolkenbedecktem Himmel die schwärzeste Finsternis herrschte.
Ohne am Mast eine Laterne zu hissen, welche jedes Boot unbedingt führen muß, ging es hinaus auf die nur leichtbewegte See. In einiger Entfernung glich New-York einer illuminierten Stadt, weiter hinten lag das erleuchtete Brooklyn, hin und wieder ein hellstrahlender Leuchtturm, und auch das Meer war von zahlreichen grünen, roten und am meisten von weißen Lichtern belebt.
Sorgsam wurde den einzelnen leuchtenden Punkten, welche Boote verrieten, ausgewichen, bis der Spanier die eigene Toplaterne in Brand setzte.
Nach einer Weile wurde der Kurs geändert, offenbar ging es wieder dem Ufer zu, und wirklich knirschte auch bald der Kiel des Bootes auf Sand. So weit Nobody beurteilen konnte, war es ein öffentlicher Badestrand, jetzt bei Nacht, deren Kühle niemanden zum Baden einlud, natürlich ganz verlassen.
»So, wir sind am Ziele. Jetzt müssen Sie mich durch's Wasser tragen. Es geht Ihnen nur bis an die Knie, ich aber darf weder meine Kleider noch meine Stiefel naß machen. Das ist es auch mit, weshalb ich bei meinen nächtlichen Fahrten noch einen zweiten Mann brauche. Dann kehren Sie ins Boot zurück und rudern wieder ein Stückchen in die See hinaus; aber nicht weiter, als wie ich Ihnen jetzt genau beschreiben werde.«
Dies geschah. Schon vorher hatte der Spanier seinen Diener immer auf einige besondere Leuchtfeuer und andere Lichter aufmerksam gemacht, deren Lage er sich genau merken solle. Es handelte sich also darum, daß der Diener das Boot durch leichte Ruderschläge immer in einer gewissen Entfernung vom Ufer abhielt, etwa in Rufweite, so genau kam das nicht darauf an, und daß er sich auch sonst nicht allzuweit am Strande entlang von diesem Punkte, an welchem der Spanier das Boot verließ, entfernte, weil er hier zurückkehren wollte.
Eben durch Beobachten der einzelnen Lichter, zwischen denen man sich Linien gezogen dachte, konnte das auch sehr leicht bewerkstelligt werden.
»Würden Sie mit dem Boote dicht am Ufer liegen, so könnten Sie leicht einen Gesellschafter bekommen, und wird die Laterne verlöscht, so könnten Sie von einem Polizisten aufgestöbert werden, der sich dann erst recht für Ihr Hiersein interessierte - kurz, Sie müssen sich in freier See befinden und doch immer meines Signals gewärtig sein, welches folgendes ist.«
Der Spanier hatte eine Pfeife bei sich, der er schnell hintereinander einen kurzen, einen langen trillernden und dann wieder einen kurzen Ton entlockte.
Auf dieses Signal hin sollte Nobody wieder ans Ufer rudern. Doch ertönten nachträglich noch zwei kurze Pfiffe, so war jenes Signal wieder ?belegt?, wie der Seemann sagt, d. h., es war aufgehoben, galt nicht mehr, dann sollte Nobody draußen bleiben und des Weiteren harren.
»Es ist möglich, daß ich vier Stunden ausbleibe. Die Spannung wird Sie schon wach halten, und morgen können Sie ausschlafen. Im Bootskasten finden Sie Proviant, bedienen Sie sich. Sie können auch angeln, es ist alles vorhanden. Und nun los, beweisen Sie, daß Sie früher Akrobat gewesen sind.«
Nobody stieg ins Wasser, das ihm nicht einmal bis an die Knie ging, der Spanier setzte sich auf seine Schultern und ward so aufs Trockene getragen. Nobody sah ihn in der Nacht verschwinden, watete zurück und ruderte das Boot vom Ufer ab.
Er hatte Zeit zum Ueberlegen. Was für nächtliche Wege ging dieser Mann? Wußte er, daß einige seiner Schüler Geld vergruben, hatte er dies von ihnen herausgebracht und ging er, es jetzt zu holen? Das wäre doch eigentlich von einem Manne, der solche horrende Einkünfte besaß und demnächst eine Mitgift von hundert Millionen Dollar mit Sicherheit erwartete, recht merkwürdig gewesen. Oder beschäftigte er sich mit geheimen Studien, etwa mit medizinischen und chirurgischen, grub er anstatt Gold vielleicht Leichen aus?
Man sieht, um sich diese nächtlichen Exkursionen zu erklären, dafür hatte die Phantasie den weitesten Spielraum.
Einfacher aber war es, an ein heimliches Rendezvous des schon verlobten Mannes zu denken, obschon er dann doch einen bequemeren Weg hätte nehmen können.
Es war gegen ein Uhr, Nobody hatte erst zwei und eine halbe Stunde gewartet, nur ab und zu einen kleinen Ruderschlag nötig habend, als der dreifache Pfiff ertönte. Langsam, falls das Gegensignal folgen sollte, ruderte Nobody nach dem Ufer. Der Kiel knirschte noch nicht, als seine Argusaugen schon eine dunkle Männergestalt durchs Wasser waten sahen, sie trug auf der Schulter einen ziemlich umfangreichen Sack.
»So, da bin ich wieder,« sagte Renardo, als er den Sack ins Boot gleiten ließ und selbst nachkletterte.
Erst an der Stimme erkannte Nobody den Spanier wirklich. Zuerst, in dichter Nähe, hatte er geglaubt, einen anderen vor sich zu haben. Renardo hatte nämlich plötzlich einen langen, schwarzen Vollbart bekommen, den er erst im Boote abnahm.
Also auch solcher Mittel bediente er sich bei seinen nächtlichen Ausflügen!
Er war bei heiterer Laune. Teilnahmvoll erkundigte er sich, ob seinem Gefährten die Zeit lang geworden sei, dann wurde der Rückweg angetreten, zuerst mit brennender Toplaterne.
Nobody bemerkte mehrmals, wie der Spanier zärtlich den Sack streichelte. Was konnte darin sein? Geld sicher nicht. Auch keine Leiche. Dazu war er viel zu leicht. Eher Wäsche. Es blieb eben vorläufig ein ungelöstes Rätsel.
Dann wurde die Laterne ausgelöscht, so legte das Boot an dem Ruderhause bei.
»Lassen Sie nur, das Boot braucht nicht geräumt zu werden. Nein, den trage ich allein!!«
Mit Hast hatte er die Worte hervorgestoßen, auch Nobodys Hand zurückgedrängt, als dieser sie nach dem Sack ausgestreckt hatte.
Nur flüchtig hatte Nobodys Hand ihn berührt.
Es war offenbar sehr dünnes Leder, man konnte den ganzen Sack, wenn er leer war, ganz gut in einer weiten Tasche verbergen.
Der Spanier belud sich selbst damit, ohne Anstrengung, sie durchschritten den unterirdischen Gang, doch nicht weiter als bis zu jener Nische, hier blieb der Spanier stehen.
»Ich danke Ihnen, mein Lieber,« sagte er mit wahrhafter Zärtlichkeit, Nobody die Hände hinhaltend, was dieser nur dem Inhalt des Sackes zuschrieb.
»Werden Sie die zum Schreibzimmer führende Falltür allein öffnen können?«
»Sicher, Sennor.«
»So gehen Sie. Und wenn nicht, so kommen Sie zurück und pochen hier gegen diese Platte, das höre ich und werde kommen.«
Es war eigentlich nur eine bestimmte Stelle an der Wand, gegen welche der Spanier deutete. Erst bei schärferem Hinsehen gewahrte Nobody, daß diese Stelle etwas anders aussah als die Umgebung, es konnte wohl eine besonders eingelassene Platte sein. Das Alter hatte die Fugen verwischt.
»Hier, nehmen Sie die Laterne. Die Lampe in meinem Schreibzimmer bleibt brennen. Nun schlafen Sie wohl, morgen sehen wir uns zu neuer Tätigkeit wieder.«
Nobody ging. Umsehen durfte er sich nicht. Durch seinen Kopf zuckte eine Idee. Wenn er nun tat, als könne er die Falltür nicht öffnen? Dann mußte er zurück und klopfen, er würde den Spanier aus der geheimen Nische heraustreten sehen, vielleicht erfuhr er auch sonst etwas.
Doch schnell verwarf er diesen Gedanken wieder. Nur kein Mißtrauen erwecken! Er würde den Mechanismus, den es dort in der Nische doch sicherlich zu lösen gab, auch allein finden, wenn er nur erst Gelegenheit dazu hatte.
Ein Zufall sollte ihm zu Hilfe kommen. Nobody konnte die Falltür wirklich nicht öffnen. Der Hebel versagte, wie er ihn auch drehte. Wahrscheinlich hätte er sich selbst zu helfen gewußt, aber er wollte lieber keine zu große Findigkeit an den Tag legen.
So kehrte er nochmals zurück. Der Spanier war nicht mehr zu sehen. Nobody klopfte gegen die betreffende Stelle, mehrmals, dabei konnte er auch gerade in die Nische blicken, und da entstand hinten in der Wand eine Spalte, und in dieser stand, von einem außerordentlich hellen Licht umflossen, der Spanier.
Er tat nur einen kleinen Schritt, dann schloß sich die Wand wieder hinter ihm - und Nobody glaubte eine Vision gehabt zu haben.
Der Spanier trug jetzt einen türkischen oder persischen Kaftan, sehr bunt und reich gestickt, mit Schärpe und roten Schnabelschuhen und Turban und allem, was zu solch einem orientalischen Kostüm gehört.
Das war keine Vision, das war und blieb Wirklichkeit, und dabei war ja eigentlich auch gar nichts so Auffälliges, das war eben ein phantastisches Hauskostüm, dessen nüchternster Typus unser solider Schlafrock mit Schnur und Troddeln ist, wozu doch für gewöhnlich auch noch ein fezartiges Käppi kommt. Die Stelle der langen Pfeife vertrat hier ein Tschibuk mit kostbarer Bernsteinspitze, statt Knaster A B erfüllte türkischer Tabak den Keller mit würzigem Duft.
Da, als dieser Türke in der hellerleuchteten Spalte gestanden, hatte Nobody die Vision gehabt! Man versetze sich in die Situation, um das begreiflich zu finden - Nobody hatte das Erscheinen des Spaniers erwartet - in seiner geistigen Vorstellung mußte er noch so aussehen, wie er ihn zuletzt verlassen, gekleidet in den dunklen, einfachen Anzug - und nun so plötzlich als vollendeter Orientale, wie durch Zauberei aus der festgefügten Wand heraustretend, umstrahlt vom blendendsten Lichte ... das war einfach märchenhaft gewesen!
Und das konnte nur elektrisches Licht gewesen sein! Besonders auffällig war das nicht, das ganze Haus war mit solchem versehen - aber im Keller behilft man sich doch nur mit einem Flämmchen, und hier war das Licht in größter Fülle Nobody entgegengeflutet!
Wer stattet eine Kellerwohnung so reichlich mit elektrischem Lichte aus?
Eine Kellerwohnung? Weshalb kam Nobody gerade auf eine Wohnung?
Ja, hatte sich der Spanier hier hinter dieser Wand nicht umgezogen? Hatte er es sich nicht sofort bequem gemacht, gemütlich? Hatte er sich nicht gleich eine Pfeife angebrannt? Sah dies alles nicht aus, als gedenke er länger zu bleiben, als habe er sich hier unten häuslich eingerichtet?
Sonst hatte Nobody durch die Spalte nichts weiter gesehen, und er hatte jetzt auch keine Zeit zu weiteren Grübeleien, er mußte Rede und Antwort stehen.
»Was gibt es?« fragte der Spanier, und er schien sehr bestürzt oder auf alles gefaßt zu sein, er hielt den Tschibuk gewissermaßen kampfbereit.
»Ich kann die Falltür nicht öffnen, ich mag den Hebel drehen, wie ich will.«
»Ah so!«
Diese Mitteilung wirkte sichtlich beruhigend, die kostbare Pfeife wurde gleich wieder zum Munde geführt, auch gar keine Verstimmung darüber, in seinen Heimlichkeiten gestört worden zu sein.
»Dreht sich der Hebel nach allen Richtungen ganz leicht herum?«
»Das ist der Fall.«
»Ja, das kommt vor, es ist doch etwas nicht ganz in Ordnung, ich muß wieder einmal nachsehen. Warten Sie, ich komme mit.«
Der Spanier begleitete ihn und zeigte, wie der Hebel zu handhaben sei, worauf sich die Falltür gleich von allein hob.
Noch ein recht herzliches Gutenacht, und der beturbante Spanier im türkischem Kostüm kehrte in die Finsternis zurück.




Tage vergingen, ohne daß solch eine nächtliche Expedition wiederholt worden wäre.
Nobody wurde schwankend in seinem Urteil. Der vermeintliche Gauner führte in der Oeffentlichkeit wie zu Hause ein musterhaftes Leben - ein Leben, welches jeder strebsame Mensch zum idealen Vorbilde nehmen konnte.
Seine wahrhaft rastlose Tätigkeit erstreckte sich hauptsächlich auf die Ausbildung seiner körperlichen Fähigkeiten. Nobody mußte an allen Uebungen teilnehmen. Das erste früh war eine Fechtlektion, nach einer weiten Schwimmtour wurde das erstarrte Blut durch Turnen aller Art wieder in Bewegung gebracht, aus der eigenen Reitbahn ging es gleich auf den Pistolenstand, wo die Hand nach aller Anstrengung nicht mehr zittern durfte, und in alledem erkannte Nobody einen Meister, der ihm nur wenig nachgab, er brauchte seine Unterlegenheit gar nicht so sehr zu markieren.
Wenn hier gesagt wird, daß tatsächlich das höchste Glück, welches ein Mensch in diesem Leben erreichen kann, in der höchsten Ausbildung seiner körperlichen Kraft und Gewandtheit liegt, so dürfte mancher Leser den Kopf schütteln.
Und doch ist es so. Natürlich liegt das Glück nicht im Pistolenschießen, sondern in dem Bewußtsein, Auge und Hand bis zur höchsten Vollkommenheit ausgebildet zu haben.
Sport, oder nennen wir es Athletik, und alle übrige Vollkommenheit des Menschen gehen immer Hand in Hand. Das kann sogar an der Geschichte ganzer Völker nachgewiesen werden.
Zur Zeit der olympischen Spiele, als nur freie Bürger im Einzel- und im Fünfkampf um den Lorbeer ringen durften, stand Griechenland in der herrlichsten Blüte, auf seiner höchsten politischen wie auch geistigen Stufe, und trotzdem waren es allein die Athleten, deren wunderbare Körper man in Statuen verewigte. Auch genossen die Sieger andere nationale Ehren, z. B. waren sie steuerfrei.
Als man aber bezahlte Sklaven zu Athleten ausbilden ließ, da gingen Athen und ganz Griechenland zugrunde.
Ganz genau dasselbe gilt von Rom.
England steht unbedingt - ganz abgesehen von seinem ungeheuren Reichtum und seiner politischen Macht - an der Spitze der Kultur. Und nirgendwo wird Sport jeglicher Art so gepflegt, wie in England.
Als in Deutschland das Turnen aus pädagogischen und noch mehr aus politischen Gründen, eben von solchen Köpfen mit kleinen Hirnen und noch kleineren Herzen und desto längeren Zöpfen ausgegrübelt, verboten wurde, als jeder Turner als das galt, was heute der Anarchist ist, da war die Zeit Deutschlands tiefster Schmach. Und als sich endlich der Turner frisch und keck an Barren und Reck schwingen durfte, da kamen die Freiheitskämpfe.
Turnvereine, Fußballklubs, Schützengilden, sogar Kegelbrüder - sie alle sichern die nationale Festigkeit. Wer darüber lächelt, versteht nicht den inneren Zusammenhang. Ein kleines Geheimnis ist allerdings dabei. Aber jedenfalls: mit dem Erwachen und Wachsen des athletischen Sports lebt auch die ganze Nation wieder auf!
Deutsche Turner, englische Fußballspieler, französische Fechter - auf der anderen Seite italienische Moraspieler (die stundenlang so mit den Fingern herumklabastern), chinesische Gaukler und Drachensteiger, Türken, die selbst das Spazierengehen verachten, deren ganzer Sport darin besteht, sich auf den Hintern zu setzen - das sind so nationale Vergleiche, welche zu denken geben.
Und die geistige Bildung? Wo bleibt die?
Ja, was ist denn überhaupt sogenannte ?Bildung?? Ein bißchen Französisch parlieren, ein bißchen klimpern, oder etwa gar den pythagoreischen Lehrsatz beweisen können?
Mindestens hundertmal im Jahre wölbt sich über uns in der Nacht ein klarer Sternenhimmel. Nun will ich einen sogar akademisch gebildeten jungen Mann hernehmen, er soll mir dieses und jenes Sternbild zeigen. Oder er soll mir erklären, wie der Wechsel der Jahreszeiten zustande kommt. Ich will ihm eine Handvoll verschiedener Körner hinhalten, er soll Roggen, Weizen, Hafer und Gerste heraussuchen.
Da liegt der Hase mit der ganzen Bildung im Pfeffer!!
Parliert und klimpert und quietscht und ... fahrt zum Teufel mit eurer sogenannten Bildung.
Ja, es gibt eine geistige Bildung - aber die liegt im Herzen! Das nennt man Moral! In der soll man sich immer weiter ausbilden! - - -
Nun, auch in dieser moralischen Hinsicht konnte Sennor Jose di Renardo nur als ein Muster hingestellt werden.
Er lebte zu Hause genau so, wie er sich in der Oeffentlichkeit zeigte. Die Wände der Villa hätten von Glas sein können, womit wohl alles gesagt ist.
Auch gegen den geringsten Diener war er von wahrhafter Höflichkeit, und dabei dennoch immer der Herr, der sich niemals etwas vergab. Er verzieh jeden Fehler, ohne eine Schwäche zu zeigen. Von unerbittlicher Strenge war er nur gegen sich selbst.
Seine Freigebigkeit bewies er fort und fort, ohne sie öffentlich bemerkbar zu machen, dies sogar mit allen Mitteln zu verhindern suchend.
Früher, nach seiner ersten Freigebigkeit mit Bettelbriefen überschwemmt, hatte er in Zeitungen bekannt gemacht, daß er prinzipiell nichts gebe. Aber, wie Nobody als sein vertrauter Sekretär konstatierte, überwies er mindestens drei Viertel seines immensen Einkommens einer Gesellschaft, welche die Armut unterstützte, und diese durften den Geber nicht verraten.
Diese Heimlichkeit ging so weit, daß nicht einmal Mister John, der zukünftige Schwiegervater etwas davon gewußt, hätte es ihm nicht ein Zufall verraten.
Nur bei öffentlichen Sammlungen zeichnete er stets die größten Summen, nur dadurch wurde seine Mildtätigkeit auch weiteren Kreisen bekannt, und da handelte er recht, man soll sein Licht nicht unter den Scheffel stellen, nicht allzu bescheiden sein. So etwas dient stets als gutes Vorbild, wenn es auch nur Nachahmungssucht und Renommage erweckt.
Und trotz alledem konnte dieser Spanier kein ehrenhafter Charakter sein! Unbedingt führte er im Schilde irgendeinen Gaunerstreich, zu dem er nur erst die passende Zeit abwartete.
Schon wie er den neuen Assistenten hypnotisiert hatte, ließ doch darauf schließen. Und warum übte er mit ihm noch immer den ?Wechselbalg? und das Volteschlagen ein?
Der neue Assistent war bereits in die Gesellschaft eingeführt worden, es war von der Taschenspielerfertigkeit noch kein Gebrauch gemacht worden, Renardo rührte gar keine Karte an - aber das würde schon noch kommen, davon war Nobody fest überzeugt.
Dann war auch noch vieles andere sehr zweifelhaft. Der Spanier selbst glaubte wohl, wie noch so viele andere Menschen, welche sich Theosophen nennen, an eine Wiedergeburt - darüber ist ja schon früher des Längeren gesprochen worden - aber nicht an seine eigene Lehre, daß man sich nämlich seiner früheren Lebensperioden wieder entsinnen könne. Hierin veralberte er ganz einfach das Publikum, darüber sprach er sich seinem Assistenten gegenüber, dem er unbedingtes Vertrauen schenken zu dürfen glaubte, ganz offen aus, machte selbst schlechte Witze darüber - über die Lehre, die er in einer tiefernsten Schrift in die Welt hinausgeschleudert hatte.
Das war unverzeihlich. In der Bibel steht, daß es nur eine Sünde gibt, welche niemals verziehen werden kann: die Sünde wider den heiligen Geist. Und das ist die Lüge. Etwas wider sein besseres Wissen zu sagen. Oder die Wahrheit zu kennen und sie zu verschweigen.
In dieser Hinsicht leistete der Spanier etwas ganz Ungeheuerliches. Wie er von seinen früheren Lebensläufen erzählte, so gewissenhaft - alles erdichtet, alles erlogen!!
Und hieraus mußte man auf den ganzen Charakter schließen. Da war die so hohe Moral nur noch ein leerer Schein. Er lebte ein reines Leben, um seine Gesundheit zu erhalten, nichts weiter.
Ja aber, weswegen ...
Kurz und gut, Nobody stand vor einem menschlichen Rätsel. Es war einer der interessantesten Fälle, die er je gehabt. Er war selbst begierig auf die endliche Lösung.
Und je länger Nobody den Spanier beobachtete, desto mehr fand er, daß dieser ein Geheimnis habe, welches er auch vor dem unter hypnotischer Macht stehenden Assistenten ängstlich verbarg.
Dicht neben dessen Zimmer lag das Schlafzimmer des Maestros. Aber dieser benutzte es nie, kam keine Nacht ins Bett, niemals. Jeden Abend, wenn er nicht eine gesellschaftliche Pflicht zu erfüllen hatte, zog er sich mit Anbruch der Dunkelheit in den der übrigen Dienerschaft unbekannten Keller zurück und kam am Morgen wieder zum Vorschein.
Er verbrachte die ganze Nacht in jenem Gewölbe, welches durch die Nische einen geheimen Eingang hatte. Das durfte auch der Assistent wissen, sonst aber nichts.
Nobody hatte deswegen auch besondere Instruktionen erhalten. Falls einmal jemand in der Nacht den Maestro zu sprechen wünsche, sollte sich der Assistent schnell hinabbegeben und kräftig gegen jene Steinplatte klopfen.
Einmal war dies auch geschehen. Als in einer Nacht der Zustand der Mrs. John, seiner zukünftigen Schwiegermutter, eine bedenkliche Wendung genommen hatte. Sennor Renardo sollte an das Sterbebett kommen. Da also hatte Nobody ihn herausholen müssen, während die ganze andere Dienerschaft immer glaubte, der Maestro befände sich in seinem Arbeits- oder Schlafzimmer.
Was in aller Welt trieb er dort unten? Asketische Uebungen, um übernatürliche Fähigkeiten zu erlangen? Alchimistische Studien, um Gold zu machen oder den Stein der Weisen zu finden?
Nein, nein! Am Morgen sah er immer so wohl und ausgeschlafen aus - der führte dort unten ein ganz behagliches Leben. Aber wozu nur im Keller? Das zweitemal, als Nobody ihn herausklopfte, hatte er ein indisches Kostüm von feinster Seide angehabt, strotzend von Goldstickereien, und hatte eine herrliche Havanna geraucht. Aber wieder hatte er den Spalt schnell hinter sich geschlossen, um den Assistenten ja nicht hineinblicken zu lassen.
Dabei war der Spanier förmlich erpicht, in sein unterirdisches Heiligtum zu kommen. Deswegen schlug er gar oft gesellschaftliche Einladungen aus, obgleich er zu seinem Assistenten sagte, daß er sehr, sehr gern hingehen würde, um etwa eine berühmte Persönlichkeit kennen zu lernen. Nein, mit aller Macht trieb es ihn in seinen Keller hinab.
Bisher hatte Nobody noch immer keine Gelegenheit gehabt, dem Geheimnis auf die Spur zu gehen. Vormittags waren die beiden ja immer zusammen, auch in jede Gesellschaft mußte jetzt der Assistent seinen Herrn begleiten, selbst in das Haus seiner Braut, oder der Hausherr konnte jeden Augenblick zurückkehren, wobei sein erster Gang sicher in den Keller war, und den ganzen Nachmittag mußte Nobody immer noch durch New-York wandern. Dann blieb der Spanier entweder zu Hause, oder auch er ging wohl aus, besuchte hauptsächlich fleißig Museen der verschiedensten Art, wie er überhaupt sehr der Kunst lebte - also für seine geistige Weiterbildung sorgte er recht wohl - Nobody hatte schon öfters den Plan gefaßt, von der Seeseite aus durch das Ruderhaus in den Keller einzudringen, aber das Risiko wäre doch gar zu groß gewesen, er konnte den zurückgekehrten Spanier gerade in seinem Heiligtum vorfinden.
Endlich aber sollte doch die Gelegenheit kommen.
Es war am fünfzehnten Tage, seitdem Nobody diese dienende Stellung einnahm. Renardo hatte die erste Morgenpost bekommen.
»Ich muß heute nach Philadelphia fahren,« sagte er plötzlich, nachdem er einen kurzen Brief gelesen hatte.
Nach dem Fahrplan gesehen, und sofort ward ein kleiner Koffer gepackt, nur die Familie John wurde von der Reise, die höchstens zwei Tage währen würde, benachrichtigt.
Der spezielle Hausverwalter erhielt einige Instruktionen, ebenso der Assistent.
Die Schüler und Schülerinnen wurden heute abgewiesen, auch morgen fiele der Unterricht aus, übermorgen würde er wieder aufgenommen.
»Wenn Feuer ausbricht, so lassen Sie ruhig das Haus abbrennen, es ist alles versichert. Es braucht absolut nichts gerettet zu werden. Der Keller liegt zu tief unter der Erde, als daß das Feuer dorthinabgelangen könnte, und daß nicht Feuerwehrleute hinabdringen, das überlasse ich Ihrer Intelligenz. Verstanden?«
»Sehr wohl, Sennor.«
»Nun, es wird wohl nichts passieren. Und wenn ich zurückkomme, dann, mein Lieber, werden wir wieder unsere nächtlichen Bootspartien aufnehmen, und zwar wohl Nacht für Nacht. Um diese Möglichkeit zu bekommen, deshalb unternehme ich eben diese Reise. Es fehlte mir bisher dazu noch ein dritter Mann.«
Renardo benutzte die Equipage, diese kam leer zurück. Nobody hörte, daß sich der Sennor ein Billett gelöst habe, und als er die enttäuschten Herrschaften, die ?Wiedergeburtler?, welche sich immer zahlreicher einstellten, abgefertigt hatte, machte er sich unverzüglich auf den Weg in das dunkle Reich der Nacht hinab, von einer inneren Spannung beherrscht, wie dieser eiserne Mann sie selten gekannt hatte.
Die Blendlaterne beleuchtete die Hinterwand der Nische. Kein Vorsprung, keine Fuge, nichts Auffälliges war zu sehen. Auch Nobodys tastende Hände entdeckten nichts.
Da aber grub sich seine Hand scheinbar in die Wand ein, einer der Quadersteine gab nämlich nach, obgleich er gar nicht so stark gedrückt hatte - es war eben gar kein Quaderstein, sah nur von außen so aus - und gleichzeitig drehte sich eine senkrechte Reihe von Quadersteinen nach innen.
Durch einen Zufall, wenn auch systematisch vorgehend, hatte er den Eingang gefunden. Er trat ein. Wieder mußte ein Mechanismus wirken, die Steintür schloß sich von selbst wieder, es schnappte auch etwas.
Nobody ließ die wieder geschlossene Tür unberücksichtigt, er würde auch schon wieder den Ausgang finden.
Die Blendlaterne beleuchtete einen kleinen, nackten Kellerraum. Nur im Hintergrunde hing an der Wand ein Teppich.
Nobody lüftete ihn - eine Portiere, die eine andere Wandöffnung verdeckte, und Nobody sah sich in einem orientalischen, mit äußerstem Luxus eingerichteten Gemach.
Dann gab es noch zwei andere große Gewölbe, und wir müssen die Beschreibung des Ganzen summarisch zusammenfassen.
Der Spanier hatte hier eine Antiquitäten- und Raritätensammlung angelegt. Allzu umfangreich war sie nicht, erstreckte sich aber auf alles, was sich das Herz irgendeines Sammlers nur wünschen kann.
Also ohne irgendwelchen Zusammenhang: Briefmarken, Bekleidungsstücke aller Art, Spazierstöcke, Bücher, Juwelen und andere Schmucksachen, Tabakspfeifen, Münzen, alte Schlüssel, Wäschestücke, historische Briefe und Autogramme, Waffen, Nippsachen, Fächer, falsche Zöpfe, und so weiter und so weiter. Es läßt sich gar nicht alles anführen, um so weniger, als in die ganze Sammlung gar kein System gebracht worden war.
So z. B. waren die Briefmarken, darunter die allerseltensten, nicht in ein Buch eingeklebt, sondern sie lagen in einem Kasten bunt durcheinander. Es gab wohl auch ganze Briefmarkensammlungen, worin aber die Marken immer doppelt und dreifach vorkamen, aus anderen Büchern waren sie ohne besondere Schonung herausgerissen worden.
Dieselbe Unordnung herrschte überall. Es war eben alles ganz planlos zusammengehäuft, alte Helme mußten sich mit modernen Zylinderhüten vertragen, ein antiker Kupferstich mit einem neuen Oelgemälde, eine der ersten Ausgaben des Boccaccio mit dem neuesten Roman, direkt aus dem Buchladen bezogen, und so fort.
»Nun werde der Teufel daraus klug, was für eine eigentümliche Liebhaberei der hat!« brummte Nobody. »Hier Glacéhandschuhe, hier eiserne Ritterstiefel, hier lauter Spazierstöcke ... ja, was ist denn das?!«
Nobody war über die Spazierstöcke gekommen, einfach bündelweise in die Ecke gestellt, wenigstens zwei Dutzend, und er hielt einen Stock in der Hand, oben sehr kunstvoll geschnitzt, eine Schlange wand sich um den unteren Teil, die Augen funkelnde Rubinen, auch sonst der buntschillernde Leib aus Edelsteinen zusammengesetzt.
»Das ist doch der Spazierstock von Mr. Hafkin, der in der Garderobe abhanden kam, spurlos verschwunden war?!«
So war es. Vor acht Tagen, nach einer Abendgesellschaft, die ein New-Yorker Krösus gegeben, hatte ein Gentleman seinen kostbaren Spazierstock vermißt. Nobody, von dem Spanier eingeführt, hatte die Trauer und den Unmut des jungen Mannes gesehen, die Entschuldigungen des Hausherrn und die Beteuerungen der Dienerschaft, nichts von dem unerklärlichen Verschwinden zu wissen, mit angehört.
Und nun hier in dem Kellerheiligtum des Sennors di Renardo!
Jetzt begann sich Nobody mit ganz anderen Augen umzusehen.
Ach Gott, ach Gott, was kam da alles zum Vorschein, wie ward ihm da zumute!
Silberzeug aus allen Familien, an deren Tafeln zum Teil auch Nobody als Gesellschafter des Maestros gespeist hatte - desgleichen aus Hotels und Cafés - hier die große Bratenschüssel, das war das Monogramm des Stahlkönigs - nun war das Rätsel gelöst ...
»... und hier diesen Ring habe ich noch vorgestern an der Hand der Miß Herstrong bewundert - und dieses Armband kenne ich auch - und hier die prachtvolle Repetieruhr, die neulich dem Pferdejokel beim Balle des Athletikklubs auf unerklärliche Weise abhanden kam, ihm einfach samt Kette abgeknöpft wurde - - und wahrhaftig, hier auch das Türkisenhalsband der Miß John, seiner Braut ...«
Das Halsband in der Hand, stand Nobody einige Minuten in Gedanken versunken da, bis sich diese wieder in Worten Luft machten.
»Kleptomanie! Ein menschlicher Rabe! Schade, jammerschade um diesen Mann!«
Nobody war gar nicht allzusehr betroffen, hier solch eine ungeheuerliche Entdeckung zu machen. Für diesen Detektiv war sie eben gar nicht so ungeheuerlich. Ach, was hatte er in seinem Berufe nicht alles schon erlebt! Er kannte die Menschen und die seelischen Verirrungen, deren sie fähig waren. Vor allen Dingen dachte er jetzt an einen Fall in Paris, an eine hochstehende Dame aus dem ältesten Adelsgeschlecht, hochgebildet, im Grunde genommen herzensrein, mit den Gütern dieser Erde überreichlich gesegnet, und sie hatte als Diebin die Warenhäuser systematisch geplündert, hatte wirkliche Taschendiebstähle begangen ... was war es denn hier anderes?
Keine sittliche Entrüstung, etwas ganz anderes erfüllte plötzlich das Herz dieses Detektivs.
»Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an!« erklang es schmerzlich.
Der edle Spanier hatte ohne Unterschied zusammengestohlen. Hauptsächlich aber doch Seltenheiten, Kostbarkeiten, Raritäten. Sein spezielles Jagdgebiet mußten die Museen gewesen sein. Daher also besuchte er diese auch so fleißig.
Daß ob solcher Diebstähle in New-Yorker Museen kein Aufsehen gemacht wurde, darüber wunderte sich Nobody nicht. In Museen wird eben gestohlen. Bei der Menge von Objekten fällt das ja nicht immer gleich auf. Und gar zu toll schien der Spanier es auch nicht getrieben zu haben. Er begnügte sich mit Kleinigkeiten. Wenn im ethnographischen Museum aus einer großen Wanddekoration von Waffen ein Dolch, ein Schwert, ein Bogen, eine Lanze fehlt, so wird das dem inspizierenden Beamten wohl nicht sofort auffallen, und merkt er die gestörte Symmetrie, so weiß er vielleicht nicht einmal, was da eigentlich fehlt, und nun ist es eben geschehen, das noch an die große Glocke zu hängen, hat keinen Zweck mehr, man kann nur noch die Raritätenhändler kontrollieren, und sonst muß man eben für größere Wachsamkeit sorgen.
Sogar die Gemäldegalerien waren von diesem menschlichen Raben nicht verschont geblieben. Große Wandgemälde hatte er natürlich nicht mitgehen heißen können. Aber hier wegen dieses kleinen Rembrandtschen Bildes war wirklich große Erregung gewesen, die ganze Polizei war wegen Verschwindens dieses kostbaren Bildchens alarmiert worden - vergebens, und wer konnte auch in dem edlen Maestro, der über solche enorme Einkünfte verfügte, in dem zukünftigen Schwiegersohne eines Milliardärs den Dieb vermuten!
»Ja, lehrt mich die Menschen nur kennen!«
Aber Nobody machte auch noch andere Entdeckungen. Der Spanier hatte es nicht allein beim einfachen Diebstahl bewenden lassen. Er war auch zum Einbrecher geworden. Das erkannte Nobody sowohl an verschiedenen Gegenständen wie auch an Wertpapieren, von denen er wußte, daß sie nur von Einbruchsdiebstählen herrühren konnten. Die Fälle waren bekannt gemacht worden, und so konnte Nobody vier Einbrüche mit Sicherheit konstatieren.
So hatte er gewiß auch in jener Nacht einen Einbruchsdiebstahl begangen, der Sack hatte seine Beute enthalten - vielleicht nur jene Bettwäsche.
Denn je mehr Nobody herumstöberte, desto mehr erkannte er, daß der Spanier es durchaus nicht bloß auf Raritäten und Kostbarkeiten abgesehen hatte. Er stahl eben, was in den Bereich seiner Hände kam. Weshalb? Man frage den Raben. Und dieser macht doch auch keinen Unterschied, ob Diamant oder Glasscherben, wenn der Gegenstand, den er in sein Nest oder in sein Versteck schleppt, nur etwas glitzert.
Uebrigens stehlen Raben ganz andere Sachen, sie brauchen gar nicht zu funkeln. Sobald ein zahmer Rabe merkt, woran die Hausbewohner besonderes Interesse haben, wird er ihnen die betreffenden Gegenstände wegstehlen: dem spielenden Kinde die Bleisoldaten, dem Manne Zigarren und Federhalter, der Frau die Knöpfe, die sie annähen will.
Lange, lange Zeit saß Nobody auf einer Kiste, die ein ganzes Arsenal von angerauchten Meerschaumpfeifen enthielt. Dann hatte er einen Entschluß gefaßt.
»Nein, ich darf ihn nicht schonen. Alles könnte ich ihm verzeihen, selbst daß er seine eigene Braut bestiehlt - hier handelt es sich eben um eine seelische Krankheit, die ich aus Staub gemachter Mensch gar nicht beurteilen will - Herr, führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel - - aber daß er einen Menschen, den er als Diener engagiert, von dessen Unschuld er sich erst überzeugt, zu seinem Mitverbrecher machen will, das ist unverzeihlich - deshalb darf ich diesen Raben nicht nur in einen Käfig sperren, damit die Menschheit vor seinen diebischen Neigungen gesichert ist - sondern deshalb muß ich ihm gleich das Genick umdrehen.«
Nobody hatte nicht besonders darauf geachtet daß alles in demselben Zustande blieb, wie er es gefunden. Außerdem herrschte ja auch gar keine Ordnung, es gehörten eine gute Erinnerung und ein scharfes Auge dazu, um zu erkennen, daß hier eine fremde Hand gewühlt hatte.
Und der Spanier sollte diesen Raum gar nicht wieder betreten. Dieser menschliche Rabe mußte schnellstens unschädlich gemacht werden. Nobody wollte sich sofort mit Philadelphia in Verbindung setzen, vielleicht reiste er gleich nach, um den Spanier noch heute festzunehmen. Daß der englische Championdetektiv auch in jedem anderen Lande Verhaftungen vornehmen konnte, wissen wir. Aber diesmal wollte Nobody nicht als Detektiv handeln, sondern ... als der Vertreter einer himmlischen Gerechtigkeit, wenn man sich so ausdrücken darf. Anders ausgedrückt ist es die verbotene, verwerfliche Lynchjustiz.
Nobody hatte sich von der Kiste erhoben, um das Gewölbe wieder zu verlassen, er streckte die Hand aus, um die trennende Portiere zurückzuschlagen - da wich diese von allein zurück, gleichzeitig durchflutete helles elektrisches Licht den Raum - und Nobody stand dem Spanier gegenüber!
Es war nicht anders, als ob dieser ein Gespenst sehe. Und Nobody ließ ihm keine Zeit, sich der Wirklichkeit zu vergewissern. Und er wußte, welchen Gegner er vor sich habe, zum Ringkampf durfte es gar nicht kommen - dessen Ausgang wäre sehr zweifelhaft gewesen - ein blitzschneller Faustschlag zwischen die Augen, und Renardo stürzte zu Boden.
Als er wieder zu sich kam, war er an Händen und Füßen gebunden. Ueber sein Schicksal war er sich nicht im unklaren, glaubte nicht etwa, nur zu träumen - nur die Erklärung fehlte ihm, wie sich sein durch Hypnose gehorsamer Diener plötzlich so verwandelt haben könne.
»Zum Teufel, was ficht Sie an? Harry Peterson, ich befehle Ihnen ...«
»Geben Sie sich keine Mühe, Sennor di Renardo. Ich stehe nicht unter Ihrem hypnotischen Befehle, Sie haben mich überhaupt niemals hypnotisiert.«
Das war denn doch etwas gar zu viel gewesen. Mit weit aufgerissenen Augen stierte der Spanier den kaltblütigen Sprecher an.
»Sie sind - gar nicht - hypnotisiert gewesen?« stieß er hervor.
»Nein. Das war nur Verstellung von mir.«
»Nicht möglich!«
»Sie werden wohl daran glauben müssen. Und wissen Sie, wer ich bin?«
Die Antwort blieb aus.
»Sie haben doch wohl schon von dem Detektiv Nobody gehört?«
Die stierenden Augen traten noch weiter hervor.
»Sie sind - Sie sind ...«
»Der englische Championdetektiv Nobody.«
»Caracho di bonietti!!«
Mit diesem fürchterlichen Fluche, der sich auf deutsch gar nicht wiedergeben läßt, rollte sich der Spanier halb zur Seite, das Gesicht der Wand zu - ein Zeichen, daß er sich seiner Lage bewußt war - »nun habe ich nichts mehr zu hoffen.«
Aber Nobody hatte richtig kalkuliert, als er ruhig gewartet. Der Spanier drehte sich ihm von selbst wieder zu, und sein Aussehen, wie sein Benehmen waren jetzt ein gelassenes.
»Ich bin fertig. Schade! Habe nicht gedacht, daß es so schnell gehen würde. Hätte die Welt gern noch länger an der Nase herumgeführt. Nun bin ich bloß noch gespannt, was ich von Ihnen erfahren werde.«
»Ich bin Ihnen keine Erklärung schuldig.«
»Sicher nicht. Ich bitte Sie nur darum - und Sie werden einem Menschen, der vor dem Tode steht, nicht die letzte Bitte abschlagen - habe ich doch von dem Detektiv Nobody schon so edle Züge erzählen hören.«
»Auch Sie werden mir dann ein offenes Geständnis ablegen?«
»Ich verspreche es Ihnen.«
»Und ich traue Ihrem einfachen Wort. Nun, ich wurde ganz einfach auf Ihr sonderbares Treiben aufmerksam, und als ich Sie persönlich sah, wurde mir gleich klar, daß mit Ihnen irgend etwas nicht in Ordnung sein könne.«
»Wieso nicht?«
»Ich habe dafür eben einen eigentümlichen Blick. Sie haben ein Abenteurergesicht.«
»Habe ich? Ja, leider, ich weiß es.«
»Und als Sie mich dann hypnotisierten, hatte ich ja eigentlich schon den Beweis in Händen.«
»Sonst haben Sie mir weiter nichts zu sagen?«
»Nein.«
»Weshalb gaben Sie sich gerade für einen ehemaligen Artisten aus?«
»Eben weil ich Sie von vornherein durchschaute. Solch einen Diener würden Sie wohl am besten brauchen können.«
»Ich verstehe. Und doch nicht ganz. Wußten Sie denn schon, daß ich ...«
»Daß Sie zu Zeiten auch einbrechen?« kam Nobody dem Stockenden zu Hilfe. »Nein, von Ihren wirklichen Diebstählen und Einbrächen habe ich eben erst Kenntnis genommen, die vorgefundenen Sachen haben mir erst die Augen geöffnet. Bisher ging meine Ahnung nur daraufhin, daß ich es mit einem verbrecherischen Charakter zu tun habe.«
»Ich bin kein verbrecherischer Charakter.«
»Haben Sie nicht dies alles zusammengestohlen, selbst durch Einbruch? Wollen Sie das leugnen?«
»Nein.«
»Nun, wie wollen Sie sich da sonst entschuldigen?«
»Mister Nobody, ich glaube, Sie sind noch etwas mehr als nur ein Menschenkenner - mit Ihnen muß man sprechen können.«
»So sprechen Sie.«
»Mir wäre lieber, wenn Sie selbst aussprächen, was ich sagen möchte.«
Es war nicht das erstemal, daß Nobody mit einem Verbrecher, den er zur Strecke gebracht, so gemütlich verhandelte.
»Sie sind krankhaft veranlagt.«
Es war ein wirklich dankbarer Blick, der den Detektiv aus den schwarzen Augen traf.
»Sie sagen es.«
»Sie leiden an Kleptomanie.«
Jetzt färbte sich das brünette Gesicht des Spaniers etwas dunkler, er war doch noch eines Schamgefühls fähig.
»Meinetwegen denn: ja. Ich muß es ja doch gestehen. Nein, gar keine Umschreibung - ich bin ein unverbesserlicher Dieb - und dennoch - ach, wenn Sie wüßten, wie ich schon gerungen habe, mich von dieser unglückseligen Leidenschaft zu befreien - und immer, immer vergeblich! Ach, ich bin ein unglücklicher Mensch!«
Seufzend, mit dem größten Seelenschmerze hatte es geklungen, und ob dies nun erkünstelt war oder echt - Nobody war gewappnet, sich nicht rühren zu lassen.
»Wie heißen Sie?« begann er jetzt kurz zu examinieren.
»Jose di Renardo.«
»So ist das Ihr wirklicher Name?«
»Ja, und ich bin auch wirklich als uneheliches Kind im Waisenhaus zu Madrid erzogen worden, wurde dann von einer Familie di Renardo adoptiert, ging wirklich zur See.«
»Nun, und weiter?«
»Erkundigen Sie sich in Madrid, ob mir die Direktion des Waisenhauses, wie alle Leute, die mich noch kennen, nicht das allerbeste Zeugnis ausstellen.«
»Das habe ich und noch andere bereits getan, und das stimmt wirklich.«
»Und dennoch war ich schon damals, als kleines Kind und als halbwüchsiger Junge, ein unverbesserlicher Dieb. Im Waisenhause und dann bei meinen Adoptiveltern stahl ich, was mir erreichbar war - den Schulkindern Schreibfedern, Halter, Bücher und dergleichen, im Hause der Eltern Löffel, Gabeln und Messer, nicht etwa silberne, sondern ganz einfache, dann allerdings auch Geld.«
»Was taten Sie damit?«
»Ich vergrub die Sachen.«
»Weshalb?«
»Fragen Sie den Raben nach dem Weshalb,« gab auch der Spanier jetzt zur Antwort. »Niemals habe ich irgendeinen gestohlenen Gegenstand verkauft, auch das Geld nicht für meinen Vorteil verwendet. Mir bereitete es ein unsagbares Vergnügen, die Sachen in die Erde zu verscharren, sie auch manchmal wieder auszugraben, mich an ihrem Anblick zu weiden.«
»Ich verstehe, ich verstehe,« murmelte Nobody, als wäre er selbst ein Kleptomane gewesen. »Und dachten Sie nie an den Schmerz, den Sie durch die Entwendung anderen bereiteten?«
»Doch. Ich war ja selbst unglücklich. Aber ich konnte mir nicht helfen. Dafür war ich meinen Kameraden der treueste Freund, ich stand stets auf der Seite der Schwachen und Verspotteten, und ich versichere Ihnen, daß jene Familie nie bereut hat, mich adoptiert zu haben. Ich war ihnen der zärtlichste und gehorsamste Sohn, habe sie auch bis an ihr Lebensende aufs freigebigste unterstützt, und das zu einer Zeit, da ich mich selbst noch durch schwerste Arbeit ernähren mußte.«
»Sind Ihre Stehlereien denn niemals ans Tageslicht gekommen?«
»Niemals. Ich war immer äußerst vorsichtig. Der Wert lag ja eigentlich auch nur in der heimlichen und verbotenen Tat, nicht etwa im Objekt selbst. Ein alter, abgegriffener Federhalter hatte für mich einen viel größeren Wert als ein Ring, als ein Goldstück. So ist es noch heute. Und niemand ahnte ja, daß ich der Dieb sein könne, der fleißige, so überaus artige Jose, der die Offenheit selbst war.«
»Sie waren Matrose?«
»Ja, vom Schiffsjungen an. Vier Jahre bin ich gefahren, mich schlicht und recht von meiner Hände schweren Arbeit nährend, obgleich dabei immer meine Schiffskameraden bestehlend, es hauptsächlich auf ihre kleinen Reiseandenken abgesehen habend. Da vertraute mir ein Kollege einmal an, er wüßte die Stelle an der Küste von Birma, wo vor hundert Jahren das französische Segelschiff ?Kalliope? gesunken ist. Sein Großvater sei als Matrose darauf gewesen, der habe ihm davon erzählt, und wie an Bord viele Millionen in Gold gewesen seien. Der Mann hatte das Geheimnis immer für sich selbst behalten, seine Fähigkeiten langten auch nicht zu, den Schatz vom Meeresboden selbst zu heben. Wir machten uns auf die Suche. Ich, obgleich ein einfacher Matrose, besaß die Kenntnisse eines Kapitäns, wenn nicht die eines Ingenieurs und Astronomen ...«
»Woher hatten Sie denn diese Kenntnisse?«
»Angeborene Talente! Als ich zum ersten Male die Steuerleute mit dem Sextanten die Sonne aufnehmen und mit Logarithmen rechnen sah, konnte ich es ihnen fast augenblicklich nachmachen. In die schwierigsten mathematischen Formeln wußte ich mich von ganz allein hineinzufinden, und so war es mit allem - ich brauchte nur wenige Tage mit einem Fremden zusammen zu sein, so konnte ich mich in seiner Sprache mit ihm unterhalten - und eben dadurch kam ich auf die Idee, von ganz allein, daß der Mensch in ganz kurzen Perioden immer wieder geboren werden müsse, anders ließe sich dies und vieles andere ja gar nicht erklären. Somit aber ist sofort erklärt, wie z. B. ein Mozart schon in seinem vierten Jahre ein Klaviervirtuos sein konnte.«
So sehr sich Nobody auch hierfür interessierte, wollte er darauf zunächst noch nicht eingehen.
»Lassen wir das vorläufig. Sie suchten und fanden das Wrack?«
»Ja. Ich tauchte mit einem von mir selbst erfundenen und gearbeiteten Kostüm hinab. Ich fand auch das Gold. Alte Goldstücke aus der Revolutionszeit. Wir nahmen so viel mit, wie wir zunächst fortbringen konnten. Mein Kamerad fand bald darauf seinen Tod ...«
»Sie ermordeten ihn?«
Es waren erschrockene Augen, die sich auf den Frager hefteten, und dann nahmen sie einen wehmutsvollen Ausdruck an.
»Herr, wenn Sie wüßten, wie wehe Sie mir jetzt getan haben! Sie verkennen mich ganz. Ich habe niemals einen Mord, überhaupt kein Verbrechen begangen, ich habe stets auf ein reines Gewissen ...«
»Schon gut, schon gut!« fiel Nobody ihm mit absichtlicher Härte ins Wort. »Darüber wollen wir später rechten. Also Sie verloren und beerbten Ihren Kameraden.«
»Ja, er starb am Fieber, in meinen Armen, und ich hatte das Möglichste getan, um ihn zu retten.«
»Nun, was taten Sie weiter?«
»Ich war plötzlich ein ungeheuer reicher Mann. Jetzt erst kam mir zum Bewußtsein, daß ich für ganz andere Verhältnisse geboren war. Jetzt erst wurde ich mir meines heißen Wissensdranges bewußt. Um ganz frei zu sein, nahm ich einen anderen Namen an.«
»Welchen?«
»François Arlin. Erkundigen Sie sich, ob ich unter diesen Namen nicht in Paris, London, Berlin und in anderen Städten, die ich Ihnen noch alle sagen will, die Vorlesungen der berühmtesten Professoren besucht habe.«
Nobody ließ sich alle einzelnen Namen mit Angabe der Zeit nennen, nahm diesmal auch sein Notizbuch zu Hilfe.
»Dann bereiste ich die Welt, immer studierend. In Indien, nachdem ich mich nochmals aus dem Wrack mit Gold versehen hatte, rüstete ich eine Expedition nach Tibet aus ...«
»Sie unter dem Namen François Arlin?«
»Ja.«
»Von dieser Expedition habe ich gehört.«
»Das ist sehr wohl möglich.«
»Aber das ist nun schon zehn Jahre her.«
»Zwölf Jahre.«
»Diese Expedition verscholl. Es wurde damals viel davon gesprochen, Nachforschungen wurden gehalten, aber ganz vergeblich.«
»Meine Expedition wurde in Tibet überfallen und aufgerieben. Wohl nur ich kam mit dem Leben davon. Elf Jahre lang habe ich als Gefangener in einem Lamakloster zu Lhassa gelebt.«
Es war das tiefste Mitgefühl, mit welchem Nobody auf den Gebundenen herabblickte. O, wie hatte sich dieser Mann verirrt, wie hatte der sein Leben verpfuscht!
»Noch ein anderer Gefangener war da, ein Franzose, ein schon sehr alter Mann, dessen Forscherlaufbahn hier in Tibet ebenfalls ihr Ende gefunden hatte.«
»Wie hieß er?«
»Niemals nannte er seinen Namen. Weiß nicht, aus welchem Grunde er ihn verheimlichte. Ein fabelhaft gebildeter Greis. Viel, viel habe ich von ihm gelernt. Ganz seltsam, daß er über die Wiedergeburt derselben Ansicht war, die ich mir allein gebildet hatte! Hier reifte auch mein Plan, später in der Welt diese meine Lehre zu verkünden, der Alte selbst gab mir dazu Anweisungen. Nach seinem Tode, im elften Jahre meiner Gefangenschaft, floh ich unter unsäglichen Schwierigkeiten.«
»Und?«
»Das unerschöpfliche Wrack mußte mir nochmals Gold spenden, dann wendete ich mich sofort hierher nach New-York, begann sofort, das Ganze in Szene zu setzen - vor einem halben Jahre. Alles andere wissen Sie doch.«
»Sie glauben also selbst an eine Wiedergeburt?«
»Daß sie so schnell erfolgt?«
»Ja. Sie ist ganz dem Schlafe entsprechend.«
»Und daß man sich eines früheren Lebens entsinnen kann?«
»Es könnte wohl möglich sein, aber mir ist noch kein Mensch begegnet, dessen diesbezüglicher Behauptung ich Glauben schenken kann.«
»Sie selbst erinnern sich nicht Ihrer früheren Lebensläufe?«
»Nein.«
»Alles erdichtet?«
»Ja. Doch man hätte nachkontrollieren können. Ein Schuhmacher Franzi Fiebli hat in Uri wirklich gelebt, ist als Eremit gestorben.«
»Nur daß nicht Sie selbst dieser Fiebli gewesen sind.«
»Schwerlich.«
»Wozu nun diese ungeheuerlichen Lügen?«
»Weil die Welt nun einmal betrogen sein will. Das Publikum muß etwas Sensationelles haben, sonst glaubt es nicht. Meine Absicht ist die beste. Ich will das Volk zum Guten anleiten, aus dem Müßiggänger einen fleißigen Menschen machen, aus dem schwachen einen starken, und so fort. Die Lehre von der Wiedergeburt ist von jeher dagewesen, und sie hat im Verhältnis zur großen Masse doch immer nur wenige Anhänger gehabt, die danach auch wirklich leben. Tote müssen auferstehen. Da kam ich, trat mit meiner Behauptung hervor, mich meiner früheren Lebensläufe erinnern zu können, auf eine Weise, daß man mir nicht widersprechen konnte, trat auch sonst mit dem nötigen Pomp auf, wußte mich mit dem Nimbus des Geheimnisvollen zu umgeben - den Erfolg haben Sie gesehen. Wollen Sie abstreiten, daß ich sehr, sehr viel Gutes gestiftet habe?«
»Nein. Nur das dazu gewählte Mittel der Unwahrheit war durchaus verwerflich.«
»Der Zweck heiligt jedes Mittel.«
Leider konnte Nobody nach seiner eigenen Ansicht diese jesuitische Moral, so sehr diese auch sonst verurteilt wird, gar nicht so sehr verwerfen. Es kommt eben darauf an, wer so spricht. In gleichem Sinne ist ja auch das bedeutungsvolle Wort zu gebrauchen dem Reinen ist alles rein.
Aber Nobody hatte auch einen Trumpf in der Hand, den jener ihm nicht stechen sollte!
»Und was wollten Sie aus mir machen?«
Ja, da freilich machte der Spanier ein höchst klägliches Gesicht, er wich Nobodys Augen aus.
»Ach, meine unglückliche Leidenschaft!« seufzte er. »Nach der zwölfjährigen Pause kam sie erst recht mit voller Macht zum Durchbruch.«
»Sie wollten mich dazu gebrauchen, mit Ihnen Diebstähle zu vollführen.«
»Ja,« gestand der Spanier offen.
»Mittels des sogenannten Wechselbalgs hätten Sie sich fremde Sachen angeeignet.«
»Ja, ich gestehe es.«
»Auf welche Weise?«
»Nun, ich setze den Fall, in der Gesellschaft geht ein seltener Ring, eine seltene Münze von Hand zu Hand - ich habe das schon vorher gewußt, provoziere dies erst - habe mir also schon vorher eine ganz gleiche Imitation angefertigt - diese hat einer von uns in der Hand, und wenn wir uns den echten Gegenstand zureichen, wird er eben mit dem Falsifikat umgetauscht.«
»Unerhört! Und wenn das nun herauskommt?«
»Wir mußten eben genügend eingeübt sein.«
»Ich meine, und wenn nun der Besitzer den Betrug merkt?«
»Ich hätte die Imitation so geschickt gefertigt, daß es gar nicht bemerkt worden wäre, und es kommt doch nicht darauf an, was man wirklich besitzt, sondern was man zu besitzen glaubt.«
Der Spanier sprach Nobodys eigene Ansicht aus, was wir einmal ausführlich wiedergaben - auch ein Lieblingsthema Schopenhauers - hier freilich in ganz anderem Sinne angewandt.
»Hören Sie auf, hören Sie auf mit Ihren Sophistereien!« rief Nobody denn auch entrüstet. »Und Sie hätten mich sogar mit zu Einbruchsdiebstählen benutzt?«
»Ja,« gab Renardo wiederum ganz offen zu.
»Sie sind ein Schurke.«
Der Spanier zuckte die Schultern, soweit dies bei seinem gebundenen Zustande möglich war.
»Meine unglückselige Leidenschaft.«
»Das ist in diesem Falle keine Entschuldigung.«
»Ich weiß es. Die Blutgier des Tigers ist ein ganz natürlicher Instinkt, ihm von Gott eingegeben, und eben deswegen ist es die Pflicht des Menschen, ihn zu vernichten.«
»So erwarten Sie, daß ich Sie vernichten werde?«
»Ich bitte sogar darum.«
»Wie das?«
»Nun, laufen lassen werden Sie mich doch nicht.«
»Ich darf es nicht.«
»Und ich bin fertig. Es war von jeher mein Entschluß, daß ich, sobald ich einmal verraten würde, meinem Leben freiwillig ein Ziel setze.«
»Sie würden Selbstmord begehen?«
»Ja, oder ich müßte Sie beiseite schaffen, Sie töten. Und ich will nicht zum Mörder werden. Dann müßte ich auch die Gewißheit haben, daß Sie keinen Mitwisser haben. Nein, ich will lieber sterben.«
Nobody blickte traurig auf den Mann herab, der ihm vielleicht nur ein immer größeres Rätsel ward.
Doch er durfte sich nicht seinen Gefühlen hingeben, sondern mußte handeln.«
»Haben Sie Helfershelfer?«
»Nein.«
»Aber doch Mitwisser?«
»Auch nicht.«
»Sie sprachen doch von einem Vertrauensmann, bei dem Sie sich z. B. über die Vermögensverhältnisse Ihrer Schüler orientierten.«
»Das ist ganz einfach der Direktor eines Auskunftsbureaus.«
»Sonst weiß der nichts über Sie?«
»Bewahre!«
»Sie wollten doch nach Philadelphia fahren.«
»Ja. Ein Mann fehlte mir allerdings immer, auch Sie genügten mir noch nicht, besonders, wenn es sich um Einbrüche handelte. Heute früh erfuhr ich, daß sich ein früherer Schiffskamerad von mir in Philadelphia aufhält. Dieser Mann hat schon mehreres auf dem Gewissen. Ich wollte hinfahren, um ihn mir dienstbar zu machen.«
»Wiederum mittels Hypnose?«
»Ja.«
»Sie können aber doch gar nicht in Philadelphia gewesen sein.«
»Nein. Gleich nachdem ich in den Zug gestiegen war, überlegte ich es mir anders. Es war doch riskant. Mein Entschluß war zu voreilig gefaßt gewesen. Ich verließ den Zug auf der nächsten Station, kehrte zurück. Außerdem - außerdem ...«
»Nun, was außerdem?« munterte Nobody den Stockenden auf.
»Ich sehnte mich nach meiner Schatzkammer zurück.«
»Ist denn nur diese Sehnsucht wirklich so ganz unmenschlich?«
»Ja, und dann - und ...«
»Sprechen Sie offen.«
»Einer meiner Mitpassagiere hatte unterwegs einige chinesische Goldmünzen gezeigt, die er im Portemonnaie hatte, und - und ...«
»Sie reizten Ihre Habsucht, Sie haben dieselben dem Manne entwendet.«
»So ist es,« gab der Spanier kleinlaut zu.
Nobody visitierte ihm die Taschen, fand ein Portemonnaie, welches der Spanier als das betreffende bezeichnete.
Nun aber hatte Nobody auch keinen mitleidigen Gedanken mehr.
»Sie würden also sowieso Selbstmord begehen?«
»Ja.«
»So wählen Sie sich Ihre Todesart.«




Hiermit schließt diese Erzählung, soweit es Details anbetrifft.
Der Assistent Harry Peterson alarmierte die Dienerschaft. Er hatte den Spanier entseelt auf seinem Bett vorgefunden. Das Haus war auch noch mit Gasleitung eingerichtet, einer plötzlich undicht gewordenen Stelle im Schlafkabinett war Gas entströmt, das den Spanier sanft ins Jenseits hinüberschlummern ließ.
Die Erregung war eine ungeheuere, nicht nur bei den Schülern und Schülerinnen, die ihren edlen Meister verloren hatten.
Ach, sie haben einen guten Mann begraben ...
Nun, er würde ja wiederkommen, so nach zwanzig bis dreißig Jahren, mußte freilich als Säugling wieder beginnen.
Man konnte der Braut nicht verdenken, wenn sie nicht so lange warten wollte. Sie trauerte vorschriftsmäßig genau ein halbes Jahr, auch wegen des Todes der Mutter, dann verlobte sie sich mit einem anderen, den sie auch glücklich heiratete.
Und auch der Papa trug ein halbes Jahr lang ein Kreppband um Zylinder und Arm.
Ob Nobody ihm reinen Wein einschenkte, ihm alles über den ehemaligen Schwiegersohn offenbarte, wissen wir nicht, davon steht nichts in seinen Tagebüchern.
Und was wurde aus den gestohlenen Sachen, wie löste sich überhaupt alles in Wohlgefallen auf?
Nun, Nobody wußte sich immer zu helfen.
Die Polizei erhielt einen anonymen Brief, das Mitglied einer Diebesbande wurde aus Rachsucht zum Verräter, allerdings ohne Namen zu nennen. Nur die Beute wollte er seinen Kameraden aus den Zähnen rücken. Man solle einmal in dem Keller eines verlassenen Hauses, welches bezeichnet war, nachforschen.
Man tat es und - Herrgott, was man da alles vorfand! Die Museen und Raritätenhändler und alle übrigen bekamen ihre Sachen wieder, die sie beweint hatten, ein Herr seine chinesischen Geldmünzen und Miß John ihr Türkisenhalsband, und es gab lauter glückliche Menschen.
Aber vergebens versuchte die Polizei der Diebesbande auf die Spur zu kommen, und Nobody deutet nur einmal in seinem Tagebuche etwas davon an, wie er zwei Nächte lang gearbeitet hat, um das ganze Gerümpel aus dem Keller der Strandvilla in jenes verlassene Haus zu schleppen, wie er dabei geschwitzt hat.
Und die Nachwirkung der Lehre des Meisters?
Es war Strohfeuer gewesen, nichts als Strohfeuer. Die Dämchen gaben gar bald ihre ganzen Tugendbestrebungen auf, die Weiterbildung ihres Ichs, und die Herrchen verließen schnell genug ihre Arbeitsplätze, um nach wie vor auf den Straßen herumzubummeln und ihr Leben in tausend Nichtigkeiten zu vertrödeln.
Das ist ja auch leicht begreiflich. Sie hätten dies auch getan, selbst wenn sie noch so fest von solch einer Wiedergeburt überzeugt gewesen wären, wobei alles Gelernte als Talent wieder zum Vorschein kommt.
Wolle man bedenken: unsere Vorfahren waren ganz fest von dem Vorhandensein einer Hölle überzeugt, in welcher der Sünder für seine Taten büßen, wo er im Schwefelpfuhl braten muß und mit glühenden Zangen gezwickt wird, und dieser felsenfeste Glaube hat dennoch vor keinem Verbrechen zurückgeschreckt - und für die, welche noch heute daran glauben, gilt ja ganz genau dasselbe.
Ebensowenig haben die furchtbarsten irdischen Strafen, die Folterqualen, das Rädern usw. jemals die Verbrechen eingeschränkt. Die Erziehung zu einer höheren Moral muß systematisch von innen heraus geschehen, der Mensch muß sich selbst erkennen, von der wahrhaft göttlichen Liebe erfüllt werden - angedrohte Strafen haben absolut keinen Zweck, so wenig wie das Versprechen einer ewigen Seligkeit als Belohnung - und deshalb ist auch unser ganzes heutiges Gerechtigkeitssystem mit Zuchthaus und Todesstrafe eine vernunftlose Barbarei, über welche einst die Weltgeschichte urteilen wird. Aber das läßt sich nicht so ohne weiteres ändern, auch die Zeit geht Schritt für Schritt, es muß alles, alles errungen werden.
Nur einen einzigen Menschen gab es, welcher der Lehre des Maestros voll und ganz treu blieb. Das war Mr. Cerberus Mojan, Schwefel, Schmieröl, Schokolade.
Dem war eben, besonders wohl durch das magnetisierte Elixier, das Erinnerungsvermögen an seine früheren Lebensläufe erwacht, und nicht etwa nur an seine letzten als Mensch, sondern er konnte sich noch weiter zurückerinnern, und wer ihm zuhörte, dem konnte er erzählen und vormachen, wie er vor 15676 Jahren, oder genauer, geboren am 8. April 13624, natürlich vor Christi Geburt, auf einem Affenbrotbaum gesessen und seiner Herzallerliebsten Flöhe abgesucht hatte, dabei immer natnatnatnatnatnat sagend. Ja, seine Erinnerung ging noch viel, viel weiter zurück.
»Früher,« pflegte er mit Vorliebe jede Erzählung zu beginnen, »vor etwa einer Million achtmalhunderttausend und zehn Jahren, war ich ein kleines Protoplasmaklümpchen, jetzt bin ich ein großer Protoplasmaklumpen ...«
Doch wir werden ihn später selbst erzählen hören.

III. Der Zopf des Chinesen.

Am westlichen Abhange der Sierra Nevada, dort, wo sich der Sakramento in das nach ihm benannte Tal ergießt, stand ein abgesessener Reiter neben seinem Pferde.
Seine Kleidung, wie sein ganzes Aeußere verriet den Wildwestmann, der auch in diese Gegend paßte, während er mit einer Arbeit beschäftigt war, welche sonst nur der astronomische Gelehrte versteht, der sie durch praktische Handgriffe und mathematische Formeln dem Seemanne beigebracht hat, ohne diesem das Wesen der ganzen Sache zu erklären: dieser Mann im abgetragenen Jagdanzuge nahm nämlich mit Hilfe des Sextanten die Sonne auf, welche sich noch nicht sehr hoch über die schneebedeckten Kämme des Felsengebirges erhoben hatte, und berechnete mit Hilfe von Logarithmen aus den gefundenen Zahlen die geographische Lage des Ortes, auf dem er gegenwärtig stand.
Die Berechnung war gemacht.
»38 Grad, 14 Minuten, 56 Sekunden nördliche Breite, 121 Grad, 23 Minuten, 8 Sekunden westliche Länge. Es stimmt mit der Angabe, die Edward mir gemacht hat, und heute ist der 14. Juni. Well, ich bin bereit, hier mein Schicksal zu erwarten, in welcher Gestalt es sich mir auch nahen möge.«
Es war nämlich die einzige prophetische Bestimmung in dem roten Buche, welche auch einmal ein Datum enthielt. Am 14. Juni des Jahres sollte Nobody hier auf diesem Punkte der Erde sein. Weshalb, das hatte Edward Scott ihm nicht gesagt, hätte es ihm auch gar nicht sagen können. Die beiden hatten hierüber überhaupt gar nicht gesprochen, Nobody hatte erst nachträglich bemerkt, daß hier auch einmal eine Zeitangabe vorhanden war.
Nun, Nobody war gekommen. Wie das Schicksal ihn unfreiwillig hierhergeführt hatte, darüber grübelte er nicht mehr nach. Eine ruhige Resignation hatte sich des Mannes bemächtigt, der nun bald seit zwei Jahren seine Frau und Kinder in aller Welt vergeblich suchte. Ob er überhaupt noch hoffte? Auch der schärfste Beobachter hätte dies nicht zu beurteilen vermocht. Nobody konnte manchmal wieder heiter sein wie in seinen glücklichsten Tagen, und ganz besonders, wenn er allein war.
Und kam einmal, zumeist in der Nacht, eine Stunde der Verzweiflung, so brauchte er nur zum Sternenhimmel emporzublicken, und heitere Ruhe kehrte in sein Herz zurück.

»Sonnen wallen auf und nieder,
Wolken gehn und kommen wieder,
Und kein Mensch kann's wenden!«
So flüsterten dann seine zuckenden Lippen - und alles war wieder vorbei.
O, wer da weiß, was für ein Trost in solch einer stillen Ergebung liegt! Dazu aber ist nötig, daß man sich erst selbst erkannt hat, daß man nicht mehr qualvoll fragen muß: wozu lebe ich überhaupt? Dann gibt es keinen Zufall mehr, dann hat man das Schicksal bemeistert, das Leben wie auch den Tod.
Zunächst hob Nobody die mit Quecksilber gefüllte Glaskapsel auf, welche an Land das fehlende Meer oder überhaupt einen Wasserspiegel ersetzen muß, der zu solch einer geographischen Ortsberechnung unbedingt nötig ist, und dann besah er sich den Fleck Erde genauer, auf dem er am 14. Juni dieses Jahres etwas Besonderes erleben sollte und zwar in seinem Berufe als Detektiv.
Dieser Fleck Erde war leicht zu überblicken. Seine Breite betrug ja nur 29 Meter, seine Länge - nämlich nach geographischer Bestimmung - 25 Meter, das war ein Terrain von 725 Quadratmetern, zum Erbauen eines Hauses kein allzugroßes Grundstück, wenn ein Garten dabeisein sollte.
Felsiger Boden, etwas nach Westen geneigt, ohne jeden Riß, ohne den dürftigsten Grashalm - so waren die 700 Quadratmeter beschaffen, so sah es auch in der weiteren Umgebung aus, wenigstens nach drei Richtungen, während sich nördlich in einer Entfernung von etwa einem halben Kilometer der Saum eines Fichtenwaldes zeigte.
Aus diesem war Nobody gekommen, dort hatte er erst vor einer Viertelstunde seinen braven Gaul an einer Quelle getränkt. Von San Francisco aus bis hierher hatte er drei Tage gebraucht. Zwei Tage lang war er durch das fruchtbare, dichtbevölkerte Sakramento-Tal geritten, der gestrige Tag hatte ihn langsam aufsteigend durch eine wüste, menschenleere Gegend geführt, um ihn heute bei Sonnenausgang sein Ziel erreichen zu lassen.
»Daß ich unpünktlich bin, kann mir das Schicksal nicht vorwerfen. Nun mal los, ich warte. Dabei aber werde ich frühstücken.«
Nobody packte seinen Schnappsack aus, versorgte das Pferd mit Hafer und ließ sich zum Frühstück nieder. Dann blieb er noch einige Stunden sitzen, aber nichts wollte kommen, nichts sich ereignen. Ueber sich im blauen Aether ein Kondor, das war das einzige lebende Wesen, welches Nobody während dieser Stunden erblickte.
Mit Gewissenhaftigkeit konstatierte der Detektiv, daß es genau 6 Minuten nach elf Uhr war, als nicht weit von ihm eine grüne Eidechse über den Steinboden huschte und irgendwo wieder verschwand.
»Hm. Sollte diese Eidechse mein Schicksal einfädeln? Dann wird's aber bald Zeit.«
Nein, die Eidechse war nicht dazu bestimmt - sie kam nicht wieder zum Vorschein.
Es wurde Mittag, und noch war nichts geschehen. Nur das Pferd wurde unruhig, wieherte, scharrte, wollte den Hafersack nicht mehr annehmen.
Weshalb scharrt das Pferd mit dem Vorderhuf, wenn es zu laufen begehrt? Weshalb tut es dies auch noch, während es schon aus dem Eimer säuft?
Einen Grund muß dies doch haben, wie alles in der Welt.
Der wilde Mustang in der Prärie und den Pampas gibt hierfür die Erklärung. Wenn der Mustang an ein Gewässer kommt, an einen Fluß oder an eine Pfütze, schlägt er erst wiederholt mit dem Vorderfuß hinein, ehe er trinkt. Er kann dies deshalb tun, entweder um etwaige Reptilien zu vertreiben, oder aber, und das behaupten merkwürdigerweise die Cowboys und Gauchos, um das Wasser zuerst in Bewegung zu bringen, um das von der Sonne erhitzte Wasser von der Oberfläche zu verdrängen, so daß das untere, das kühlere, heraufsteigen kann. Unser zahmes Pferd ahmt unbewußt beim Saufen die Angewohnheit seines wilden Urahnen nach. Und wenn sich der Hund, ehe er sich zum Schlafen hinlegt, mehrmals im Kreise dreht, so tut er dies deshalb, weil sein vor Jahrtausenden in der Wildnis lebender Stammvater so stets zuerst das Gras niedergedrückt hat.
»Ich weiß, ich weiß,« sagte Nobody gutmütig zu dem scharrenden Gaul, »du Vieh, ohne sogenannte göttliche Vernunft, bist in gewissem Sinne glücklich zu reisen - du gibst für einen Eimer Wasser den ganzen Unsterblichkeitsglauben hin und alles, was damit zusammenhängt. Gut, sollst du haben!«
Zu Fuß nebenhergehend, führte er das durstige Tier in den Wald, nach der Quelle, wo er es schon heute früh getränkt hatte. Sein Nachtlager aber hatte er anderswo gehalten, da war er schon wieder einige Stunden unterwegs gewesen.
»Eigentlich könnte ich dich hier zurücklassen. Wenn aber nun etwas geschieht, wobei ich gerade einen Gaul zwischen den Schenkeln haben muß? O, es ist etwas Niederträchtiges mit dieser Ungewißheit des Schicksals. So komm nur wieder mit!«
Er leitete das Pferd nach jenem Fleckchen Erde zurück. Aus allem war zu sehen, daß Nobody dieses Warten auf ein ungewisses Schicksal mit einem gemütlichen Humor, dem auch etwas Selbstironie beigemischt war, auffaßte.
»Ich könnte ja ebensogut dort im Schatten des Waldes lagern, anstatt mich hier von der Sonne braten zu lassen, ich kann ja diesen Fleck immer im Auge behalten - - ja, wenn sich aber nun plötzlich der Boden auftut, ein Erdgeist taucht auf, der mich zu sprechen begehrt? Und ich glänze gerade durch Abwesenheit? Dann taucht der Kerl womöglich gleich wieder unter. Allerdings könnte ich ja etwas Schriftliches hinterlassen, wenigstens meine Visitenkarte - aber - hm - ich will doch lieber hier das Erscheinen des Erdgeistes persönlich abwarten.«
Um drei Uhr nachmittags, als sich Nobody, auf dem glühendheißen Steinboden hockend, eine neue Pfeife stopfte, sagte er ein ?Ei verflucht?.
Zwei Stunden später, als er, auf seiner Decke liegend, sich auf die rechte Seite drehte, weil die linke ihm schmerzte, wurde er etwas redseliger.
»Verflucht und zugenäht, jetzt wird mir die Geschichte langweilig! Nun kann's aber bald kommen, oder - - ich warte noch.«
Vor Sonnenuntergang tränkte er im Walde noch einmal sein Pferd, kehrte zurück und traf Vorbereitungen zur Nachtruhe, welche darin bestanden, daß er statt zum Tabaksbeutel zum wohlgefüllten Zigarrenetui griff. Denn in der finsteren Nacht gewährte die Zigarre mehr Genuß als die Pfeife, man sieht bei der Zigarre das Feuer, ohne welches man manchmal überhaupt nicht weiß, ob man noch raucht.
Und der Glimmstengel glühte. Und wenn die Zigarre zu kurz wurde, ward an dem Stummel eine andere angesteckt, wobei Nobody, sich etwas aus der Decke schälend, jedesmal nach der Uhr sah.
Alles blieb still. Nicht einmal die Stimme eines Raubtieres störte die Ruhe der Nacht. Nur hoch oben in der Luft änderte sich etwas. Dort war eine stärkere Windströmung eingetreten, sie brachte von Westen her Wolken, welche nach und nach die Sterne verhüllten.
»Ist das alles, was ich hier beobachten soll? O je, o je - schon neun Uhr, und Max noch nicht hier.«
Nobody dachte jedenfalls an den ?Freischütz?, wo diese Worte gesprochen werden.
Er hatte ja Zeit zu Selbstgesprächen.
»Das Datum stimmt, heute ist der 14. Juni. Die geographische Breite und Länge stimmen. Und ich bin hier, das stimmt ebenfalls. Welch Zeit ist es? Gleich zehn Uhr. Noch zwei Stunden, und wenn dann noch nichts passiert ist, wenn dann nicht irgend etwas gekommen ist, um mich mitzunehmen, dann muß doch irgend etwas dabei nicht gestimmt haben. Dann ist aber mein Glaube an Edwards prophetische Unfehlbarkeit stark erschüttert.«
Bei der übernächsten Zigarre zeigte die Uhr schon nach elf.
»Noch eine Stunde, dann hat's zwölf geschlagen - und bei mir dreizehn.«
Während der letzten Minuten vor zwölf leuchtete Nobody mit der glühenden Zigarre immer auf seinen Chronometer.
»Na - na - wird's bald? Kommt es? Samiel, erscheine! Jetzt - jetzt - jetzt haben sämtliche Kirchturmuhren, soweit sie mit Greenwich übereinstimmen, zwölf geschlagen, und eine andere Zeit kann hier doch gar nicht in Betracht kommen. Und Max immer noch nicht da! Na, warte, Edward, wenn ich wieder nach New-York komme - diesmal suche ich dich Einsiedler auf. Mit Zeitbestimmungen hättest du dich doch lieber nicht abgeben sollen, da läßt dich dein prophetischer Geist im Stich.«
Noch eine halbe Stunde, dann lachte es in der Finsternis einmal hell auf, es war ein zwar ärgerliches und dennoch heiteres Lachen gewesen, das aus Nobodys Munde gekommen war, und dann verrieten seine regelmäßigen Atemzüge, daß er sanft entschlummert war, sein Haupt dicht an den Leib des neben ihm liegenden Pferdes gebettet.
So untätig er den ganzen Tag über gewesen war, so fleißig sollte er in der Nacht sein - nämlich im Traume. Er schichtete einen Scheiterhaufen auf, ausschließlich bestehend aus Schopenhauers Werken, so rot eingebunden, wie Scotts prophetisches Notizbuch; mühselig schleppte er sie zusammen, dann wurde in feierlicher Prozession von indischen Bajaderen, denen Mr. Cerberus Mojan vorantanzte, Edward Scott herbeigeführt, wegen Zauberei zum Tode verurteilt, als falscher Prophet, er mußte den Scheiterhaufen besteigen, Nobody selbst schleuderte die Brandfackel zwischen Schopenhauers Werke, blutigrot flammte es auf, Edward Scott stieß ein wieherndes Lachen aus ... und der Träumer erwachte.
Ja, ein blutigroter Schein hatte allerdings Nobodys Auge getroffen - - die aufgehende Sonne - - und auch gewiehert hatte es - nur nicht Edward Scott, sondern der Gaul, der sich soeben erhob, um den neuen Tag zu begrüßen - - und auf diese Weise war in Verbindung mit den Gedanken vor dem Einschlafen der ganze Traum entstanden.
»Also nichts ist es gewesen! Edward, du hast wirklich den Feuertod als falscher Prophet verdient! Wäre ich doch lieber in San Francisco ge ...«
Das Wort blieb Nobody in der Kehle stecken, er machte eine hastige Bewegung nach seinem Revolver, um eine Waffe zu haben gegen die schwarze Schlange, welche dort ...
Nein, das war keine Schlange, Nobody konnte den Revolver und jede andere Waffe ruhig stecken lassen, sondern das war - das war ... jawohl, das war nichts anderes, als ein Frauenzopf!
Wie kam der Frauenzopf hierher? Das mußte natürlich die erste Frage sein.
Nobody, noch immer halb aufgerichtet sitzend, blickte um sich. Nichts war zu sehen; der stillste Frieden eines neuen, herrlichen Sommertages herrschte.
Dann galt es erst den Zopf zu untersuchen, und er brauchte deswegen gar nicht erst aufzustehen, brauchte nur die Hand auszustrecken, um ihn zu erfassen, und man konnte ihm nicht verdenken, wenn er das mit einiger Vorsicht tat.
Denn es ist doch höchst merkwürdig, wenn man sich eines schönes Abends mitten in der menschenleeren Wildnis hinlegt, man schläft ein, und am anderen Morgen liegt dicht neben einem ein abgeschnittener oder falscher Frauenzopf! Den faßt man doch etwas anders an als die Haarmähne der Geliebten.
Er war schwarz, ungefähr ein Meter lang, sehr dünn.
»Hm,« brummte Nobody bedachtsam, »was kann doch sogar ein Champion-Detektiv, der die Weisheit mit Löffeln gegessen hat, manchmal für ein Einfaltspinsel sein! Weil ich da einen geflochtenen Haarstrang liegen sehe, muß es der ersten Ansicht nach natürlich unbedingt ein Frauenzopf sein. Das ist grundfalsch. Man soll eben niemals solch eine ?erste Ansicht? fassen. Als ob es nicht auch genug Männer mit Zöpfen gäbe! In früherer Zeit trug die Männerwelt überhaupt Zöpfe, und noch heute hat mancher Kanzleirat einen Zopf im Genick hängen. Von einem solchen Herrn stammt dieser hier nun freilich nicht, sondern das ist ganz einfach der dünne Zopf eines Chinesen, der sich Vorder- und Hinterhaupt rasiert und nur auf dem Wirbel seines Schädels die Haare sorgsam kultiviert. Das fühle ich gleich an der Stärke und Härte der Haare heraus.«
Nobody ließ einzelne Haare, noch genauer prüfend, durch seine Finger gleiten, bog sie, als wolle er sie brechen.
»Und zwar ist dieser Zopf von keinem toten, sondern von einem lebendigen Menschen abgeschnitten worden - für jeden Chinesen ein ungeheuerlicher Frevel - dadurch verliert er ja den Weg zum Himmel. Ja, wie kommt denn aber nun ... halt, was raschelt denn da?!«
Es war eher ein Knacken gewesen, das in dem Zopfe unter Nobodys Fingern sich hatte hören lassen, in der Nähe des unteren Endes.
Dieses war äußerst kunstfertig geknüpft oder geflochten, zum Zusammenhalt der Haare bedurfte es keines besonderen Bändchens, Nobody aber hatte auch nicht nötig, dieses Ende erst aufzulösen, er brauchte nur die einzelnen Haare in der Mitte zu teilen, und er sah etwas Gelbliches, und als er es hervorgeholt, hielt er in der Hand ein viereckiges Stückchen Pergament, auf das kleine Zeichen gemalt waren, die ab und zu Aehnlichkeit mit Tiergestalten hatten, wozu freilich einige Phantasie gehörte.
Es waren eben chinesische Schriftzeichen. Nobody, von dem wir wissen, wie viele Jahre er in China gelebt hatte, beherrschte die chinesische Sprache in Schrift und Wort, alle Dialekte - hier aber versagten seine Kenntnisse.
»Geheimschrift! Oder vielmehr eine Geheimsprache. Nur die einzelnen Buchstaben sind verstellt. Nun, das ließe sich vielleicht mit der Zeit enträtseln. Sonst sieht das Pergamentstückchen ungefähr wie ein chinesisches Theaterbillett aus, die Geheimschrift aber macht es doch offenbar zu etwas ganz anderem. Und daß die Chinesen ihre Zöpfe häufig als Futterale benutzen, ist mir ebenfalls nicht bekannt. Ja, wie aber in aller Welt kommt der Zopf nur hierher?!«
Bei diesen letzten Worten sprang Nobody auf. Den Boden brauchte er nicht erst lange nach Spuren zu untersuchen, der harte Fels nahm keinen Eindruck an. Und fast sofort richtete sich sein Blick nach dem Himmel.
Nur ein Kondor zog dort oben seine Kreise.
»Hast du den Zopf gefunden, ihn mit in die Lüfte genommen und ihn mir vor die Füße geworfen? Bei Nacht? Nein - am Tage wäre das wohl möglich, aber nicht in der Nacht.«
Und da überkam Nobody eine andere Erkenntnis, er hätte niederknien mögen, um seinen prophetischen Freund um Verzeihung zu bitten.
Denn wiederum hatte sich dessen frühere Sehergabe in glänzender Weise bewährt! In der Nacht mußte der Zopf vom Himmel herabgekommen sein, und Nobody zweifelte nicht daran, daß es noch vor Mitternacht geschehen war, also noch am gestrigen Tage. Er hatte nur nichts davon bemerkt, das leichte, weiche Haar hatte gar kein Geräusch verursacht.
Vom Himmel herab? Ja, zu diesem spähte Nobody noch immer empor. Diesen Kondor oder einen anderen Vogel zog er nicht mehr in Betracht, abgesehen davon, daß es schon eine sehr phantastische Annahme war, ein Vogel in den Lüften hätte diesen chinesischen Zopf fallen lassen können. Dann konnte nur eine Eule oder ein anderer Nachtvogel in Betracht kommen. Doch, wie gesagt, diesen Gedanken hatte Nobody schnell wieder verworfen.
Er studierte einige kleine Wolken, welche schnell am Himmel zogen, während hier unten fast Windstille herrschte.
»Das war schon gestern abend der Fall, und auch da hatte, wie noch jetzt, in der oberen Region ein direkt westlicher Wind geherrscht. Nun kommt es darauf an, ob ich mich jetzt nach Westen oder nach Osten wenden soll - dorthin, von wannen er gekommen, oder wohin er gegangen ist.«
Klang das nicht fast, als wisse Nobody schon, wie der Zopf plötzlich hierhergelangt sei? Eine Ahnung wenigstens schien er bereits zu haben.
Einige Minuten des tiefsten Nachdenkens, dann schwang sich Nobody in den Sattel und ritt wieder in den Wald zurück.




»Good morning, gentlemen.«
Die beiden Holzfäller ließen ihre Aexte ruhen, bei deren Schlägen sich der Reiter ihnen hatte unbemerkt nähern können.
Ein Fremder, gegen den sie kein Mißtrauen zu haben brauchten, brachte in ihr einsames Leben stets eine angenehme Abwechslung, er wurde, wenn er Zeit hatte, in ihrem Blockhäuschen mit noch mehr Freude als nur mit hinterwäldlerischer Gastfreundschaft bewirtet.
»Good morning, Sir.«
»Schöner Tag, heute.«
»Ein gesegneter Morgen, Sir,« stimmten die beiden bei, sich mit sauberen Tüchern den Schweiß von der Stirn wischend, und eben so sauber war auch ihr sonstiges Aeußere trotz aller Wildheit der verwetterten Gestalten.
Heute schrieb man aber schon den 15. Juni. Einen Tag war Nobody bereits wieder unterwegs, und doch waren dies die ersten Menschen, denen er begegnete, obgleich er sich so nahe der Küste und in einem der dichtestbevölkerten Staaten befand. Doch Amerika ist groß, und in Kalifornien drängen sich die Farmen nur in einzelnen Gegenden zusammen; gehört doch auch noch zu Kalifornien jener ungeheure Landstrich hinter dem Felsengebirge, welcher, dann nach Nevada übergehend, auf der Karte noch heute den Vermerk ?Unerforscht? trägt.
»Lumberers?« erkundigte sich Nobody freundlich weiter. Denn irgendeine Anknüpfung mußte doch gemacht werden.
Ja, sie waren ?Lumberers?, d. h. professionelle Holzfäller, arbeiteten aber nicht für eigene Rechnung, sondern standen in Diensten einer großen Sägemühle, welche zwei Stunden von hier am Sakramento lag.
Die von ihnen gefällten Baumstämme blieben bis zum Winter liegen, wo sie dann auf dem Schnee nach der Mühle geschleift wurden. Um nicht täglich den weiten Weg gehen zu müssen, schlugen sie ihr eigenes Blockhäuschen immer in der Nähe ihrer zeitweiligen Arbeitsstätte auf. Ihre Bedürfnisse wurden ihnen geliefert, nur Fleisch besorgten sie sich selbst durch Jagd.
»Noch viel Wild hier?«
»Ja,« sagte der eine, sprach aber dieses Wörtchen in ganz besonderer Weise aus, machte auch ein dementsprechendes Gesicht. »Jaaa,« wiederholte er. »Und auch noch etwas anderes.«
»Was anderes?« fragte Nobody, sofort aufmerksam werdend.
»Noch etwas anderes als viel Wild gibt es hier - etwas, was in kein gesundes Menschengehirn hineingehen will.«
»Du hast ja geträumt, Ben,« sagte der andere.
»Geträumt? Und ich sage dir, Jim, es prasselte mir nur so um die Ohren, daß mir Hören sind Sehen verging.«
Der Holzfäller erzählte auch dem Fremden sein Abenteuer, das er gestern nacht erlebt hatte, welches ihm sein Kollege nicht glauben wollte.
Gestern nacht hatte Ben auf dem Anstand gesessen. Es war eine sogenannte Salzlecke, ein salziger Sumpf, den Hirsche und Rehe aufsuchten, um den ihnen wohlschmeckenden Schlamm zu lecken.
Ein besonders günstiger Anstand war es nicht. Es gab kein Versteck für den Jäger. Höchstens ein uralter Baum, abgestorben, schon halb versteinert, der sich in einiger Entfernung vom Rande aus dem Sumpfe erhob, konnte dazu dienen. Zu erreichen war er, man konnte bis zu ihm ohne besondere Gefahr durch den Schlamm waten.
Das also hatte Ben gestern nacht getan. Wie er nun schon einige Stunden auf dem blätterlosen Baume gesessen hatte, war es plötzlich um ihn herum und auf ihn selbst niedergeprasselt, und zwar in ganz fühlbarer Weise, geschmerzt hatte es. Schnell hatte Ben sich die Jacke über den Kopf gezogen. Aber nötig war es nicht gewesen, diese Werferei hatte sich nicht wiederholt.
»Ja, es war eine Werferei, und zwar mit Sand. An einen Schrotschuß ist gar nicht zu denken. Es war Sand, der vom Himmel herunterfiel.«
Und Nobody fand seine Ahnung bestätigt! Er war auch gerade hier an die richtige Quelle gekommen. Dieser erste Mensch, dem er wieder begegnete, sollte ihm die Richtigkeit seiner Vermutung bestätigen!
Aber zunächst wollte sich Nobody noch genauer vergewissern, um ja keinen Trugschluß zu machen, der ihn auf eine falsche Fährte führen konnte.
»Nun, so hat Euch eben jemand mit Sand geworfen.«
»Woher denn? Der Baum steht gute hundert Schritt im Sumpf, so weit kann doch niemand werfen.«
»Der Werfer ist einfach in den Sumpf hineingewatet.«
»Gut. Aber woher soll er dann den Sand bekommen haben? Hierherum gibt's nirgends auch nur ein Körnchen Sand.«
»So stammt der Sand eben anderswoher.«
»Fremder, laßt Euch doch nicht auslachen - oder meinetwegen lacht mich aus, so wie Jim es tut - ich aber bleibe bei meiner Behauptung, daß der Sand vom Himmel auf mich heruntergeregnet ist.«
»Konntet Ihr am Himmel nichts sehen?«
»Gar nichts.«
»Kein Licht?«
»Einen Stern meint Ihr wohl? Nein, der Himmel war ganz bedeckt.«
»Nun, Mann, Ihr werdet wohl im Rechte sein, und ich will Euch eine Erklärung geben, wie es auch einmal Sand vom Himmel regnen kann. Wißt Ihr, was ein Luftballon ist?« Wie die beiden plötzlich staunten, wie sie sich anblickten, das zeigte nicht an, daß sie noch nichts von einem Luftballon gehört hatten, sondern daß auch ihnen jetzt sofort eine Erkenntnis kam.
»Ein Luftballon, sagt Ihr? Wartet mal, Fremder!«
Und Jim rannte davon, nur hinter einen Baum, kam sofort wieder zum Vorschein, eine Zeitung mit Bildern in der Hand.
»Ich habe sie erst heute früh in der Mühle bekommen - die ?Friskoer Illustrated News?, die wir jeden Montag kriegen - und hier, hier - das ist so eine Kugel, die in der Luft fliegen soll - ein Luftballon, wie Ihr das Ding nennt - hier steht's ja auch darunter ...«
Die beiden Hinterwäldler hatten noch kaum etwas von einem Luftballon gehört, nämlich deshalb nicht, weil sie zufällig noch keinen über ihren Häuptern hinweg hatten schweben sehen, und hier sahen sie zum ersten Male einen abgebildet.
Nobody gab gern nähere Auskunft über das Wesen eines Luftballons, und für die beiden war nun das Rätsel mit dem Sandbombardement gelöst. Der Ballon hatte eben Ballast ausgeworfen, der Sand hatte gerade den Jäger auf seinem Baume getroffen. Wenigstens mußte man das doch jetzt mit ziemlicher Sicherheit annehmen.
Dann nach dieser ersten Erklärung wandte Nobody seine Aufmerksamkeit der Illustration und der Beschreibung zu.
Das Bild zeigte einen kurzgefesselten Ballon. Daneben und in der Gondel standen einige Männer, zum Teil Arbeiter, für den Photographen in der günstigsten Stellung aufgebaut.
Der Text sagte, daß dies der Ballon sei, mit welchem demnächst Dr. Hilligard, Professor an der Sternwarte von San Francisco, das Felsengebirge überfliegen wolle. Der Hauptzweck der Luftreise sei, einen allgemeinen Ueberblick über das große Salz-Territorium Pahutah zu bekommen. Eine Landung mit späterem Wiederaufstieg sei wohl ausgeschlossen. Es handele sich um photographische Aufnahmen und meteorologische Bestimmungen. Geführt wurde der Ballon von dem bewährten Luftschiffer Mr. Trine. Falls der Ballon aus irgendeinem Grunde dennoch in der trostlosen Salzwüste landen müsse, vielleicht aus Mangel an Gas, werde die Expedition auch von dem berühmten Jäger und Sportsman Mr. Charles O'Hyr begleitet, dessen sensationelle Durchquerung des Salzplateaus auf Rollschuhen, die er vor zwei Jahren unternahm, ja noch in frischer Erinnerung sei. Auch Professor Hilligard und Mr. Trine hätten vorher das Rollschuhlaufen gelernt und sich genügend darin ausgebildet, um Hoffnung zu haben, falls der Ballon mitten in der Salzwüste sein Leben aushauchen sollte, doch noch den Rand des Totenfeldes zu erreichen.
Das Bild zeigte den Ballon, wie er nur einmal zur Probe gefüllt war, nicht mit Gas, sondern nur mit Luft, um die Dichtigkeit zu prüfen. Wann der Aufstieg erfolge, könne noch nicht gesagt werden. Dazu müsse natürlich günstiger Wind aus Westen abgewartet werden. - - -
Von einem Chinesen war in dem Berichte nichts gesagt.
Trotzdem zweifelte Nobody nicht, daß der chinesische Zopf aus der Gondel dieses Ballons stammte. Es brauchte gar kein Chinese darin gewesen zu sein, es handelte sich eben nur um den Zopf.
Wann erschien diese illustrierte Zeitung? Jeden Sonnabend. Gestern war Sonntag gewesen. Dann konnte diese Photographie am Donnerstag, spätestens am Freitag gemacht worden sein.
Damals hatte Ostwind geherrscht. Am Sonnabend und Sonntag war Windstille gewesen. Erst am Sonntag spät abends war, wie Nobody ja selbst beobachtet hatte, in den oberen Regionen Westwind eingetreten.
Kein Zweifel, diese obere, günstige Windströmung hatten die Luftschiffer benutzen wollen, um über das Felsengebirge zu kommen - also auch gar kein Zweifel, daß der Ballon in jener Nacht über den Schläfer hinweggeflogen war, sowie über den Holzfäller, als er auf dem Anstand gesessen, Zopf und Sand stammten aus ein und derselben Ballongondel.
Es schadete nichts, daß der Holzfäller keine genauere Zeitbestimmung machen konnte, und wenn er das Sandbombardement auf eine Stunde nach Mitternacht schätzte, so würde er sich wohl auch nur wenig irren.
Nobody nahm dankbar die Einladung der beiden Holzfäller an, mit ihnen das Frühstück zu teilen, und schon auf dem Wege zur nahen Blockhütte sollte sich zeigen, wie günstig das Schicksal ihn wiederum geführt hatte, und wie gut es gewesen, daß er nicht gleich weitergeritten war, seinen eigenen Absichten folgend.
»Merkwürdig,« meinte unterwegs der eine, gleich nach den ersten Schritten, »nun will auch gerade der verrückte Tom Skelly mit seinem Wagen durch Pahutah fahren.«
Ehe wir die Unterhaltung weiter verfolgen, müssen wir uns über die Gegend orientieren, über welche die beiden Holzfäller nicht sprachen, weil sie ihnen bekannt war, wenn sie auch auf der Karte mit ?Unerforscht? bezeichnet wird.
Es handelt sich um das Territorium, welches hinter den Felsengebirgen den östlichen Teil von Kalifornien bildet, sich dann auch noch weit hinein in den Staat Nevada erstreckt.
Daß im Staate Utah die Mormonen an einem großen Salzsee wohnen, dürfte allgemein bekannt sein, und vielleicht auch, daß es in Amerika überhaupt große Salzwüsten gibt.
Die allergrößte aber befindet sich südlich von Utah, eben in Kalifornien und Nevada, Pahutah genannt, eine Fläche von rund 2500 geographischen Quadratmeilen einnehmend, ein Viertel so groß wie ganz Deutschland, und zwar bildet diese Salzwüste ein fast genaues Quadrat mit einem Durchmesser von etwa 50 Meilen.
Utah bedeutet in der Sprache der früheren Einwohner dieses Landes einfach Salz, Pahutah heißt Salzfeld, und ein solches ist denn auch dieses ganze Gebiet.
Hat schon die frühere Durchquerung von Utah, bevor die Eisenbahn gelegt wurde, den Auswanderern ungeheure Schwierigkeiten gemacht, wovon noch heute zahlreiche Menschenskelette erzählen, die längs der ehemaligen Heerstraße liegen, so ist an einen Karawanenweg durch Pahutah gar nicht zu denken.
Offenbar war dieser ganze Distrikt dereinst ein Meer, stand vielleicht auch mit dem Ozean in Verbindung. Diese wurde durch eine Erdrevolution unterbrochen, Zuflüsse fehlten, und so trocknete das ganze Binnenmeer mit der Zeit aus, indem der fallende Regen das verdampfende Wasser nicht zu ergänzen vermochte, oder auch unterirdische, vulkanische Hitze mag dazu beigetragen haben, wie es ja noch immer sehr viele heiße Salzquellen gibt.
So ist jetzt der Boden dieses ganzen Landes eine einzige Salzkruste, fast völlig eben, ohne Spalten und Risse - was nicht der Fall wäre, wenn das Meer abgelaufen wäre, dann könnte es sich nur um einen stark salzhaltigen Boden handeln. Aber es ist eben eine Salzdecke von vielen Metern Mächtigkeit.
Daß aus solch einem Lande nichts zu holen ist, ist begreiflich. Salz findet man anderswo genug. Auch dem Forscher bietet sich nichts Interessantes. Bei Regenzeit bildet sich ein schlammiger Salzbrei, der in der Hitze wieder kristallisiert.
Einige Forschungsexpeditionen haben dieses Salzfeld durchreist, oder doch den Versuch gemacht. Die meisten haben dabei ihren Untergang gestanden, wenn sie nicht zeitig genug wieder umkehrten. Die, denen die Durchquerung glückte, konnten außer von der Zwecklosigkeit nur von den furchtbaren Strapazen erzählen, die man sich wohl ohne besondere Beschreibung vorstellen kann.
Fürwahr, gegen den nur eine Woche währenden Ritt über dieses weiße Salzfeld muß eine monatelange Reise durch die Sahara noch eine Kinderspielerei zu nennen sein.
Vor zwei Jahren hatte ein professioneller Abenteurer namens Charles O'Hyr die Möglichkeit behauptet, diese Salzwüste auf Rollschuhen durchqueren zu können, und hatte schließlich gewettet, dieses Kunststückchen in drei Tagen auszuführen.
Mit viel Trinkwasser und wenig Proviant versehen, hatte er sich auf den Weg gemacht, von Westen nach Osten. Es war ihm gelungen. Dann aber hatte er ein schweres Nervenfieber durchzumachen gehabt, wäre auch beinahe erblindet. Nur seine eiserne Natur hatte ihn schließlich wiederhergestellt. Jedenfalls: einmal und nicht wieder! Und was dieser Nevermindman sonst noch alles zu erzählen wußte, der bei seiner Durchquerung vom besten Wetter begünstigt worden war und hauptsächlich keinen einzigen Regenfall gehabt hatte, wodurch er in dem Salzschlamme sowieso unrettbar verloren gewesen wäre, das genügte, um auch den abenteuerlichsten und ruhmsüchtigsten Sportsman von einer Nachahmung zurückzuschrecken.
Nun hatte sich dieser Mann doch wieder einer Expedition angeschlossen, deren Ziel in der Erforschung dieses unheimlichen Salzfeldes bestand. Doch das war ja auch etwas ganz anderes, es ging dabei in angenehmer Fahrt durch die Lüfte, und es wurde vorsichtigerweise nur mit der Eventualität gerechnet, auf dem Salzfelde die Gondel verlassen zu müssen, und dann hätte man auf Rollschuhen im schlimmsten Fall doch nur die Hälfte der ganzen Tour zurückzulegen brauchen. - - -
»Was, mit einem Wagen will jemand durch die Salzwüste fahren?« fragte Nobody erstaunt nach jener Erklärung.
»Jawohl, Tom Skelly - in Orsborn wohnt er - seitdem vor zwei Jahren der Mann auf Rollschuhen durchgefahren ist, hat es dem Tom keine Ruhe mehr gelassen, so ein Träumer und Tüftler war der ja immer, und nun hat er sich eben auf so einen Wagen mit Rädern gelegt, da will er das Kunststück nachmachen.«
»Ja, aber ein Wagen?!«
»Es ist ein Schlittenwagen, wie er es nennt - er läuft auf Kufen, unter die auch kleine Räder geschoben werden können, und die Hauptsache ist, daß auch Segel drauf sind.«
Noch keiner der beiden Holzfäller hatte den Schlittenwagen selbst gesehen, an dem Skelly, der Träumer, wie er genannt wurde, schon seit zwei Jahren baute, ebensowenig aber auch einen Segelschlitten, und um einen solchen handelte es sich offenbar, nur daß auch noch Räder in Betracht kamen.
Vor allen Dingen aber interessierte sich Nobody für den Mann selbst, der auf solch eine Idee gekommen war.
Es sei ein ganz unscheinbares, harmloses, simples Männchen, das fortwährend solche verrückte Ideen aushecke. Er war nichts weiter als gewöhnlicher Arbeiter in einem Bergwerk von Orsborn, jenseits des Gebirges gelegen, hatte schon immer Verbesserungen an den Maschinen anbringen, das Wasser auf ganz andere Weise aus dem Schachte herausholen wollen usw., nur schade, daß seine Erfindungen niemals etwas taugten. Er war eben der Hansnarr des Bergstädtchens, und das um so mehr, weil er schon längst seine regelmäßige Arbeit im Schacht verloren hatte. Nun vegetierte er kümmerlich so hin, kaum ab und zu eine Gelegenheitsarbeit annehmend, immer mit seinen geheimnisvollen Erfindungen beschäftigt - ein Schicksal, ähnlich dem des hungernden Dichters.
So wußte einer der beiden Holzfäller zu erzählen, welcher selbst aus Orsborn stammte, erst vor einem Monat dort gewesen war, und da hatte Skelly geäußert, in vier Wochen sei sein Schlittenwagen fertig, und dann würde die Welt staunen, dann wäre er ein berühmter Mann, dem man noch ein Denkmal setzen würde; denn mit seinem Schlittenwagen böte das Salzfeld von Pahutah keine Schwierigkeiten mehr, für Kalifornien würden sich ganz andere Verkehrswege öffnen, usw. usw.
Wunderbar! War das nicht ein direkter Fingerzeig des Schicksals, daß sich Nobody nach Orsborn begeben sollte, um diesen Mann aufzusuchen? Oder, wenn dessen Segelschlitten nicht zu gebrauchen war, daß er sich überhaupt ostwärts wenden sollte, wohin der Ballon geflogen war, und nicht westlich, von wo er gekommen? Denn noch stand Nobody am Scheidewege.
Wenigstens fühlte er, daß dies ein Fingerzeig des Schicksals war, und er war entschlossen, ihm sofort zu folgen.
Außerdem wußte er ja noch gar nicht, was er mit dem Zopfe, den der Himmel ihm herabgeworfen, anfangen sollte - und so oder so, an das bestimmte Ziel würde sein Schicksal ihn doch noch führen - und vor allen Dingen interessierte es ihn jetzt, den Mann kennen zu lernen, der über ingeniösen Erfindungen brütete und dafür von seinen Kameraden verspottet wurde. Für solche Menschen hatte Nobody von jeher das größte Interesse gehabt, hatte sie stets aufgesucht, hatte schon manchem geholfen, und sei es auch nur, daß er ihn von einem törichten Wahne geheilt.
Orsborn war von hier zwei Tageritte entfernt, er mußte über das Gebirge hinweg, was aber bei dieser Jahreszeit wenig zu bedeuten hatte.
Noch am Abend desselben Tages erreichte Nobody zunächst ein anderes Bergstädtchen, in dem er bereits eine Zeitung vom Montag, also von gestern, vorfand.
Und richtig, da war es zu lesen:
Am Sonntag abend in der siebenten Stunde war der Ballon in San Francisco aufgestiegen, um die in den oberen Schichten herrschende, nach Osten gehende Windströmung zu benutzen. In der Gondel befanden sich vier Personen - also war eine noch hinzugekommen, nämlich der chinesische Diener des Professors!
Mochte sein Name auch nicht genannt sein - daß ein Chinese dabei war, das genügte.
Und am Morgen des dritten Tages hielt Nobody auf einem Felsvorsprung und blickte auf die zu seinen Füßen liegende, unübersehbare Ebene hinab.
Es sah trostlos genug aus auf dieser Seite des Felsengebirges. Nur eine kurze Hügelgegend, dann kam gleich die flache Steppe, schon nicht mehr Prärie zu nennen, immer kärglicher wurde das Gras auf dem sterilen, salzgeschwängerten Boden, und dann dort hinten der weiße Saum, blendend wie frisch gefallener Schnee, das war schon der Anfang des ungeheuren Salzfeldes.
Der Paß senkte sich hinab, und zwei Stunden später, immer noch in beträchtlicher Höhe, befand sich Nobody in Orsborn, dessen Bewohner ausschließlich vom Bergbau leben. In der Nähe wird Kupfer und Blei gegraben.
Nobody war noch nicht zu spät gekommen, vielmehr gerade zur rechten Zeit. Im Gasthaus erfuhr er alles.
Skelly der Träumer hatte zuletzt doch noch einige Anerkennung gefunden. In den letzten Tagen voriger Woche hatte er immer davon gesprochen, daß nun sein Schlittenwagen fertig sei; sobald ein günstiger Westwind wehe, wolle er seine Fahrt antreten, nur bedürfe er dazu noch genügenden Proviantes, und wenn er den nicht geschenkt bekäme, müsse er eben erst noch so lange arbeiten, bis er sich ausreichend Konserven und Hartbrot kaufen könne.
Man hatte seinen Segelwagen überhaupt noch gar nicht zu sehen bekommen. Früher wohl, vor anderthalb Jahren und noch länger, da hatte Skelly in einem leeren Holzschuppen immer an einem Gestell herumgebaut, und da war ihm mancher Narrenpossen gespielt worden.
Daraufhin hatte der Erfinder seine Werkstatt verlegt; aber wohin, das wußte kein Mensch. Es mußte irgendein Versteck in den Bergen sein, in das Skelly manchmal für viele Tage verschwand, nur zum Vorschein kommend, um Proviant und anderes zu kaufen, wofür er aber immer erst einige Tage arbeiten mußte.
Einige hatten versucht, ihm dann zu folgen, um sein Geheimnis auszuspüren, doch dies war niemals gelungen, und endlich erlahmte auch die Neugier. Der Kerl war eben verrückt, das hatte er ja schon früher oft genug bewiesen.
So war das anderthalb Jahr lang gegangen. Nun trat der glückstrahlende Erfinder mit der Behauptung hervor, sein Segelwagen sei fertig, mit dem nächsten guten Winde wolle er seine Fahrt antreten, nur brauche er noch Proviant, und dann wäre ihm auch ein Begleiter sehr erwünscht.
Jetzt wurde man doch aufmerksam. Wenn es wirklich wahr wäre, wenn es ein Fahrzeug gäbe, auf dem man schnell und bequem die Salzwüste durchqueren könne, so würde das allerdings für alle auf dieser Seite des Felsengebirges liegenden Ortschaften von ungeheuerem Vorteil sein, dann könnte eine ganz neue Aera für sie anbrechen. Außerdem kam wieder die Neugier hervor, der verrückte Skelly trat gar so sicher auf.
Kurz, man redete ihm zu, seinen Segelschlitten erst einmal öffentlich zu zeigen, unter der Versicherung, ihm keinen Streich spielen zu wollen. Das liegt dem amerikanischen Charakter überhaupt ganz fern, wenn es sich um etwas Praktisches handelt, und soweit keine Konkurrenz in Betracht kommt.
Skelly hatte sein Geheimnis offenbart. Und alles war einfach baff gewesen. Im Triumph hatte man den in einer Höhle erbauten und verborgen gehaltenen Rollschlitten hervorgeholt und ihn auf dem Marktplatz in einem Schuppen ausgestellt.
Wer noch an der Gebrauchsfähigkeit zweifelte - einen Probeversuch abzuhalten war in dieser gebirgigen Gegend absolut unmöglich - der wollte doch wenigstens unten bei der Abfahrt zugegen sein. Spenden aller Art waren in Hülle und Fülle von allen Seiten eingelaufen.
Aber Orsborn ist ein sehr geschäftiges Städtchen. Nur am Sonntag hatte jeder Zeit. Und am letzten Sonntag war absolut kein Wind gewesen. So wollte man den nächsten Sonntag abwarten, und wenn dann ein günstiger Wind war, wenn auch nicht direkt aus Westen, dann sollte der Segelschlitten in der frühesten Morgenstunde oder schon am Abend zuvor hinabgetragen werden, ein Weg von etwa drei Stunden, und dann würde ganz Orsborn der Abfahrt des Erfinders beiwohnen. -
So hatte der Wirt Nobody berichtet.
»Hat Skelly schon einen Begleiter gefunden?«
»Nicht einen einzigen. Wie das Ding aussieht, und wie der die Fahrt beschreibt - es ist doch eine verdammt kitzlige Geschichte. Der Schlitten kann jeden Augenblick umkippen, er wird auch mit Absicht immer umgeworfen, und da muß man immer von einer Kufe zur anderen balancieren. Und wir, die wir hier das Salzfeld in dichter Nähe haben und es etwas genauer kennen - nee, keiner von unseren wagehalsigsten Jungen will mit, wenn die sonst auch ihr Genick bei jeder anderen Gelegenheit riskieren.«
Wie der Wirt den Schlitten und die Manöver beschrieben hatte, das erinnerte ganz an das Eissegeln, wovon man hier aber gar nichts wußte.
»Wo ist Mr. Skelly jetzt?«
»Sicher bei seinem Rollschlitten. Er befindet sich in einem Schuppen auf dem Marktplatz - dort geradeaus.«
»Ist der Schlitten zu besichtigen? Hat man Zutritt zu dem Schuppen?«
»Der ist überhaupt offen. Es ist nur ein Schutzdach.«
Nobody hatte unterdessen gegessen, er machte sich sofort auf den Weg. Schon von weitem sah er das Gerüst und darunter ein Gerippe von Balken und Sparren, welches wohl das neue Fahrzeug sein mußte, auch durch dieses skelettartige Aeußere ganz einem Segelschlitten gleichend.
Ein Mann hämmerte daran herum. Er hatte wohl einige Zuschauer, aber nur alte Leute oder Invaliden, welche in der noch frühen Morgenstunde Zeit hatten. Sonst schien es Müßiggänger hier gar nicht zu geben - ein Zeichen der Kultur, welches den aufmerksamen Reisenden in kleinen Städtchen mit germanischer Bevölkerung stets so wohltuend berührt. Bei Romanen und Slaven ist es anders; je kleiner die Stadt, desto größer die Faulheit.
Ja, das war Tom, der Träumer! Das stand dem noch jungen Manne mit der hohen Stirn und den blauen Kinderaugen gleich im Gesicht geschrieben. Aber gerade solche Charaktere liebte Nobody. Und dabei dennoch die zäheste Energie, das in der Phantasie vorschwebende Ideal zu verwirklichen, und trotz aller naiven Kindlichkeit großes Mißtrauen gegen jeden Menschen, eine Folge bitterer Erfahrungen.
Da aber Nobody solche Charaktere besonders gut kannte - sie ähnelten nämlich in gewisser Hinsicht sehr dem seinen - so wußte er auch schnell mit ihnen fertig zu werden.
Nach einem kurzen Gespräch hatte er jedes Mißtrauen beseitigt, den jungen Mann für sich gewonnen, für sich förmlich enthusiasmiert. Er hatte sich als ein Frank Knox vorgestellt, Reisender, Sportsman, etwas Ingenieur, etwas von allem - er habe in San Francisco von der Erfindung und dem Vorhaben des jungen Mannes in Orsborn gehört, bot sich als Begleiter an - einige vorsichtig prüfende Fragen, und dann war er mit Freuden als Gefährte angenommen worden.
Und Nobody konnte nur staunen. Tom Skelly hatte noch nie etwas von einem Segelschlitten gehört, noch weniger einen solchen gesehen, auch keine Abbildung, und dennoch hatte er ein derartiges Fahrzeug nach allen Regeln der Kunst konstruiert, nur aus seiner Phantasie heraus, ohne schon Versuche angestellt und so nach und nach seine Idee verbessert zu haben. Das nennt man Genie, göttliche Inspiration.
Es ist unmöglich, hier auf eine nähere Beschreibung eines Segelschlittens einzugehen. Die Hauptsache ist, daß er nicht nur zwei, sondern drei Kufen hat, von denen die eine, die auf der Luvseite, also auf der, von welcher der Wind herkommt, immer in die Höhe ragt. Wird der Segelschlitten gewendet, so kippt er um einen gewissen Grad um, bis er auf die bisher unbenutzte Kufe zu liegen kommt, die auf der anderen Seite reckt sich dafür in die Luft.
Dazu ist nötig, daß das ganze Gestell aufs genaueste ausbalanciert ist, zumal wenn es sich noch um mitzunehmendes Gepäck handelt, welches dann auf der mittelsten Kufe befestigt wird. Das weitere Gleichgewicht müssen die menschlichen Mitfahrer herstellen, welche von Kufe zu Kufe balancieren oder gar springen, was jedoch gefährlicher aussieht, als es in Wirklichkeit ist, und beim Durchfahren von großen Strecken braucht ja auch nicht so häufig gewendet zu werden.
All diese Probleme hatte der junge Erfinder aus eigenem Geiste heraus aufs glücklichste gelöst. Er hatte noch mehr hinzugemacht.
An einzelnen Stellen mochte das Salzfeld wohl glatt wie Eis sein, im allgemeinen aber war es doch ein etwas holpriger Boden, das kristallinische Salz konnte auch weich sein, manchmal wie Flugsand, allerdings niemals tief, und alledem war Rechnung getragen worden.
Die Kufen besaßen auch Räder, für gewöhnlich in die Höhe stehend, konnten aber durch eine einzige Hebelbewegung herabgelassen werden, so daß aus dem Segelschlitten ein Segelwagen wurde - ein Fahrzeug, wie es noch gar nicht existiert, oder wie es doch damals noch nicht existierte. (Heute sind in jener Gegend schon Segelwagen eingeführt.)
Nobody ließ sich von dem jungen Manne auseinandersetzen, wie er sich die ganze Fahrt dachte, welcher Erklärung wir nicht zu lauschen brauchen, da wir sie praktisch mitmachen.
»Wissen Sie, was man unter einer geographischen Ortsbestimmung versteht?«
Ja, das wußte Tom. In dem Orte gab es einige ehemalige Seeleute, die ihm davon erzählt hatten.
»Können Sie eine solche machen?«
O nein, daran war gar nicht zu denken, Tom hatte noch gar keinen Sextanten gesehen.
»Ich bin dazu imstande, habe alles bei mir, was dazu gehört.«
Was für einen Vorteil das bot, immer zu wissen, wo man sich in der weißen Salzwüste befand, das begriff Tom sofort, und schon das hätte genügt, den Fremden als Begleiter anzunehmen. Seine Freude darüber war grenzenlos.
Nun erst wandte Nobody seine nähere Aufmerksamkeit dem Fahrzeuge zu. Er war schon selbst mehrmals Segelschlitten gefahren, und seine durchs Auge gehende Erinnerung war so vorzüglich, daß er sich die Konstruktion noch lebhaft vorstellen konnte, und nun kam noch die ganze Genialität dieses Mannes dazu, verbunden mit einer fabelhaft praktischen und geschickten Hand.
Kurz, in den zwei Tagen, welche noch bis zum Sonntag waren, änderte Nobody noch manches ab, und wie er sein ganzes Interesse der Sache widmete, übertraf er sich manchmal selbst, und dann kamen noch andere Dinge in Betracht.
Tom Skelly rechnete mit der Möglichkeit, den Rollschlitten aufgeben zu müssen. Er hatte damals, vor zwei Jahren, Mr. O'Hyr auf Rollschuhen abfahren sehen - was ihn ja erst auf diese Idee gebracht hatte - er hatte diese Rollschuhe gesehen, sie in der Hand gehabt und danach sich aus der Erinnerung solche gefertigt.
Aber es ging, wie es manchmal geht, gerade bei genialen Leuten. Aus seinem eigenen Geiste heraus hatte er einen tadellosen Segelschlitten konstruiert; hier bei den Rollschuhen, wo er nach einem ihm vorschwebenden Muster gearbeitet, war es ihm jämmerlich mißglückt. Wohl eine peinlich saubere Arbeit, obgleich fast nur mit dem Messer gefertigt, dennoch jeden Drechsler übertreffend - aber der junge Mann hatte ja gar keine Ahnung, wie die Axen beschaffen sein müssen, an denen sich die kleinen Holzröllchen in der Sekunde einige dutzendmal drehen sollen, wie es auch hierbei auf ein ausbalanciertes Gleichgewicht ankommt, und da er jenen Mann auf den Rollschuhen so schnell hatte forteilen sehen, war er der Meinung, das könnte auch jeder andere Mensch ohne weiteres, es war ja nur ein Wagen, auf dem der Fuß stand, und so hatte er überhaupt noch gar nicht probiert, wozu er in dieser Gebirgsgegend auch schwer Gelegenheit hatte.
Innerhalb eines Tages hatte Nobody in der Werkstatt eines Tischlers zwei paar Rollschuhe hergestellt, welche allen Anforderungen entsprachen. Um Tom in ihrer ?Fußhabung? auszubilden, dazu war jetzt keine Zeit mehr, das mußte unterwegs geschehen, oder wenn die Not es erforderte. Eine besondere Kunst ist das ?Skating? ja auch nicht, will man sich nicht gerade direkt als Künstler produzieren. Anders als das Schlittschuhlaufen ist es allerdings, diese rollenden Dinger laufen einem noch viel flinker unter dem Leibe weg als Schlittschuhe, der Anfänger könnte sie sich erst recht lieber gleich an der hinteren Seite seines Körpers, auf die man sich für gewöhnlich setzt, festschnallen.
Dann verwandelte sich Nobody in einen Lederarbeiter - er ersetzte die Fässer, welche Tom hatte mitnehmen wollen, durch Ziegenschläuche, und brachte Wasserbehälter zustande, welche jeden Puff aushielten.
»Aber das genügt noch nicht,« sagte Tom, als Nobody den vierten Schlauch ablieferte.
»Die enthalten zusammen einhundertzwanzig Liter Wasser, die langen für uns beide doch mindestens sechs Tage, mögen wir bei dem vermutlichen Salzgehalt der Luft auch noch so von Durst gequält werden.«
»Nein, die reichen noch nicht. Ich wollte für wenigstens zehn Tage verproviantiert sein.«
»Ja, wie lange gedenken Sie denn zu der Durchquerung zu gebrauchen? Ich scheine von Ihrer Erfindung eine bessere Meinung zu haben, als Sie selbst. Oder wissen Sie nicht, wie schnell so ein Segelschlitten fährt, mag das Eis oder hier das Salz auch noch so grob gekörnt sein? Es sind doch nur 200 englische Meilen zu durchfahren, nach irgendwelcher Richtung, dazu brauchen wir bei nur einigermaßen günstigem Wind nicht länger als drei Tage, diesen auch nur zu zwölf Stunden gerechnet.«
»Ich möchte aber für zehn Tage verproviantiert sein,« beharrte Tom eigensinnig.
»Wollen Sie denn in der Salzwüste hin und her fahren?«
»Ja.«
»Auf besondere Entdeckungen ausgehen?«
Nobody schien schon etwas herausgehört zu haben, und es bestätigte sich; vertrauensvoll richteten sich die träumenden Kinderaugen auf ihn.
»Ja, ich suche in dieser menschenleeren Wüste etwas ganz Besonderes,« erklang es dann leise. »Aber, bitte, fragen Sie mich jetzt nicht - ich offenbare Ihnen mein tiefstes Geheimnis unterwegs.«
Natürlich war Nobody äußerst betroffen, daß auch dieser junge Mann hier ein Geheimnis hatte. Doch er beherrschte sich. Er fertigte vier weitere Lederschläuche an, welche für diesen Segelschlitten auch wirklich gar kein Gewicht bedeuteten.
Am Sonnabend abend wurde der Schlitten hinabgetragen, die einzelnen Kufen und der Mastbaum wurden auseinandergenommen, wozu nur wenige Keile gelöst zu werden brauchten, gefällige Leute trugen den Proviant und alles andere, und nichts war vergessen vor allen Dingen auch Handwerkszeug, Stricke und Reserveholz für Reparaturen - unten, wo das Hügelland in die mit nur spärlichem Gras bedeckte, ebene Steppe überging, ward alles wieder zusammengesetzt und verpackt, und eine große Menschenmenge verbrachte die Nacht gleich an Ort und Stelle; denn es wehte ein frischer Westwind, der sicher auch längere Tage anhalten würde.
Am anderen Morgen bei Sonnenaufgang kamen die letzten Bewohner von Orsborn herab, um dem seltsamen Schauspiel beizuwohnen, und dieses nahm alsbald seinen Anfang.
Tom und Nobody stiegen auf die mittelste Kufe, welche aber durch besondere Bretter, die zu verschieben waren, auch bequeme Sitzplätze und sogar Lager bot, das Segel am Mast entrollte sich, ein starker Druck auf einen langen Hebel, das ganze Gestell hob sich, so daß die Kufen auf Räder zu ruhen kamen, und gleichzeitig erscholl ein vielhundertstimmiger Ruf des Staunens, denn sofort setzte sich das seltsame Gefährt in Bewegung.
»Es fährt - wahrhaftig, es fährt!«
»Wartet's nur ab, jetzt geht es noch bergab, da muß jeder Wagen von allein laufen,« meinten Zweifler.
Da hatten sie allerdings recht, es ging etwas bergein. Aber die Schrägheit nahm immer mehr ab, und die Schnelligkeit des Wagens doch immer zu.
Alt und jung lief hinterdrein, aber kaum kamen die Beine noch mit. Dann ein Schrei des Schreckens, vielleicht auch etwas Schadenfreude - der Wagen war umgekippt!
Doch nein, der lief ja ganz unversehrt weiter, jetzt nur auf den anderen Kufenrädern liegend, das Segel war herumgeschwenkt wurden, nur einmal zur Prüfung.
»Jetzt rennen sie fest!«
Ein großer, erratischer Steinblock lag im Wege, der Rollschlitten wollte ihn schon mit dem spitzen Vorderteile berühren - da aber erschien hinten eine lange Stange, sie bremste, und unter dieser Steuerung wich das seltsame Gefährt mit wahrhafter Eleganz dem Hindernis aus, segelte daran vorbei.
Und immer ebener wurde der Boden, immer glatter ging die Fahrt, und immer grauer wurde der erst schwarze Boden, und dann kam eine schneeweiße Fläche, spiegelblank, die erste wirkliche Salzkruste, deren Ende nicht abzusehen war, auch nicht so bald kommen sollte, und das Gestell senkte sich wieder auf die Kufen, und mit der Geschwindigkeit des Windes, der mindestens fünf Meter in der Sekunde machte, schoß der Schlitten dahin, fast mit der Schnelligkeit eines Personenzuges.
Voll und ganz genoß Nobody das wunderbare Bewußtsein, wieder einmal die Elemente und die ganze Natur durch Kraft und Geist besiegt zu haben. Er hätte laut aufjauchzen mögen. Daß ein anderer der Erfinder war, er selbst nur ein Minimum dazu beigetragen hatte, änderte daran nichts. Jeder denkende und empfindende Mensch hat Minuten, in denen er in einer Lokomotive nicht nur ein technisches Gebilde aus Stangen, Rädern, Kurbeln, Nieten und Schrauben sieht. So etwa, wenn man auf einem Berg steht und unten im Tale sieht man durch die finstere Nacht einen erleuchteten Eisenbahnzug brausen. Dann verschwindet die ganze Eisentechnik, dann wird das zu einem lebendigen Kinde des Menschengeistes, von deinem, von meinem Geist beseelt. Und wer solche wunderbare Empfindungen in Worte kleiden kann, den nennt man einen Dichter - einen wirklichen Dichter.
Der schneeweiße Boden ward körniger, krustiger, es kamen sehr höckerige Stellen, aber sonst glitt der Schlitten mit derselben Geschwindigkeit darüber hinweg, man merkte gar nichts von den Unebenheiten, und dann waren die längsten Stellen spiegelglatt, und trotz der immer steigenden Sonnenhitze, die nur durch den starken Luftzug gemäßigt wurde, indem man den Wind nämlich bereits von der Seite abfing, konnte man sich kaum der Ansicht erwehren, auf richtigem Eise dahinzusausen.
Und immer mehr nahmen die Wunder zu, obgleich die Forscher, denen schon eine Durchquerung der Salzwüste geglückt war, von solchen nichts hatten wissen wollen.
Immer häufiger wurden die Stellen, an denen die viele Meter dicke Salzkruste durchsichtig wie Kristall war, ganz deutlich sah man den schwarzen Boden, darauf wohlerhaltene Meerespflanzen, Muscheln und auch genug kleinere und größere Fische, vollkommen konserviert, eben richtig eingesalzen, für die Ewigkeit - mit einer Gründlichkeit eingesalzen, wie so etwas nur die Natur versteht.
Aber wissenschaftliche Forscher hatten recht, wenn sie von keinen Wundern erzählt hatten. Das waren nur poetische Wunder. Fremdartige Pflanzen, Muscheln und Fische zeigten sich nicht, alles gehörte zur Flora und Fauna, die man noch heute im Meere findet - ein Beweis, daß die Austrocknung dieses Meeres nicht in prähistorischer Zeit stattgefunden hat.
Doch es gab für die beiden auch schon genug zu tun. Verbesserungen, sogar Reparaturen mußten vorgenommen werden, wenn auch noch nichts gebrochen war, was die Fahrt irgendwie beeinträchtigt hätte, und jede Reparatur wurde gleich so erledigt, daß der Fehler nach menschlichem Ermessen nun ein für allemal beseitigt war.
Je höher die Sonne stieg, desto unerträglicher ward der von der weißen Fläche ausstrahlende Glanz, vielleicht noch mehr, als wenn es Eis oder Schnee gewesen wäre, wozu auch der starke Salzgehalt der Luft mit beitragen mochte.
Aber Nobody hatte an alles gedacht und während der zwei Tage alles Erreichbare besorgt. Es konnte nur nicht jedes einzelne angeführt werden. Jetzt wurden die blauen Brillen aufgesetzt.
»Eins aber haben wir doch vergessen,« sagte Tom, als dem Proviantvorrat das erste Frühstück entnommen wurde.
»Was denn?«
»Salz,« lachte Tom.
Daß dieser junge Träumer auch eine humoristische Ader besaß, war Nobody etwas ganz Neues. Und wie begeistert die sonst etwas schwermütigen Züge aussehen konnten, zumal wenn er so in die Ferne spähte!
Von seinem angedeuteten Geheimnis hatte er bisher nicht wieder gesprochen, und Nobody allein würde nie davon beginnen.
Bei dieser äußerst schnellen Fahrt zu essen, hatte seine Schwierigkeiten, und die Hitze ward unerträglich.
»Wir wollen einmal halten,« schlug Tom vor, »aus dem Segel ein Zelt herstellen, wir müssen das Salzfeld doch auch einmal betreten, und wir haben ja Zeit genug.«
Das Segel ward gerefft, ganz abgenommen, die sonst als Steuer dienende Ruderstange wirkte als Bremse, das Schlittenfahrzeug hielt.
Die Salzkruste war gerade hier wieder einmal durchsichtig wie das reinste Glas.
»Was liegt dort?«
Auch Nobody hatte schon den großen, dunklen Klumpen bemerkt, der in einiger Entfernung unter der Salzdecke lag, sich von dem etwas helleren Boden abhebend.
Sie schritten darauf zu.
»Ein Thunfisch!« rief Nobody auf den ersten Blick.
Das wenigstens vier Meter lange Tier war etwas zusammengedörrt, als wäre es Hungers gestorben, sonst aber gänzlich unversehrt erhalten, soweit sich das von hier oben aus beurteilen ließ.
»Ein Thunfisch?« fragte Tom.
»Ja. Er kommt am häufigsten im Mittelländischen Meere vor, verirrt sich aber auch in alle anderen Gewässer.«
»Ist er eßbar?«
»Er gehört zu den Lieblingsspeisen der Italiener und Franzosen, wenn sein Fleisch auch nicht mit dem von andern Fischen verglichen werden kann; es ähnelt mehr dem Rindfleische und wird sowohl geräuchert als in Oel gekocht, auch konserviert verspeist.«
»Ob das Fleisch aber noch jetzt genießbar ist?«
»Das kommt auf einen Versuch an. Ich halte es für sehr möglich, und zwar gleich roh, wie geräucherter Schinken, nur daß hier Salz die Wirkung getan hat.«
»So wollen wir unsere Beile holen.«
Auf dem Wege erzählte Nobody seinem wißbegierigen Gefährten, wie man vor noch gar nicht so langer Zeit in Sibirien einige im Eise eingefrorene Mammuts gefunden hatte, vorsündflutliche Elefanten, von deren Fleisch nicht nur Hunde, sondern auch Eingeborene mit größtem Appetit gegessen hatten, europäische Gelehrte versuchsweise, und auch sie hatten an dem Fleische nichts auszusetzen; nur durfte man nicht daran denken, daß es schon einige Jahrtausende alt war.
So groß ist die Konservierungskraft der Kälte oder vielmehr des einschließenden Eises. Denn Hauptsache ist dabei, daß die Substanz zugleich auch von aller Luft abgeschlossen ist.
Dies war auch hier der Fall, obschon das Salz beim Konservieren eine ganz andere Rolle spielt als das Eis, es wirkt durch seine Wasserentziehung.
Die hier nicht kristallinische, sondern kristallisierte Salzdecke spaltete sich unter den Beilschlägen mit wunderbarer Leichtigkeit, man konnte Blöcke in beliebiger Größe herausheben, und zwar Würfel von vollendetster Quadratur, oder aber auch die flachsten Tafeln, Säulen, ganz wie man klopfte.
»Ob man sich hiervon ein Haus bauen kann?« meinte Tom, sinnend die verschiedenen Formen betrachtend, wie er sich auch Mühe gab, solche zu erzeugen.
»Bauen kann man sich wohl eins davon,« lachte Nobody, »aber regnen darf es nicht, sonst wird daraus eine gesalzene Suppe.«
»Schade!« erklang es bedauernd, als sich Tom wieder der Arbeit zuwendete.
Nobody blickte ihn einmal aufmerksam an.
»Möchten Sie wohl in dieser furchtbaren Einsamkeit für immer wohnen, wenn Sie sich darin ernähren können?«
»Gewiß, und für mich ist das nicht furchtbar, sondern wunderschön.«
Nobody schien noch eine Frage stellen zu wollen, doch er unterdrückte sie.
In einer Viertelstunde war das ganze Tier bloßgelegt. Selbst die Augen waren noch wohlerhalten, wenn auch etwas eingetrocknet. Das Salz hatte eben alle Feuchtigkeit aus dem ganzen Tiere gezogen.
Seinen Tod und dann die Konservierung konnte sich Nobody lebhaft vorstellen. Immer salziger war das Wasser geworden, schließlich konnten es die Fische nicht mehr ertragen, sie starben, wahrscheinlich schon sogar sehr fett geworden - da aber war das Wasser schon so salzig gewesen, daß es bereits konservierte, dann mochte die Verdunstung noch schneller vor sich gegangen sein, das Salz kristallisierte aus der Lake heraus, schloß Tiere und Pflanzen vollends luftdicht ab und begann seinen Austrocknungsprozeß.
Nobody weidete das Tier völlig aus. Alles war vollkommen erhalten, bis auf die kleineren Fische im Magen.
Im übrigen konnte man diesen so konservierten Thunfisch als einen Riesensalzhering bezeichnen. Nur sah das Fleisch viel röter aus, eher wie Lachsschinken, und so schmeckte es auch, wovon sich Nobody sofort ohne Scheu überzeugte.
Eine gute Portion ward mit nach dem Schlitten genommen, dort wurde das große Segel am Mast in ein schattiges Zelt verwandelt, was ebenfalls Nobodys Verbesserung war, und sie ließen sich zu einem ganz anderen Frühstück nieder, als sie ursprünglich geplant hatten.
»Wissen Sie, wie ich auf den Gedanken gekommen bin, diese Salzwüste untersuchen zu wollen?« begann Tom plötzlich.
»Ja. Jener O'Hyr und mehr noch seine Rollschuhe gaben Ihnen die Anregung dazu.«
»Nicht so ganz. Schon immer hatte mich eine heimliche Sehnsucht in dieses Salzfeld hineingetrieben, freilich konnte ich nie weiter vordringen, als bis mein kleiner Wasservorrat, soviel ich tragen konnte, reichte. Und dann gab ich dieses zwecklose Vordringen ganz auf.«
»Ja, Sie sprachen soeben auch von einer Untersuchung, nicht nur von einer Durchquerung, um etwa einen Verkehrsweg zu ermöglichen.«
»Das ist der Unterschied! Diese weiße Wüste besitzt ein Geheimnis.«
»Mister Skelly, wenn Sie einen Grund haben, es mir anzuvertrauen, so dürfen Sie das ruhig tun.«
»Ich weiß es, das habe ich Ihnen sofort angesehen.«
Nobody wunderte sich nicht, daß der einsame Träumer so sprach. Gerade die Einsamsten haben gewöhnlich eine Menschenkenntnis, von denen sich die Kinder der Welt nichts träumen lassen, und daher ist ihnen der Grund auch nicht zu erklären. Mag man es eine Ahnung nennen.
»Nicht wahr, Sie sind weit herumgekommen in der Welt?«
»Allerdings.«
»Sind Sie schon einmal in einer Wüste gewesen - in einer Sandwüste, meine ich, wie die Sahara?«
»Ich kenne die Sahara sogar ziemlich gut.«
»Dann waren Sie auch schon in einer Oase?«
»Gewiß.«
»Mitten in der öden Wüste ist plötzlich ein grüner Fleck, der sich um eine Quelle, um einen Brunnen gebildet hat, mit Bäumen, auch mit einer eigenen Tierwelt, wenn sie groß genug ist, ein kleines Paradies - nicht wahr?«
»Das ist der Charakter einer Oase,« bestätigte Nobody, und eine große Spannung bemächtigte sich seiner.
»Nun, auch diese Salzwüste hier enthält solch eine paradiesische Oase.«
»Was Sie nicht sagen!!« rief Nobody in ehrlichstem Staunen, obgleich er eine ähnliche Offenbarung erwartet hatte.
Es war auch genug Grund zum Staunen vorhanden. Man konnte in Sandwüsten schon Oasen kennen gelernt haben - in dieser salzigen Einöde vermochte man sie sich kaum vorzustellen, konnte ihren Ursprung und ihre Existenz gar nicht begreifen. Denn zu einer Oase gehört doch natürlich vor allen Dingen süßes Wasser.
»Es ist so.«
»Woher wissen Sie das?«
»Lassen Sie es sich erzählen.«
Und Tom Skelly erzählte. Drei Jahre war es nun schon her, als er in den Bergen einen Mann gefunden hatte, zum Skelett abgemagert, nur noch mit Lumpen bedeckt, sterbend.
Tom vernahm die letzten Worte aus seinem Munde. Er habe zu solch einer Forschungsexpedition gehört, welche Pahutah durchqueren wollte; die mitgenommenen Kamele gingen zugrunde, alles; nur dieser Mann hatte sich weiterschleppen können, immer weiter, bis er endlich den westlichen Rand des fürchterlichen Totenfeldes erreichte, um sich auch noch in den Bergen zu verirren, und hier zu sterben.
»Aber nicht unausgesetzt war er gewandert. Die Expedition war schon vor zwei Jahren aufgebrochen, jetzt also vor fünf Jahren. Der Mann hatte unterwegs eine Oase gefunden, ein Eiland im erstarrten Salzmeer, hier hatte er zwei Jahre lang gelebt, sich häuslich eingerichtet, bis ihn endlich die Sehnsucht nach anderen Menschen überwältigte und er aufbrach, um nach so und so vielen Tagen - die Zeit war ihm ganz entfallen - die Berge zu erreichen, in denen er vor Erschöpfung sterben sollte. Und, ach, was konnte mir dieser Mann nicht alles von jener Oase erzählen!«
Und Tom gab die Schilderung wieder, vielleicht noch mit eigener Phantasie ausmalend, von murmelnden Bächen und herrlichen Blumen und nickenden Palmen und singenden Vögeln und springenden Gazellen ...
»Und seitdem stand mein Entschluß fest, diese Oase aufzusuchen, um mich dort als einzelner Mensch anzusiedeln, aber vergebens grübelte ich darüber nach, wie dorthingelangen, bis Gott mich jenen Jäger auf Rollschuhen sehen ließ. Da reifte in mir der Plan zu diesem Segelschlitten.«
Nobody war grenzenlos enttäuscht. Noch konnte er gar nicht annehmen, daß jener wirklich so leichtgläubig sei.
»Wie hieß dieser Mann?«
»Er konnte mir seinen Namen nicht nennen.«
»Weshalb nicht?«
»Er hatte ihn in der Einsamkeit vergessen.«
»So. Hm. Wie hieß der Leiter der ganzen Expedition?«
»Er konnte sich auf keinen einzigen Namen mehr besinnen.«
»Wie lange lebte er denn noch?«
»Höchstens noch eine Viertelstunde.«
»Und er sprach bis zuletzt?«
»Bis zuletzt.«
»Aber, mein lieber Skelly,« schlug Nobody jetzt einen anderen Ton an, »bedenken Sie denn nicht, daß dies alles nur die Phantasie eines im Fieberdelirium sterbenden Mannes gewesen sein wird?«
Skelly schüttelte ruhig den Kopf.«
»Der Mann war bis zuletzt bei vollständigem Bewußtsein.«
»Und da wußte er nicht einmal seinen Namen mehr?«
»Das ist die Frage. Es machte mir fast den Eindruck, als wolle er mir seinen und die Namen seiner Gefährten mit Absicht verschweigen, er mochte ja irgendeinen Grund dazu haben - und wenn dies nicht der Fall, weshalb soll man in zweijähriger Einsamkeit nicht seinen Namen vergessen? Ich versichere Ihnen, Herr, wenn ich ganz einsam wäre, so wäre das erste, was ich von meinem bisherigen Leben vergessen würde, mein Name, und das nur so mehr, weil dieser Name doch eigentlich mit meiner eigenen Person gar nichts zu tun hat - ich meine, diesen Namen habe ich nicht erlebt, den haben mir nur andere aufgedrängt ... ich kann mich nicht richtig ausdrücken.«
Nobody verzichtete darauf, diesem jungen Manne den Glauben an seine Ueberzeugung zu nehmen; denn da war alles vergeblich, und außerdem hatte er zuletzt eine sehr große Wahrheit ausgesprochen.
»Konnte Ihnen der Sterbende eine geographische Ortsbestimmung oder sonst eine nähere Beschreibung der Lage geben?«
»Absolut gar nichts. Er wußte nicht einmal, wie lange er wieder von dort bis an den Westrand gelaufen war.«
»Da ist aber die Auffindung dieser Oase in einem Territorium von 40 000 englischen Quadratmeilen sehr schwierig.«
»Ja freilich. Und doch noch lange nicht so schwierig wie die Auffindung Amerikas durch Kolumbus. Da sich mein Segelschlitten bewährt, brauche ich ja ganz einfach nur immer strichweise hin und her zu segeln, dann muß ich doch einmal auf die Oase stoßen.«
»Sie werden sich in ihr niederlassen?«
»Ganz gewiß.«
»Ein einsames, selbständiges Leben in der Oase führen?«
»Das war immer meine Sehnsucht.«
»Sie könnten aber doch bald Gesellschaft bekommen, vorausgesetzt, daß die Oase wirklich sehr fruchtbar ist.«
»Kennen Sie nicht die amerikanischen Gesetze?«
»Ich kenne sie.«
»Nun also. Der Entdecker oder Erforscher eines noch nicht kultivierten Gebietes hat stets das Vorrecht zum Landkauf, hundert Acres sind überhaupt frei, und größer wird die Oase wohl nicht sein.«
»Das sagte der Mann?«
»Wenigstens sprach er immer von einem kleinen Paradies, das man leicht übersehen könnte. Und wenn ich dort hause, wenn es einmal mein Eigentum ist, wird mir die salzige Umgebung schon jeden Besuch vom Leibe halten.«
Dieser junge Mann sprach aus Nobodys eigenem Herzen. Schon als Kind hatte er niemals begriffen, wie Robinson sein Eiland mit allem, was er darauf geschaffen, hatte wieder verlassen können. Er an Robinsons Stelle hätte sicher kein Schiff auf sich aufmerksam gemacht.
»Noch einen guten Freund, ja,« setzte Tom hinzu. »Ich wäre, wenn sich mehrere Männer als meine Begleiter gemeldet hätten, bei der Auswahl sehr vorsichtig gewesen und hätte noch besondere Bestimmungen ausgemacht.«
»Mich würden Sie als Ihren Gesellschafter aufnehmen?«
»Ja, Sie sofort,« war die Antwort mit einem Aufschlag der blauen Kinderaugen.
»So wollen wir die Fahrt fortsetzen, und ich wünsche Ihnen, daß Sie Ihr Ideal im erstarrten Salzmeer finden mögen,« sagte Nobody, aufstehend, und es hatte wie ein Seufzer geklungen.
Zunächst machte er eine geographische Berechnung, welche ergab, daß sie in fünf Stunden fast sechzehn geographische Meilen zurückgelegt hatten. Wenn der Wind so blieb, und sie fuhren auch während der Nacht, konnten sie noch an diesem selben Tage das ganze Salzfeld durchquert haben, und dann hatte der Erfinder dieses Rollschlittens tatsächlich ein Problem gelöst. Doch das war sowieso der Fall, ob die Reise etwas kürzer oder länger währte, diese Salzwüste war dem Menschen fernerhin kein unüberwindliches Hindernis mehr.
Gegen die Hitze Schutz unter einem Zeltdach zu suchen, hatte keinen Zweck. Während der schnellen Fahrt war sie offenbar noch erträglicher gewesen. Das unangenehme, stechende und brennende Gefühl mochte eine Folge der salzgeschwängerten Luft sein, während die Lunge gar nichts davon merkte. Schädlich war der Aufenthalt hier keinesfalls, vielleicht im Gegenteil gesund, wie etwa an der See, wo aber die Haut ebenfalls leicht aufspringt.
Es ging weiter. Der Wind flaute schnell ab. Gegen Mittag kroch der Schlitten nur noch wie eine Schnecke - oder sagen wir: er bewegte sich nicht schneller als ein langsamer Fußgänger. Auf Räder gesetzt, blieb er überhaupt ganz stehen. Tom benutzte diese Gelegenheit, um sich auf den Rollschuhen zu üben. Zuerst wurde deswegen ein kurzer Halt gemacht, bis Nobody dem Anfänger die ersten Regeln der Kunst beigebracht hatte, damit er sich überhaupt aufrecht halten konnte, dann war der langsam vorausfahrende Schlitten ein guter Schrittmacher, dem er unbedingt folgen mußte, was sehr zur schnellen Erlernung beitrug.
Aber lange währte die Uebung nicht. Die Salzdecke wurde mit der Zeit weich und immer weicher, immer tiefer gruben sich die Kufen ein, das Fahren wurde zur Unmöglichkeit.
Schwer konnte man sich von dem Wahne losreißen, daß es eine Eisfläche sei, welche unter den Strahlen der Mittagssonne zu schmelzen begann. Bei Salz war das natürlich ausgeschlossen.
In seitlicher Ferne schimmerte die Fläche ganz anders, dort stand offenbar klares Wasser. Nur eine süße Quelle, es brauchte gar keine heiße zu sein, konnte das verursachen, welche dort dem Boden entsprang und das umgebende Salz auflöste.
Der Schlitten kam durch den Schlamm kaum noch vorwärts. Doch er brauchte nur ein wenig südlicher gelenkt zu werden, wozu der Wind auch gerade günstig war, so konnte man dieses Schlammgebiet umfahren; denn südlich zeigte sich wieder eine feste Salzdecke, so weit reichte eben die auflösende Kraft des Wassers nicht.
Zunächst aber hielt der Schlitten, Nobody drang watend nach der Quelle vor, immer tiefer einsinkend, bis er sich durch die Zunahme der Wärme des Wassers überzeugt hatte, daß es tatsächlich eine heiße Quelle sein müsse.
Dann drehte er um, dieses schlammige Gebiet wurde umfahren.
Am Nachmittage wurde der Wind wieder stärker, mehr von Norden kommend, was aber an der Richtung des Schlittens wenig änderte. Er wurde eben mit dem Segel von der Seite abgefangen, nur mußte, sollte die östliche Richtung beibehalten werden, mehr mit der Ruderstange gebremst werden. Jedes Segelschiff hat den Wind überhaupt lieber von der Seite als von hinten, das Stampfen fällt hierdurch weg, die Wogen, welche durchbrochen werden müssen, setzen dem Schiffe weniger Widerstand entgegen.
Bei dem Schlitten gab es allerdings kein Stampfen und Schlingern, aber auch hier bemerkte man sofort den günstigen Erfolg, wenn das Gestell vorn mit dem spitzen Schnabel nicht so fest auf die zu übergleitende Fläche gedrückt wurde.
Wieder ging es mit der Schnelligkeit eines Personenzuges vorwärts. Oftmals kamen noch solche Schlammstellen, aber nur ihr Zentrum, welches allein aus Wasser bestand, brauchte umfahren zu werden, sonst kam der Schlitten bei dieser schnellen Fahrt auch durch den tiefsten Schlamm. Freilich spritzte es tüchtig dabei, die beiden Salzschiffer verwandelten sich nach und nach in Schneemänner.
Es war in der vierten Nachmittagsstunde, eine spiegelglatte Fläche lag unabsehbar vor ihnen, der Schlitten schwebte wie ein weißer Schwan darüberhin.
Nobody richtete gerade das Segel etwas anders, dabei nach oben blickend, als Tom, auf der sehr breiten Kufe balancierend, auf ihn zugestürzt kam und ihm in den Arm fiel.
»Stopp, Stopp!! Wir haben einen Mann überfahren!!«
Nobody traute seinen Ohren nicht recht. Hatte Tom plötzlich seinen Verstand verloren?
»Was?! Einen Mann? Einen Menschen hätten wir überfahren?«
»Jawohl! Soeben! Dort unter dem Eis lag ein Mann!«
Weitere Andeutungen brauchte Nobody nicht, jetzt verstand er sofort. Das Segel gerefft und mit Macht gebremst, bis das Fahrzeug stand.
»Sie haben sich auch nicht geirrt?«
»Unter dem Eis - unter dem Salz lag ein Mann, gar nicht so tief - etwas bunt gekleidet. Mehr freilich konnte ich nicht sehen. Wir schossen gerade über ihn hin.«
Die Kufen hinterließen in der Salzdecke doch eine leichte Spur, welche erst der nächste Regen verwischen konnte.
Zwar hatte Tom seine Entdeckung dem Gefährten sofort gemacht, aber einige Zeit war doch darüber vergangen, ehe der Schlitten zum Halten gebracht werden konnte, schon das kurze Zögern Nobodys hatte genügt, um ihn gleich hundert Meter weiterzubefördern, und in Anbetracht alles dessen war es besser, sich der Rollschuhe zu bedienen, welche viermal so schnell beförderten, wie die einfachen Füße.
Auch Tom schnallte die Rollschuhe an, um diese Gelegenheit gleich zu einer weiteren Uebung zu benutzen, sie nahmen die Beile mit und verfolgten die Kufenspur zurück.
Das war auch sehr gut gewesen. Man kam doch sehr schnell vorwärts, Nobody zog noch dazu seinen langsameren Gefährten, und Tom meinte nach einigen Minuten, selbst zweifelnd, er habe den ?bunten Mann? doch ganz bestimmt gesehen, so daß er also vielleicht selbst daran dachte, er könne nur eine Vision gehabt haben.
Dabei ist zu bedenken, in welcher Erwartung sich die beiden befanden, wie sie ausspähten, so daß ihnen eben die wenigen Minuten gar lang dünkten.
»Bunt war er gekleidet?«
»Ja, mir ist wenigstens so - ich glaube, er trug eine blaue Jacke mit roten ...«
»Da liegt er schon!!«
Nobody eilte voraus, und wieder drängte es ihn fast dazu, niederzuknien, um das Schicksal, personifiziert durch Edward Scott, anzubeten, welches ihn hierhergeleitet hatte, im Grunde genommen doch ohne sein Zutun.
Es war ein Chinese, welcher unter der kristallklaren Salzdecke lag, nur wenige Zentimeter von dem Salze bedeckt, dessen sonst glatte Fläche sich auch ein wenig über ihm gewölbt hatte.
Er lag auf dem Gesicht. Daß es ein Chinese war, konnte man einmal sofort an dem Anzug erkennen, an der blauen Jacke mit roten Aermeln, und dann hatte dieser Mann einen Zopf ... gehabt! Jetzt fehlte er, nur ein kurzes Zopfende ragte hinten am sonst kahlgeschorenen Schädel hervor.
»Wunder, o Wunder!« murmelte Nobody, unwillkürlich nach seiner Tasche tastend, in der er den fehlenden Zopf dieses Chinesen aufbewahrte.
Doch seinem Gefährten sagte er nichts davon, wie er auch bisher geschwiegen hatte. Es hätte gar zu viele Auseinandersetzungen gegeben, die jener doch nicht verstanden haben würde.
Wie war der Chinese hierhergekommen? Wie war es möglich, daß er unter der Salzdecke lag?
Nobody konnte sich eine vollständige Erklärung geben; diese wenigstens teilte er auch seinem Gefährten mit, erzählte ihm von dem Luftballon, in dessen Gondel sich auch ein chinesischer Diener befunden hatte.
Der Chinese war aus der Gondel gestürzt oder gesprungen. Am Montag, noch vor Tagesanbruch, war auf dieser Seite der Felsengebirge ein heftiger Gewitterregen niedergegangen. Der hatte das ganze Salzfeld in eine morastige Masse verwandelt, in diese war der Chinese gestürzt, und der Schlamm war schon tief genug, um seinen Körper völlig zu bedecken.
Dann verdunstete das Wasser rasch, das Salz kristallisierte wieder aus - der Chinese war eingeschlossen, konserviert für die Ewigkeit.
Er sollte es nicht bleiben. Die dünne Schicht brauchte nur abgenommen zu werden, und er war freigelegt.
Er mußte einen Sturz aus großer Höhe herab getan haben. Die Stirn, auf die er gestürzt, war zerschmettert, beide Arme und wohl auch die Schulterblätter gebrochen. Ebenso war auch das ganze Gesicht entstellt. So sehr hatte der weiche Schlamm den Sturz denn doch nicht abschwächen können.
Nobody ging an eine Untersuchung der Kleider und des ganzen Körpers. Er fand absolut nichts, weder in den Taschen, noch eine Tätowierung am Körper. Auch der Talisman fehlte, gewöhnlich eine kleine Buddhafigur, welche die Chinesen gern an einer Schnur um den Hals tragen, auch dann noch heimlich, wenn der chinesische Diener schon Christ geworden ist. Mit dem Christentum ist es bei den Chinesen eben niemals weit her, sie treten nur scheinbar dazu über, wenn sie einen Vorteil davon haben. Im Herzen bleiben sie doch immer ihrer Religion treu.
Dieser Mann hier aber trug also keinen solchen Götzen bei sich.
»Ja, aber,« meinte Tom, »wie hat denn der Kerl seinen ... um Himmels willen,« unterbrach er sich schreiend, »der Schlitten, der Schlitten!!«
Nobody blickte auf, und im nächsten Moment hatte er sich in einen menschlichen Pfeil verwandelt, welcher über die weiße Fläche sauste, dem Schlitten nach, der mit vollgeschwelltem Segel davon glitt.
Das Segel war nicht richtig gerefft gewesen, hatte sich von allein wieder entrollt - und das schlimmste war, was Nobody sofort erkannt, daß die Steuerstange festgesteckt war, so daß sich das Fahrzeug nicht drehen konnte, wodurch es sonst auf den Wind gekommen und von allein wieder stehen geblieben wäre.
Rollschuhläufer oder Schlitten, wer war der schnellste? Darauf kam es jetzt an, und Nobody wußte, daß es eine Frage um Tod und Leben war.
Denn hier lagen noch ganz andere Verhältnisse vor als in der sonnenverbranntesten Sandwüste - in dieser salzgeschwängerten Atmosphäre, die auch an Hitze nichts zu wünschen übrig ließ, stellte sich aller halben Stunden der heftigste Durst ein, welcher gelöscht werden mußte, und keinen Tropfen Wasser ...
Schon nach drei Minuten erkannte Nobody die Zwecklosigkeit seines rasenden Laufes. Der Wind war stärker geworden, war schneller als der Rollschuhläufer, daher auch der Schlitten.
Nobody bremste, wandte sich um. Tom kam ihm nach, war aber noch weit, weit entfernt, er tat sein möglichstes, den Gefährten einzuholen, und die Folge seiner außerordentlichen Bemühungen war, daß er aller zehn Schritte den Boden küßte.
Endlich waren sie wieder zusammen. Der junge Träumer faßte die Sache ruhiger auf, als manch anderer Mensch es getan hätte.
»Sie können ihn nicht einholen?«
»Nein, er ist schneller als ich,« entgegnete Nobody, seinen Sextanten ziehend und sich anschickend, eine geographische Ortsbestimmung zu machen.
»Ich war es, der das Segel festgemacht hatte,« schuldigte sich der junge Mann selbst an.
»Das zu sagen, haben Sie nicht nötig, das hätte auch mir passieren können, auch ich bin ein Mensch.«
»Wie denken Sie über unsere Lage?«
»Nicht besonders günstig, aber ... einen Augenblick, ich bin gleich fertig.«
Die Berechnung war gemacht.
»Wir haben die größere Hälfte hinter uns, sind schon über die Mitte der Salzwüste hinaus, und das entscheidet die Richtung. Also östlich, mit einer kleinen Abweichung nach Süden, ganz einfach den Kufenspuren immer folgen.«
»Und Gott bitten, daß er den Wind schnell abschwächt oder etwas an dem Schlitten brechen läßt, daß er nicht mehr segeln kann.«
»Sie haben recht. Vorwärts!«
Jede weitere Erwägung war hier auch wirklich ganz überflüssig. Sie folgten den Spuren des Schlittens, der bereits nicht mehr zu sehen war, so schnell wie möglich, Nobody zog Tom, und da es unbequem war, ihn an der Hand zu halten, nahm er ihn an einem Riemen ins Schlepptau. An den Chinesen wurde jetzt natürlich nicht mehr gedacht.
Wir wollen nicht die Gedanken der beiden schildern, wie sie bald vom schrecklichsten Durst geplagt wurden. Bei Nobody besonders kam noch die körperliche Anstrengung dazu.
Nach etwa einer Stunde wurde der Boden wieder weich, verwandelte sich in Schlamm, schon stand über der weißen Salzdecke klares Wasser.
Auch über Toms Lippen war noch kein Wort der Klage, der Verzweiflung gekommen. Was er ausstand, das zeigte am besten, daß er auf den Gedanken kam, dieses Wasser könnte trinkbar sein, daß er davon wirklich kostete. Das Wasser des Meeres war gegen dieses noch süß zu nennen.
»Nein, das laßt nur sein,« meinte Nobody mit heiserer Stimme, »und dennoch, wir müssen es weit wie möglich gegen die Quelle vordringen, vielleicht ...«
Er wagte die Hoffnung gar nicht auszusprechen.
Immer tiefer wateten sie hinein, dorthin, wo sie mit Sicherheit die eigentliche Quelle vermuten konnten, weil sich um dieses Zentrum das Wasser kreisförmig ausbreitete, und Gott war ihnen gnädig - als ihnen das Wasser erst bis zu den Hüften ging, trank Tom schon mit vollen Zügen, obgleich das Wasser noch immer schauderhaft salzig schmeckte.
Er wurde von Nobody gewarnt; das Wasser, hier keiner heißen Quelle entstammend, müsse immer mehr an Salz verlieren, und als sie zuletzt schwammen, konnten sie völlig süßes schlürfen. Sie mochten sich schon in dichter Nähe der Quelle befinden, und süßes Wasser ist ja leichter als salzhaltiges, dieses strebt also immer nach unten.
Vorläufig waren sie gerettet. Aber auf wie lange? Sie konnten doch nicht immer hier herumschwimmen, sich auch nicht in der Nähe dieser Quelle aufhalten, sie mußten weiter, immer weiter! Und dabei hatten sie absolut keine Möglichkeit, etwas Trinkwasser mitzunehmen. Ja, eine Mütze voll, aber die wäre bald leer gewesen, und dann hätte das auch nur die Schnelligkeit der Fahrt gehindert.
Sie erreichten wieder festen Boden, wateten durch und setzten die östliche Fahrt fort, jeder mit seinen eigenen Todesgedanken beschäftigt. Die Spur der Kufen hatten sie schnell wiedergefunden, aber das half ihnen wenig.
Und bald würde die Nacht kommen, wo sie die Verfolgung aufgeben mußten, und inzwischen würde der Schlitten immer weiter segeln.
Noch nicht weit hatten sie sich von dieser Quelle entfernt, als Nobody mitten im schnellen Laufe bremste, bis er stehen blieb, und wortlos deutete er vor sich auf die weiße Fläche, die hier etwas gekörnt war.
Tom, der Richtung der ausgestreckten Hand folgend, sah nichts weiter als eine Furche, etwa einen Meter lang - da aber war noch eine - dort noch eine ...
»Was ist das?«
»Sie wissen es wirklich nicht?!«
»Nein.«
»Betrachten Sie unsere zurückgelassenen Spuren.«
Wahrhaftig, ihre Rollschuhe ließen ganz ebensolche Spuren zurück, nur mehr durch Striche angedeutet, während hier wirkliche Furchen waren, ziemlich tief eingegraben.
»Hier ist schon vor uns ein Rollschuhfahrer gewesen!« rief Tom.
»Sie sagen es.«
»Wer kann das gewesen sein?«
»Kein anderer als ein Teilnehmer an der Ballonfahrt, denn diese waren ebenfalls mit Rollschuhen ausgerüstet.«
Kaum konnte Nobody seine gewaltige Erregung niederkämpfen.
»Sollte der Ballon gelandet sein?« fragte Tom, der schon mehr von der Luftschiffahrt gehört hatte.
»Wahrscheinlicher verunglückt; der Chinese war das erste Opfer, und diese Spuren rühren von einem her, welcher imstande war, sich die Rollschuhe anzuschnallen und davonzufahren.«
»Wie mag es kommen, daß sich die Rollschuhe so tief eingegraben haben? Oder um jede Spur haben sich vielmehr hohe Ränder gebildet.«
»Einfach deshalb, weil zuvor ein Regen niedergegangen war, welcher das Salz etwas aufgelöst, weich gemacht hatte. Beim Trocknen sind dann diese tiefen Spuren zurückgeblieben, welche erst durch den nächsten Regen wieder völlig verwischt werden.«
»Wir müssen ihnen folgen.«
»Gewiß, aber zurück.«
»Weshalb zurück?«
»Gesetzt den Fall, wir holen den Rollschuhläufer wirklich ein und finden ihn noch am Leben, so dürfte er sich in keiner anderen Lage befinden als wir selbst. Hat er aber Wasser bei sich, so kann dies nur aus der Gondel stammen, die dann festliegt, und allen Wasservorrat wird er wohl nicht mitgenommen haben.«
Tom sah die Richtigkeit dieser Erwägung sofort ein, und wenn man annahm, daß auch der Tod des Chinesen mit der Katastrophe des ganzen Ballons zusammenhing, so konnte dieser gar nicht so weit von hier niedergegangen sein.
Nach welcher Richtung der Rollschuhläufer gefahren war, konnte man den Spuren ansehen, wenn diese auch nur aus Strichen bestanden, dorthin, wo er gelaufen, ging die Doppelspur immer etwas auseinander, und so wurde sie zurück verfolgt.
Schon nach einer halben Stunde schnellster Fahrt gewahrte Nobodys Falkenauge in weiter Ferne auf der weißen Fläche einen dunklen Punkt, aber sie brauchten doch noch eine weitere halbe Stunde, ehe sie unterscheiden konnten, daß es tatsächlich der gelandete Ballon war. Da waren sie freilich schon ziemlich nahe; denn die Gondel bildete nur noch einen Trümmerhaufen, halb zugedeckt mit der Seidenhülle des völlig zusammengeklappten Ballons.
Und da sahen sie auch schon die Leichen zweier Männer liegen. Es mußte ein furchtbarer Sturz gewesen sein. Alle Glieder gebrochen, zur Unkenntlichkeit zerschmettert. Und der vierte, der diesen Sturz durchgemacht hatte, konnte noch Rollschuh fahren?
Nun, Nobody hatte einmal gleichzeitig zwei Maurer von einem hohen Gerüst stürzen sehen. Der eine war eine unförmliche Masse gewesen, der andere hatte nur ein Bein gebrochen.
»Wasser!« jubelte Tom.
Auch die Luftschiffer hatten ihren Wasservorrat in kleinen Lederschläuchen mitgenommen, wohl schon in Erwägung, daß sie in einer wasserlosen Gegend landen mußten, wie es ja solche in Amerika noch viele gibt, und selbst ein kleines Faß kann man doch schwer transportieren, außerdem geht es schon bei einem leichten Aufschlag in Trümmer.
Es waren sehr viele solcher kleiner Lederschläuche vorhanden, vielleicht gleich als Ballast mitgenommen, obwohl auch Sand vorhanden war. Nur einige waren durch den Sturz geplatzt, die meisten noch gefüllt, mit Riemen zum Tragen versehen. An Proviant aller Art war kein Mangel.
So glaubte Nobody sich noch einige Tage halten zu können, das Ende des Salzfeldes zu erreichen, zumal, wenn er mit noch mehr solcher heißen Quellen rechnen durfte. Allerdings war wohl nur ein Nobody zur Ertragung solch voraussichtlichen Strapazen fähig, hinwiederum konnte er dann vielleicht auch noch einen zweiten glücklich durchbringen, besitzt doch schon jedes gute Beispiel eine außerordentliche Kraft - wie leider auch jedes schlechte.
So war die Hauptsache eigentlich, daß sie hier Proviant, feste Nahrung gefunden hatten, denn ohne eine Brotrinde in der Tasche hätte ihnen für die lange Fahrt wohl schwerlich das Auffinden von heißen Quellen oder die Mitnahme von Trinkwasser etwas genützt. Jetzt aber, schon im Zentrum des Totenfeldes, waren sie in doppelt besserer, oder nur zur Hälfte ungünstigerer Lage als damals O'Hyr, dem die Durchquerung auf Rollschuhen doch auch schon geglückt war.
Wer war der dem Tode Entgangene? Nobody kannte nur Professor Hilligard, sogar persönlich. Der trug einen langen, schwarzen Vollbart, keiner der beiden Toten hatte einen solchen, beide waren überhaupt blond.
Dann war der mit den langen Schaftstiefeln jedenfalls Mr. Charles O'Hyr, und in den Taschen des anderen fand Nobody außerdem Papiere, daß dies der Aeronaut war, Mr. Trine.
Nobody nahm alle Papiere an sich. Es gehörte Ueberwindung dazu, die Taschen zu untersuchen. Denn die Leichen waren schon stark verwest, hatte die Katastrophe doch bereits vor acht Tagen stattgefunden.
Bevor sich Nobody wie sein Gefährte mit Proviant und Wasserbeuteln belud, untersuchte er nochmals die Hülle des Ballons, um vielleicht die Ursache der Katastrophe zu erkennen. Das war auch sofort der Fall. Der Ballon war an der Seite mitten durch gerissen. Doch war hier eine Naht gewesen, die jeder Ballon hat, er wird ja oft genug oder wohl fast immer mit Absicht zerrissen, nämlich bei der Landung, wenn die Gondel einmal einen günstigen Boden berührt. Ein Zug an der Reißschnur, und die Hülle teilt sich an der Naht, das Gas entweicht sofort, der Ballon klappt zusammen.
Hier aber war die Naht jedenfalls hoch oben in den Lüften unabsichtlich aufgerissen worden, ein entsetzliches Unglück. Oder sollte der Chinese, dem sein ...
Doch Nobody hatte jetzt an anderes zu denken. Die Julisonne stand noch immer hoch am Himmel, und sie mußte benutzt werden.
»Wir folgen den Spuren des Rollschuhläufers.«
»Die führen aber südlich.«
»So hat es wenigstens vorhin geschienen.«
»Und unser Heil ist nur in direkt östlicher Richtung zu suchen.«
»Professor Hilligard ist mein persönlicher Freund gewesen, soll ich den im Stiche lassen?«
»Im Stiche lassen? Bedenken Sie doch, daß er diese Spuren schon vor acht Tagen erzeugt hat!«
Tom Skelly war vollkommen im Recht. Wenn man der Karte trauen durfte, welche wenigstens die Grenzen von Pahutah angab, so befand man sich von der südlichen Grenze mindestens zehn Meilen entfernter als von der östlichen, das bedeutete einen ganzen Tag Unterschied, und von diesem einen Tage konnte Leben und Tod der Rollschuhfahrer abhängen, und außerdem hatte sich die Katastrophe hier ja vor acht Tagen zugetragen, also mußte Hilligard entweder unterdessen schon längst kultiviertes Land erreicht haben, oder er lag irgendwo als Leiche.
Aber mit einer fast unbegreiflichen Hartnäckigkeit beharrte Nobody bei seinem Entschlusse, die südlich führenden Spuren des Professors zu verfolgen. Es kam zwischen den beiden zum wirklichen Streit.
»Nehmen Sie doch Vernunft an, Sir,« bat Tom.
»Das brauchen Sie mir nicht zu sagen, junger Mann,« war die schroffe Antwort. »Ich will mich über das Schicksal meines Freundes vergewissern.«
»Ist er nach Süden gefahren, so hat er sicher seinen Tod gefunden.«
»So will ich ihn auch im Tode nicht im Stiche lassen. Vielleicht hat er für seine Familie etwas Schriftliches hinterlassen.«
»Dann haben wir auch keine Hoffnung mehr, unseren Segelschlitten wiederzubekommen, denn der ist östlich davongefahren.«
»Wer weiß, wo der jetzt schon ist, diese Hoffnung ist nun sowieso vorbei, und daß er davonfuhr, war ja Ihre Schuld,« wurde Nobody jetzt rücksichtslos, wie er es manchmal recht wohl sein konnte, und er wurde es noch mehr, als er hinzusetzte:
»Gut, fahren Sie doch allein nach Osten, Sie haben ja alles, was Sie brauchen. Ich folge den Spuren meines Freundes.«
Nur ein trauriger Blick auf den Sprecher, dann erklärte sich Tom zur Begleitung bereit.
Mit allem Nötigen bepackt, traten sie den Rückweg an, also den Spuren des Professors folgend.
»Es ist sonderbar, daß er sich direkt nach Süden gewandt hat,« meinte Tom, als sie schon jenen Kreuzungspunkt mit ihren eigenen Spuren passiert hatten.
»Nicht wahr? Das denke ich auch,« entgegnete Nobody, nach dieser langen Pause mit ungewöhnlich sanfter Stimme.
»Sollte er nicht gewußt haben, daß er sich dem östlichen Rande viel näher befunden hat?«
»Sicher wußte er das. Er hatte sich doch die Beobachtung des Salzfeldes vom Ballon aus zur Hauptaufgabe gesetzt, da hat er sich ja vorher gründlich über alles orientiert, und Professor Hilligard ist Astronom, selbst wenn er keinen Sextanten bei sich gehabt, hätte er durch andere Beobachtungen der Sternbilder sehr genau zu berechnen vermocht, wo er sich befand.«
Tom schüttelte schwermütig den Kopf.
»Na, nur Mut, junger Freund,« redete Nobody ihn in freundlichstem Tone an, »ich kann Ihnen nämlich die felsenfeste Versicherung geben, daß wir heil und gesund wieder unter Menschen kommen.«
»Das wäre!« staunte Tom. »Woher wollen Sie das so genau wissen?«
»Weil mir eine alte Zigeunerin wahrgesagt hat, daß ich ein hohes Alter erreichen werde.«
»Na, glauben Sie denn wirklich an so etwas?!«
»Ich muß es wohl. Sie prophezeite mir verschiedenes andere, und alles ist buchstäblich in Erfüllung gegangen,« lautete Nobodys Antwort, so tiefernst gegeben, in einem Tone, der jeden Zweifel beseitigen mußte.
Nur noch ein anderer blieb übrig.
»Ja, bei Ihnen mag das vielleicht zutreffen, aber das braucht keine Garantie für mich zu sein.«
»Gerade eben die vollständigste Garantie. Natürlich können Sie von einem Hitzschlag oder von sonst etwas anderem betroffen werden, Sie können unterwegs in meinen Armen sterben, aber sonst - halten Sie mich für einen, der seinen Freund im Stiche läßt? So lange ich noch aufrecht stehen kann, werden auch Sie nicht zurückbleiben.«
Ein ernster Blick zwischen den beiden, und während des Laufens ward Nobodys Hand gedrückt.
Der Leser versteht. Nobody wollte nicht von Edward Scott beginnen, er schob dafür eine alte Zigeunerin ein.
Aber hierin liegt auch noch etwas anderes. Hier lag einmal ein Fall vor, wobei der jesuitische Grundsatz berechtigt ist, daß der Zweck die Mittel heiligt.
So kann selbst einmal der Aberglaube seine guten Dienste tun. Mit einem Wort hatte Nobody seinem Begleiter die kräftigste Hoffnungsfreudigkeit eingeflößt, welche nicht zuschanden werden läßt.
Der Schreiber dieses denkt hierbei noch an etwas anderes, an einen historischen Fall, der aber wenig bekannt sein dürfte. Napoleon I. verdankte seine beispiellosen Siege nicht zum mindesten der Ueberzeugung seiner Truppen, daß er ein Hexenmeister sei, z. B. kugelfest, unverwundbar. Napoleon, obgleich er sich oft dem dichtesten Kugelregen aussetzte, ist niemals verwundet worden.
Nach seinem Tode nun hat man seinen Körper mit Narben bedeckt gefunden, von Kugeln herrührend, man möchte sagen: siebartig durchlöchert. Er ist eben sehr oft von feindlichen Kugeln getroffen worden, aber niemand durfte davon etwas erfahren, nur sein Leibarzt, und nun kann man sich vorstellen, wie oft sich Napoleon wund in sein Zelt geschleppt haben mag, ohne daß er sich etwas merken ließ, und dann gleich wieder weiter, ungebeugt im Sattel sitzend, unverwundbar, und dabei die brennende Wunde am Körper.
Diese beglaubigte Tatsache beweist nicht zum wenigsten, was für ein gewaltiger Kerl das gewesen ist! -
Die Nacht brach an, und Tom sank vor Erschöpfung zusammen. Fast im Laufen war er eingeschlafen. Hatte er doch schon in voriger Nacht keine Ruhe gehabt.
Auch Nobody streckte sich auf das weiße Leichentuch nieder, unbesorgt hätte er sich dem Schlummer überlassen können, aber dieser floh ihn.
Ja, das weiße Leichentuch! Das würde die Salzdecke wohl für sie werden. Nur nicht davon zugedeckt, sondern darauf liegend.
Sie hatten bis zum Abend noch mehrere Quellen gefunden, welche ihre salzige Umgebung zu Schlamm auflösten, aber so weit sie auch gewatet und gar geschwommen waren, trinkbares Wasser war es nicht wieder gewesen.
Entweder hatte es sich immer um eine an sich schon salzige Quelle gehandelt, oder sie war heiß gewesen, und heißes Wasser löst viel mehr Salz auf, und einer solchen durften sie sich auch nicht zu sehr nähern.
Unglaublich war es, was man in dieser Atmosphäre trinken mußte, um sich lebensfähig zu erhalten. Der mitgenommene Wasservorrat ging bereits seinem Ende entgegen.
Und was nun morgen, wenn die Sonne wieder brannte?
Nobody blickte zu den funkelnden Sternen empor, von denen, wie schon häufig erwähnt, immer ein wunderbarer Trost auf ihn herabströmte, wie noch für so manchen anderen Menschen, der an keinen blinden Zufall glaubt, sondern daran, daß diese Sterne von einer Hand gehalten und geleitet werden, welche Hand auch unsere Erde in Schwung gebracht hat, und diese unsere Erde ist noch nicht einmal das im Weltenraume, was ein Haar auf unserem Kopfe, und können schon Menschen ungefähr berechnen, wann die Erde dereinst in die Sonne stürzen muß, so wird der Schöpfer aller Dinge wohl wissen, wann ein Haar von unserem Kopfe fällt: in dem Augenblicke, wenn die bestimmte Zeit gekommen ist, keinen Moment früher oder später.
Nobody, der am Himmel recht zu Hause war, wanderte diesen entlang, bis er am südlichen Horizonte wieder auf der Erde anlangte.
Betroffen hob er den Kopf.
Was war das dort dicht über dem Horizont für ein merkwürdiger Stern? So rot, so flackernd ...
Mit einem Satze war Nobody auf, stürzte sich auf seinen Gefährten und rüttelte ihn, »Auf, auf!! Ein Feuer, ein Feuer!!!«
Schwer war Tom wach zu bekommen, aber als erst einmal das Wort ?ein Feuer!? sein Ohr getroffen hatte, da war er schnell genug auf den Beinen.
Doch dann, als er sich die Augen gerieben und Nobody ihn auf den leuchtenden Punkt aufmerksam gemacht hatte, war seine Enttäuschung groß.
»Das ist doch nichts weiter als ein Stern!«
»So, nichts weiter als ein Stern?« wiederholte Nobody mit fröhlichem Spott. »Na, was für ein Stern soll denn das sein, der so rot glüht?«
»So genau weiß ich freilich nicht Bescheid, aber - aber ...«
»Höchstens könnte es der Mars sein, aber der steht schon dort oben.«
Tom mußte wohl seinem am Himmel bewanderten Freund glauben, und dann, als dieser Glaube feste Wurzeln gefaßt hatte, war sein Jubel natürlich groß.
Er allein hätte das Feuer, das, als von Menschen angezündet, doch wohl Rettung versprach, also gar nicht beachtet, hätte es wohl überhaupt nicht bemerkt. Wie leicht man ein weit entferntes Feuer oder Licht mit einem Stern verwechseln kann, davon weiß besonders jeder Seemann zu erzählen. Auf dem sinkenden Wrack entsteht in der Nacht fortwährend Streit um Sterne, ob das ein Toplicht eines Dampfers ist oder nicht, welchen Streit immer nur der astronomisch gebildete Kapitän oder Steuermann entscheiden kann, ehe man die Raketen umsonst verschießt.
Vergessen war alle Müdigkeit, mit Windeseile ging es vorwärts, und Tom brauchte nicht mehr gezogen zu werden, er hatte das Rollschuhlaufen nun schon gelernt.
Und immer größer ward der Stern, immer mehr begann er zu flackern - ja, das war ein irdisches Feuer, jetzt zweifelte Tom nicht mehr daran.
Wer konnte es angezündet haben?
Nun, vor ihnen her, im Sternenglanze erkennbar, liefen ja immer die Spuren des Rollschuhläufers.
Ja, ein Feuer, ein Feuer!! Mit was konnte der Professor es unterhalten?
Wohl stieg ihnen eine Ahnung auf, sicher am meisten in Tom, aber sie sprachen sie nicht aus, wollten sich keinen leeren Vermutungen hingeben.
Nobody beschrieb plötzlich einen weiten Bogen, nur auf einem Beine balancierend. Er hatte ein Rad verloren, und wie er sich überzeugte, war ein zweites schon sehr locker.
Auf dem Segelschlitten hätte er Reparaturen vornehmen können, hier nicht.
»Nicht aufgehalten!« sagte er, beide Schuhe abschnallend, und er fiel in einen weitausgreifenden Dauerlauf.
»Was sind Sie eigentlich, Mister Knox?« fragte Tom eine Stunde später.
»Von Beruf? Ingenieur, der sich speziell auf Abenteuer gelegt hat.«
»Ich glaubte, professioneller Schnell- und Dauerläufer. Ich hätte nie geglaubt, daß ein Mensch so lange rennen kann. Sie müssen doch gar keine Milz haben.«
»Ist auch gar nicht nötig, wenigstens kennen unsere Aerzte den Zweck der Milz noch nicht.«
Das Feuer ward kleiner, verwandelte sich wieder in einen Stern, bis auch dieser verlosch. Aber Nobody konnte sich nicht irren, jetzt richtete er sich nach den ewigen Sternen, außerdem lief vor ihnen her noch immer die Spur ihres Vorgängers, und als diese nicht mehr zu erkennen war, weil die Sterne erloschen, da stieg vor ihnen etwas Dunkles, Mächtiges auf, allerdings sich nur wenig über die weiße Fläche erhebend.
Und dann rötete sich der östliche Horizont, mit einem Male ward es hell, und ...
»Mein Paradies, mein Paradies!!« jubelte Tom.
Ja, es war eine paradiesische Oase, welche vor ihnen lag, ein grünes Eiland in der Schneewüste, anders ließ es sich ja gar nicht ausdrücken, und wenn Nobody besonders deswegen an die Phantasie eines Sterbenden gedacht hatte, weil jener von Palmen gesprochen, die in Kalifornien doch gar nicht vorkommen, so mußte er jetzt anderen Sinnes werden; denn allerdings waren es Palmen, welche dort im Morgenwinde nickten, sogar schlanke Kokosnußpalmen, Kinder der heißesten Zone.
Daß es in Kalifornien keine Palmen gebe, durfte Nobody überhaupt nicht behaupten. In Gärten sieht man sie überall, sogar Kokospalmen, allerdings keine Früchte tragend. Doch das ist ja künstliche Zucht, und demnach mußte auch hier ...
»Allmächtiger Gott!!« schrie da Tom. »Allgütiger Gott!!«
Ja, er hatte allen Grund, ebenso die Allgüte wie die Allmacht Gottes anzustaunen!«
Dort auf dem nur wenig schrägen Strand, mit grünem Grase und bunten Blumen bedeckt, stand unter einer Palme - der Schlitten!!
Man brauchte sich nicht erst die Augen zu reiben, es war und blieb eine Tatsache, und das war nicht etwa ein anderer, ähnlicher, sondern das war ihr eigener, das erkannten sie auf den ersten Blick.
Und auf dem Gestell krabbelte ein Mensch, ein Mann mit langem, schwarzem Vollbart.
»Professor Hilligard!!« jauchzte Nobody.
Der Gerufene erschrak sichtlich, er hatte die beiden noch nicht gesehen, dann kam er hervor, lief den Strand herab, merkwürdigerweise den linken Arm über den Kopf gelegt, ihn auch nicht herabnehmend, was sich aber Nobody gleich erklären konnte - er hatte ihn sich über den Kopf geschient - und dann standen sie sich gegenüber.
Zwei Menschen!
»Professor Hilligard!« brachte Nobody kaum hervor.
Keinen Tropfen Schweiß hatte ihm der stundenlange, gewaltsame Lauf ausgepreßt, jetzt aber füllten sich seine Augen plötzlich mit Tränen.
»Sie kennen mich?«
»Nobody.«
»Nobody!!« wiederholte der schon ältliche Professor in maßlosem Staunen.
»Nobody!« echote auch Tom, seinen Begleiter mit unbeschreiblichem Gesicht betrachtend. Auch in Orsborn gab es ja Zeitungen.
»Wie kommen Sie hierher?«
»Das ist unser Segelschlitten, der uns durchgebrannt ist.«
Im weichen Grase gelagert, an einer Quelle, deren Naß ihnen nach dem salzigen Getränk wie eisgekühltes Zuckerwasser schmeckte, sprachen sie sich aus, Nobody und der Professor, während Tom seinen unterbrochenen Nachtschlaf fortsetzte.
Es hatte sich alles so abgespielt, wie Nobody geahnt, gewußt hatte. Er konnte nur noch Details erfahren.
Charles O'Hyr war von jeher als ein rüder Patron bekannt gewesen, und La-Tse wollte als getaufter Christ kein Sklave mehr sein, der sich von dem Engländer wegen eines kleinen Versehens eine Ohrfeige gefallen zu lassen brauchte.
So war es zwischen den beiden zu einem Streite gekommen.
»Verdammter Chinamann.«
»Ich nix verdammt, ich getauft, ich guter Christ, ich in den Himmel kommen.«
»Wenn du ein Christ bist, dann brauchst du auch keinen Zopf.«
Schwubb - ehe es die beiden anderen hindern konnten, war die entehrende Schmach geschehen, ob der Chinese nun Heide oder Christ ist - O'Hyr hatte ihm den Zopf abgeschnitten und über Bord geschleudert.
»Wann war das geschehen?«
»Am Tage unseres Aufstieges, am Sonntag, wir sind ja nur einen Tag gefahren.«
»Wissen Sie nicht ungefähr die Zeit?«
»Es war kurz vor Mitternacht.«
Es stimmte. Die Sehergabe Edward Scotts hatte recht behalten. Das Schicksal hatte sich ihm in Gestalt des chinesischen Zopfes doch noch am 14. Juli genaht.
»Es war nichts mehr gut zu machen,« fuhr der Professor fort. »O'Hyr riß den Revolver heraus, aber er brauchte ihn nicht, La-Tse ergab sich in sein entehrendes Schicksal. Ich traute ihm nicht recht, wie er niedergekauert, das Gesicht in den Händen vergraben, dasaß, aber es widerstand mir auch, ihn nun auch noch zu binden, und O'Hyr, dem ich es ordentlich sagte, sprach nur seine Verachtung gegen alle Chinesen aus. Ach, hätte ich es doch getan! Zwei Menschenleben wären erhalten geblieben - von dem Chinesen gar nicht zu sprechen. Und dennoch, dann wäre mir auch wieder diese wunderbare Entdeckung entgangen ...«
»Bitte, erzählen Sie erst von der Katastrophe selbst.«
»Es war zwei Stunden nach Mitternacht. Ich hatte Wache. Da plötzlich war mir, als ob ich ... doch nein, ich soll ja erst bei der Katastrophe bleiben. Da plötzlich springt La-Tse auf, und ehe ich noch ahne, was er will, hat er schon die Reißleine in der Hand, ein kräftiger Zug, über mir ein Ton wie von zerreißendem Seidenpapier ...«
Der Erzähler schüttelte sich vor Grauen.
»Hören Sie, ich kann gar nicht beschreiben, was ich in diesem Augenblick durchmachte. Im nächsten Moment hatte sich La-Tse über Bord geschwungen, uns demselben Schicksal überlassend, nur noch innerhalb der Gondel. Doch der Sturz blieb aus. Wieviele Sekunden oder Minuten noch vergingen, weiß ich nicht. Ich war erstarrt, keiner Bewegung, keines Lautes fähig. In meinen Ohren brausten die Donner der Ewigkeit. So wurde der Ballon wohl noch einige Zeit getrieben, von sehr starkem, westlichem Wind. Und dann noch ein Reißen, und dann verlor ich den Boden unter den Füßen. Jetzt geht es hinab!! ... Als ich wieder zu mir kam, schien schon die Mittagsonne, und ich lag weich gebettet in der Ballonhülle - neben mir zerschmettert meine beiden Gefährten. Ich selbst hatte mir nur den linken Arm gebrochen - und das bei einem Sturze aus 2000 Meter Höhe - Gott, du bist unfaßbar und liebst die Wunder!«
»Ja, so etwas zu hören oder gar selbst zu erleben, ist ebenso schrecklich wie wunderbar schön. Was nun weiter?«
»Da muß ich erst wieder auf die Entdeckung zurückkommen, die ich kurz vor dem Sturze in den Lüften gemacht hatte, wobei Sie mich vorhin unterbrachen. Ich sah im Süden unter mir ein Licht, ein Feuer ...«
»Was, auch Sie sahen schon ein Feuer?!« rief Nobody in hellem Staunen.
»Allerdings. Diese Oase hier ist nämlich schon bewohnt.«
Nobody beherrschte sich.
»Fahren Sie in Ihrer Erzählung fort.«
»Ehe La-Tse aufsprang, hatte ich meine Berechnung schon gemacht, so weit dies bei wolkenbedecktem Himmel - es regnete auch heftig - möglich war. Immerhin wußte ich ziemlich genau, wo ich das Feuer zu suchen hatte, auch noch, als ich mich am Boden wiederfand. Ich schiente meinen Arm über den Kopf, so gut es ging, mußte mich auf die Rollschuhe verlassen, die wir auf O'Hyrs Anraten mitgenommen hatten, und auf denen ich so ziemlich eingeübt war. Mit Proviant versehen, so viel ich tragen konnte, machte ich mich auf die Tour nach Süden. Ich habe viel ausgestanden. Der Boden war noch ganz weich. In der Nacht sah ich das Feuer wieder, ziemlich nahe, das gab mir neue Kraft. Als der Morgen graute, sah ich die grüne Oase endlich vor mir liegen. Nun bin ich schon eine Woche hier, vergebens mein Hirn marternd, wie ich wieder von hier wegkönnte, denn eine Strecke von fast hundert englischen Meilen zu durchlaufen, dafür genügend Proviant zu tragen, Wasser, das ist für mich alten Mann zu viel. Ich verließ mich aufs Gebet. Und heute morgen, als ich wieder über die endlose Salzwüste spähen wollte, sah ich da den Segelschlitten liegen. Ich kann nur sagen, daß ich auf die Knie gefallen bin und Gott gedankt habe. Er hatte meine Gebete erhört.«
Es sei hier eine Einschaltung gestattet.
Willst du, geneigter Leser, einen Beweis haben, daß es einen Gott giebt?
Es soll hier einmal ein Beweis geführt werden, ein ganz merkwürdiger, für die meisten Menschen wohl nicht überzeugend, wohl aber für den von handgreiflicher Richtigkeit, welcher der Sache nähertritt, ihren Kern begreift.
Es gibt wohl keinen Menschen, der tiefer in die Geheimnisse des Weltalls und der Schöpfung dringt, als den Astronomen. Die Astronomie ist die allerrealste Wissenschaft, sie erkennt und bestätigt das Vorhandensein von unumstößlichen Naturgesetzen am allergründlichsten. Heute erspäht ein Astronom durch sein Riesenfernrohr einen neuen Planeten, er gibt ihm als Himmelskörper etwa die Nummer 15623 h, alle Sternwarten der Welt erhalten sofort telegraphische Nachricht, und innerhalb von drei Tagen haben alle Astronomen der Welt den Umlauf dieses Planeten um unsere Sonne oder um eine andere berechnet, und zwar mit minutiöser Genauigkeit, sie kennen seine Größe, sogar sein Gewicht, ja, wenn die Entdeckung etwa am 1. März erfolgt ist, so wird schon bestimmt, daß dieser Stern am 5. Oktober seine stärkste Leuchtkraft haben wird, und daß er am 10. November hinter dem Jupiter verschwindet!
Kann man von einer exakten Forschung mehr verlangen? Da hat der liebe Gott nicht hineinzureden, das wird nach unabänderlichen Gesetzen berechnet!
Nun, gerade diese Astronomen sind samt und sonders die gottesgläubigsten Männer, und sie werden es um so mehr, je tiefer sie in die Geheimnisse des Weltalls eindringen und die unabänderlichen Naturgesetze anerkennen!
Der Schreiber dieses könnte ein Dutzend Namen der hervorragendsten deutschen Astronomen anführen, bei denen dies zutrifft. Sollen Namen genannt werden? Dann wenigstens zwei weltbekannte: Professor Kirchhoff von der Berliner Sternwarte und Professor Hilty in Zürich.
Und wenn solche Männer von der Regentschaft und von der Liebe Gottes sprechen, klingt das anders, als wenn es so ein Tausendtalerpastor von der Kanzel predigt. Da wird jedes Wort zur himmlischen Sphärenmusik und ist dennoch ein unparierbarer Keulenhieb.
Uebrigens trifft dasselbe auch bei sehr vielen Aerzten zu - allerdings nicht bei solchen Pflasterschmierern und Medizinmännchen, die sich mühsam durchs Examen gepaukt haben, mit mehr Schmissen im Gesicht als Witz im Kopfe - sondern hervorragende Kapazitäten sind gemeint, besonders Anatomen. Auch sie sind als Studenten scharfsinnige Freigeister gewesen - und je gründlicher sie dann den menschlichen Körper sezieren, desto höher geht ihnen die Erkenntnis auf, daß dies alles nur das wohldurchdachte Werk eines selbstdenkenden Schöpfers sein kann, zu dessen Preis und Ehre fernerhin ihr Herz und Mund überfließt. Auch hierzu könnten viele Namen genannt werden.
Das ist ein Beweis Gottes. Wem er nicht genügt, braucht ihn nicht anzunehmen. -
Es sei auch gleich erwähnt, wie der Schlitten hierhergelangen konnte. Nobody hatte sich davon bereits überzeugt. Der Riemen, mit dem die Steuerstange festgebunden, hatte sich immer mehr gelockert, dadurch verschob sich die Steuerstange selbst immer mehr, und so war der Schlitten nicht geradeaus gefahren, sondern hatte, dabei von einem mehr nördlichen Winde erfaßt, einen großen Bogen beschrieben, bis er endlich hier die schräge Böschung hinauffahren sollte, wo er festsitzen blieb. Bei alledem war noch eine andere Fügung des Himmels.
Nobody wußte eigentlich selbst nicht, weshalb er so hartnäckig darauf bestanden hatte, den Spuren des Professors zu folgen. Tom hatte, wie schon erwähnt, ja ganz recht gehabt, entweder hatte dieser das Salzfeld schon längst hinter sich, oder man konnte ihn nur als Leiche finden. Und daß Nobody dann wenigstens hinterlassene Papiere mitnehmen wollte, das war kein stichhaltiger Grund, deshalb die Richtung zu ändern und in einen ziemlich sicheren Tod zu gehen.
Mag man es eine innere Stimme nennen, welche ihn veranlaßt hatte, den Spuren des Professors zu folgen!
Ebenso aber auch war noch vieles andere eine Fügung des Himmels. Hätten sie sich noch länger bei dem Ballon aufgehalten, vielleicht nur noch wenige Minuten länger, so hätten sie den Segelschlitten gar nicht mehr hier vorgefunden; denn der Professor war soeben dabeigewesen, ihn hinabzuschieben, zu besteigen und davonzufahren. Und hätte auch Nobody geschlafen, anstatt die Sterne zu betrachten, so hätte er das Feuer nicht bemerkt, welches sie zum sofortigen und schnellsten Weitermarsch antrieb. Und der Professor hatte gerade während dieser Nacht einmal ein außergewöhnlich großes Feuer unterhalten.
»So stammte dieses Feuer von Ihnen her?«
»Gewiß.«
»Und das Feuer, welches Sie gesehen haben?«
»Das war von einer anderen Hand angezündet und unterhalten worden.«
»Von einer anderen? Von welcher?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie ist das möglich?«
»Diese Oase hat einen Bewohner, aber das erkenne ich nur aus einigen Spuren, er selbst ist und bleibt unsichtbar.«
Seine weiteren Erklärungen wollte der Professor gleich handgreiflich erläutern. Tom war unterdessen erwacht und schloß sich den beiden bei der Besichtigung der Oase, die man eher eine Insel nennen konnte, an.
Der Professor hatte ihre Größe bereits berechnet. Sie betrug etwas über drei Quadratkilometer, war von Norden nach Süden langgestreckt, so daß die von Norden Kommenden sie für viel kleiner halten mußten, weil sie nur die schmale Seite erblickten.
Nur wenig über die weiße Salzfläche sich erhebend, mit ganz sanftem Anstieg, war sie mehr nach der Mitte zu mit ansehnlichen Basaltquadern bedeckt, zum Teil oben sehr spitz - - einfach in dem früheren Meere eine Klippenformation.
War auch diese Insel einst mit einer Salzkruste bedeckt gewesen, so hatte doch der Regen im Laufe der Zeit diese vollständig abgespült, das durch Verwitterung entstandene Erdreich ausgewaschen, ausgelaugt.
Keine einzige salzige Quelle war vorhanden, dagegen mehrere süße, darunter auch einige heiße. Wo sie sich auf die Salzfläche ergossen, verwandelten sie natürlich alles in Schlamm. Sogar ein kleiner See war vorhanden.
Die Oase hatte einen äußerst fruchtbaren Boden. Die Flora war eine kalifornische, wozu noch Palmenarten kamen, sogar Kokospalmen.
Von vierfüßigen Tieren war nur die Antilope vertreten, aber auch massenhaft, man sah ganze Herden weiden. Vögel aller Art. Von Insekten nur solche, welche fliegen können. Reptilien fehlten gänzlich. Der See war äußerst fischreich.
So weit die Schilderung des Professors, von deren Wahrheit sich Nobody mit eigenen Augen überzeugen konnte. Und er hatte sich sofort sein eigene Urteil gebildet, worin ihm der Professor der Naturwissenschaft völlig beistimmte.
Man konnte den unsichtbaren Bewohner dieses Eilandes im erstarrten Salzmeer und den Gedanken, daß hier eine künstliche Zucht vorläge, vollkommen aus dem Spiele lassen.
Die Heimat der Vögel ist unbeschränkt, wenn ihnen nur das Klima zusagt; überallhin tragen sie unverdaute Samenkörner, ein Antilopenpaar konnte vor einem Raubtier in die Salzwüste geflohen sein, bis es hier frisches Wasser witterte, es brauchte auch nur eine trächtige Antilope gewesen zu sein, auch Insekten, die sich durch Flügelschlag über den Boden heben, können von einem Sturm überall hingeführt werden. Laufkäfer hätten diese natürliche Erklärung noch lange nicht illusorisch gemacht, aber einen solchen hatte der Professor hier wirklich noch nicht entdeckt, nicht einmal einen Grashüpfer, glücklicherweise auch keine Heuschrecke, auch keinen Schmetterling, dagegen fehlte es nicht an Fliegen und Mücken aller Art, deren nicht gerade angenehme Gesellschaft durch das Vorhandensein der honigtragenden Biene ausgeglichen wurde.
Auch das Vorhandensein von Palmen, speziell der Kokospalme, war auf natürliche Weise zu erklären.
Die Kokospalme braucht vor allen Dingen Salz. Deshalb gedeiht sie am besten oder überhaupt nur an der Meeresküste, am salzdurchtränkten Strande. Soll sie im Innern kultiviert werden, so wird das Bodenloch zur Hälfte mit Kochsalz ausgefüllt, es muß mit Salzwasser gegossen werden. Doch wird niemals etwas Rechtes draus. Man zieht nur den Keim, der wie ein Elefantenzahn aussieht und wie Zuckererbse schmeckt.
Nun, an Salz fehlte es hier ja nicht. Und wie war die Kokospalme sonst hierhergekommen? Die Kokosnuß kann jahrelang im Meere schwimmen, sie bleibt keimfähig, keimt aber seltsamerweise nicht im Wasser, es gehört Bodenwärme dazu. Faßt sie irgendwo festen Fuß, im elendesten Korallenschutt, dann platzt die Schale.
So konnte eine Kokosnuß dereinst auf dem Wasserweg auch hierhergelangt sein, sie machte das jedenfalls sehr schnelle Austrocknen des Meeres mit durch und fand hier so den allergünstigsten Boden. Nun allerdings trägt die in Kalifornien künstlich gezüchtete Kokospalme keine Früchte, während hier die Bäume von solchen strotzten. Aber hier über der ewig weißen Salzfläche herrschte jedenfalls ein ganz besonderes Klima, hier mußten die Sonnenstrahlen ganz anders wirken, das hatte der Professor Hilligard ja eben erforschen wollen.
»Und die Fische im See?«
»Sind ausschließlich Süßwasserfische, wie sie in allen nordamerikanischen und speziell kalifornischen Seen und Flüssen vorkommen.«
»Keine selbständige Art?«
»Ich wenigstens habe noch keine erblickt.«
»Keine Aehnlichkeit mit einem Meerfisch, der im Laufe der Jahrhunderte die Prozedur der Umwandlung durchgemacht hat?«
»Auch davon nichts gemerkt.«
Weiter sprachen die beiden nicht darüber. Hier lag eben ein Rätsel vor - dasselbe Rätsel, wie bei den Bergseen. Wie sind in diese dieselben Fische gekommen, welche man überall in den Tiefebenen findet? Haben alle Fische ihren Ursprung in Bergseen genommen? Es gibt aber auch genug solche, welche weder Zu- noch Abfluß haben. Ein Rätsel, welches der Menschengeist nie lösen wird. Schöpfung, fertig.
Nobody stand vor einem abgeplatteten Felsblock, auf dem sich Spuren eines ehemaligen Feuers befanden, auch noch verkohlte Aeste lagen.
»Als ich das erstemal hierherkam, vor acht Tagen, lag auch noch Asche darauf, und sie war an jenem Morgen sogar noch warm.«
»Und der, welcher dieses Feuer angezündet hatte?«
»Ist und bleibt unsichtbar.«
»Keine Spuren?«
»Ja. Okulierte und gepfropfte Aepfel- und andere Fruchtbäume.«
»Sonst keine weiteren Spuren?«
»Gar nichts weiter.«
»Kein Gärtchen?«
»Nein.«
»Haben Sie schon die ganze Oase durchforscht?«
»Ich glaube wohl.«
»Keine Fußspuren?«
»Nein.«
»Nichts, daß Wild ausgeweidet oder Vögel gerupft worden sind?«
»Gar nichts.«
»Wie benehmen sich die Tiere Ihnen gegenüber?«
»Aeußerst zutraulich.«
Hierin aber übertrieb der Professor, wenn auch ohne Absicht. Wir werden dem später noch etwas hinzuzufügen haben.
»Hat das Feuer hier noch einmal gebrannt?«
»Keine Nacht mehr, hier nicht und anderswo nicht.«
»Sie meinen, es hält sich hier jemand versteckt?«
»Sicher doch, ein Mensch oder mehrere, das beweist doch eben dieses Feuer, und das Okulieren von Obstbäumen läßt doch schon auf einige Kultur schließen.«
»Ja, und schließlich nicht minder, daß er sich nicht vom Fleisch der Tiere nährt; denn findet man das auch bei Südseeinsulanern, so kommt das eben daher, weil diese keine Tiere haben. Versuchten Sie, den Menschen aus seinem Versteck hervorzulocken?«
»Ich habe die ersten Tage wiederholt mit lauter Stimme gerufen, mich verschiedener Sprachen bedienend, meine Friedfertigkeit versichernd, aber nichts kam zum Vorschein.«
»Hat er sich Ihnen nicht bei nächtlicher Weile oder sonst heimlich zu nähern versucht?«
»Dann hätte ich ihn doch erblickt oder Spuren von ihm finden müssen, und ich sagte Ihnen schon, daß alles dies nicht der Fall ist.«
Nobody hatte seine Fragen erschöpft. Jetzt blickte er sich mit eigenen Augen um. Der Detektiv erwachte in ihm.
»Dieser Feuerherd macht einen ganz altarähnlichen Eindruck.«
So war es auch. Das Ganze erinnerte recht an ein altes Druidenheiligtum. Ringsherum im Kreise die spitzen Felsblöcke, allerdings nicht aufgestellt, sondern mit dem Boden verwachsen, und in der Mitte der Altar, auf dem geopfert wurde, Tiere und wohl auch Menschen.
»Dieser Altarstein ist mit einem Werkzeug behauen worden.«
»Woran merken Sie das?«
»Nun, eben aus den regelmäßigen Fugen hier.«
Obgleich der Professor durchaus nicht kurzsichtig war, mußte Nobody ihn erst auf die Streifen aufmerksam machen, welche seiner Behauptung nach nur von einem Instrumente herrühren könnten.
»Und hier vor dem Altar sind Eindrücke, welche von Knien herrühren dürften.«
Zwei ganz flache Vertiefungen befanden sich allerdings in dem Basaltboden, der hier keine Vegetation zeigte; aber es gehörte viel Phantasie dazu, um gleich an einen knienden Menschen zu denken.
»Na, der muß aber lange hier gekniet haben,« lächelte denn auch der Professor, »ehe er diesen harten Basalt mit seinen Knien so aushöhlen konnte.«
»Und warum nicht? Von den Wassertropfen, die einen Stein höhlen, brauchen wir gar nicht zu sprechen. Ich habe vor Heiligtümern noch ganz andere Spuren im härtesten Stein gesehen, nicht von vielen Betern im Laufe der Jahrhunderte, sondern nur von einem Büßer, und das nur im Alter seines Lebens.«
Der Professor wurde gleich wieder sehr ernst.
»Ich bitte um Entschuldigung, Sie haben recht. Auch ich habe schon einmal dasselbe beobachtet.«
»Tom,« wandte sich Nobody an diesen, »hat denn jener Mann, der sich hier zwei Jahre aufgehalten haben will, woran ich jetzt auch nicht mehr zweifeln kann, nichts davon gesagt, daß er noch einen Begleiter gehabt hat, der hier zurückgeblieben ist, oder daß er in dieser Oase schon einen Bewohner vorgefunden hat?«
»Nein, kein einziges Wort.«
Zunächst mußte Nobody dem Professor einiges mitteilen, wie er zu dieser Frage kam, und Mr. Hilligards Staunen war kein geringes.
»Hm,« brummte Nobody dann aber gleich, »meine vorige Ansicht war doch etwas voreilig.«
»Wieso?«
»Ich sagte doch: woran ich jetzt auch nicht mehr zweifeln kann - nämlich, daß jener unbekannte Mann wirklich hier gewesen ist.«
»Das ist auch offenbar der Fall, er hat doch die Oase ganz fachgemäß beschrieben.«
»Das kann er alles erst von einem anderen gehört haben, und dieser braucht noch immer nicht selbst hier gewesen zu sein, der hat es auch erst wieder von einem dritten.«
»Da haben Sie allerdings recht. Der sterbende Mann mag in seinen Todesphantasien das Gehörte für selbsterlebte Wirklichkeit gehalten haben.«
»Aber,« mischte sich Tom ein, allerdings schon etwas kleinlaut, »er sagte doch, die Expedition sei vor fünf Jahren aufgebrochen, ich fand ihn vor drei Jahren - irgendwo muß er doch in den zwei Jahren gewesen sein.«
»Jawohl, irgendwo - nur vielleicht nicht gerade hier. Und was weiß denn ein der Ewigkeit nahegerückter Mensch von genauen Zeitbestimmungen! Doch lassen wir das überhaupt ganz, wir streiten uns ja um des Kaisers Bart. Gehen wir lieber zur Praxis über.«
Nobody kniete nieder, daß seine Knie gerade in jene Höhlungen zu liegen kamen.
»Gerade die richtige Lage, um ein inbrünstiges Gebet zu verrichten.«
Er blickte hinter sich, erhob sich langsam, daß seine Zehenspitzen genau auf derselben Stelle blieben, wo sie beim Knien gelegen hatten, bückte sich, legte seinen Daumen vor die Fußzehen und kniete nochmals nieder, jetzt aber seitwärts, beugte sein Gesicht tief auf den Boden herab.
»Jawohl, auch seine Zehen haben Abdrücke hinterlassen - in dem harten Stein freilich nur sehr, sehr schwache - immerhin ist es ein Zeichen, daß der Betreffende schon lange Jahre hier wohnen muß - und da seine Zehen anderthalb Zentimeter hinter meinen liegen, muß er, wenn er sonst normal gebaut ist, ein ansehnlich großer Mensch sein.«
Es gehörte eine fast übergroße Vertrauensseligkeit dazu, um glauben zu können, daß der Detektiv da in dem glatten Basalt wirklich etwas sah, wie die Spuren der Zehen.
Der Professor und Tom erblickten wenigstens nichts, sie konnten die Lupe zu Hilfe nehmen.
Aller sie zweifelten nicht an den Worten dieses Mannes.
»Trägt er Schuhzeug oder sind es nackte Zehen?« fragte der Professor sogar.
»Das freilich kann ich nicht unterscheiden,« lachte Nobody. »Es sind nur kleine Risse, der sonst blanke Steinboden ist etwas zerkratzt, wo die Zehen der Füße immer liegen.«
»Da sieht es ja fast aus, als ob wir einen Feueranbeter vor uns hätten.«
»Wohl möglich,« war die Antwort, obgleich diese durchaus nicht jener Ansicht zuzustimmen brauchte. »Nun, untersuchen wir weiter mit vorurteilslosen Augen.«
Aber zu Weiterem half auch Nobodys Falkenblick nichts. Er konnte nur konstatieren, daß die Okulationen an den Obstbäumen nach allen Regeln der Gärtnerkunst vorgenommen worden waren. Es waren - wir wollen nur bei den Aepfeln bleiben, welche auch in Kalifornien zur Hauptfrucht geworden sind, dort eine außerordentliche Kultur erreicht haben - keine besondere Sorten, nur waren die besseren und wohl auch größeren auf unansehnlichere, aber gesündere Wildlinge gepfropft worden. Soviel Nobody davon verstand, konnten einige schon vor vielen, vielen Jahren vorgenommen worden sein. Andere zeigten ganz frische Schnitte, die Stellen waren sogar noch mit Kokosbast umwickelt.
Das war aber auch alles, was Nobody entdeckte. Sonst kein Axthieb, kein eingeschlagener Pflock, nichts getan, um eine Kokospalme zu erklettern, gar nichts. Und wenn der Einsiedler innerhalb der acht Tage sein Versteck nicht wieder verlassen hatte, dann konnte auch nichts von früheren Spuren zu sehen sein. In der vorigen Woche hatte es mehrmals geregnet, das üppig wuchernde Gras hatte sich längst schon wieder aufgerichtet.
Von der Zutraulichkeit der Gazellen und Vögel, von der der Professor gesprochen, war gar keine Rede, und dennoch hatte er schließlich recht.
Ein berühmter englischer Reiseschriftsteller hatte einst mit seinen Werken großen Erfolg, und es war auch gar nichts vorhanden, weshalb man an der Wahrheit seiner Berichte hätte zweifeln sollen. Nun aber kommt er einmal in Afrika nach einer Oase, die vor ihm offenbar noch kein Mensch betreten hat; denn die Vöglein, mit denen sie hauptsächlich belebt ist, setzen sich ihm gleich vertraulich auf die Schulter. Er hat natürlich kein Vöglein gefangen - wohl aber der Herr Weltreisende sich selbst!
Das ist einfach der pure Schwindel! Es sind noch andere Reisende in Gegenden gekommen, die vor ihnen kein Mensch betreten hat, auch Oasen, Inseln, und die wissen etwas ganz anderes zu erzählen.
Alles, was Beine oder Flügel hat, reißt beim Anblick des ersten Menschen schleunigst aus.
Sollen sie auch nicht, wenn so ein langes, dürres Ungeheuer auf zwei Beinen anspaziert kommt? Es sei nur von ?Vierbeinigen? gesprochen. Sandflöhe und dergleichen, ja, die sind wohl gleich zutraulich!
Diese Scheu der Tiere vor dem Menschen ist ja auch nur zu begreiflich, wie schon oben angedeutet. Und diese angeborene Scheu legt sich auch niemals, wenigstens nicht, solange die Tiere frei sind, was sogar vom stärksten Raubtier gilt, vom Löwen und Tiger. Auch diese fliehen den Menschen so lange, bis sie sich ihrer Ueberlegenheit bewußt werden.
Doch wir sprechen hier von harmlosen Tieren, und bei diesen ist dies ohne Ausnahme der Fall. Denn im Hirschpark oder im zoologischen Garten ist das betreffende Tier doch nicht etwa in seinem natürlichen Element, so wenig wie der Kanarienvogel im Bauer, und mag dieser, manchmal herausgelassen, in der Stube gegen den Menschen auch noch so zutraulich sein, ihm auf die Schulter hüpfen, ihn an den Haaren zupfen - sobald er ein offenes Fenster findet, ist er futsch, und da hilft kein Locken mehr, viel eher die Gartenspritze.
Die Gazellen hier benahmen sich ganz, wie sie mußten. Sie flohen beim Anblick der fremden Menschen, blieben erst in sicherer Entfernung stehen, äugten vorsichtig, und dann allerdings, nach einigen Stunden, nachdem sie erkannt hatten, daß sie die fremden Menschen nicht zu fürchten brauchten, ließen sie diese ziemlich dicht herankommen, grasten ruhig weiter, freilich immer noch zur Flucht bereit; ein Anfassen gab es nicht etwa, und ähnlich benahmen sich auch die Vögel, eben nur ihrer Natur entsprechend.
Es wurde immer das ?fremde? Menschen betont; denn an einen anderen Menschen mußten sie doch schon gewöhnt sein, und aus alledem wußte Nobody einen sicheren Schluß zu ziehen.
»Wir haben es mit einem harmlosen Menschen zu tun, der sich sogar auf eine ziemlich hohe sittliche Stufe geschwungen haben muß. Denn einen Wilden, der von Tieren umgeben ist, und deren Fleisch nicht genießt, gibt es nicht. Der Fleischgenuß ist ein natürlicher, ein instinktiver. Dieser Mensch hier aber jagt die Tiere nicht, tötet auch keins, um sich ihres Felles oder Balges oder der Federn zu bedienen, er hat sie aber auch nicht direkt gezähmt, obschon sie ihm aus der Hand fressen mögen. Mensch und Tier leben eben in harmonischer Gemeinschaft nebeneinander, wie es im Paradiese gewesen sein mag, und es läßt sich schwer vorstellen, symbolisch gesprochen, daß sich Adam eine Kuh gehalten hat, um deren Milch zu genießen. Für das Paradies wäre das schon Egoismus.«
Wir werden aber sehen, daß Nobodys Schluß nicht so ganz ?sicher? war, wenigstens nicht in gewisser Hinsicht. Es wäre noch ein anderer Fall zu bedenken gewesen.
Das Wort ?Paradies? hatte in Tom einen besonderen Gedanken ausgelöst. Er hatte schon immer ein recht betrübtes Gesicht gemacht.
»Ach, das wäre alles so schön hier gewesen,« seufzte er; »aber nun kann ich mich schon gar nicht für den Besitzer dieser Oase halten. Professor Hilligard hat größere Ansprüche darauf als ich, und dann müßte ich doch noch immer mit dem schon vorhandenen Bewohner ...«
Ein warnendes Zischen Nobodys unterbrach ihn.
»Nun,« sagte Nobody mit auffallend lauter Stimme, »einige Zeit müssen wir wohl noch dazu verwenden, nach dem Versteck des Insulaners zu suchen, daß wir ihn, da er sich doch jedenfalls vor fremden Menschen fürchtet, von unserer Harmlosigkeit überzeugen; vielleicht hat er doch Bedürfnisse, die wir ihm später befriedigen können. Das ist unsere Nächstenpflicht. Lange aber können wir uns hier nicht aufhalten. Sobald der Wind günstig ist, treten wir unsere Rückreise an.«
Nobody hatte seine Rede mit einem Augenblinzeln begleitet, und die beiden anderen verstanden ihn sofort. Es handelte sich um eine List, die wohl nur darin bestehen konnte, daß man die Oase auf dem Segelschlitten scheinbar verließ oder in Wirklichkeit, aber scheinbar für immer, um dann heimlich zurückzukehren, wenn sich der Einsiedler wieder in Sicherheit wähnte, jedenfalls bei Nacht, in der er doch früher immer das Feuer unterhalten hatte.
Aber man befand sich noch immer zwischen den Basaltblöcken, und wenn der Eremit ein Versteck hatte, so war es doch jedenfalls hier, man konnte von ihm belauscht werden.
Als sie dann einmal an das Salzfeld hinabgegangen waren, wo sie ihre weiteste Umgebung überblicken konnten, sprach Nobody dies auch aus.
»So gegen Abend fahren wir fort, entfernen uns außer Gesichtsweite, warten bis zur Nacht, und auch wenn kein Feuer aufflammen sollte, kehren wir doch zurück, um den Eremiten zu überraschen, der ganz offenbar ein Nachtleben führt, mindestens immer sein Feuer nährt. Wenn ich nur wüßte, womit er dies tut!«
Ja, das war auch ein großes Rätsel. Es gab hier keinen einzigen Baumstumpf. Fand Nobody trockene Büsche und Gestrüpp, von dem abgebrochen worden war, so konnte der Professor immer mit Bestimmtheit behaupten, daß dies seine eigene Hand gewesen war, als er Brennholz gesammelt hatte. Er selbst hatte während der Nacht immer ein Feuer unterhalten, auf welches er grüne, starken Rauch entwickelnde Aeste und Blätter legte, um sich der zahlreichen Stechmücken zu erwehren, welche diese Insel im erstarrten Salzmeer nicht gerade zum Paradiese machten.
Dieses Feuer aber hatte er nie auf jenem Altar angezündet, wegen dessen Höhe es gar nicht viel Zweck gehabt hätte, sondern dort am Boden.
»Diese verkohlten Aestchen lagen schon bei Ihrer Ankunft auf dem Brandaltar?«
Der Professor bejahte.
»Und außerdem noch ein großer Haufen Asche, sogar noch heiß. Sie ist im Laufe der Tage vom Regen weggespült und vom Winde weggeblasen worden.«
»Was für Asche war es?«
»Ja, Herr, da fragen Sie mich zu viel ...«
»Was für eine Farbe hatte sie?«
»Ein graue.«
»War sie ganz dünn, staubähnlich?«
»Jawohl!«
»Und Sie haben von diesem Altar gar nichts entfernt?«
»Gar nichts. Ich habe die Asche einmal berührt, überzeugte mich, daß sie noch heiß war, sonst nichts weiter.«
»So haben Regen und Wind auf dem Brandherd nichts weiter zurückgelassen, als diese wenigen verkohlten Aestchen? Hm, sehr merkwürdig!«
»Wieso finden Sie das sehr merkwürdig, wenn ich fragen darf?«
»Haben Sie noch an keinem Lagerfeuer gesessen, Herr Professor?«
»Nein, das allerdings noch nicht, und ich habe solche Brandherde auch noch nicht näher ins Auge gefaßt; da werden Sie Indianerhäuptling wohl mehr Erfahrung haben als ich Sternseher, obgleich auch mir jetzt zum Bewußtsein kommt, daß eine Stelle, wo ein Feuer mit Holz unterhalten wird, eigentlich ganz anders aussehen müßte.«
»Stimmt! Im Freien verbrennt Holz doch nur sehr mangelhaft, diese paar Aestchen hier haben gar nichts zu sagen, und gerade auf einem kalten Steine bleiben sehr viel unverbrannte Rückstände.«
»Könnte er nicht die Schalen von Kokosnüssen gefeuert haben?« meinte Tom.
Hieran hatte auch Nobody schon gedacht, überhaupt an die Ernährungsfrage des Robinsons auf dieser Salzinsel. Von Aepfeln kann sich der Mensch doch nicht dauernd ernähren, noch weniger von den Früchten des Erdbeerbaumes und anderen, welche Kalifornien in saftiger Fülle erzeugt und welche hier alle vorkamen. Wohl aber genügt die sehr eiweißreiche und fetthaltige Kokosnuß vollständig zur Ernährung des Menschen - freilich darf er kein Gourmet sein, der Abwechslung liebt.
Die Vermutung, daß der Einsiedler die Schalen der Nüsse verbrannte, lag sehr nahe. Aufgebrochene Kokosnüsse lagen unter den Palmen in Menge herum, es war gerade Reifezeit, jede Minute fielen welche krachend herab, zum Teil aufspringend.
Dagegen war an Schalen kein Ueberfluß, und wenn man nicht annehmen wollte, daß der Eremit die Schalen der verzehrten Nüsse aus irgendeinem Grunde sorgsam versteckte, so mußte er sie wohl verbrennen.
Dem widersprach aber die Nobody bekannte Tatsache, daß Kokosschalen wohl im Kesselfeuer große Heizkraft haben, aber sonst herzlich schlecht brennen. Dann müßten hier noch ganz andere Rückstände geblieben sein.
Prüfend blickte sich Nobody am Boden um, bückte sich und hob etwas aus, was dicht an einem der Riffblöcke in einer Ritze gelegen hatte.
Es war ein kleines, schwarzes, glänzendes Splitterchen.
»Wissen Sie, was das ist, Herr Professor?«
»Das dürfte ... Steinkohle sein.«
»Ist es auch. Dieser Einsiedler unterhält das Feuer mit Steinkohlen.«
Dadurch wurde das Rätsel nur noch größer. Die Steinkohlen konnte er ja unter der Erde finden und zutage fördern - aber es fehlten nur sonst alle Spuren, daß hier mit Kohlen hantiert worden war, Nobody fand sonst nicht das kleinste Stückchen, wie er auch die ganze Umgebung danach absuchte. Freilich war die große Oase erst noch zu erforschen.
»Er muß diesen Platz geradezu jedesmal mit dem Besen gesäubert haben, und daraus läßt sich um so eher schließen, daß wir es mit irgendeiner Art von Heiligen zu tun haben, der hier seine religiösen Uebungen verrichtet.«
Es war noch immer frühe Morgenstunde. Zunächst nahmen die beiden in einer warmen Quelle ein Bad und hielten große Wäsche, was auch sehr nötig war; denn nicht nur die Kleider, auch Gesicht und Hände starrten von einer weißen Salzkruste. Darauf schlief Nobody einige Stunden, wobei ihm Tom immer noch einmal Gesellschaft leistete, und dann wurde die ganze Oase abgesucht, ob sich der Zugang zu einem Versteck, das man unter der Erde vermuten konnte, oder sonst etwas Besonderes finden ließe.
Aber es war alles vergeblich. Wäre der Brandherd nicht gewesen, hätte man aus den frischen Okulationen nicht auf einen Menschen schließen können, so konnte man glauben, daß die drei die ersten Menschen waren, welche diese Oase betraten.
Sonst hatte sich Nobody mit dem Professor noch über gar vieles zu unterhalten.
Nobody erzählte, ohne von seinem prophetischen Freunde etwas zu erwähnen, wie er beim Passieren des Felsengebirges vor acht Tagen auf einem freien Plateau des Nachts kampiert habe, und als er am anderen Morgen erwachte, neben ihm dieser Zopf lag - in der Nacht vom Sonntag zum Montag.
Der alte Professor konnte nur staunen, als er den abgeschnittenen Zopf seines chinesischen Dieners in die Hand bekam.
»Gott, du bist wunderbar! Mußten Sie es gerade sein, der diesen Zopf fand! Ist es doch schon merkwürdig genug, daß überhaupt ein Mensch ihn fand. Was dachten Sie nun, als Sie den Zopf neben sich liegen sahen?«
»Ich ahnte gleich, daß er aus einem Luftballon stammte, wozu auch kein besonderer Scharfsinn gehörte, wenn man die Verhältnisse des dortigen Terrains in Betracht zieht. Er konnte nur vom Himmel gekommen sein, und wie da wohl anders als aus einem Luftballon? Das wurde mir zur Gewißheit, als ich am anderen Tage erfuhr, daß an jenem Nachmittage in San Francisco wirklich ein Luftballon aufgestiegen war - der Ihre. Dann bekam ich auch Zeitungen in die Hand und erfuhr, daß Sie Ihren chinesischen Diener mitgenommen hätten.«
»Ahnten Sie auch schon eine Katastrophe?«
»Daß sich ein Chinese, ob Christ oder Heide, nicht ungestraft den Zopf abschneiden läßt, konnte ich mir wenigstens lebhaft denken. Doch lassen wir das jetzt einmal. Ich möchte mit Ihnen über etwas anderes sprechen. Dieser Chinese, La-Tse hieß er ja wohl, ist oder war Ihr Diener?«
Der Professor bejahte.
»Wie lange hatten Sie ihn?«
»Er stand fünf - sechs Jahre in meinen Diensten.«
»Als Hausdiener?«
»Als Faktotum bei meinen astronomischen Arbeiten. Er hatte nicht nur die astronomischen Instrumente sauber zu halten, sondern er ging mir auch recht geschickt zur Hand. Es war überhaupt ein sehr intelligenter, treuer Bursche, dessen Tod ich tief bedauere.«
»So müssen Sie seinen Charakter doch ziemlich kennen gelernt haben?«
»Wie meinen eigenen.«
»Er war Christ?«
»Ja, und zwar aus innerster Ueberzeugung.«
»Haben Sie ihn bekehrt?«
»Nein, er ist in San Francisco als Christ geboren, nämlich im Hause des Reverend Mister Josua Powel.«
Der Professor sprach einen sehr bekannten Namen aus. Dieser Geistliche war ein halbes Menschenalter lang in China Missionar gewesen, jetzt schon seit vielen Jahren Chinesen-Apostel in San Francisco, wo schon damals gegen 20 000 bezopfte Söhne des himmlischen Reiches hausten, die ihr eigenes Viertel hatten und noch haben. In ganz Kalifornien mögen jetzt 75 000 Chinesen leben.
Aber Nobody hatte noch etwas ganz Besonderes zu hören bekommen.
»Wie, in San Francisco ist er geboren?!«
»Ja, er gehört zu den Ausnahmen von hiesigen Chinesen.«
»Aber er ist doch ein reinrassiger. Ich habe seine Leiche gesehen ...«
»Was, auch seine Leiche haben Sie gefunden?!« rief der Professor mit noch mehr Staunen denn zuvor.
Jetzt mußte Nobody doch erst noch einmal erzählen, und wir wollen unterdessen eine andere Erklärung einfügen.
Liebt die chinesische Regierung überhaupt nicht, daß die Söhne des himmlischen Reiches ihre Heimat verlassen, so hat sie den Weibern die Auswanderung aufs strengste verboten. Dem kommt die Regierung der Vereinigten Staaten entgegen, indem sie kein chinesisches Weib den amerikanischen Boden betreten läßt. Die Frau oder das Mädchen oder das kleinste Kind weiblichen Geschlechts, welches aus China herausgeschmuggelt worden ist, wird mit dem nächsten, nach China gehenden Schiffe zwangsweise zurückbefördert.
Was für eine furchtbare Gefahr hierdurch entsteht, liegt wohl klar auf der Hand, zwanzigtausend männliche Chinesen auf einen verhältnismäßig kleinen Fleck zusammengedrängt, und kein chinesisches Weib vorhanden!
Die an sich ganz gute Absicht der Regierung, in Amerika kein eingeborenes Geschlecht von Chinesen zu züchten ist ja bei dem physischen und psychischen Charakter dieses Volkes angebracht; aber da müßte man doch mit Mischlingen rechnen; denn schließlich würden sich gegen Geld und gute Worte doch immer genug weiße Weiber finden, die auch dem Liebesschmachten des schmutzigsten Chinesen Gehör schenken, und Bastards sind noch immer eo ipso verworfene Subjekte gewesen, auch den degeneriertesten Vater in den Schatten stellend.
Hierbei aber kommt etwas anderes in Betracht - etwas ganz Wunderbares. Gelehrten, die sich mit so etwas beschäftigen, ist es, wie auch Chinareisenden, wohlbekannt, die große Masse scheint davon aber gar nichts zu wissen, und es ist mit der Aufklärung da auch eine heikle Sache. Doch angedeutet kann es wenigstens werden.
Wer hat denn überhaupt schon einmal einen Mischling aus chinesischem und kaukasischem Blut gesehen? Mulatten, Mestizen, Zambos (letztere Mischlinge von Indianern und Afrikanern) - alles in schwerer Menge vorhanden; aber wo bleibt denn der chinesische Mischling?
Von der richtigen Seite aus betrachtet, ist es wirklich wunderbar! Daß sich die Chinesen seit alten Zeiten her mit einer Mauer umgeben haben, das ist denn doch nicht so einfach, wie die Zeitungsschreiber uns aufklären wollen, wenn sie vom konservativen Charakter der Chinesen usw. sprechen. Nein, hier liegt ein Geheimnis vor, welches nur der Philosoph ergründen kann.
Gott selbst - oder mag man es die Natur nennen - will nicht, daß sich die mongolische Rasse und speziell die chinesische mit anderen Rassen vermischen kann. Mit einem Wort: die Chinesen, Männer wie Frauen, sind total anders gebaut als wir. Eine geschlechtliche Vermischung ist kaum möglich. Man braucht deswegen nur einen Matrosen zu fragen, der in China oder etwa in Singapur gewesen ist.
Kaum möglich, wurde gesagt. Es sind sogar solche Mischlinge geboren worden, wenn auch so selten, daß die einzelnen Fälle angeführt werden könnten. Und dann ist es ganz bestimmt, daß die hervorgegangenen Kinder so unfruchtbar sind wie die widernatürlichen Maultiere und Maulesel.
Diese Erläuterung wird wohl einmal beitragen, die chinesische Mauer mit etwas anderen Augen zu betrachten - diese Mauer dabei nur bildlich gemeint. -
Sieht man nun dennoch ab und zu in San Francisco oder sonstwo in Nordamerika einen chinesischen Säugling, der wohl sicher hier geboren ist - nun, da ist eben einmal eine chinesische Frau mit eingeschmuggelt worden. So scharf kann die Kontrolle ja nicht gehandhabt werden, und dann ist das Kind stets männlichen Geschlechts. Weiter recherchiert die Polizei sonst nicht.
Schließlich gibt es, wie überall, auch hier Ausnahmen. Einem chinesischen Großkaufmann, der sich in Amerika niederlassen will, wird das Mitbringen seiner Ehehälfte und der ganzen Familie nicht verboten. Da braucht er nur einige Formalitäten zu erfüllen. Es handelt sich eben nur darum, daß sich das chinesische Element in den vereinigten Staaten nicht direkt einbürgert. Da haben die Yankees ja schon mit der afrikanischen Rasse schlimme Erfahrungen genug gemacht. -
Auch hier, mit der Mutter des La-Tse, lag, wie der Professor jetzt erklärte, solch eine geduldete Ausnahme vor.
Ein chinesischer Kuli hatte seine treue Ehehälfte in Männerkleidung mit an Land gebracht, und als die Polizei den Schmuggel entdeckte, hatte sich Reverend Mr. Josua Powel für sie ins Zeug gelegt, und seiner hochangesehenen Persönlichkeit wurde nachgegeben, er hatte auch die Frau als Dienerin in sein Haus genommen.
Doch dies war nun schon lange her, die Chinesin hatte längst das Zeitliche gesegnet.
Professor Hilligard hatte La-Tse im Hause des Geistlichen kennen gelernt, hatte seine Freude an dem aufgeweckten Burschen bekommen, der solches Interesse für die Sternkunde zeigte, und ein Sklave war der Diener ja nicht, so war er seit sechs Jahren bei dem Professor gewesen, diesem zur vollsten Zufriedenheit dienend.
»Mehr weiß ich über den Mann nicht zu sagen. Aber, Mr. Nobody, ich bitte Sie ... mir kommt es fast vor, als hegten Sie ein Mißtrauen gegen ihn. Er hat ja allerdings bei seinem eigenen Tode eine ungeheuerliche Tat begangen ... waren Sie denn als Detektiv schon vorher hinter ihm her?«
Nobody faßte sich kurz, indem er das Pergamentblättchen zeigte, welches er in den Zopf des Chinesen eingeflochten gefunden hatte.
Der Professor konnte es ebenfalls nicht entziffern, noch wußte er dem Papier sonstwie eine Bedeutung zu geben.
»Ach, das ist nichts weiter als irgendein Andenken,« meinte er.
»Und die Geheimschrift?«
»Wohl nur eine Spielerei, vielleicht zwischen Freunden ausgemacht. Nein, wirklich, ich könnte meinem Diener nicht das geringste nachsagen. Daß er eine so fürchterliche Rache nahm, das ist freilich etwas anderes; aber er war eben ein Chinese, die ihm zugefügte Schmach hatte ihm alle Vernunft geraubt.«
Nobody hing noch lange seinen Gedanken nach.
Weshalb hatte das Schicksal gerade ihm den Zopf in die Hand gespielt, in dem sich das Zettelchen mit der Geheimschrift befand?
Hätte es nicht genügt, die beiden Holzfäller zu treffen, deren interessantere Erzählung es jedenfalls weniger war, daß ein Luftballon Sand ausgeworfen hatte, als vielmehr die Schilderung des Erfinders eines Segelschlittens in dem Bergstädtchen?
Denn schon das hätte genügt, um Nobodys Schritte nach Orsborn zu lenken, um diesen Mann kennen zu lernen. Die Segelpartie wäre also von ihm sowieso gemacht worden, auch ohne den Zopf.
Ueberdies hatte das alles gar keinen so großen Zweck, der Professor hätte sich, einmal im Besitz des Segelschlittens, auch allein retten können, und war mit dem unsichtbaren Oasenbewohner ein Geheimnis verbunden, so hätte der Detektiv doch dazu immer nicht den chinesischen Zopf gebraucht.
Kurz, dieser schien bei der ganzen Affäre doch die Hauptsache zu sein.
Als Nobody zu diesem Resultate kam, dachte er aber auch daran, wie sehr er sich doch durch alles dies zum Sklaven eines unfaßbaren Schicksals mache, und so schlug er sich alle Gedanken aus dem Kopf.
Unterdessen war es Mittag geworden. So rege auch der Appetit nach frischem Fleische war, sollten doch die unschuldigen Tiere geschont werden, wie es auch der Professor während der ganzen acht Tage gehalten hatte. Es war hier ein Paradies; der bisherige Bewohner desselben, wer es nun auch sein mochte, hatte dieses Fleckchen Erde als Paradies gehegt und gepflegt, jeder nur einigermaßen sinnige Mensch mußte instinktiv davon abgehalten werden, diesen Frieden mit frevelnder Hand zu zerstören.
So wurde von dem überreichlichen Proviant des Schlittens geholt, frische Früchte würzten das an sich trockene Mahl zur Genüge. Es wurde innerhalb der Klippen gehalten, wo nicht weit von dem Brandaltar aus den Steinen eine frische Quelle sprang.
»Wir lassen die heißesten Mittagsstunden vorbei, können ja auch noch einmal die ganze Insel absuchen, dann haben wir unsere Pflicht getan, dann, wenn der Wind so günstig bleibt, segeln wir ab. Unsere eigene Sicherheit muß uns doch zunächst am Herzen liegen.«
Mit sehr lauter Stimme hatte es Nobody gesagt, und die beiden anderen verstanden ihn. Als sie sich dann nochmals auf die Suche machten, sprachen sie noch wiederholt in lautem Tone, wenn auch nicht gar zu auffällig, über ihre baldige Abfahrt - falls sie nämlich belauscht würden.
Gar zu früh wollten sie lieber nicht aufbrechen. Je weiter sie sich entfernten, einen desto längeren Weg hatten sie ja dann zurück, und zwar, wenn der Wind so blieb, gegen den man nicht zurücksegeln konnte, zu Fuß. Uebrigens brauchte man sich ja nicht weiter zu entfernen, als bis der Schlitten außer Gesichtsweite des Eremiten gekommen war.
Eine weitere Untersuchung der Oase förderte nicht das geringste zutage. Es war und blieb ein jungfräuliches Eiland am erstarrten Salzmeer. Die Okulationen verrieten eigentlich nur, daß früher einmal ein Mensch hier gehaust hatte. Daß noch jetzt jemand hier hauste, oder vielmehr vor acht Tagen noch hier gehaust hatte, das konnte man nur der Versicherung des Professors entnehmen, daß er damals in der Nacht hier ein Feuer hatte flammen sehen und auch noch auf dem Brandaltar heiße Asche vorgefunden hatte.
Wenn Nobody nicht unbedingt der Glaubwürdigkeit und den gesunden Sinnen des alten Professors getraut hätte ... er würde die Existenz eines Einsiedlers sehr in Zweifel gezogen haben.
Es war in der fünften Nachmittagsstunde, als die drei Männer, nachdem Nobody noch einmal des Professors gebrochenen Arm geschient hatte, von der idyllischen Oase Abschied nahmen.
Am schwersten schien er Tom zu fallen, obgleich es nur ein scheinbarer Abschied war. Von seinen Annektionsgelüsten und Robinsonaden hatte er in der Oase selbst nicht sprechen dürfen, und er tat es auch jetzt nicht.
Mit günstigem Winde ging es dem Norden zu. Schon nach einer halben Stunde war von den schwarzen Riffen durch das Fernrohr nichts mehr zu sehen, und so konnte wahrscheinlich der Schlitten auch von diesen aus nicht mehr bemerkt werden.
Um dann auch bei der Rückfahrt, falls der Segelschlitten aus irgendeinem Grunde doch lieber in der Nähe der Oase liegen sollte, einen günstigen Wind zu haben, wurde gleich noch etwas nach Norden gekreuzt, bis man bei Untergang der Sonne, nach welcher Nobody noch einmal eine geographische Ortsbestimmung machte, wie er natürlich auch die Lage der Oase genau kannte, mit gerefftem Segel still liegen blieb.
So kam die Nacht, welche eine unangenehme Ueberraschung mit sich brachte. Tom hatte schon während der letzten Stunden einen ganz auffallenden Durst gezeigt, und als jetzt Nobody das Glänzen seiner Augen bemerkte, gestand er endlich, schon seit längerer Zeit starke Kopfschmerzen zu haben.
Nobody prüfte Toms Puls und konstatierte bereits heftiges Fieber.
Es war gar nichts dagegen zu tun. Vor allen Dingen war kein Chinin vorhanden. Essen durfte der Fieberkranke sowieso nichts, nicht einmal von den mitgenommenen Früchten, also wäre es in der Oase nicht anders gewesen als hier, darf der Fieberkranke doch auch zunächst nicht gebadet werden.
Nach dem ersten Schüttelfrost fiel Tom in Schlaf, phantasierte immer von seinem Paradies, war aber unglücklich darüber, daß dieses schon einen Eigentümer habe.
»Und er hat recht,« flüsterte Nobody, »da - da ist das Feuer wieder!«
Ja, dort in nächtlicher Ferne flammte schon wieder das flackernde Feuer auf, und es läßt sich begreifen, von welcher Erregung die beiden Beobachter ergriffen wurden.
Hatte Nobody schon ursprünglich geplant, allein zurückzuschleichen, falls man es mit einem mit scharfen Sinnen ausgestatteten Naturmenschen zu tun hatte, so mußte der Professor jetzt wegen des im Fieberdelirium Liegenden sowieso zurückbleiben.
Doch etwas konnte sich der lautlos gleitende Schlitten ja noch nähern, was denn auch geschah, nachdem man den Schlafenden auf dem breiten Brette zur Vorsicht noch festgebunden hatte.
Immer heller wurde das Feuer in dunkler Nacht, und das kam nicht nur daher, weil man sich ihm näherte, sondern es mußte ihm immer mehr Nahrung zugeführt und es angefacht werden.
»Ganz offenbar arbeitet er mit einem Blasebalge,« flüsterte Nobody, als fürchtete er, schon gehört zu werden; »ein einfaches Anblasen mit dem Munde könnte man auf solche Entfernung nicht wahrnehmen.«
Als Nobody es für gut hielt, wurde der Schlitten wieder zum Stehen gebracht. Alles war mit dem Professor bereits ausgemacht. Zwei Revolverschüsse riefen auch ihn nach der Oase, und nur ein einzelner spornte ihn zur höchsten Eile an, dann bedurfte Nobody seiner in Gefahr.
Daß das Doppelsignal nicht höchste Not bedeutete, wie es wohl mancher andere ausgemacht hätte, war ganz logisch. In der höchsten Not hat man manchmal kaum Zeit, nur noch ein einziges Mal seinen Revolver abzudrücken.
Zwar verstand der Professor schon etwas mit dem Segel umzugehen, doch war der Wind nicht günstig, er hätte kreuzen müssen, auch war ihm sein gebrochener Arm sehr hinderlich, und so sollte er sich lieber seinen Füßen anvertrauen.
Nobody machte sich auf den Weg, einen fördernden Dauerlauf anschlagend. Noch war keine Vorsicht geboten, eine Schleichpartie würde wohl auch kaum nötig gewesen sein, es sei denn in der dichten Nähe des Feuers.
Die Nacht war mondlos, der Himmel bedeckt, und Nobodys Kleidung hatte sich unterdessen schon wieder mit einer weißen Salzkruste bedeckt, so daß er sich von der weißen Fläche gar nicht abhob.
Als Nobody das dunkle Land der Oase betrat, erkannte er schon den Altarstein selbst im Lichte des auf ihm brennenden Feuers. Es war ziemlich groß, mußte den ganzen Stein bedecken, brannte rauchlos und die roten Flammen stiegen in der windstillen Nacht gerade empor.
Einen Menschen sah er noch nicht. Gerade deswegen aber mußte Nobody jetzt einen Schleichweg beginnen, und zwar mußte er erst um die ganze Klippenformation herumkriechen.
Noch ehe Nobody den Altar mit dem Feuer wieder erblicken konnte, traf eine Stimme sein Ohr, Worte:
»O, Zarathustra, du Sohn des Ormuzd, wie soll ich dir danken, daß du die Kinder des Ahriman wieder fortgescheucht hast! Sie können den Anblick deines heiligen Feuers nicht vertragen, und nie wieder will ich dasselbe verlöschen lassen.«
So erklang mit tiefster Inbrunst eine heisere, zitternde Stimme.
Ein anderer hätte diese Worte hier in Amerika wohl schwerlich verstehen können, es sei denn ein orientalischer Sprachgelehrter, doch Nobody verstand sie aus der Praxis; denn es war Persisch gewesen!
Aber auch schon die einzelnen Namen mußten genügen, um wissen zu lassen, wen man hier vor sich hatte.
Zarathustra, auch Zoroaster genannt, Ormuzd, das gute Prinzip, und Ahriman das böse - - ein Parse, ein Feueranbeter!
Nobody war gar nicht allzusehr überrascht, hier einen feueranbetenden Parsen zu finden. Eben der Brandherd, auf dem die ganze Nacht und vielleicht auch am Tage ein Feuer unterhalten wurde, und das nicht etwa als Signal eines Hilfsbedürftigen, hatte das doch eigentlich sehr nahegelegt. Hierzu kam nun auch die Enthaltung allen Fleisches, das Belassen der Tiere in ihrem natürlichen Zustande, also auch nichts von einer direkten Zähmung, ferner die peinliche Sauberkeit des Heiligtums, das Entfernen alles überflüssigen Feuerungsmaterials - dies alles waren Anzeichen eines echten Parsen, wie man ihn heute weniger in Persien als vielmehr in Indien findet. Auch in ihrem ursprünglichen Heimatsgebiet, in der Gegend der heiligen Feuer von Baku, sind die Parsen heute fast ganz ausgerottet, weil sie als ?Heiden? von den Christen sowohl, wie von den Mohammedanern die grimmigsten Verfolgungen auszustehen haben.
Hinwiederum hatte es doch sehr abseits gelegen, daß man hier in dieser noch unentdeckten Oase der amerikanischen Salzwüste einen orientalischen Parsen finden könnte. Professor Hilligard z. B., der sicher doch ebenfalls das Wesen der parsischen Feueranbeter kannte, war trotz seines langen Aufenthaltes hier in der Nähe des heiligen Brandherdes gar nicht auf solch einen Gedanken gekommen.
Nobody schlich um den letzten Quaderstein herum, und da sah er ihn selbst.
Es war ein alter, sehr alter Mann von wahrhaft erschreckender Magerkeit, welcher vor dem flammenden Feuer auf den Knien lag. Die skelettartige Gestalt wurde von einer Art von Hemd umflossen, welches ganz roh aus Kokosnußbast zusammengeflochten war, und dies war die einzige Bekleidung. Auch die Füße waren nackt.
Das von einem bis auf die Brust herabfließenden weißen Bart umwallte Gesicht war das eines echten Parsen: ursprünglich weiß, nur von der Sonne gebräunt und vom Alter pergamentähnlich gemacht, mit sanften Zügen, großen, feurigen Augen und edelgebogener Nase - hier nur eben alles das Zeichen des höchsten Alters tragend - bis auf die Augen, welche noch in ungeschwächtem Feuer glühten.
Sonst machte alles den Eindruck tiefster Verwilderung, hauptsächlich ausgedrückt durch das weiße, mähnenartige Haar, welches sich förmlich verfilzt hatte, und die Fingernägel hatten sich zu zollangen Krallen entwickelt.
Neben ihm lag ein Haufen Steinkohlen, aus faustgroßen Stücken bestehend, sorgsam aufgeschichtet, jedenfalls einzeln herbeigetragen, d. h., nicht mit einer Schaufel, nicht einmal im zusammengerafften Hemd; denn Kohlenstaub fehlte gänzlich, vielleicht das kleinste Splitterchen - sie mußten eben mit den Händen herbeigetragen und sorgsam zur Pyramide aufgeschichtet worden sein.
Das Gebet war verstummt. Mit frommer Begeisterung blickte der Kniende in das ihm heilige Feuer, von solchen Steinkohlenstücken genährt, und sofort durchzuckte Nobody ein fragender Gedanke.
Lag hier nicht ein großer Widerspruch vor? Der Alte im Büßerhemd dankte seinem Heiligen dafür, daß dieser die Fremdlinge wieder davongeführt hatte, die ihn in seiner Einsamkeit gestört, und dennoch unterhielt er in der Nacht ein großes, offenes Feuer, welches jeden Verirrten aus der Salzwüste hierherlocken mußte.
Außerdem gefiel ihm gar nicht der Ausdruck dieser übernatürlich großen Augen mit der verzehrenden Glut darin, in so etwas wußte Nobody Bescheid, und nicht nur dieser erschreckend mageren Gestalt nach mußte der Mann ja dem Hungertode nahe ...
Nobody hatte keine Zeit mehr zu solchen Erwägungen. Der Alte erhob sich, oder wollte es zuerst nur tun, es kostete ihm unsägliche Anstrengung, sich aus der knienden Lage zu erheben, er hatte kaum die Kraft dazu, und dann, als es ihm endlich gelungen war, streckte er die zitternden Hände nach der Kohlenpyramide aus - um erst zur Statue zu erstarren und dann mit einem ächzenden Laute von neuem zu Boden zu sinken, den vor ihm stehenden Mann wie ein Gespenst anstarrend.
»Fürchte dich nicht,« sagte Nobody mit seiner sanftesten Stimme.
»O, Ahriman!« stöhnte der an allen Gliedern wie Espenlaub zitternde Alte.
»Ich bin kein böser Geist, sondern ein Mensch wie du.«
Aber alles Zureden hatte keinen Zweck; wer weiß, seit wann der Einsiedler keinen Menschen mehr gesehen hatte, er konnte den Anblick nicht vertragen, und es mochte auch noch einen anderen Grund haben, daß er sich vollends zur Erde legte und das Bewußtsein verlor.
Bald darauf kam Professor Hilligard, durch zwei Revolverschüsse herbeigerufen. Er fand den Alten noch in derselben Lage, Nobody dabei beschäftigt, ihm Schläfen und Fußsohlen mit einem nassen Tuche zu reiben.
»Um Himmels willen, wen haben Sie denn da?«
»Einen parsischen Feueranbeter.«
Eine weitere Erklärung konnte Nobody kaum geben. Er war ja noch immer nicht minder erstaunt als der Professor.
»Wie befindet sich Tom?« war seine nächste Frage.
»Ich verließ ihn in ruhigem Schlafe.«
»Ich möchte Sie bitten, noch einmal zurück nach dem Segelschlitten - nein, ich selbst werde gehen, um einige Bouillontafeln zu holen; denn hier ist höchste Eile geboten. Dieser Mann ist offenbar dem Hungertode nahe. Unzureichende Ernährung mag schon längst seine Lebenskräfte auf ein Minimum beschränkt haben, und ich fürchte, daß er während Ihres Aufenthaltes hier in seinem Versteck, das er nicht zu verlassen wagte, überhaupt keine Nahrung mehr zu sich genommen hat, und dann war sein erstes, zunächst wieder das heilige Feuer anzuzünden. Bleiben Sie bei ihm, tun Sie, falls er wieder zu sich kommt, was Sie für gut finden. Nur geben Sie ihm nichts zu essen, höchstens etwas Wasser zu trinken. Entfliehen kann er nicht. Seine Kraft ist völlig erschöpft.«
Nobody eilte davon und kam bald danach, da sich der Wind etwas gedreht hatte, gleich mit dem ganzen Schlitten zurück, der ziemlich dicht bis an die Stelle, wo der Brandaltar stand, heranfahren konnte.
Auf das Feuer wurde ein Kesselchen gestellt, in Wasser Bouillontafeln aufgelöst.
Nach Einflößung einiger Löffel der warmen Flüssigkeit kam der Alte wieder zu sich, um beim Anblick der beiden Männer von neuem Entsetzen erfüllt zu werden, sie für Ahrimans Söhne haltend, für böse Kinder der Finsternis, bis es endlich gelang, ihn zu beruhigen und zum Sprechen zu bringen.
Was Nobody, Persisch sprechend, aus ihm herausbrachte, war folgendes:
Er hieß Adam und war der erste Mensch hier auf dieser Erde, nämlich in dieser Oase, die für ihn aber die ganze Welt oder doch mindestens die Erde bedeutete. Dabei ist zu erwähnen, daß ja auch die Mohammedaner wie die Parsen an den biblischen Adam als an den ersten Menschen glauben.
Also ganz einfach wahnsinnig! Wohl war in seinem Wahnsinn Methode, doch wich er von der parsischen Religionslehre etwas ab.
Aus Zoroaster machte er Gott selbst. Dieser hatte ihn also hier auf der Erde als ersten Menschen eingesetzt, hatte ihm auch eine Eva versprochen, die aber noch immer auf sich warten ließ. Er mußte eben fleißig beten, das heilige Feuer hüten, sich nicht so viel vor den Söhnen des bösen Ahriman fürchten.
Eben wegen dieser seiner Furcht waren sie nun schließlich doch noch gekommen. Daraus konnte man auch die einzige Vermutung ziehen, daß er schon früher Menschen gekannt hatte, aus denen er jetzt die Söhne Ahrimans, Kinder der Finsternis gemacht hatte, welche irgendwo in der Salzwüste wohnten, die für ihn wegen ihrer trostlosen Oede die Hölle bedeutete.
Wenn man sich in seine fixe Idee hineinfand, so war dies alles ja auch ganz leicht verständlich.
Von sich selbst wußte er gar nichts mehr. Er war von jeher hier gewesen. Oder er war doch das letzte Schöpfungswerk Zoroasters, den er also mit Gott verwechselte. Dieser hatte ihn hier aus Erde geformt - allerdings nicht aus Lehm, sondern nach parsischer Lehre aus der ihnen heiligen Kohle, die sie schon seit uralter Zeit kannten und benutzten.
»Wo wohnst du denn?«
Dieses ?wohnen? wurde gar nicht verstanden.
»Wo schläfst du in der Nacht, wenn du nicht das heilige Feuer hütest?«
»Unter den Bäumen des Paradieses,« lautete jetzt die Antwort.
»Mich wundert, daß er die Sprache nicht verlernt hat,« meinte der Professor.
»Sein eifriges, lautes Beten hat das verhütet. Ja,« fuhr Nobody fort, »wo aber hast du dich vor uns versteckt gehalten?«
»Dort.«
Der Knochenarm ward mühsam ausgestreckt.
Nobody verließ die felsige Gegend, kam mit einigen trockenen Palmenblättern zurück, drehte sie zusammen, zündete diese vorzüglich brennende Fackel an und folgte der bezeichneten Richtung, und bald hatte er am Boden, als Gräser begannen, die Spur des nackten Fußes gefunden.
Sie bewegte sich noch immer zwischen den Basaltblöcken, führte auch gar nicht so weit ab von dem Altar; Nobody sah im Boden einen schmalen Spalt, der sonst mit einer natürlichen Steinplatte zugedeckt war, und wenn beim Ein- und Ausschlüpfen eine größere Abnutzung vermieden wurde, so hatte diese Steinplatte allerdings genügt, um das Versteck unauffindbar zu machen, nur ein Zufall wäre es gewesen, hätte der Suchende gerade diesem Steine einmal seine Aufmerksamkeit geschenkt.
Ohne Zögern kroch Nobody hinein. Es war nichts mehr und nichts weniger als ein Kohlenschacht. Das Kohlenflöz, aus bestem Anthrazit bestehend, begann dicht unter einer mäßig dicken Basaltdecke. Von einem Schachte konnte man eigentlich gar nicht sprechen. Durch Herausnahme von Kohlen war nur ein Loch entstanden. Aus dem Verbrauch der Menge konnte man nicht gut auf die Länge der Zeit schließen, seit welcher der Alte hier hauste. Mit einer Tonne Kohlen kann solch ein einzelnes Feuer schon lange unterhalten werden, und eine Tonne massive Kohle ist viel weniger, als wenn sie in losen Stücken aufgehäuft ist.
Ein hammerähnlicher Stein diente offenbar zum Losschlagen der Kohle, ein länglicher Stein mit scharfer Kante sicher als das einzige Messer dieses modernen Eremiten, einige zusammengebundene Palmenblätter als Besen - sonst absolut nichts weiter.
In dem Kohlenstaub konnte Nobody noch deutlich die Abdrücke erkennen, wo der Alte gelegen hatte.
Da Kokosnußschalen und alle anderen Ueberbleibsel von Nahrung fehlten, mußte der Alte die letzten neun Tage gehungert und gedurstet haben, daher auch seine vollständige Entkräftung.
Das Abfahren der ?Kinder der Finsternis? war ihm offenbar bekannt geworden, er mochte ja öfters die Steinplatte etwas gehoben und hervorgelugt haben. Und dann war trotz seiner Schwäche wohl sein erstes gewesen, das heilige Feuer wieder anzuzünden, oder vielmehr noch vorher hatte er gebadet; denn obgleich er immer in Kohlenstaub gelegen, war davon bei ihm nichts mehr zu bemerken gewesen.
Also obgleich primitiv wie ein Tier lebend, stand er in anderer Beziehung doch auf ziemlich hoher sittlicher Stufe - jedenfalls auf einer höheren als mancher andere fromme Eremit, der zu Ehren Gottes mit Wollust im Schmutze erstarrt.
Nobody kehrte zurück, teilte seine negativen Entdeckungen dem Professor mit.
Der Parse wimmerte leise, sein ganzer Körper zuckte wie in Epilepsie.
»Der ist nicht mehr zu retten, der Kräfteverfall war schon zu weit vorgeschritten, sein Magen kann nicht einmal die Bouillon vertragen. Da ist an das Einflößen anderer Nahrung gar nicht zu denken.«
»Das ist auch meine Ansicht,« entgegnete Hilligard. »Ja, wie mag der Mann nur hierhergekommen sein? Ein indischer Parse?«
»Jedenfalls ein Diener bei einer Expedition, welche diese Salzwüste zu durchqueren versucht hat, er hat sich hierher verirrt, hat in der Einsamkeit die Erinnerung verloren, seine Religionslehren wurden für ihn zur fixen Idee.«
»Es wäre doch sehr gut, wenn er noch einmal mit klarer Vernunft sprechen könnte. Wer weiß, was er uns mitzuteilen hätte.«
»Allerdings, aber ...«
Nobody brach ab und lauschte. Unter dem Wimmern des Alten war noch ein anderer Ton an sein Ohr gedrungen.
»Das ist Tom, welcher mit schwacher Stimme ruft. Herr Professor, begeben Sie sich doch einmal hin, während ich mich mit diesem Unglücklichen beschäftigen will.«
Nobody blickte dem Davongehenden nach, bis dieser in der Finsternis verschwunden war. Dann kniete er schnell neben dem Alten nieder, schob die Hand unter dessen Kopf, richtete ihn etwas empor.«
»Wie heißt du?«
»Adam, Adam,« wimmerte der Sterbende.
»Blicke mich an, Adam!«
Aber hier war nichts mehr zu machen, die glühenden Augen irrten ruhelos umher.
Da zog Nobody aus seiner Tasche ein kleines Kristallfläschchen hervor, träufelte einige Tropfen der grünlichen Flüssigkeit in ein an der Phiole befestigtes Löffelchen.
»So oder so,« murmelte er dabei, »dem Tode ist er doch verfallen, und ich kann ihm sogar noch große Linderung verschaffen.«
Der Alte schluckte willenlos, und mit einem Male hörten die Zuckungen auf, der Körper streckte sich steif.
»Blicke mich an!« befahl Nobody mit leiser, aber scharfer Stimme.
Die ebenfalls erstarrten Augen drehten sich, suchten die des anderen.
»Wie heißt du?«
»Adam,« lallte es mit schwerer Zunge.
»Besinne dich auf deinen eigentlichen, früheren Namen - erinnere dich, ich befehle es dir!«
»Ich gehorche,« röchelten die farblosen Lippen.
»Nun, wie heißt du?«
»Jasman Jadarzin.« ...
Erst nach einer Viertelstunde kehrte der Professor zurück.
Er machte ein sehr besorgtes Gesicht.
»Mit Tom sieht es schlimm aus. Ich habe ihm ... aber, Mister Nobody,« unterbrach sich der Gelehrte erschrocken, »was ist denn mit Ihnen los?!«
Ja, Nobody machte ein noch ganz anderes Gesicht als nur ein besorgtes.
Er deutete auf den zu seinen Füßen regungslos Liegenden.
»Er hat ausgelitten.«
»Tot?!«
»Ja. Sein Körper war schon zu entkräftet, um die Seele noch halten zu können.«
»So bin ich es eigentlich, der seinen Tod verschuldet hat.«
»Nun, ich denke, Sie brauchen sich deswegen keine Vorwürfe zu machen, daß er sich vor Ihnen versteckt hielt.«
»Hat er noch irgend etwas gesagt?«
»Nein. Er schlummerte als der erste Mensch in sein himmlisches Paradies hinüber.«
Nobody hielt es sonst gewiß immer mit der Wahrheit - aber ein Detektiv muß manchmal seine Heimlichkeiten haben.
Sie begaben sich nach dem Segelschlitten, woselbst Nobody einen zweiten Sterbenden fand.
Am anderen Tage begruben sie Tom unter einer Palme. So blieb wenigstens sein Körper in dem irdischen Paradies, das er als seinen Besitz gewünscht hatte. In einiger Entfernung davon zündete Nobody ein großes Holzfeuer an und verbrannte darin die Leiche des Parsen, so, wie es wohl sein Wunsch gewesen wäre, hätte er ihn noch aussprechen können.
Dann verließen die beiden die Oase auf dem Segelschlitten wieder, aber nicht nach Osten, sondern, weil sich der Wind gedreht hatte und wohl so bleiben würde, wieder zurück.
Nicht weit vom Ausgangspunkt erreichten sie das kultivierte Land wieder. Nobody verschwand alsbald, spurlos wie immer. Professor Hilligard erstattete Bericht. Groß war die Sensation. Mitten in der furchtbaren Salzwüste eine blühende Oase!
Doch warum denn nicht? Dasselbe findet man ja auch oft genug im oberen Utah.
Ueber einem politischen Streit ging das erste Interesse bald wieder verloren. Professor Hilligard beanspruchte das neuentdeckte Land für sich, ließ die bezeichneten Quadratkilometer auf seinen Namen registrieren.
Er braucht auf seinen Besitz keinen Wächter einzusetzen. In Kalifornien gibt es noch anderes fruchtbares Land genug, wo man nicht erst eine schreckliche Salzwüste zu durchqueren braucht, und die Kokospalmen reizen nicht so leicht jemanden zum Besuch der Oase.

IV. Der Robbenfelsen.

Im kleinen Speisesaal des Rugby-Hotels, eines der vornehmsten von San Francisco, bewunderten sich die drei Kellner in den zahllosen Spiegelscheiben, welche ihre Konterfeis in hundertfacher Vervielfältigung wiedergaben.
Da sie sich indes wohl schwerlich noch an diesem Spiegelreflex ergötzen konnten, mochten sie vielleicht die Fliegen beobachten. Das heißt, sie hatten nichts zu tun, und das soll besonders für einen Kellner schlimm sein.
Zu der noch frühen Morgenstunde war nur ein einziger Gast vorhanden, welcher hinter einer halben Flasche Rotspon saß, noch versteckter hinter einer Säule, am allerverstecktesten hinter einer riesigen Zeitung.
Da kam Leben in die drei Ganymeds, sie setzten sich in Positur, ungefähr wie der Raubtierbändiger, wenn sich die Tür des Sicherheitszwingers öffnet - denn auch hier hatte sich die Tür geöffnet, nur daß kein Löwe hereinspaziert kam, kein Tiger, kein anderes Raubtier, sondern ein Mensch, ein kurzes, sehr dickes Männlein.
Allgemeine Erwartung! Jetzt kam es darauf an, an welchen Tisch sich dieses Männlein setzen würde. Und es machte einen recht wohlhabenden Eindruck. Ein Männlein mit solch einem Schmerbauch kann überhaupt nicht arm sein.
Aber der Konkurrenzneid sollte noch lange anhalten. Denn das Männlein schob sich mit seinen Bratwurstbeinchen nur bis in die Mitte des Zimmers, hier blieb es stehen, sperrte den Rachen unheimlich weit auf, klappte ihn mit einem hörbaren Krach wieder zu, öffnete ihn noch einmal, nur nicht wieder ganz so weit, und ..., »Ohöööööö!!!« - ein herzzerreißender Seufzer zitterte durch den kleinen Spiegelsalon.
Und bei diesem Herzensgruß schien es bleiben zu wollen, das kleine Männlein blieb an der selben Stelle stehen und stierte mit seinen Froschaugen vor sich hin.
Es muß noch bemerkt werden, daß bis vor kurzem in San Francisco ein großer Streik aller Hotelbediensteten ?gewütet? hatte. Er war von auswärtigen dienstbaren Geistern gebrochen worden. Auch diese drei Kellner hier waren neu, von weit hergekommen, und nur so war es möglich, daß sie nicht gleich wußten, wen sie vor sich hatten. Denn sonst war Mister Cerberus Mojan in San Francisco wie noch in manch anderer Stadt Amerikas bekannt wie ein bunter Hund, hatte er doch sogar hier in Frisco sein eigenes Haus.
»Ohööööh!!« stöhnte es noch einmal aus tiefstem Herzensgrunde, und dann schüttelte Mister Cerberus Mojan sein ehrwürdiges Haupt, auf dem ihm wohl mehr die Jahre denn die Sorgen so ziemlich sämtliche Haare abgefressen hatten, und dann befühlte er tastend seine Denkerstirn, schüttelte noch einmal nachdenklich sein Haupt, aber sonst blieb er so mitten im Zimmer stehen, die Froschaugen beharrlich zu Boden gesenkt.
Die Kellner beobachteten ihn verwundert, blickten sich an - bis endlich einer den Mut fand, sich ihm zu nähern.
Gar zu auffallend war dieses Benehmen schließlich nicht, man befand sich ja in Amerika, wo so manches Unmögliche möglich ist.
»Wo belieben der Gentleman Platz zu nehmen?«
Die Froschaugen wurden gehoben, mit Verwunderung blieben sie auf den Frager haften.
»Ah, ah, wieder ein bekanntes Gesicht,« erklang es mit etwas aufgeheiterter Miene. »Wo haben wir uns doch schon kennen gelernt?«
Der Kellner fühlte sich geschmeichelt, erkannt zu werden. Das brachte ihm auch sicher diesen wohlgenährten Gast mit der dicken goldenen Kette ein.
»Ich war die letzten zwei Jahre in Mexiko in Stellung, Sir, Hotel Santa Fe.«
Da aber wurde das haarlose Denkerhaupt schon wieder schwermütig geschüttelt.
»In Mexiko? Nee. Ich dachte - ich dachte,« wurde murmelnd hinzugesetzt, »ich dächte, ich hätte Sie schon in Babylon gesehen.«
»Das wird mein Bruder gewesen sein, welcher voriges Jahr auf der ?Mercedes? die Orientreise mitmachte, wo auch die Ruinen von Babylon besichtigt wurden.«
»Was war Ihr Bruder?«
»Steward in der ersten Kajüte.«
»Nicht babylonischer Stadtsoldat zu Elefant?«
Der etwas stupide Kellner lächelte blöde.
»Er war Steward auf der Mercedes,« sagte er dann.
»Wie hieß er denn?«
»Miller.«
»Holocacus Miller?«
»Gustav Miller.«
»Nee,« wurde das Denkerhaupt wieder schwermütig geschüttelt, »nee - dann war das ein anderer - der hieß Holocacus und war in Babylon nubischer Stadtsoldat; als ich ihn kennen lernte, hatte er gerade Torwache, saß gleich links und putzte seine Beinschienen - nee, wenn Ihr Bruder Gustav Miller hieß, dann kann er's nicht gewesen sein.«
Ein Juxvogel, dachte der Kellner, weiter nichts, wenn er überhaupt etwas davon verstand.
Sonst läßt sich ja so ein amerikanischer Kellner nicht gerade viel gefallen, der hier war aber eben einmal von einer anderen Sorte, seine Kollegen belustigten sich schon mehr über ihn, als über den kleinen Dicken.
Dieser blickte sich jetzt auch einmal um, und wieder prägte sich freudiges Staunen auf seinem fetten Mopsgesicht aus.
»Aber den kenne ich ganz bestimmt!« rief er, in die nächste Spiegelscheibe deutend. »Diese elegante Figur, diese siegesbewußte Heldengestalt, dieses geistvolle Gesicht mit den feuersprühenden Adleraugen - bitte, wer ist der Herr?« setzte er flüsternd hinzu.
»Meinen Sie vielleicht den Herrn im karrierten Anzug mit den Kniehosen?« mischte sich jetzt ein anderer Kellner ein.
»Jawohl, jawohl, mit den kraftstrotzenden Schenkeln.«
Da ging auch dem ersten Kellner die Erkenntnis auf, er machte aber dadurch nur leider seinem Kollegen einen Strich durch die Rechnung.
»Das dürften Sie wohl selbst sein, Sir, das ist doch nur Ihr Spiegelbild, das sich Ihnen hier überall zeigt,« grinste er. Mister Cerberus Mojan schaute sich verwundert um, mußte wohl sein hundertfältiges Spiegelbild als Tatsache konstatieren, und der Erfolg davon war wieder ein schwermütiger Seufzer.
»Wieder nichts! Niemand kennt mich mehr. Einsam und verlassen! Ohööööh!«
Er schob sich nach einem der Marmortischchen und ließ sich auf einem Stuhle nieder.
»Speisekarte!« seufzte er.
Das sonst so fröhliche Männlein schien überhaupt nur noch seufzen zu können.
Na, wenigstens war er doch endlich vernünftig. Die Frühstückskarte wurde ihm gebracht.
»Rindsfilet in Madeirasauce ein Uhr 25, Rindsroulade mit Champignons ein Uhr 50,« buchstabierte er, für den erwartungsvoll danebenstehenden Kellner ganz unverständlich, und dann blickte Mojan diesen fragend an.
»Was ist das für eine Galeere, die Rindsroulade?«
»Das ist keine Gallerte, das ist - das ist - so eine Art von Schmorfleisch.«
»Eine drei- oder vierrudrige, meine ich.«
Der Kellner wußte nicht mehr, was er dazu sagen sollte.
»Sie geht ein Uhr fünfzig von Karthago ab?«
»Von Kart - Kart ... von was?«
»Na von hier - ich bin doch hier in Karthago.«
»Sie sind hier in San Francisco, Sir,« lächelte der Kellner, der wahrscheinlich noch gar nichts von Karthago gehört hatte, oder es mochte auch ein Karthago in Amerika geben, der Yankee liebt ja solche klassische Städtenamen.
»In San Francisco bin ich hier?« staunte jetzt der kleine Dicke.
»Jawohl, Sir.«
Da verwandelte sich das staunende Gesicht wieder in die tiefste Schwermut, Mojan stemmte die Ellenbogen auf den Tisch, und tat, als wolle er in den unsichtbaren Haaren wühlen.
»In Frisco bin ich - und ich dachte, ich wäre in Karthago - ach, du mein armer Schädel! - alles weg, alles weg - sogar meine Haare. Was für ein Datum schreiben wir denn heute?«
»Den 2. Juli.«
»Juli, Juli,« murmelte Mojan, »ja ja, ich weiß schon - der heilige Julius. Und was für ein Jahr?«
»1882.«
»Vor oder nach Christi Geburt?« erkundigte sich Mojan zur Vorsicht noch genauer.
»Nach Christi Geburt,« kam ein anderer, gebildeterer Kellner seinem perplexen Kollegen zu Hilfe.
»Nach Christi Geburt? Ja, da freilich ist es kein Wunder, wenn mir unterdessen die Haare ausgefallen sind, und ich hatte dereinst doch einen stattlichen Pelz. Ach, diese schrecklichen Erinnerungen an die früheren Lebensläufe! Und egal und egal wiedergeboren zu werden! Da existiert Tyrus wohl überhaupt gar nicht mehr?«
Jetzt ging allen drei Kellnern gleichzeitig die Erkenntnis auf. Auch sie feierten eine Art von Wiedergeburt. Es hatte ja genug in den Zeitungen gestanden.
»Nein, Sir, von dem alten Tyrus sind nicht einmal mehr die Trümmer vorhanden,« erklärte lächelnd der gebildetste der drei Ganymeds.
»Nicht einmal mehr die Trümmer vorhanden?« wiederholte das dicke Männchen mit vieltausendjähriger Vergangenheit klagend. »Und ich hatte in Tyrus meinen Regenschirm stehen lassen. Na, dann brauche ich auch den Fahrplan nicht.«
Mit diesen Worten gab Mojan dem Kellner die Speisekarte zurück.
»Das ist aber die Frühstückskarte, Sir.«
»Die Frühstückskarte?«
Mojan nahm den beschriebenen Karton, knipste ihn wie eine Geldnote an, hielt ihn auch wie eine solche gegen das Licht.
»Wirklich. Das hätten Sie gleich sagen sollen. Na da bringen Sie mir ... Stangenspargel, drei Stück, mittelkräftig.«
Etwas verdutzt über die seltsame Bestellung, wie der Stangenspargel behandelte, nun aber doch schon wissend, um was es sich handelte, entfernte sich der Kellner.
Mojan stierte inzwischen trübselig vor sich hin und auch als die Schüssel mit Spargel in Butter vor ihn hingestellt wurde, erwachte er noch nicht aus seinen schwermütigen Träumen, sondern langte, ohne hinzublicken, über seinen Teller hinweg in die Schüssel hinein, nahm von der Portion eine lange Stange, steckte sie mit der Spitze in den Mund, griff eben so ungesehen nach dem Feuerzeug, ritzte ein Streichholz an und wollte die Spargelstange anbrennen, zog am anderen Ende, behandelte sie also ganz als Zigarre.
»Kellner!«
»Sir?«
»Das Luderzeug will ja gar nicht brennen.«
»Das ist auch keine Zigarre, Sir, das ist eine Stange Spargel.«
Bedächtig nahm Mojan die vermeintliche Zigarre aus dem Munde, betrachtete schwermütig die buttrige, mit gerösteter Semmel bestreute Virginia.
»Das ist wirklich keine Zigarre?« klagte er mit ganz weinerlicher Stimme. »Ach, mein Kopf, mein armer Kopf - diese verdammte Wiedergeburt. Aber ich hatte doch drei Stück Zigarren bestellt.«
»Sie hatten Spargel bestellt, Sir.«
»Dann bringen Sie mir drei Stück Zigarren, mittelkräftig.«
Während der Kellner das Verlangte holte, begann Mojan die Spargelstange zu verzehren, mit dem verbrannten Ende anfangend, ganz bedächtig, nicht wie man für gewöhnlich Spargel ißt, ganz in Gedanken versunken, und dabei, eigentümlich wie sein Geschmack einmal war, die Stange vor jedem Bissen in den Senftopf tauchend, und als diese fertig war und unterdessen die Zigarren vor ihm standen, nahm er eine solche, tauchte sie ebenfalls in den Senftopf und begann die Zigarre Bissen für Bissen aufzufressen, ohne eine Miene dabei zu verziehen.
Die Kellner verschluckten ihr Kichern, und auch der andere Gast hatte schon längst hinter seiner Zeitung den sonderbaren Kauz beobachtet.
Das Erscheinen der frischwaschnen Büfettmamsell hinter der Tafel, auf der kalte Speisen aufgebaut werden sollten, gaben dem Ganzen eine neue Phase.
Beim Anblick der hübschen, jungen Dame reckte Mister Cerberus Mojan seinen kurzen, dicken, aber gummiartigen Hals wie eine Schildkröte hervor, stand auf, und so, mit vorgerecktem Halse schlich er langsam gegen das Büfett vor.
»Talmina,« erklang es schmachtend, »Talmina, mein dreitausendjähriges Weib - endlich sehe ich dich wieder!«
Die junge Dame starrte den Sprecher natürlich fassungslos an.
»Talmina - kennst du mich denn wirklich nicht mehr?«
»Sie irren sich wohl, Sir, ich heiße nicht Talmina.«
»Ich weiß, ich weiß - Ecclesia war dein eigentlicher Name - aber in prophetischer Ahnung, daß dreitausend Jahre später das Talmi erfunden würde, nannte ich dich schon damals Talmina.«
Die Kellner machten krampfhafte Anstrengungen, um sich nicht vor Lachen wälzen zu müssen. Der kleine Dicke hatte nämlich gleich das Richtige getroffen - die von Natur schlanke Dame hatte sich an gewissen Stellen des Körpers ganz unverschämt ausgestopft.
Die Büfettmamsell schien die Anspielung aber gar nicht zu verstehen. Und hätte sie es, so würde sie es kaum übelgenommen haben. Denn die Hauptkunst des unvergleichlichen Komikers lag vielleicht darin, dies alles so hervorzubringen, daß niemand ihm seinen Unsinn übelnehmen konnte. Sonst wäre so etwas in Amerika auch sehr riskant gewesen, er hätte leicht einmal einen Faustschlag zwischen die Augen oder gar eine Revolverkugel zwischen die Rippen bekommen können.
»Ich kenne Sie nicht, mein Herr.«
»Nicht? Ich bin doch der Plautius Latrinus - ehemals der König von Böotien, der dann als Sklave nach Athen kam, woselbst ich schließlich als Inspektor einer gewissen Abteilung von Häuserchen auf dem Kapitol angestellt wurde, weswegen ich den ehrenvollen Beinamen Latrinus erhielt - und du füttertest die Wächter des Kapitols, die heiligen Gänse ...«
»Mein Herr, ich verbitte mir solche Anspielungen!« versuchte die junge Dame jetzt beleidigt zu tun, was ihr aber schlecht gelang, war es doch auch eine recht unglückliche Abwehr gewesen.
Und Mojan trieb es ja nie lange, er wandte sich schon wieder ab, schwermütig das Haupt schüttelnd.
»Niemand kennt mich mehr! Selbst mein dreitausendjähriges Weib verleugnet mich - wie mich schon drei Mütter verleugnet haben - und ein halbes Dutzend Väter!«
Sein nächstes Opfer war der zweite Gast, der soeben seine riesige Zeitung weggelegt hatte, und den er somit erst jetzt zu bemerken schien.
In weitem, aber immer enger werdendem Bogen schlich er zuerst um ihn herum, ihn von allen Seiten betrachtend. Der noch sehr junge Mann, dem noch kein Bart sproßte, folgte ihm mit kalten Blicken. Man war ja in Amerika, hier war alles möglich, auch das, daß der junge Mann kaltblütig einen Revolver zog und den ihn Umschleichenden niederschoß. Auf solche Eventualitäten mußte der Juxmacher eben gefaßt sein.
Doch es sollte nicht zum Schießen kommen.
Mojan blieb schließlich vor ihm stehen, ein seliges Lächeln begann sein Mopsgesicht zu verklären.
»Ardarich!«
Auf schnellte da der junge Mann.
»Was, Sie kennen mich?!«
Jetzt wäre es eigentlich an Mister Cerberus Mojan gewesen, seinen Rachen vor Staunen aufzureißen. Aber keine Spur davon.
»Na und ob! Nee, ist es möglich! Nee, der Gepidenherzog Ardarich.«
»Aber wer sind denn Sie, mein Herr?«
»Kennst du mich denn wirklich nicht mehr?« Mit unerschütterlichem Gesicht betrachtete der junge Mann den kleinen Dicken prüfend von oben bis unten.
»Doch nicht etwa gar ...«
»Na? Na?«
»Diese untersetzte Gestalt mit den mächtigen Schultern - dieser Jupiterkopf mit den finsteren, energischen Zügen - diese massige Stirn - dieser ganze Mann, zum Herrschen geboren ...«
»Jawohl, jawohl,« frohlockte Mister Mojan geschmeichelt. »Na, na, wer bin ich denn?«
»Doch nicht etwa gar ... Attila?«
»Jawohl, jawohl, ich bin's!«
»Attila, mein Busenfreund!«
»Ardarich, meine einzige Zuckerschnute!«
Und die beiden, die sich nach fünfzehnhundert Jahren wiedergefunden hatten, lagen einander in den Armen.
Ja, hier hatten sich auch wirklich die Richtigen gefunden! Auch der junge Mann mußte die Geschichte kennen, wollte er seine Rolle durchspielen.
Ardarich, Herzog des germanischen Volksstammes der Gepiden, war der erste, dessen Waffenbündnis der Hunnenfürst auf friedlichem Wege suchte, eben wohl die Macht der Gepiden und ihres kriegsgeübten Herzogs fürchtend. Indem er ihm auf der Eberjagd, wie die Historie meldet, das Leben rettete, soll ihm das auch gelungen sein. Ardarich war auf allen Kriegszügen Attilas dessen treuester Waffengefährte. Aber sofort nach Attilas Tode wandte Ardarich sein Schwert gegen die Hunnen, besiegte sie in einer Schlacht, in der 50 000 Hunnen ihr Leben verloren, setzte sich in den Besitz von Dacien und rückte auf eigene Faust gegen Rom vor, das ihm bis zu Justinians Tode Tribut zahlte. Dann aber fiel er durch Verrat doch in römische Hände, soll in Rom lebendig geschunden worden sein.
»Na, du alter Gepide, was machst du denn immer?«
»Ich danke, es geht mir jetzt gerade so lala.«
»Nicht besonders? Was bist du denn jetzt?«
»Friseur.«
»Friseur? I, da könntest du mir doch gleich ein Fäßchen Schmieröl abkaufen.«
Und schon brachte Mister Cerberus Mojan schmunzelnd sein Auftragsbuch zum Vorschein.
»Mit Schmieröl handelst du?«
»Mit Schmieröl, Schwefel, Schokolade,« deklamierte der kleine Dicke geläufig.
»Da bist du doch nicht etwa der berühmte Mister Cerberus Mojan, von dem ich hier schon so viel gehört habe?«
»Bin ich. Und wie heißt du denn jetzt?«
»Ernest Lehman. Du, Attila, du kommst mir gerade wie gerufen.«
»Wieso denn?«
»Ich bin jetzt nämlich gerade außer Stellung.«
»O, mein Ardarich, wenn's weiter nichts ist,« sagte Mojan und hatte schon die Hand in der Tasche.
»Mit wieviel ist dir denn geholfen?«
Es waren aber nur einige Silberdollar, sogar Kupfermünzen, die der ehemalige Hunnenfürst zum Vorschein brachte.
»Nein nein,« wehrte der ehemalige Gepidenherzog und jetzige Friseur denn auch sofort ab, »auf diese Weise kann ich von meinem Waffenfreunde nichts annehmen. Es handelt sich auch um etwas ganz anderes. Zunächst eine Frage: Kannst du, Attila, mich irgendeiner Lüge zeihen?«
»Nicht der geringsten Unwahrheit.«
»Habe ich mein Ehrenwort nicht immer gehalten?«
»Immer.«
»Wie ich dir zum Beispiel bis zu deinem Tode treu geblieben bin.«
»Darüber ist gar kein Wort mehr zu verlieren.«
»Und glaubst du, daß sich ein Charakter durch die Wiedergeburt ändert?«
»Niemals, wenigstens nicht, wenn es einmal ein edler Charakter ist.«
»Also auch als bescheidener Friseur muß ich ein tadelloser Ehrenmann sein.«
»Unbedingt. Daß du jetzt Friseur bist, hat gar nichts zu sagen, man kann sich seine Eltern nicht freiwillig wählen.«
Das Gespräch schien mit einem Male recht ernst werden zu wollen.
»Also auch jetzt kannst du meinem Worte trauen, nicht wahr?«
»Bedingungslos.«
»Und ich habe hier das Wort des Hunnenfürsten Attila. Gut! Nun wirst du dich entsinnen, daß wir unsere Blutsfreundschaft am Ufer der Drau schlossen.«
»Jawohl, zwischen der Drau und der Sau, und ich erfand das hübsche Spielchen, was wir immer zusammen spielten: drau, sau, wem. Jetzt nennt man es meine Tante, deine Tante. Erinnerst du dich noch?«
»Ganz gewiß. Wir spielten mit abwechselndem Glück. Einmal verlorst du, einmal verlor ich. War es nicht so?«
»Wie es so gewöhnlich beim Spiele zugeht.«
»Zuletzt aber warst du es, der verloren hatte. Du wirst dich doch noch genau entsinnen. So erlaube ich mir, dich zu erinnern, daß du mir noch hundert Pfund Gold schuldest - keine englischen Pfund Sterling, die gab es damals noch nicht, sondern römische Pfund Gewicht. Das macht nach heutigem Gelde etwa 30 000 Dollar. Du hast wohl, die Güte, da du ja auch in den Verhältnissen dazu bist, diese Ehrenschuld gleich jetzt zu begleichen. Es braucht kein Gold zu sein, ich nehme auch einen Scheck an.«
Mister Cerberus Mojan hatte schon lange seinen Rachen nicht mehr aufgerissen, das holte er jetzt mit doppelter Gründlichkeit nach, dann sagte er »Au!« weiter nichts, und dann drehte er sich auf der Stelle um, so daß Gepidenherzog Ardarich des Hunnenfürsten Attila unverschämt dickes Hinterteil bewundern konnte.
»Sie werden mir doch nicht abstreiten können, daß Sie mir die hundert Gewichtspfund Gold wirklich schulden; denn Sie haben doch selbst zugegeben, daß ich keiner Lüge fähig bin - hier sind drei, vier Zeugen vorhanden.«
»Jawohl, wir haben es gehört,« beeilten sich die drei Kellner zu versichern.
Da wandte sich Mojan wieder um, und es war ein gar listiges Lächeln, welches in seinen fetten Zügen spielte.
»Alter Junge, Sie können auf diese Weise doch nicht den Attila, noch weniger den Cerberus Mojan über's Ohr hauen!«
»Was über's Ohr hauen!« stellte sich der junge, in Geldverlegenheiten befindliche Mann entrüstet. »Sie geben zu, daß ich ...«
»Daß Sie früher der Gepidenherzog Ardarich gewesen sind,« fiel Mojan ins Wort. »Ja, das weiß ich, ich habe Sie sofort wiedererkannt. Aber ich bezweifle, daß Sie jetzt der Friseurgehilfe Ernest Lehman sind. Da schwindeln Sie mir etwas vor.«
»Herr!!«
»Ruhe. Ich habe Ihre Bekanntschaft doch auch schon in diesem Leben gemacht.«
»Meine?« stutzte der andere. »Nicht, daß ich mich entsinnen könnte.«
»Na nu! Wir sind doch schon mehrmals zusammen gewesen.«
»Wo denn?«
»Na, zum Beispiel - zum Beispiel - auf einer Argonauteninsel. Stimmt's? Einen Namen will ich lieber nicht nennen.«
Diesmal war es der junge Mann, der sich hastig umwendete, aber nur, um seinen Hut vom Nagel zu nehmen.
»Kellner, zahlen!«
Ja, Nobody war etwas baff. Er war überzeugt, daß ihn bei diesem jugendlichen Aeußeren, das er sich zu geben gewußt, seine eigene Frau nicht erkannt haben würde - aber für die Augen dieses kleinen Mannes, der sich immer als verrückter Harlekin aufspielte, schien es gar keine Maskierung zu geben - oder er mußte die Nase eines Jagdhundes besitzen. Hiervon hatte Nobody ja schon mehrmals Beweise bekommen.
»Gehen wir!«
Auch Mojan hatte bezahlt. Sie traten hinaus auf die Straße.
»Nee,« fing Mojan draußen gleich wieder an, »nee, daß wir uns schon von früherher kennen - daß Nobody mein alter Freund der Gepidenherzog Ardarich gewesen ist!«
»Na, nun hören Sie einmal auf mit dem Unsinn.«
»Was, Unsinn?!« sagte aber Mojan, gleich wieder stehen bleibend. »Sie denken wohl, ich mache Spaß?«
»Was denn sonst.«
»Nein, wirklich nicht! Haben Sie denn nicht von dem Sennor Jose di Renardo gehört, welcher ...«
»Ich kenne die ganze Geschichte.«
»Wie man durch Unterricht bei ihm sich an seine früheren Lebensläufe erinnern sollte?«
»Ich weiß alles.«
»Nun sehen Sie, ich bedurfte nur einer einzigen Unterrichtsstunde, so kehrte mir die Erinnerung an meine früheren Lebensläufe zurück. Zuerst erkannte ich in dem Spanier selbst meine ehemalige Mutter ...«
»Hören Sie, ich will Ihnen etwas offenbaren: es war doch ein Diener, oder ein Assistent, der Sie in den gemeinsamen Saal führte.«
»Woher wissen Sie das?«
Damals hatte Mojan also seinen alten Freund doch nicht wiedererkannt. Das brauchte ja auch nicht immer der Fall zu sein, es kam nur bei besonderen Gelegenheiten vor.
»War es nicht so?«
»Jawohl.«
»Nun, dieser Assistent war ich selbst.«
Und Nobody erzählte. Von seinen weiteren Entdeckungen schwieg er allerdings, wie er den Spanier als professionellen Dieb und Einbrecher erkannt hatte. Es hatte sich nur darum gehandelt, das sonstige Lügengewebe aufzudecken.
»Und er hat Ihnen gestanden, daß er selbst nicht an eine Wiedergeburt glaubte?«
»O ja, das tat er wohl,« mußte Nobody, der Wahrheit die Ehre gebend, zugestehen.
»Na also!«
»Aber er selbst konnte sich seiner früheren Lebensläufe nicht erinnern. Das mit dem Franzi Fiebli aus dem Kanton Uri und so weiter war alles der pure Schwindel.«
»Er selbst nicht, sagten Sie. Aber hielt er es nicht für möglich, daß man sich dennoch unter Umständen seiner früheren Leben erinnern könnte?«
Nobody merkte schon, wie ihn das dicke Männchen in die Enge trieb, und er wußte beim besten Willen keinen Ausweg.
Kurz und gut, bei Cerberus Mojan war damals dank der Atemübungen mit den Verslein und dank dem magnetisierten Elixier die Rückerinnerung zum Ausbruch gekommen, und die ging so weit zurück, daß er sich noch seines Zustandes als Protoplasmaklümpchen erinnern konnte, wie er als gewöhnlicher Affe und später als Menschenaffe im Urwald gesessen hätte, bei dieser Behauptung blieb er, und nun sollte Nobody ihm einmal das Gegenteil beweisen. Wenn er selbst nicht daran glaubte, wie er es vorhin nur zum Schein getan, so konnte er jetzt nicht einmal dagegen sprechen, daß er vor fünfzehnhundert Jahren der Gepidenherzog Ardarich gewesen sei, der mit Attila immer geknobelt habe. Mojan erkannte ihn eben wieder, und damit basta!
»Stimmt, stimmt, ich erinnere mich recht gut - jawohl, ich schulde Ihnen noch hundert römische Pfund Gold, die Sie mir abgeknobelt haben, ich hatte den Zentner Gold gerade nicht in der Tasche, blieb ihn Ihnen auf Ehrenwort schuldig - gewiß, die hundert Pfund sollen Sie haben, mein Lieber, sollen Sie haben.«
»Mojan, Sie sind ein schrecklicher Kerl!« konnte Nobody nur sagen.
»Weil ich meine Ehrenschuld begleichen will? Es tat mir übrigens herzlich leid, daß ich darüber starb.«
»Wissen Sie denn, wie Sie als Attila überhaupt Ihren Tod gefunden haben?« versuchte Nobody jetzt eine Falle zu stellen.
»Welche Frage, ob ich das weiß! Haben Sie denn das nicht nachträglich in der Schule gelernt?«
»Na, wie denn?«
Nobody hoffte schon, ihn jetzt endlich zu haben, auf diese Weise wollte er sich nicht fangen lassen.
»Na, ich bin doch von der Ildicho ermordet worden, gerade als ich mit ihr die Brautnacht feierte. O je, o je, wenn das meine jetzige Frau wüßte!«
Ja freilich, wenn Mojan so gut in der Geschichte bewandert war, da war ihm schwer etwas anzuhaben.
»Und Sie sind doch in Rom skalpiert worden, d. h. gleich am ganzen Leibe. Was war denn das für ein Gefühl?«
Auf diese Weise ging es noch eine gute Weile weiter. Nobody kämpfte vergebens dagegen an, bis er sich schließlich in sein Schicksal ergab. Und Mojans Phantasie war unerschöpflich, alles und jedes diente ihm zur Anregung. Als er einen zahmen Papagei erblickte, erzählte er mit allen Einzelheiten, wie auch er dereinst ein solcher gewesen sei, und verfolgte seinen Werdegang weiter zurück bis zum vorsündflutlichen Mastodon und Ichthyosaurus und ...
»Hören Sie, ich habe keine Zeit, Ihnen zu lauschen, bis Sie beim mikroskopischen Infusorium und beim Protoplasmaklümpchen angelangt sind. Wohin führen Sie mich eigentlich?«
»Nach meiner Wohnung, da frühstücken wir erst einmal richtig zusammen,« war die vergnügte Antwort.
»Haben Sie denn auch in Frisko eine Wohnung?«
»Nu und was für eine! In Frisko habe ich doch den größten Teil meines Vermögens verdient, mit Walfischtran, den ich in Schmieröl umwandelte, da muß man doch dankbar sein.«
»Wo ist die Wohnung?«
»In Etlentown. Wir fahren gleich mit der Straßenbahn hin.«
Diesmal war es Nobody, welcher einmal stehen blieb, wenigstens hatte sein Schritt etwas gestockt, und das konnte wohl nur ein Zeichen der größten Ueberraschung gewesen sein.
»Ich kenne diese Vorstadt. In welcher Straße wohnen Sie denn da?«
»Holyplace Nummer 8.«
»Ist das nicht das reizende Häuschen im Schweizer Stil?«
»Sie kennen die Villa?« rief Mojan erfreut. »Jawohl die gehört mir.«
Und Nobody erkannte wieder einmal das unbegreifliche Walten des Schicksals, vorausgeahnt von seinem prophetischen Freunde, Schwarz auf Weiß niedergelegt in dem roten Buche!
Denn die nächste geographische Bestimmung, wieder außerordentlich genau bis auf Zehntelsekunden gemacht, gab nichts anderes an als eben dieses Haus in Etlentown, einer reichen Villenkolonie von San Francisco.
Das hatte Nobody bereits gestern abend konstatiert, als er aus dem Osten in San Francisco angekommen war. Das heißt, nur auf der Spezialkarte, welche auch von den einzelnen Vorstädten die Straßen angab, an den schraffierten Häusern sogar die Nummern.
So hatte er erkannt, daß nur das Grundstück am Holyplace Nummer 8 in Betracht kommen könnte, und zufällig entsann er sich, früher einmal in Etlentown gewesen zu sein, daß dies eine kleine Villa im schweizerischen Stil sei.
Aber daß diese seinem Freunde Mojan gehöre, davon hatte er nicht die geringste Ahnung gehabt!
Er war gestern abend spät sehr ermüdet angekommen, hatte trotzdem noch Zeit gehabt, in dem Hotel, in dem er abgestiegen - eben das, in dem er heute morgen schon gefrühstückt hatte - gleich zwei chinesische Zimmeraufwärter in Hypnose zu nehmen, sie nach dem Zwecke des in dem Zopfe vorgefundenen Pergaments ausforschend. Doch beide hatten in der Hypnose, wo ja die Geisteskraft ganz besonders geschärft ist oder doch auf Befehl verschärft werden kann, die Geheimschrift nicht entziffern können, überhaupt von gar nichts gewußt. Es waren ganz harmlose chinesische Diener gewesen.
Vorhin hatte er sich auf den Weg nach Etlentown machen wollen, als Mojan in das Gastzimmer getreten war. Er hatte dieser unverhofften Wiederbegegnung keine Bedeutung beigemessen, eben ein Zufall, hatte sich nur über den verrückten Kauz amüsiert.
Und nun mußte Mojan ihm hier auf der Straße mitteilen, daß er selbst Besitzer des betreffenden Hauses sei!!
Doch Nobody staunte über gar nichts mehr. Einmal überrascht werden, das ist etwas anderes.
»Sie kommen mir wie gerufen,« nahm Mojan wieder das Wort.
»Wieso?«
»Haben Sie mich schon einmal bezecht gesehen?«
»Schon zu wiederholten Malen.«
»Sooo? Aber so wie gestern jedenfalls noch nicht. Das hätten Sie sehen sollen.«
»Was war denn da los? Eine Gesellschaft?«
»Ganz solo. Große Geister lieben die Einsamkeit. Außerdem bin ich ein bescheidener Mensch, und Sie kennen doch das Sprüchwort: Dem kleinen Veilchen gleich, das im Verborgnen blüht, trink immer viel und gut, auch wenn dich niemand sieht. Also ich kam gestern früh hier an, hatte mir ein Fäßchen spanischen Wein mitgebracht, direkt aus Spanien ...«
»Sie kommen aus Spanien?«
»Direkt.«
»Was haben Sie denn da gemacht?«
»Eine Vergnügungsreise mit meiner Frau. Aber ich bin allein zurückgekommen, meine Frau steckt noch in den Pyrenäen.«
Plötzlich fühlte Nobody das rote Notizbuch in seiner Brusttasche wie Feuer brennen. Die nächste geographische Bestimmung bezog sich auf die Pyrenäen!
»Weshalb sind Sie denn allein zurückgekommen?«
»Nur so, schnell einmal, ich wollte hier nur ein paar Choleratropfen einnehmen.«
»Na, nun hören Sie einmal auf! Gar zu weit dürfen Sie Ihre Verrücktheit nicht treiben, sonst wird's unglaubwürdig.«
»Sie glauben's nicht? Meine Choleratropfen sind alle geworden, und nirgends können die so gut gemacht werden wie hier in San Francisco in der Lion-Apotheke.«
»Da konnten Sie sich die doch auch schicken lassen.«
»Nee, da muß ich selber dabeisein.«
Nobody brauchte gar nicht so sehr den Kopf zu schütteln. An rastloser Reiselust übertraf er diesen Yankee ja vielleicht noch, und wenn es bei einer amerikanischen Lady etwas ganz Gewöhnliches, täglich Vorkommendes ist, daß sie heute in New-York in den Pacific steigt, um acht Tage später in San Francisco einen berühmten Tenor zu hören, noch an demselben Abend wieder zurückfährt durch ganz Amerika, dann war es Mister Cerberus Mojan auch zuzutrauen, daß er wegen eines Fläschchens Choleratropfen von Spanien schnell einmal nach San Francisco fuhr. Uebrigens hatte er sich jedesfalls auch nur einmal von seiner Frau für ein paar Wochen befreien wollen.
»Nun, wie war das mit Ihrer Bezecherei?«
»Ich ließ also das Fäßchen in den Keller bringen, Flaschen dazu, um es gleich abzuziehen. Das besorge ich alles selber. Es wurde aber nicht viel daraus. Ein köstliches Weinchen! Wie ich nun so nach einer Stunde schwerer Arbeit oben einmal frische Luft schnappen wollte, verlor ich die Balance und rollte die Kellertreppe hinunter. Das war gestern früh so gegen acht gewesen, und da habe ich bis abends sieben geschlafen.«
»Auf dem nackten Kellerboden liegend?«
»Jawohl. Ich hatte keine Zeit, mir erst eine Decke unterzulegen.«
»Haben Sie Diener in dem Hause?«
»Drei, die immer dasein müssen.«
»Wußten die denn nicht, wo Sie sich befanden?«
»Gewiß doch.«
»Wurden Sie denn nicht von ihnen gesucht?«
»Das wohl, aber hätte einmal einer wagen sollen mich zu wecken! Wäre mir etwas passiert, hätte ich mir etwas gebrochen, so hätte ich doch um Hilfe gerufen, und wäre ich tot gewesen, so hätten sie es schon nach ein paar Tagen am Geruche bemerkt.«
»Na, und nun weiter?« fragte Nobody kopfschüttelnd.
»Als ich wieder zu mir kam, fand ich mich also am Boden liegen, das Ohr noch ganz fest darauf, und ... da hörte ich unter mir ein leises Kratzen und Schaben und Picken. Unter mir in der Erde. Es hörte auch nicht wieder auf. Ich mußte aber mein Ohr immer ganz fest gegen den Boden legen, wenn ich's hören wollte.«
»Es werden Ratten gewesen sein.«
»Gibt's bei mir gar nicht.«
»Wenn Sie so selten zu Hause sind, dürften Sie das wohl nicht so bestimmt behaupten können.«
»Gut. Aber wo sollen sich denn die Ratten aufhalten?«
»Vielleicht in einem Kanal.«
»Ja, Schleusen gibt's wohl unter meinem Hause, aber dort gerade nicht, und ich werde doch mein Grundstück kennen, auf dem ich selbst gebaut habe.«
»Was soll es denn sonst gewesen sein?«
»Das sind Menschen, welche unter meiner Villa bohren und hämmern. Der Deiwel soll sie holen, was die sich eigentlich einbilden!«
»War es denn dem Geräusch nach sehr tief?«
»Das ist doch ganz egal! Wenn ich Boden kaufe, so gehört er eben mir, bis genau zum Mittelpunkt der Erde, da hat niemand darauf oder darin herumzukriechen!«
»Ja ja, da haben Sie schon recht,« lächelte Nobody. »Ich frage nur, ob das Bohren und Hämmern wohl recht tief unter der Erde geschah.«
»Wahrscheinlich. Wie gesagt, ich mußte das Ohr ganz fest auf den Boden pressen, sonst hörte ich nichts.«
»Haben Sie es dann noch einmal gehört?«
»Jawohl, heute früh erst wieder.«
»Also wirklich ein Bohren und Hämmern?«
»Ein Schaben und Picken.«
»Haben Sie schon zu jemandem darüber gesprochen?«
»Zu keinem einzigen Menschen.«
»Auch zu den Hausdienern nicht?«
»Ich sagte doch: zu keinem einzigen Menschen.«
»Können Sie von den Hausdienern nicht beobachtet worden sein, als Sie dort unten lauschten?«
»Eine Beobachtung und Belauschung ist bei Cerberus Mojan ganz ausgeschlossen,« war die selbstbewußte Antwort des Mannes, der sich vorhin mit einem bescheidenen Veilchen verglichen hatte.
»Und was wollten Sie nun tun?«
»Mir einen Kaninchenbohrer kaufen und die dort anbohren. Aber,«- Mojan kratzte sich hinter seinen Horchlöffeln, »wissen Sie, ich könnte doch zufällig danebenbohren, und überhaupt, wenn dort unten ein Tunnel ist, und es entsteht oben an der Decke plötzlich ein Loch, ob nun klein oder groß, und die sehen es - na, dann würde ich doch keinen vorfinden, wenn ich dann selbst unten bin.«
Da hatte Mojans Weisheit allerdings das Richtige getroffen - wenn an der ganzen Idee mit dem Kaninchenbohrer überhaupt etwas Wahres war.
»Was wollten Sie nun sonst tun?«
»Ja, das frage ich eben Sie! Das fiel mir ein, als ich schon unterwegs war, in Frisko, ich gab mein Vorhaben auf, wollte in einem Hotel etwas zu mir nehmen - und da mußte ich gerade Sie treffen!«
»Haben Sie mich denn wirklich gleich erkannt?«
»Offen gestanden, nein. Als ich den Ardarich aber näher in Augenschein nahm, weil mir der Friseurgehilfe doch gleich etwas gar zu schnell auf meine ehemalige Bekanntschaft einging, da freilich erkannte ich sofort meinen Nobody.«
»Und ich kann Ihnen nur meine Hochachtung sagen, Mister Mojan.«
»Die habe ich nicht nötig, ich weiß selbst, wer ich bin,« war wiederum die bescheidene Antwort. »Also, Sie werden die Sache in die Hand nehmen?«
»Jedenfalls werde ich Sie nach Ihrer Wohnung begleiten.«
Sie hatten eine Haltestelle erreicht und benutzten die Pferdebahn, welche hier noch fuhr.
Unterwegs, in dem vollbesetzten Wagen, sagte Mojan wohl einmal, welches Glück es gewesen sei, daß es damals, als er selbst ein Gaul war, noch keine Pferdebahn gegeben habe, aber sonst betrug er sich ganz vernünftig und belästigte nicht die anderen Passagiere.
Etlentown liegt herrlich zwischen dem oberen San Francisco und der Küste, und die reizendste Lage in dieser paradiesischen Gartenstadt hatte vielleicht die Schweizervilla.
Im Osten das hohe Felsengebirge, im Westen das unendliche Meer, und in dem großen Garten selbst aus erratischen Blöcken Miniaturgebirge und dazwischen tausendjährige Koniferen und andere uralte Waldbäume, deren es besonders in Kalifornien zwar noch viele gibt, aber wo sie stehen, und wo es angebracht ist, dorthin ein Wohnhaus zu bauen, da ist allerdings der Grund und Boden fabelhaft teuer.
Den Eingang zum Garten bildete die Höhlung einer kalifornischen Riesentanne, oder es war vielmehr ein ganzes Haus für sich, und glücklicherweise hatte der Eigentümer nicht gleich eine Portierloge daraus gemacht, sondern alles in seiner Naturwüchsigkeit gelassen. Daß Nägel eingeschlagen waren, innen, um etwas daranzuhängen, abgelegte Garderobe und dergleichen, und außen, um die Riesenfichte ersteigen zu können, das war etwas anderes, das war ebenfalls nur urwüchsig.
»Wie hoch ist diese Tanne?«
»Zweiundneunzig Meter, und unten im Durchmesser hat sie sechs Meter.«
Nun stelle man sich solch einen Riesenbaum vor! Und es finden sich in Kalifornien noch ganz, ganz andere! Auch hier in diesem Garten gab es noch größere Exemplare, und schon für den Holzwert eines einzigen hätte man sich eine recht hübsche Villa kaufen können.
Ein gläsernes Gewächshaus fesselte Nobodys Aufmerksamkeit. Die Glasscheiben befanden sich wie gewöhnlich zwischen eisernen Schienen, aber das Ganze machte einen so merkwürdigen, einen ganz anderen Eindruck, und dann ragte hinten eine große Schraube heraus, wie Dampfer sie haben, dort noch eine, und so war noch verschiedenes vorhanden, was sich Nobodys Phantasie nicht zusammenreimen konnte. Wenn er nicht inwendig Palmen und andere seltene Pflanzen gesehen hätte, er hätte das Ganze ebensogut für eine Luftschaukel wie für ein Gewächshaus gehalten. Anders läßt sich der merkwürdige Eindruck nicht beschreiben, den das Ding hervorrief.
»Was für ein komischer Glaskasten ist denn das?«
»Das? Na das ist doch mein lenkbares Luftschiff!« war die freudestrahlende Antwort.
»Was, lenkbares Luftschiff?!« konnte Nobody mit Recht staunen.
»Natürlich! Wissen Sie denn noch gar nicht, daß ich das lenkbare Luftschiff erfunden habe?«
»Nein, das ist mir wieder etwas ganz Neues.«
»Jawohl, selber ausgetüftelt, selber konstruiert und zusammengebaut, habe dreizehn Patente darauf genommen. Jawohl, ich habe das Problem mit dem lenkbaren Luftschiff schon längst gelöst. Das Ding hat mich gegen 50 000 Dollar gekostet. Es hatte nur einen einzigen Fehler.«
»Welchen?«
»Es wollte nicht in die Höhe gehen. Aber wenn es auf der Schiebkarre stand, konnte ich's ganz gut hin und her lenken. Nur eben fliegen wollte das vermaledeite Biest nicht. Na, da habe ich's zusammengehauen und mir ein Gewächshaus daraus machen lassen.«
Mag dieser einzige Fall genügen, wie es hier auf Cerberus Mojans Grundstück aussah. Man mußte sich nur erst richtig umschauen und alles ergründen, ehe man das alles zu würdigen verstand.
Dann befand sich Nobody in der Schweizervilla selbst, deren Inneres ebenfalls nichts an Kuriositäten und Verrücktheiten aller Art zu wünschen übrig ließ, sonst aber keinen verschwenderischen Prunk, vielmehr eine behagliche Einfachkeit zeigte.
Nobody, von dem Hausherrn für einige Minuten allein gelassen, stand am Fenster und genoß die herrliche Aussicht auf das Meer, welches sich kaum zweihundert Meter entfernt befand. Näher dürfen die Wohnhäuser wegen der flachen Küste, die bei einer Sturmflut keinen Schutz bietet, auch nicht gerückt werden.
Selbst die Aussicht aus diesem Fenster bot eine bemerkenswerte Rarität, nämlich den berühmten Robbenfelsen von San Francisco, besonders deshalb einzig in seiner Art, weil er noch Kegelrobben zum Aufenthalt dient.
Einst waren die Kegelrobben, eine besondere Art ihres Geschlechtes, sehr zahlreich im Stillen Ozean. Sie fielen zu allererst den mordgierigen Menschen zum Opfer, eben deswegen, weil man sich zu ihrer Erbeutung nicht erst in die eisigen Gegenden des Nord- oder Südpols zu begeben braucht.
Wie schnell eine ganze Tiergattung aussterben kann, davon wurde hier einmal ein Beispiel gegeben. Zur Zeit der ersten Europäer an der amerikanischen Westküste in Herden von vielen Tausenden vorkommend, galt schon zu Beginn des Bürgerkrieges das letzte Stück dieser Robbenart für erlegt.
Aber das war doch nicht der Fall. Kurz nach Beendigung des Bürgerkrieges, gerade an dem Tage, als in San Francisco ein großartiges Friedensfest gefeiert wurde, zeigten sich draußen im Meere auf einer einsamen Felsenklippe drei Kegelrobben, und sofort wurde der Entschluß gefaßt, diese Robben und die Klippe für unantastbar zu erklären, für alle Zeiten, was dann sogar gesetzlich geregelt wurde.
Es ist dies um so anerkennenswerter, weil man gerade damals mit dem Gedanken umging, diese der Schiffahrt hinderliche Felsklippe wegzusprengen, und da dies nun nicht geschah, mußte man deshalb unter enormen Kosten an anderer Stelle einen Leuchtturm mitten im Meere errichten.
Die drei Kegelrobben hatten bald heraus, daß man ihnen hier nicht nachstellte. Die Felsenklippe wurde ihre engere Heimat, sie vermehrten sich darauf, und wenn irgendwo noch eine Kegelrobbe erbeutet oder für den zoologischen Garten gefangen wird, so wird sie wohl sicher von dieser Klippe von San Francisco stammen, d. h., sie wird wohl darauf geboren worden sein, hat dann aber auswandern müssen.
Denn die Kegelrobben scheinen für gesundheitliche Wohnungsverhältnisse eine Art von polizeilichem Reglement zu besitzen. Als es ihrer siebenundzwanzig Stück geworden waren, wurden es auch nicht mehr. Es wurden wohl noch immer welche geboren, die Jungen wurden auch großgezogen, aber sobald sie sich ihre Nahrung allein suchen konnten, mußten sie hinaus in die Fremde, und nur wenn ein Altes stirbt, darf eines zurückbleiben und sich auf dem Riff in den Strahlen der Sonne wärmen, so daß die Zahl 27 immer voll bleibt.
So war es vor fünfzig Jahren, und genau so ist es noch heute. Der Robbenfelsen bei San Francisco ist ein unantastbares und unnahbares Heiligtum. Wer ihn betritt, wird mit ?hard labor? bestraft, d. h. mit Zuchthaus, wenn auch nicht dem unseren entsprechend. So weit dürfte es aber kaum kommen, der Betreffende würde wohl vorher gelyncht werden, und das ganz sicher, hätte er etwa Jagdgelüste gehabt. Und auch heimlich könnte man sich dem Felsen wohl schwerlich nähern. Diese Robben wissen, was sie zu bedeuten haben, und es sind gar respektable Tiere, die sich zu wehren wissen, auch würde ihr Bellen, im Hafen noch hörbar, gleich alles alarmieren.
Es wird erzählt, als einmal ein Boot sich in der Nacht dem Felsen näherte, sei im Hafen von San Francisco eine Robbe erschienen, sei ans Ufer gewatschelt, habe gebellt und einen Konstabler am Rock gezogen, er solle mitkommen, es sei dort jemand zu arretieren, und noch unglaublicher klingt es, die Robben hätten einmal einen Liebhaber gleich selbst arretiert, ihn schwimmend an Land gebracht und auf der nächsten Polizeiwache abgeliefert.
Jedenfalls wird gerade durch diese Uebertreibungen gezeigt, mit welcher Zärtlichkeit die Kalifornier an ihren Robben hängen.
Diesen Felsen also konnte Nobody von hier aus sehen, was den Wert des Hauses jedenfalls gleich um das Doppelte erhöhte, und selbst mit bloßen Augen konnte er auch ganz deutlich die Robben erkennen, wie sie ihre kugelrunden Leiber der Sonne aussetzten, wie sie hinauf und hinab rutschten und im Wasser plätscherten.
»Wissen Sie,« sagte der eintretende Mojan, »wenn ich diesen fettstrotzenden Burschen so zusehe, kriege ich immer Appetit, ich kann eben erst vom Essen aufgestanden sein.«
Ja, dieser Yankee hatte allerdings eine große Aehnlichkeit mit solch einer kugelrunden Kegelrobbe, sogar im Gesicht, und dabei trotz allen Fettes ebenso beweglich.
»Waren Sie schon unterdessen im Keller?« fragte Nobody mit gedämpfter Stimme.
»Noch nicht, und erst wollen wir frühstücken, der Tisch ist nebenan schon gedeckt.«
»Aber das Geräusch ist doch die Hauptsache ...«
»Die Hauptsache ist,« fiel ihm Mojan ins Wort, ebenso mit gedämpfter Stimme, »daß wir einen Grund haben, um unauffällig in den Keller zu gehen, und das kann nur der sein, daß wir meine Weinfässer auf ihren Inhalt prüfen wollen, und dazu müssen wir doch erst vorgelegt haben.«
Er hatte recht. Auch dieses quecksilberne Männchen konnte äußerst vorsichtig sein, und sonst wäre es im Leben wohl schwerlich zu etwas gekommen.
Ein Diener legte an den gedeckten Tisch im Nebenzimmer soeben die letzte Hand, und das war wiederum ein Chinese, woran nichts Auffälliges war. Chinesen sind, wenn einmal an Reinlichkeit gewöhnt, in Amerika als Diener bevorzugt, besonders auch als Köche.
Bemerkenswert aber war, daß dieser Chinese keinen Zopf besaß, vielmehr volles, kurzes Haar hatte, und dennoch konnte es ein echter, seiner Religion treuer, also ungetaufter Chinese sein.
Ueber den Zopf des Chinesen herrscht überhaupt recht viel Unklarheit. Nach allgemeiner Ansicht muß jeder echte Chinese einen Zopf haben, und das schon seit Menschengedenken.
Das ist ja grundfalsch. Die Sitte des Zopftragens ist in China erst im 14. Jahrhundert unserer Zeitrechnung eingeführt worden. Daher findet man in den früheren Reiseschriftstellern auch gar nichts von einem chinesischen Zopfe erzählt. Damals trugen die Chinesen ihr Haar noch kurz wie die Japaner. Der erste Mandschu-Kaiser der jetzigen Dynastie hatte eine Haarflechte, nur in der Mitte des Scheitels blieben ihm Haare stehen, die ließ er lang wachsen, alles mußte die Mode mitmachen, sich also den übrigen Teil des Kopfes rasieren, und dann allerdings machte dieser Kaiser auch gleich eine Religion aus dem Zopfe, wie alles noch heute ist.
Das gilt aber nur für die Anhänger der Staatsreligion, deren Stifter der bekannte Kon-fu-tse oder Konfuzius ist. Dann gibt es aber in China noch eine ganze Menge andere Sekten, vor allen Dingen Fo-lis, Anhänger Buddhas, dort Fo genannt, und diese tragen keinen Zopf, und sie werden deshalb durchaus nicht verachtet oder gar verfolgt, sie können nur keine Beamten werden, sonst die Sehnsucht jedes Chinesen, denn dazu müßten sie bezopfte Konfuzianer sein.
»Ist alles da? Ja. Packe dich!«
Aber der Chinese zögerte noch.
»Na, was willst du noch, o Han-si, Erfinder des Papierdrachens?«
»Ob Mastel ellaubt, daß ich heute abend follgehen dalf,« grinste Han-si. Dem berühmten General Han-si wird nämlich die Erfindung des in China so beliebten Papierdrachens zugeschrieben, und wie alle Chinesen konnte der Diener das r nicht aussprechen, schob dafür mit Vorliebe ein l ein.
»Heute abend erst? Warum fragst du mich da schon jetzt, Sohn der heiligen Himmelskuh?«
»Weil - weil - Mastel nachel follgehen könnte.«
»Nein, weil du weißt, daß ich am besten bei Laune bin, wenn ich mich zum Frühstück hinsetze. Sehen Sie, so schlau sind diese Schlingels. Ja, du darfst ausgehen.«
»Bis flüh?«
»Ja, bis flüh.«
Der Chinese verschwand.
»Haben Sie noch mehr Chinesen im Hause?« fragte Nobody.
»Nur diesen einen. Es ist ein Fo-li.«
Ueber diese chinesischen Verhältnisse sprachen die beiden weiter beim Frühstück, wir wissen, daß auch Mojan früher lange Jahre in China gewesen war.
»Nun kommen Sie, jetzt will ich Ihnen meinen Weinkeller zeigen.«
Mit einem Lichte ging es hinab, ziemlich tief. Die Kellertür hatte Mojan hinter sich geschlossen, und Nobody hatte noch ein besonderes Zeichen gemacht, falls die Tür heimlich geöffnet werden sollte.
Den vielen großen und kleinen Weinfässern ward vorläufig keine Beobachtung geschenkt. Gleich neben der Treppe war die betreffende Stelle, und es sah merkwürdig genug aus, wie sich das kleine dicke Männchen, ohne Rücksicht auf seine Kleider zu nehmen, auf den nicht eben reinlichen Boden legte und sein Ohr dagegen preßte. Wenn er so zwölf Stunden lang geschlafen hatte, mußte er eben einen Mordsrausch gehabt haben. Er balancierte nämlich dabei gewissermaßen auf dem Bauche.
»Wahrhaftig, da ist es immer noch! Hätte es gar nicht geglaubt. Na, klingt das etwa nach dem Nagen oder Wühlen einer Ratte?«
Auch Nobody legte sich hin, sich mit den Händen aufstützend, und preßte sein Ohr auf den Boden.
Nein, das war keine Ratte. Das war ein Sägen und Pochen, wohl regelmäßig, doch manchmal auch mit Zwischenpausen.
»Für was halten Sie das?«
»Für menschliches Arbeiten mit Instrumenten.«
»Hier gerade unter uns, nicht wahr?«
Nobody lauschte an verschiedenen Stellen der Kellerwand, ohne etwas zu hören, und am Boden klang es am deutlichsten eben an dieser Stelle, wo Mojan schlafend auf dem Ohre gelegen hatte.
»Ja, ich muß Ihnen recht geben - es klingt, als wäre es gerade unter uns. Da kann man sich aber auch sehr irren, das kann akustische Täuschung sein, der Schall wird fortgepflanzt, und es gibt kein Mittel, die richtige Stelle zu erforschen.«
»Was ist aber nun zu tun? Wie kommen wir der Wahrheit auf den Grund und diesen menschlichen Maulwürfen auf die Köpfe?«
Bei diesem Ausdruck dachte Nobody lebhaft an sich selbst, er nannte sich ja selbst gern einen menschlichen Maulwurf, und wieder einmal hatte ihn das Schicksal auf eine unterirdische Spur geführt, die sich vorläufig freilich nur erst in Lauten bemerkbar machte.
»Da gibt es nichts anderes, als ebenfalls dorthinunterzugelangen, es fragt sich nur, wo da zu bohren ist. Vielleicht gar nicht in diesem Keller, gar nicht auf diesem Grundstück.«
Nobody horchte den ganzen, weitläufigen Keller mit Nebengängen ab und kam doch immer wieder zu derselben Stelle zurück mit der Ueberzeugung, daß die unterirdische Arbeit tatsächlich nur hier stattfinden könne.
»Halten Sie einen Kaninchenbohrer für gut?« fragte Mojan. »Einen sogenannten Torpedobohrer, eine ganz neue Erfindung, aus Australien, wo die wilden Kaninchen eine Landplage sind.«
»Mojan, wie dahinabzugelangen ist, ohne mit denen unten zusammenzutreffen, das ist ein Problem, welches gelöst sein will. Das muß ich wirklich erst beschlafen.«
»Na, da wollen wir inzwischen erst eine Weinprobe abhalten. Aber da muß ich doch erst ein neues Licht holen, oder lieber gleich eine Lampe, die drei Liter Petroleum faßt.«
Denn der Aufenthalt im Keller hatte schon ziemlich lange gedauert, die nicht groß gewesene Stearinkerze näherte sich ihrem Ende.
»Kommen Sie mit? Oder, wenn Sie sich nicht vor Gespenstern fürchten, können Sie auch einstweilen hierbleiben. Ich komme gleich wieder.«
»Ach, was soll die Zecherei im Keller? Ich kenne das, dann vertrage auch ich nicht die frische Luft. Nehmen Sie meinetwegen ein paar Flaschen oder gleich ein Faß mit, dann bleiben wir oben und genießen die Aussicht am offenen Fenster.«
Mojan war es zufrieden. Sie schritten dem Treppenaufgange zu.
»Am liebsten möchte ich jetzt ein Bad im Meere nehmen,« meinte Nobody während dieses Ganges.
»Das können wir dann auch noch machen, und da müssen wir Han mitnehmen. Ich sage Ihnen, dieser Chinese schwimmt wie ein Fisch, so etwas haben Sie sicher noch nicht gesehen.«
»Lassen Sie mich einmal vorangehen,« sagte Nobody, seinen Freund auf der Treppe schnell überholend.
»Weshalb voran?«
Nobody war schon oben, drehte Mojan das Gesicht zu und deutete dabei auf den Boden.
»Hier ist jemand hereingekommen oder hat doch die Türe geöffnet,« flüsterte er.
»Wer denn?«
»Kommt einer Ihrer Diener manchmal in diesen Keller?«
»Der Teufel soll den holen, der das wagt!« brauste Mojan gleich auf, wenn auch mit leiser Stimme.
»Hier hat niemand Zutritt?«
»Nicht einmal die Klinke von dieser Kellertür hat jemand anzufassen! Für die Lebensmittel haben wir noch einen anderen Keller, das hier ist mein Heiligtum.«
»Trotzdem hat jemand, während wir hier unten waren, die Tür geöffnet, und zwar so weit.«
Wie Nobody es mit der Fußspitze am Boden bezeichnete, konnte es nur eine schmale Spalte gewesen sein.
»Er hat uns belauschen oder beobachten wollen, hat Licht gesehen, wir waren ihm zu dicht in der Nähe der Treppe, da hat er sich schnell wieder zurückgezogen.«
»Woher wollen Sie denn das so genau wissen?«
»Ich habe mir einfach, als ich hier passierte, ein Zeichen gemacht.«
Nobody hob vom Boden ein winziges Stückchen Papier auf.
»Können Sie sich nicht irren? Kann sich das nicht von allein verschoben haben?«
»Ganz ausgeschlossen. Auch eine Ratte kann es nicht verschleppt haben, ich denke stets an solche Möglichkeiten, habe mir auch noch ein zweites Zeichen gemacht, wonach die Klinke gedreht worden ist.«
»Teufel noch einmal,« zischte Mojan, schon bei dem Gedanken, daß jemand die Klinke seines Heiligtumes berührt haben könnte, ganz aufgebracht. »Wer kann das gewesen sein?«
»Sicher einer Ihrer Diener.«
»Aber welcher?«
»Stellen Sie ein Verhör an, ich werde dabei die Gesichter beobachten.«
»Hat sich was! Die beiden anderen sind Yankees, die werfen mir sofort den ganzen Bettel vor die Füße, und es ist hier nicht so leicht, zuverlässige Leute zu bekommen, die man immer allein lassen kann, und ich war mit ihnen sonst so zufrieden.«
»Dann nehmen Sie erst den Chinesen einmal allein vor. Mich interessiert es ungeheuer, zu wissen, wer uns im Keller belauschen wollte.«
»Mich nicht minder. Jawohl, werde ich tun. Also ruhig.«
Sie begaben sich hinauf, in das Zimmer zurück, Mojan schellte, Han-si erschien.
»Hast du vorhin die Tür vom Weinkeller aufgemacht, Han?« fiel Mojan gleich mit der Tür ins Haus, jedenfalls aber ganz richtig.
Der zopflose Chinese schrak zusammen, aber das war wiederum ganz richtig, wenn man in Betracht zog, wie genau diese langjährigen Diener die Sonderbarkeiten ihres Herrn kannten.
»O, Master, was habe ich denn in diesem Keller zu tun? Master hat es uns doch verboten!!«
So natürlich dieser Schreck nun aber auch sein mochte, so erkannte Nobody aus anderen Zeichen doch sofort das böse Gewissen.
»Du hast dennoch die Tür geöffnet, ich weiß es,« herrschte jetzt er den Chinesen scharf an. »Du hast uns beobachten wollen!«
»Herr, beim lieben Jesulein, ich bi - bi - bibibi ...«
»Was quasselt der Kerl da?« staunte Mojan.
Da aber sah er schon die nach oben verdrehten Augen des Chinesen, und alles ward ihm sofort klar. Ein Blick Nobodys hatte genügt, um jenen während des Sprechens in Hypnose zu versetzen.
»Wie heißt du?«
»Han-si.«
»Du wirst mir unbedingt gehorchen, Han-si.«
»Ich gehorche.«
»Mir also auch auf meine Fragen die Wahrheit antworten.«
»Die Wahrheit.«
»Hast du vorhin die Tür des Weinkellers geöffnet?«
»Ja.«
»Weshalb?«
»Ich war - ich wollte - ich war ...«
»Na, was wolltest du? Die Wahrheit!«
»Ich wollte sehen, was der Master und sein Gast dort unten machten.«
»Warum wolltest du das wissen?«
»Ich war neugierig.«
Und dabei blieb es. Nobody war sehr enttäuscht. Der Chinese hatte wirklich keinen anderen Grund gehabt, die Tür zu öffnen, als eben eine undefinierbare Neugier.
»Halten Sie diese Tür sonst immer verschlossen?« wandte sich Nobody an Mojan.
»Natürlich, immer.«
»Ja, dann freilich! Dann ist es begreiflich, daß der Kuli einmal die Gelegenheit benutzte, um hinabzuspähen. Ich dachte, die Tür wäre immer offen, auch während Ihrer Abwesenheit.«
»Weiter fehlte nichts.«
»Han-si,« wandte sich Nobody wieder an den Hypnotisierten, »weißt du etwas von dem Geräusche, was man in diesem Keller hört? Geht da unter der Erde etwas vor sich?«
Nein, der Chinese wußte gar nichts, auch noch in diesem hypnotischen Zustande war er ob solch einer Frage des Staunens fähig.
»Bist du Christ?« fragte Nobody auf's Geratewohl.
»Ja.«
»Kanntest du La-tse?«
»Was für einen La-tse?«
»Hast du nicht von dem Luftballon gehört, der vor vierzehn Tagen in San Francisco aufgestiegen ist, wobei auch ein Chinese war, der, wie noch drei Amerikaner, dabei verunglückte?«
Ja, davon hatte Han-si gehört, aber Nobody merkte sofort, daß jener Chinese ihm sonst ganz unbekannt war.
Also wieder nichts!
»Blicke mich an!«
Die Augen kehrten in ihre natürliche Stellung zurück.
»Weißt du, was das bedeutet?«
Nobody hielt das mit chinesischen Schriftzeichen bedeckte Pergamentplättchen vor die stierenden Augen, und sofort nahmen diese einen Ausdruck des Staunens an.
Aha, also doch eine Spur, und schließlich gar nicht so zufällig gefunden.
»Nun, was bedeutet das?«
»Gerade solch ein Loman habe ich auch.«
»Was ist das, ein Loman?«
Ein Loman ist ein Theaterbillett, das wußte Nobody auch, und zu seiner Verwunderung konnte auch Han-si ihm keine andere Erklärung geben. Er sprach wie von einem chinesischen Theaterbillett.
Nun allerdings gab und gibt es auch in San Francisco und in anderen amerikanischen Städten chinesische Theater - jede Vorstellung dauerte sechs bis acht Stunden - aber Nobody hatte allen Grund, doch etwas anderes dahinter zu wittern.
»Zu welchem Theater gilt dieses Billett?«
»Zu gar keinem Theater,« war nach längerem Zögern, aber nur eine Folge der Ueberlegung, die Antwort.
»Zu welchem Eintritt berechtigt dieses Loman sonst?«
»Zum Eintritt in Tao-Tao.«
Zum Eintritt ins Paradies. Nun, das konnte ja ein anderes chinesisches Vergnügungslokal sein.
»Wo befindet sich dieses Tao-Tao?«
»Nirgends.«
»Was, nirgends? Im Himmel?«
»Ja.«
»Was schwatzt der Kerl da?« brummte Mojan. »Ist der Kerl denn verrückt oder besoffen?«
»Vielleicht nicht so ganz. Es könnte ein Freibillett zur Seligkeit sein. Lassen Sie mich weiterforschen, jedenfalls scheint das immer interessanter zu werden. Du hast also auch so ein Loman?«
»Ja. Wo hast du es?«
»Hier im Gürtel.«
»Hole es hervor, zeige es mir!«
Die steifen Arme des Hypnotisierten wurden bewegungsfähig, die Hände fuhren unter das lange Gewand, nestelten darunter und brachten einen Pergamentstreifen wohl eher aus einer Leibbinde als aus einem Gürtel heraus.
Es war genau derselbe Pergamentstreifen, auch genau mit denselben Figuren oder Schriftzeichen bemalt, wenigstens der Reihenfolge nach, nur nicht mit so vielen. Auf dem Nobodys, den er im Zopfe gefunden, waren sechzehn Figuren gemalt, hier nur neun. Aber diese also glichen ganz jenen ersten neun.
»Was heißt das?«
»Ich weiß nicht.«
»Ist das eine Geheimschrift?«
»Vielleicht - ich weiß nicht.«
»Woher hast du denn dieses Loman?«
»Vom Da-o-li.«
Vom Oberpriester.
»Du gehst manchmal zum Priester?«
»Ja.«
»Wozu?«
»Um zu beten.«
»Ich denke, du bist ein Christ?«
»Ja.«
Nobody konnte sich diese Widersprüche ganz gut zusammenreimen. Er wollte auch lieber gar nicht fragen, zu welcher chinesischen Religion jener denn sonst gehöre. Er hätte irgendeine genannt, etwa die des Konfuzius, und hätte dann Nobody gefragt, ob er vielleicht ein Fo-li sei, so hätte er jedenfalls auch wieder bejaht.
In Religionssachen haben sämtliche Chinesen eben ein sehr weites Herz, und das beste Beispiel dazu gibt der chinesische Kaiser selbst, indem dieser das Oberhaupt sämtlicher Religionen ist und sein muß, und wird eine neue Sekte gegründet, so tritt der Kaiser sofort bei, und zwar gleich als Papst, d. h., er übernimmt die Leitung. Uebrigens eine höchst schlaue Religionspolitik, sehr empfehlenswert.
»Wer schreibt diese Wörter auf das Papier?«
»Der Da-o-li.«
»Jedesmal, wenn du zum Beten kommst, malt er so ein Zeichen darauf?«
»Nein, nicht jedesmal.«
»Bei welcher Gelegenheit sonst?«
»Wenn ich ihm gehorsam gewesen bin.«
Nobody fiel sofort das ?ihm? auf. Da schien es sich gar nicht um das Befolgen von göttlichen Geboten zu handeln, und es sollte sich zeigen, wie scharf dieser Detektiv wieder einmal herausgehört hatte.
»Und wann bist du ihm gehorsam gewesen?«
»Wenn ich ihm einen Dienst geleistet habe.«
»Was für Dienste sind das?«
»Er sagt manchmal: gehe dahin, bringe das dorthin, und wenn ich die Bestellung zu seiner Zufriedenheit ausgeführt habe, so malt er ein Wort auf das Loman.«
Nobody unterdrückte die Frage, die eigentlich jetzt zunächst gelegen hätte, nämlich, was das im Speziellen für Botengänge seien.
»Und wenn eine bestimmte Anzahl Worte darauf stehen?«
»Ja, sechzehn müssen es sein, und ich habe erst neun.«
»Nun, und wenn es sechzehn sind?«
»Dann darf ich in den Tao-Tao gehen.«
Doch wollen wir jetzt das Wort Tao-Tao mit Paradies übersetzen.
»Für immer?«
»Nein, nicht immer.«
»Man kommt doch aber erst nach dem Tode in den Himmel.«
»Ja, die anderen.«
»Und du, wenn du solch ein gültiges Loman hast?«
»Dann darf ich jeden Tag ins Paradies gehen, oder doch, wenn es offen ist.«
»Und wo liegt dieses Paradies?«
»Das weiß ich noch nicht.«
Nobody dachte lebhaft an etwas - nämlich an eine arabische Sekte, welche einst die ganze damals bekannte Welt zu erobern drohte und deren Mitglieder, wenn sie die Gebote ihrer Oberen mit unbedingtem Gehorsam ausgeführt hatten, auch so zeitweilig ins Paradies versetzt wurden - jetzt aber kam Nobody erst auf seine vorige Frage zurück.
Doch er bekam nichts Besonderes zu hören. Es hatte sich eben um einfache Botengänge gehandelt, Han-si hatte Briefe weggebracht, deren Inhalt er nie erfahren, nur daß sein Ziel natürlich immer das Chinesenviertel gewesen war, hier aber waren die Empfänger der Briefe die verschiedensten Personen gewesen, reiche, ehrbare Kaufleute, heilige Priester und dann wieder Besitzer der verrufensten Opium- und Spitzbubenhöhlen, und das freilich ließ nun schon wieder tief blicken.
»Durftest du jemandem sagen, daß du solche Briefe austrugst?«
»Nein.«
»Keinem?«
»Keinem einzigen.«
»Deine Botengänge mußten also ganz geheim bleiben?«
»Ja.«
Na ja, das war eben die Belohnung für das Geheimhalten, wodurch der gehorsame Chinese dem Paradiese immer etwas näher kam, bis es sich ihm ganz öffnen sollte - und das sogar täglich!!
»Fragen Sie ihn doch einmal, wohin er heute abend gehen will,« sagte Mojan, »ich traue dem Frieden nicht recht.«
»Das hätte ich auch gleich getan. Nun, Han-si, wohin gehst du denn heute abend?«
»Zu Wan-Tschang.«
»Wer ist das?«
»Er hat ein Lodging-house (Herberge).«
»Im Chinesenviertel?«
»Ja.«
»Was willst du dort?«
»Ich weiß noch nicht, was ich soll.«
»Ah, du wirst geschickt?«
»Von wem?«
»Vom Da-o-li.«
Der Diener wurde weiter ausgefragt. Es war nicht mehr viel, was Nobody von ihm erfahren konnte.
Gestern nachmittag, als er zum Beten in der Pagode gewesen war, hatte der Oberpriester ihm den Auftrag gegeben, heute abend punkt neun Uhr in der Herberge von Wan-Tschang zu sein, er brauche nur seinen Namen zu nennen, nichts weiter. Der Herbergsvater würde ihm schon sagen, was er weiter zu tun habe.
Was Nobody den Hypnotisierten sonst noch fragte, brauchen wir nicht zu wissen. Daß sich Nobody für das, was er vorhatte, nämlich die Rolle dieses zopflosen Chinesen zu spielen, über alle Einzelheiten orientierte, ist selbstverständlich.
Der Hypnotisierte wurde gar nicht wieder zum Bewußtsein geweckt, und als dann Han-si wieder aus dem Zimmer seines Herrn zum Vorschein kam, war das nicht der echte, sondern ein nachgemachter, der sich aber nicht im mindesten von seinem Original unterschied, am allerwenigsten durch irgendwelche Bewegung, und da dieser Chinese eben keinen Zopf hatte, so kam Nobody auch nicht in Gefahr, daß ihm ein künstlicher abgerissen werden konnte.
Nobody wußte sich die Zeit zu vertreiben, der chinesische Diener wurde von Mojan beschäftigt, daß er nicht mit den anderen Hausbewohnern in Berührung zu kommen brauchte, und dann wurde er mehrere Wege geschickt, Einkäufe zu besorgen.
Auf solch einem Wege wurde der falsche Chinese einmal von einem echten angehalten.
»Han-si?«
»Ai, ai.«
»Weißt du schon?«
Nu und ob Nobody schon wußte! Das deutete wenigstens sein verschmitztes Augenblinzeln an.
»Hast du?« fuhr Han-sis vertrauter Freund noch heimlicher fort.«
»Ich habe,« grinste Han-sis Doppelgänger ganz unverfroren.
»Wo?«
Jetzt hob Nobody den Finger, pfiff leise und zwinkerte noch verheißungsvoller mit seinen mongolischen Schlitzaugen.
»Also morgen?«
»Morgen.«
»Lebe lang und werde dick wie ein hundertjähriges Schwein.«
»Und deine Frau soll ersticken im eigenen Fett.«
»Ja, Frau, hähähä,« grinste der andere, und die beiden trollten sich nach verschiedenen Richtungen.
Das war sicher ein ganz intimer Bekannter von Mojans chinesischem Diener gewesen, und ihm war nicht das geringste aufgefallen, und mit solchen Gesprächen und Andeutungen sollten sie nur kommen, auf so etwas war Nobody geeicht, da war er überhaupt nicht zu fangen.
In der neunten Abendstunde durchtrippelte Nobody mit schaukelndem Gang die Gassen des Chinesenviertels, gebildet aus hölzernen, nur einstöckigen Häuserchen und mehr noch Baracken.
Es war an einem Sonnabend, schon wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen, und doch war das Hauptelement der Bevölkerung, das der Seifenarbeiter, noch nicht eingetroffen, und zu ihrem Empfange schmückten noch die Trödler und Handwerker aller Art ihre offenen Verkaufsläden, wurden vor gewissen Baracken bunte Papierlaternen angebracht, welche ankündigten, daß hier eine Opium- oder Spielhölle war.
Denn die Polizei läßt noch heute die Chinesen in ihrem eigenen Viertel frei schalten und walten, wie sie wollen, man weiß, daß nichts dagegen zu tun ist; denn fängt der Chinese erst einmal an, seinen Leidenschaften heimlich zu frönen, dann ist ihm überhaupt nicht mehr beizukommen, und so ist es besser, es geschieht offen, daß man es doch wenigstens etwas kontrollieren kann. Dagegen besteht sie auf Sauberhaltung der Straßen, und das ist das einzige, wodurch sich dieses Viertel San Franciscos von einer echten chinesischen Stadt unterscheidet.
Ab und zu zeigt sich auch ein europäisches Individuum, sogar elegante Herren, welche später offenbar noch chinesische Genüsse kosten wollten.
Hierbei befolgt die amerikanische Polizei ein eigentümliches Prinzip. Hört der des Nachts patrouillierende Konstabler Hilferufe, so steht er wohl einem Chinesen bei, haut mit seinem Hickoryknüppel zwischen die Streitenden, bringt den bezopften Uebeltäter zur Wache, aber nicht, wenn der Angegriffene ein Weißer ist.
Wer das Chinesenviertel betritt, tut es auf eigenes Risiko, stellt sich außerhalb der Gesetze, das Gesetz versagt ihm seine Hilfe. Nur bei einem Mord soll die Gerechtigkeit ihren freien Lauf nehmen, aber auch da sagt der Richter: Er ist im Chinesenviertel gewesen? Hat dieses freiwillig betreten? Dann ist ihm recht geschehen. - Und verschwindet jemand, und es wird konstatiert, daß dies im Chinesenviertel geschehen ist, so wird der Fall gleich als erledigt angesehen. Es hätte auch wirklich gar keinen Zweck, im Chinesenviertel Recherchen anzustellen, aus diesen Mongolen ist doch nicht ein Sterbenswörtchen herauszubringen, da hilft kein Verhör und hülfe vielleicht auch keine Tortur.
Aehnliche Ansichten über das Betreten gewisser Viertel hat man übrigens auch in manchen europäischen Städten, so z. B. in Amsterdam, in London. Der Fremde, der z. B. im Londoner Whitechapel das Opfer eines Gauners oder Verbrechers wird, dessen nimmt sich allerdings noch die englische Polizei an, der Fall kommt vor Gericht, aber sein Konsul verweigert ihm jeden Beistand. Er hat wissen müssen, daß er als Fremder solch eine berüchtigte Gegend nicht betreten darf. Macht er sich dort ansässig, das ist etwas anderes - aber nicht als neugieriger Fremder ohne Begleitung eines Detektivs hineingehen, etwa gar noch Schanklokale und dergleichen Häuser besuchen. Er wird nämlich ganz sicher beraubt, mindestens!
Nobody hatte Wan-tschangs Baracke gefunden. Die Farbe der Laternen vor der Tür kündigte an, daß dies eine ganz solide Schlafherberge. Ob's wahr, das war ja eine andere Frage. Doch warum nicht? Auch im Reiche der Mitte währte ehrlich am längsten, das hat schon der alte Konfuzius seinen bezopften Anhängern gesagt.
Ja, ehrlich währt am längsten! Da jede Lektüre doch den Zweck hat, den Leser zu unterhalten, sei hier aus dem Stegreif ein Witzchen eingeschoben, das nicht so sehr bekannt sein dürfte.
Der alte Levi schickt seinen Sohn in die Welt, gibt ihm seinen Segen und gute Ratschläge.
»Na, mach's gut, Isaakleben, verdiene viel Geld - - werde reich - werde rrraich - - und das so schnell wie möglich - - und dazu merke dir ains: ehrlich währt's am längsten.« - -
Hinter dem schmutzigen Lappen, der die Tür vertrat, zeigte sich erst ein Käfterchen, in dem hinter einem noch kleineren Verschlag ein alter Chinese durch ein kopfgroßes Guckloch blickte.
»Alles voll,« war sein erstes Wort, und daraus wußte Nobody sofort, daß er hier noch gar nicht bekannt war - - ihm um so lieber.
»Ich will hier gar nicht schlafen.«
»Was sonst?«
»Wo ist Wan-tschang?«
»Drin.«
»Ich will ihn sehen.«
»Wer bist du?«
»Ich heiße Han-si und ...«
»Du bist der Diener bei dem weißen Teufel, der so dick ist, daß er ein himmlischer Sohn sein sollte?« fragte der Alte mit hochgezogenen Brauen.
Also Han-si wurde schon erwartet, jedenfalls mit Sehnsucht, des Alten Gesicht drückte die größte Spannung aus.
»Der bin ich.«
»So gehe hinein.«
Nach Passieren eines zweiten Lappens befand sich Nobody in dem eigentlichen Schlafraum, oder sogar in der ganzen Herberge, die aber schon von den Chinesen nach amerikanischem Muster ?Hotel? genannt wurde.
Dieses ?Hotel? war zwei Meter breit und sechs Meter lang, im Gegensatz zu dieser Enge ziemlich hoch, und das mußte der Raum auch sein, denn da hier der geringste Platz ausgenutzt wurde, so befanden sich nicht weniger als immer sieben Betten übereinander, und zwar in doppelter Schicht - doch keine Betten, sondern kastenähnliche Stellagen, gegen welche die primitivsten und engsten Schiffskojen noch breite Himmelbetten zu nennen waren.
Also je sieben Kästen in doppelter Reihe an jeder der vier Wände, an den sechs Meter langen ?natürlich? dreimal nebeneinander - nun rechne man aus: zweimal sieben mal acht zusammen einhundertundzwölf.
Also hundertundzwölf erwachsene Menschen konnten hier schlafen. Das Exempel stimmt. Nur schade, daß die beiden Türen einigen Platz beanspruchten, und so waren es ?nur? hundert Menschen, welche hier nicht nur zum Schlafen Platz gefunden hätten, sondern hier auch wirklich jede Nacht schliefen.
»Alles voll,« hatte ja auch der Portier gesagt.
Solch ein ?Bett? kostete pro Woche zwanzig Cents gleich achtzig Pfennige. Dabei verdienen die Chinesen in den Fabriken bis zu zwölf Dollar in der Woche, mindestens sieben. Und zum täglichen Unterhalt brauchen sie in dem kostspieligen San Francisco täglich auch höchstens zwanzig Cents.
Auf diese Weise spart sich der Chinese in Amerika in zwei bis vier Jahren tausend Dollar, von deren Zinsen er in seiner Heimat als wohlbestallter Rentier leben kann, inklusive Familie.
Im Scheine einer an der Decke hängenden Petroleumlampe, die aber auch als Papierlaterne herausstaffiert sein mußte, hantierte ein sehr dicker Chinese mit zwei sehr mageren Gehilfen herum.
»He.«
»Ich bin Han-si.«
Der dicke Wirt trug eine Hornbrille, die er sich zurechtschob, um sich den Fremdling zu betrachten. Sein Gesicht drückte weniger Spannung aus als vorhin das des Portiers.
»Von Mr. Cerberus Mojan?«
»Ja.«
»Wer schickt dich?«
»Ma-lo-hang der Da-o-li.«
»Es ist gut. Geh hinter in das Zimmer, ich bringe dir gleich etwas zu essen.«
Dieses hintere Zimmer war die Privatwohnung und ganz behaglich eingerichtet, soweit sich das mit Strohmatten und Papierschirmen bewerkstelligen läßt.
Auffallend - aber nicht für den, welcher die chinesischen Sitten kennt - war ein niedriges Tischchen, auf dem in niedlichen Schälchen und Täßchen die verschiedensten Gerichte standen, allerdings meist Reis, aber auf die verschiedenste Weise zubereitet, sich auch durch Farbe unterscheidend, ferner Fleischspeisen, noch mehr Fisch, wiederum ganz verschieden zubereitet, dann auch Früchte, Schälchen mit Tee und anderen Getränken - alles aufs zierlichste geordnet, und überhaupt mußte jeder gleich den Eindruck gewinnen, daß dies gar nicht für einen irdischen Menschen berechnet sein könne, es war alles so überaus winzig, höchstens für ein Kind, aber eines Kindes wegen macht man in China keine solchen Umstände, außerdem war alles kalt, und der Chinese genießt absolut nichts Kaltes, nicht einmal einfaches Wasser.
Eher kam man auf den Gedanken, daß hier ein Kind mit einer Puppe gespielt, ihr eine Mahlzeit en miniature vorgesetzt hatte.
An der Wand über dem Tischchen klebte ein Plakat, auf dem große Schriftzeichen verkündeten, daß hier in diesem Hause vor einigen Monaten des Wirtes Bruder gestorben war, all seine Tugenden wurden in überschwenglicher Weise gepriesen und seine Seele eingeladen, hier von den Speisen zuzulangen.
Also eine chinesische Sitte. Der Geist des Verstorbenen bleibt noch lange Zeit in dem betreffenden Hause, er geht unsichtbar seinen alten Gewohnheiten nach, deshalb bleibt für ihn auch die alte Schlafstelle frei, es wird besonders für ihn serviert, zu jeder Mahlzeit frisch, und das so lange, bis der Da-o-li erklärt, daß die Seele des Verstorbenen nun das Haus verlassen hat.
Eigentümlich ist dabei, daß die Chinesen glauben, der Geist esse wirklich, wenn auch nichts von den Speisen und Getränken verschwindet. Der Geist ißt eben nur die Seele der Speisen. Denn nach Ansicht der Chinesen - und fast alle unsere heutigen Mystiker und selbst aufgeklärte Philosophen behaupten dasselbe - hat auch alles Unorganische seine Seele, jeder Stein, der sie z. B. durch seine Schwerkraft äußert, also auch jedes einzelne Reiskorn.
Dann, nachdem der Geist sich an der Seele der Speise gesättigt hat, wird der seelenlose Reis und der seelenlose Tee aufgewärmt und von den noch lebenden Hausmitgliedern verzehrt - hier verkaufte der Wirt die ganzen seelenlosen Gerichte an seine Gäste, rührte sie mit in den Inhalt der anderen Töpfe.
Denn auch gekocht wurde hier für die Schlafgäste. Das verriet der sehr große Petroleumofen, der fast die ganze kleine Küche nebenan einnahm.
Nachdem Nobody so Umschau gehalten, ließ er sich auf einer Strohmatte nieder und wartete auf den Wirt, auf das versprochene Essen und was sonst noch alles kommen würde. Vorläufig hatte er noch nicht die geringste Ahnung, was er hier eigentlich sollte; denn das hatte ihm eben auch der echte Han-si nicht sagen können.
Der kugelige Wirt kam hereingewatschelt, ein Blick auf den Gast und mit einem Schrei stürzte oder kugelte er auf diesen zu, riß ihn am Arme hoch.
»Heiliger Konfuzius, du sitzt ja gerade auf meinem seligen Bruder!«
Nobody hatte freilich nicht wissen können, daß hier die Lagerstelle des verstorbenen Bruders gewesen war, daß er sich gerade auf dessen Geist gesetzt hatte.
Na, es hatte nichts weiter zu bedeuten, das sind nur zeremonielle Vorschriften - dem Geiste hatte dieses Rencontre nichts geschadet und Nobody auch nicht.
Zunächst räumte der Wirt den Speisetisch seines seligen Bruders ab, schüttete ohne Unterschied alles in den großen Topf, der auf dem Petroleumofen stand, rührte das Ragout zusammen, dann machte er sich an dem Ofen zu schaffen, griff mit der Hand zwischen Topf und Rost hinein, es war, als ob er den Docht nur von innen herausziehen könne, wahrscheinlich funktionierten die Schrauben nicht, brannte ein Streichholz an, und ... mit einem Knall war eine große Flamme da, auch machte sich ein zivilisierten Menschen sehr bekannter Geruch bemerkbar.
»Neenee, Männicken,« dachte Nobody, »das ist kein Petroleum, das ist Leuchtgas - du hast die Gasleitung angebohrt und vergessen, einen Gasometer aufzustellen.«
Nobody taxierte sicher ganz richtig. Der schlaue Chinese bezog Gas, ohne dafür zu bezahlen, hatte irgendwo unter der Erde ein Gasrohr, wahrscheinlich aus Blei, angebohrt und das Gas hierherauf in seine Baracke geleitet, ließ es aber zur Vorsicht unter einem Petroleumofen zum Vorschein kommen, und auch sonst würde er schon für Wahrung dieses Geheimnisses gesorgt haben, daß man auch unter der Erde nicht so leicht auf die Spur der Dieberei kommen konnte. In derartigen Sachen leisten ja die Chinesen Großartiges; großartiger nur ist dann vielleicht ihre Naivität, sind ihre Ausreden, wenn sie doch einmal zur Verantwortung gezogen werden. Da hat er vielleicht das Bleirohr, auf das er zufällig beim Graben gestoßen, für eine Schlange gehalten, angefüllt mit einem unerschöpflichen Brennstoff.
Im Topfe begann es zu brodeln. Der Wirt trat mit einem Schritt aus der Küche heraus, lüftete einmal den Vorhang, rief seinen Gehilfen zu, daß er nicht zu sprechen sei, deutete auf eine Stelle der Strohmatte, auf welche sich Nobody setzen durfte, ohne irgendwelchen Geist zu quetschen, und ließ seinen unbehilflichen Körper ihm gegenüber nieder.
»Du kannst so gut schwimmen?« begann er mit gedämpfter Stimme.
Es war ein Glück, daß Nobody durch Mojan von dieser Kunst seines chinesischen Dieners erfahren hatte; denn er selbst war doch nicht darauf gekommen, den Hypnotisierten über so etwas zu fragen.
Allerdings hätte er jetzt sowieso bejaht, die Frage war danach gestellt gewesen.
»Wie lange?«
»O, stundenlang.«
»Hast du es noch nicht ausprobiert?«
»Nein. Ich bin wie ein Fisch.«
»Hm. Eine Stunde dürfte wohl auch genügen, um dahinüberzugelangen. Kannst du aber auch beim Schwimmen etwas tragen?«
»Wenn es nicht gar zu schwer ist.«
»Das hier?«
Der echte Chinese brachte unter seinem seidenen Kaftan ein Paket zum Vorschein, gar nicht so groß, in Gummistoff eingewickelt.
»Wird das zu schwer sein? Wird das dich auf den Grund hinabziehen?«
Nobody nahm das Paketchen - - dieser Chinese konnte sicher nicht schwimmen, mußte gar keine Ahnung von der Schwimmkunst haben, das Wasser war ihm ein ganz fremdes Element - - denn das Paket war ja federleicht!
»Ja, das kann ich tragen.«
»Beim Schwimmen? Wirklich?«
»Das hindert mich gar nicht, ich brauche es nicht einmal um den Hals oder auf den Kopf zu binden.«
»Es ist erstaunlich, was ein Schwimmer alles kann,« wunderte sich der Wirt. »Ja, wenn du es aber nicht festbinden willst, wie willst du es denn sonst halten?«
»Nun, in einer Hand, ich brauche nur mit einer Hand zu schwimmen.«
»Nur mit einer Hand? Dann gehst du unter und ertrinkst,« versicherte der wasserscheue Fettklumpen. »Binde es dir lieber um den Hals.«
»Das kann ich ja auch tun,« beruhigte Nobody den Aengstlichen. »Darf das Paket naß werden?«
»Das kann es. Die Blechdose ist zugelötet und auch sonst wasserdicht eingewickelt.«
»Ich kann es mir ja auch über den Kopf binden.«
»Nein, nein, dann würdest du vielleicht gesehen werden, weil dann das Paket doch über Wasser ist.«
»Wohin soll ich das Paket bringen?«
»Ssst, warte, bis ich dir das sage. Kannst du auch pfeifen?«
»Warum soll ich nicht pfeifen können?«
»Ich meine beim Schwimmen.«
»Jawohl, da kann ich auch pfeifen.«
»Ich meine beim Schwimmen im Wasser,« vergewisserte sich der dicke Wirt nochmals, dem das Wasser ein ganz greuliches Element sein mußte, mit dem er so wenig wie möglich in Berührung kommen wollte, und darnach sah er aus.
Nobody versicherte ihm, er könne auch beim Schwimmen pfeifen, sogar beim Schwimmen im Wasser, und nun stellte sich heraus, daß er gar nicht mit dem Munde zu pfeifen brauchte, sondern der Wirt zog ein knöchernes Pfeifchen hervor, dem er einen feinen, durchdringenden Ton entlockte.
»Du kannst blasen, wie du willst, lauter klingt es nicht, aber das genügt, er wird dich schon hören, er wartet auf dich.«
Nun kam es darauf an, wer dieser ?er? war. Denn daß es sich um eine geheimnisvolle Schwimmtour handelte, das hatte Nobody unterdessen schon zur Genüge erfahren.
»Wieviel Wörter hast du schon auf deinem Loman?« fuhr der Chinese fort.
»Neun.«
»Mit sechzehn ist dir Tao-Tao offen?«
»So sagte mir der Da-o-li.«
»Willst du die noch fehlenden sieben Worte gleich heute abend verdienen?« fragte der Chinese mit listigem Augenblinzeln.
»O, wenn das möglich wäre!« frohlockte Han-sis Stellvertreter.
»Dann wirst du heute nacht noch, so um die elfte Stunde, wenn der Mond untergegangen ist, nach dem Robbenfelsen schwimmen.«
Endlich war es heraus, und erwartungsvoll blickte der dicke Chinese seinen wasserfesten Landsmann an.
»Um dieses Paketchen hinzubringen?«
»Du hast es erraten, Freund.«
»Ja, warum nicht?«
»Der Mond muß erst untergegangen sein. Wirst du den kleinen Felsen auch in der finsteren Nacht finden?«
»Das stelle ich mir ganz einfach vor, ich brauche mir nur einen Stern zu merken, nach dem ich mich richte; denn sternenklar wird die Nacht wohl sein. Aber die Robben? Sie werden bellen und mich angreifen.«
»Sie werden nicht bellen und dir nichts zuleide tun!« sagte der Chinese, immer in gedämpftem Tone, mit Nachdruck. »Sie werden dich vielmehr als ihren Freund willkommen heißen, oder aber ... sie werden schlafen. Hältst du es für möglich, daß auf dem Robbenfelsen schon seit langer, langer Zeit, schon seit Jahren ein Mensch lebt?«
Nobody hätte jetzt schon so etwas ahnen müssen, und doch war seine Ueberraschung groß.
»Ein alter Kawanho,« nickte der andere, »der einst in seiner Heimat ein berühmter Mann war, dem alle Mandarinen gern zusahen.«
Der Kawanho ist ein chinesischer Gaukler.
»Was tut er auf dem Felsen?«
»Das wirst du heute nacht sehen.«
»Auf dem den weißen Teufeln heiligen Robbenfelsen wohnt er?« durfte Nobody noch immer mit Recht staunen.
»Ja, und das schon seit drei, vier Jahren.«
»Und die Robben dulden ihn darauf?«
»Er ist der Herr über alle Tiere.«
»Wenn aber nun einmal jemand hinkommt und ihn aus dem heiligen Felsen findet?«
»Der Felsen ist ja den weißen Teufeln heilig, du sagst es doch selbst.«
Das Schonen der Robben und das strenge Verbot, den Felsen zu betreten, konnten sich die Chinesen ja nicht anders erklären, als daß dieser Felsen den ?weißen Teufeln? eben ein großes Heiligtum sein müsse.
»Wohl, aber ich entsinne mich, daß erst vor einem Jahre doch einmal ein Boot mit zwei Männern an den Robbenfelsen getrieben wurde, das Boot zerschellte, die Insassen mußten sich auf den Felsen retten und warten, bis sie abgeholt wurden, und da es nicht ihre Schuld war, wurden sie auch nicht bestraft.«
»Nun, und?«
»Der Kawanho wohnte schon damals auf dem Felsen?«
»Schon damals.«
»Er befand sich auch zur Zeit darauf, als jenes Boot scheiterte?«
»Ich erinnere mich des Falles - ja, er befand sich darauf, er verläßt den Felsen überhaupt niemals, weder bei Tage noch bei Nacht, er besitzt auch gar kein Boot, kann nicht schwimmen, also überhaupt gar nicht von der Insel fort.«
»Warum wurde er da nicht von den beiden Männern gesehen?«
»Wohl deshalb, weil er eben ein großer Kawanho ist, der sich unsichtbar zu machen weiß oder doch die Augen der Menschen mit Blindheit schlägt, daß sie ihn nicht sehen. Du wirst dich, wenn der Mond untergegangen ist, nach dem Strande begeben, um nach dem Robbenfelsen zu schwimmen, dem Kawanho dieses Päckchen zu bringen. Deine Kleidung mußt du vorher im Sand verscharren ...«
»Weshalb? Ich kann ja gleich die Sachen anbehalten.«
»Kannst du denn mit deinen Kleidern schwimmen?«
»Dieses dünne Zeug hindert mich nicht im geringsten.«
»Desto besser, desto besser! Fanhei zog vorher immer seine Sachen aus und verscharrte sie im Sande.«
Zum ersten Male merkte Nobody, daß solche Schwimmtouren schon öfters von einem anderen Chinesen ausgeführt worden waren, und da kam ihm eine Erkenntnis.
Erst vor zwei Tagen war, wie Nobody in der Zeitung gelesen hatte, die Leiche eines Chinesen an den Strand gespült worden, nackt bis auf den Gürtel, und zwar eben in jener Gegend, wo sich etwa fünfhundert Meter von der Küste entfernt die Robbeninsel befindet, wenn auch nicht direkt gegenüber.
Niemand hatte diesem Leichenfunde Beachtung geschenkt, ein Kuli war eben beim Baden ertrunken, die abgelegten Kleider waren unterdessen gestohlen worden.
Aber kein Zweifel, das war der erwähnte Fanhei gewesen, der bei seiner nächtlichen Schwimmtour einmal verunglückt war und seinen Tod gefunden hatte.
Nun wurde für ihn ein anderer geschickter Schwimmer als Ersatzmann gesucht; die Wahl der geheimen Gesellschaft, um die es sich hier doch offenbar handelte, war auf Mojans Diener gefallen, schon zu dieser geheimen Gesellschaft gehörend, wenn auch noch längst nicht in alles eingeweiht.
Zugleich aber bemerkte des Detektivs scharfer Blick, wie unangenehm es dem chinesischen Wirte war, diesen Namen des ertrunkenen Chinesen ausgesprochen zu haben, und so stellte Nobody deswegen auch keine weiteren Fragen.
»Kommst du in die Nähe des Felsens,« fuhr er hastig fort, »siehst ihn bei der sternenhellen Nacht vor dir auftauchen, so steckst du die Pfeife in den Mund und bläst hinein, der quiekende Ton wird von Mok - so heißt der Kawanho - gehört werden, und auf sein Wort werden sich die Robben beruhigen, daß sie dir nichts zuleide tun und auch nicht laut werden. Verstehst du?«
»Ich verstehe. Du weißt aber doch, daß die ganze Küste von den weißen Teufeln scharf bewacht wird, damit man nichts schmuggeln kann. Da das Haus meines Herrn am Strande liegt, kann ich die Laternen der Boote jede Nacht sehen. Wenn mich nun so ein Zollbeamter im Wasser schwimmen sieht?«
»Das ist eben die zweite Hauptsache, daß du dich nicht von solch einem Boote erwischen läßt. Wirst du von einem gesehen, so muß dein erstes sein, daß du das Paket fahren läßt, damit dieses nicht in die Hände der weißen Teufel fällt. Es schwimmt nicht, es sinkt sofort unter. Deshalb auch darfst du es nicht irgendwo an deinem Körper festbinden, sondern es höchstens um deinen Hals hängen. Aber deine Sache ist es eben, dich von keinem Boote erwischen zu lassen. Wie du das anfängst, darüber kann ich dir keine Vorschriften machen.«
Der vorgebliche Han-si sprach davon, daß er auch ein vorzüglicher Taucher sei, doch das war etwas, was der wasserscheue Chinese überhaupt nicht verstand. Nur wirkte auf ihn beruhigend die Sicherheit, mit welcher Han-si behauptete, daß ihn niemals ein weißer Teufel im Wasser fassen sollte.
»Wenn du das so bestimmt weißt, dann ist es ja gut. Und wirst du dennoch erwischt, dann ... wirst du wie ein Sohn des himmlischen Reiches zu sterben wissen, dem das ewige Tao-Tao offen steht.«
Zuletzt hatte der Wirt mit etwas Feierlichkeit gesprochen, und dies hatte etwas angedeutet, wovon Nobody noch nichts wußte. Jedenfalls hatten die Mitglieder dieser geheimen Gesellschaft einen Schwur abgelegt, wonach sie unter gewissen Verhältnissen, wenn ihr Geheimnis auf dem Spiele stand, sich selbst töten mußten, und da der Selbstmord bei den Chinesen ja gar nicht etwas so Furchtbares ist, keine sündhafte Handlung, und da der Wirt all dies als etwas Selbstverständliches voraussetzte, was Han-si schon wissen mußte, so hielt er sich gar nicht weiter dabei auf.
»Du hast von deinem Herrn bis morgen früh Urlaub bekommen?«
»Ja.«
»Mok wird dich zeitig genug entlassen, daß du noch in der Nacht wieder zurück sein kannst, und wenn du dich deiner Ausgabe geschickt entledigst, dann, mein Sohn, wird dir der Da-o-li gleich die noch fehlenden sieben Worte einschreiben, und das Paradies steht dir jeden Tag offen, jeden Abend kannst du hineingehen, wenn dir dein Herr Urlaub gibt oder du sonst Zeit hast. Nun sollst du erst essen, du hast ja noch viel Zeit. Noch steht der Mond am Himmel.«
Während der Wirt das Essen anrichtete, hing Nobody seinen Gedanken nach.
Was er auf der Robbeninsel erleben würde, was der Mann dort machte, davon ahnte er noch nichts.
Jetzt aber änderte sich seine Ansicht über das Paradies; denn dieser Wirt hatte ganz anders darüber gesprochen als Han-si.
Zuerst hatte Nobody immer an das Paradies der arabischen Assassinen denken müssen. Es war und ist dies noch heute eine mohammedanische Sekte, welche in den Kreuzzügen eine furchtbare Rolle spielte. Der Stifter derselben war Hassan ben Ali, ein gelehrter Schiite, der in Indien das betäubende Haschisch kennen gelernt hatte, ein Extrakt des Hanfes, welches wie das Opium geraucht, getrunken oder gekaut wird, und dann ebensolche Wirkungen ausübt, noch heute im Orient allgemein verbreitet.
Damals aber wurde dem Genusse des Haschisch nur in Indien von einer geheimen Sekte gefrönt, die allein seine Zubereitung kannte, sie als ihr Geheimnis bewahrte, damit auch Gaukeleien trieb, und das um so mehr, weil das Haschisch einen Zustand hervorruft, der ganz mit der uns erst seit fünfzig Jahren bekannten Hypnose verwandt ist.
Hassan der Assassine nun hatte sich zum Scheich aufgeschwungen und führte Krieg gegen die Christen, nicht minder aber auch gegen die Türken. Er umgab sich mit einer Leibgarde, aus den besten und edelsten Jünglingen bestehend, denen er einredete, er besitze den Schlüssel zum Paradiese, wer für ihn und seine Sache sterbe, gelange direkt ins Paradies, nicht erst wie die anderen Gläubigen auf langen und qualvollen Umwegen, und zum Beweise, daß er wahrspreche, wurde jeder Jüngling schon bei Lebzeiten von ihm für einige Tage ins Paradies versetzt.
Der Betreffende erhielt einen Hanftrank, der ihn betäubte, er wurde an einen einsamen Ort gebracht, und hier nun wurden ihm durch eingeflüsterte Worte alle Freuden des siebenten Paradieses geschildert, wie sie sich nur die glühende Phantasie eines Arabers ausmalen kann, und zwar so, daß er diese Freuden im Traume selbst genoß.
Nachdem der Jüngling so einige Tage - vielleicht aber waren dazu nur einige Minuten nötig, dann jedoch mußte er noch besonders über die Zeit hinweggetäuscht werden - in den zweitausend Armen von tausend Huris geschwelgt und alle anderen nur erdenklichen Sinnesfreuden genossen hatte, wurde er an den alten Ort zurückgebracht, er wurde geweckt, hielt alles für Wirklichkeit, und nun sagte Hassan zu ihm:
»Sieh, wenn du mir unbedingt gehorsam bist, für mich stirbst, so kommst du direkt und auf ewig in dieses Paradies, dessen Freuden du jetzt nur an drei Tagen genießen konntest.«
Was für Folgen das hatte, läßt sich denken. Die Jünglinge sehnten sich nichts mehr herbei, als so schnell wie möglich für den ?Scheich el Dschebel? sterben zu können, um für immer in die zweitausend Arme zurückkehren zu dürfen.
So fielen an einem und demselben Tage sämtliche türkische Heerführer unter den Dolchen der Assassinen, und fröhlich ließen alle Jünglinge die gräßlichsten Torturen über sich ergehen - sie kamen ja sofort ins Paradies.
Daher hatte auch Nobody gedacht, daß die Mitglieder der geheimen Gesellschaft durch ähnliche Manipulationen geködert würden, daß auch ihr Tao-Tao nur ein eingebildetes, traumhaftes Paradies sei.
Jetzt bekam er eine etwas andere Ansicht. Dieses chinesische Paradies in San Francisco schien doch irdischer zu sein. Der Diener mußte dazu von seinem Herrn Urlaub bekommen, mußte ein Billett haben ... nun, Nobody würde ja sehen.
Die Speisen, denen der selige Bruder schon die Seele ausgefressen hatte, wurden ihm aufgewärmt als Ragout vorgesetzt, Nobody zog aus dem Gürtel oder vielmehr aus der Leibbinde die beiden Holzstäbchen hervor, die er dem echten Han-si abgenommen halte, und begann zu fischen und zu balancieren mit einer Geschicklichkeit, in der ihn kein echter Chinese übertreffen konnte.
Das Ragout schmeckte sehr gut, nur schade, daß es noch einen Nachtisch gab, der weniger nach Nobodys Geschmack war.
Keine gebratene Ratte, keine geräucherte Haifischflosse, sondern ...
»Hier, das Beste, was ich im Hause habe. Eins davon sollst du bekommen. Es hat schon drei Wochen in der Erde gelegen.«
Mit diesen Worten überreichte der Wirt seinem Gaste einen Strohhalm und ein Hühnerei, welches grünlich aussah und schon ungeöffnet mörderisch stank.
Es ist ja bekannt, daß den Chinesen faule Eier eine große Delikatesse sind. Sie werden dazu in der Erde vergraben, müssen tage- und wochenlang darin liegen, je nachdem; diese Zubereitung, die richtige Zeit zu bestimmen, wann sie ?durch? sind, ist überhaupt eine große Kunst. Bleiben sie gar zu lange liegen, dann vollendet sich der Verwesungsprozeß, sie hören auf zu stinken, und dann sind sie eben nicht mehr gut.
In das Ei wird ein Löchelchen gemacht, der wässrig gewordene Inhalt durch einen Strohhalm geschlürft.
Wir wollen diesen sonderbaren Geschmack des Chinesen lieber nicht verurteilen, sondern dabei an unseren verfaulten Quark denken, den wir Käse nennen, und den der Chinese ebenso abscheulich findet wie wir seine verfaulten Eier.
Aber wenn man nun solch ein faules Ei ausschlürfen soll, das ist doch sehr fatal. Nobody hatte sich trotz seines langjährigen Aufenthaltes in China nie in diese Delikatesse gewöhnen können, d. h., er hatte sie nie probiert.
Wie er den Strohhalm in das Löchelchen steckte, sann er angestrengt darüber nach, auf welche Weise er jetzt durch Taschenspielerei den Inhalt des Eies irgend anderswohin befördern könnte, als gerade in seinen Magen - er fand kein Mittel, siegesbewußt lächelnd blickte der Stänkerfritze von Wirt immer auf seine Finger - und indem Nobody nun schon einmal die Vorbereitungen dazu getroffen hatte, das Ei auszuschlürfen, gab es auch keine andere Ausrede mehr, er konnte nicht mehr von einem Gelübde und dergleichen sprechen - also frisch und fröhlich in großen Zügen den anrüchigen Inhalt ausgenutscht, dabei mit Hilfe der Phantasie und Willenskraft Magen und Zunge vorgeredet, es sei parfümiertes Honigwasser.
So, nun war der Chinese echt. Dann noch einige Instruktionen, und Nobody entfernte sich, das Paketchen und die Knochenpfeife auf seiner Brust.
Bald hatte er das Chinesenviertel hinter sich, die ganze Stadt, er wanderte den einsamen Strand entlang, der wegen seiner sandigen Beschaffenheit und sonstigen gefährlichen Eigenschaften nicht einmal mit einer Badehütte besetzt werden kann; denn bei jedem Westwind würde sie weggespült werden.
Der frühe Mond war untergegangen. In seinem letzten Scheine hatte Nobody noch die Robbeninsel sich aus dem Meere hervorheben sehen, jetzt dienten ihm zur Orientierung einige rechtzeitig gemerkte Sterne und die hinter ihm befindlichen Lichter - erleuchtete Fenster, und zwar die von Mojans Hause, in welchem der noch immer im hypnotischen Schlafe liegen mußte, dessen Rolle er jetzt spielte.
Nobody hing sich doch lieber das Paketchen um den Hals, wozu es schon mit einem Riemen versehen war, steckte die Pfeife handbereit, spähte noch einmal scharf aus; kein Boot, nichts Lebendiges war vor ihm, überhaupt nichts zu sehen, und er watete ins Wasser, bis er den Boden unter den Füßen verlor.
Mit kräftigen Stößen strebte er vorwärts. Er war außerordentlich gespannt, was er auf dem Robbenfelsen zu sehen bekommen und erleben würde.
Was im allgemeinen hier vorlag, war ja klar. Die Chinesen wußten natürlich, daß die Robbeninsel von keinem menschlichen Fuße betreten werden dürfte, und weil sie den eigentlichen Zweck dieses Verbotes, daß nämlich diese seltenen Tiere geschützt werden sollten, überhaupt die ganze Humanität, der sich auch etwas Stolz beigesellte, nicht richtig begriffen, so machten sie ein Heiligtum daraus. Wahrscheinlich beteten die weißen Teufel, wie die Chinesen die Europäer oder überhaupt die Kaukasier nennen, die Robben gar an, so wie die Indier die Krokodile, gewisse Neger Schlangen usw.
Daraus wußten die Chinesen Vorteil zu ziehen, sie benutzten den heiligen, unbetretbaren Robbenfelsen als Ort, wo sie irgend etwas Heimliches trieben.
Was konnte das Heimliches sein? Nun, Nobody wollte es schon erfahren, und wenn man es ihm dort nicht freiwillig sagte, er es nicht selbst erkannte, würde er es auf andere Weise herausbekommen.
Seine erste Absicht, einmal das Päckchen zu öffnen, um seinen Inhalt zu untersuchen, hatte er schnell wieder verworfen. Es sollte eine Blechbüchse sein, zugelötet, das war alles schwer geradeso wieder nachzumachen, ein geheimes Zeichen konnte dabeisein - lieber nicht!
Sollte er aber etwa von dem Kawanho gleich wieder zurückgeschickt werden, dann war Nobody entschlossen, durch Anwendung von körperlicher oder geistiger Gewalt die Wahrheit zu erfahren.
Da ein bellender Laut, wie alle Robbenarten ihn ausstoßen, Nobody kannte sogar diese Sprache, es war der Warnungsruf des männlichen Wächters der ruhenden Herde - und noch einmal dieses Bellen.
Schnell hatte Nobody seine Pfeife hervorgezogen, leise und doch schrill durchdrang der Fistelton die Nacht, für das menschliche Ohr wahrhaft schmerzhaft.
»Ruhig, du Ungeheuer, ruhig, Höllenhund,« erklang da eine heisere Stimme, und das Bellen verstummte.
Mochten es auch Schimpfworte sein, welche der Mann den Tieren gab, so wurden sie doch freundlich gesprochen.
Jetzt erst tauchten vor Nobody die schwarzen Umrisse des Felsens auf, und hier in der Nähe war er ganz bedeutend höher und von größerem Umfange, als man von der Küste aus taxiert hätte.
Noch einmal ließ Nobody die Pfeife ertönen.
»Ruhig, meine Tierchen, legt euch nieder, laßt euch nicht stören, es ist doch unser guter Freund, der uns so oft besucht, ihr kennt ihn doch auch schon. - Fanhei!« wurde dann etwas lauter gerufen.
Hallo! Der Einsiedler auf dem Felsen glaubte, Fanhei käme, wußte also noch gar nicht, daß dieser ertrunken war.
Daraus war zu schließen, daß er auch durch nichts anderes mit dem Festland in Verbindung gestanden hatte als durch diesen Schwimmer.
»Fanhei!« erklang es nochmals. »Bist du's?«
»Ich bin's,« entgegnete Nobody wohlweislich, mit Absicht keuchend.
Er hatte den Felsen erreicht, an dem die Brandung auf dieser Seite nur ganz schwach war. Zuletzt legte sich Nobody zur Vorsicht auf den Rücken, schwamm mit den Beinen voran, um einen Stoß abzuschwächen, auch mußte er an spitze Riffe denken.
»Was kommst du hierher? Warum schwimmst du nicht um den Felsen herum?«
»Mok, hörst du mich sprechen?«
Eine Pause, und dann erscholl eine furchtbar erregte Stimme aus der Finsternis.
»Bei allen Höllengeistern, das ist nicht Fanhei!«
»Fanhei ist tot.«
»Tot?!«
»Er ist, als er das letztemal zurückschwamm, ertrunken. Ich komme statt seiner.«
»Bringst du eine Büchse mit?« wurde jetzt sofort gefragt.
»Ich habe sie.«
»Schwimme mehr nach rechts, dorthin! Siehst du mich?«
Ja, Nobody sah die dunkle Gestalt, welche jetzt am Rande des Felsens stand, sich von dem etwas helleren Himmel abhebend.
Nobody folgte der angedeuteten Richtung des ausgestreckten Armes, die Gestalt bewegte sich mit ihm, und an einer gewissen Stelle auf der nördlichen Seite gelang ihm der Aufstieg mit Leichtigkeit, was ihm jenseits kaum gelungen wäre.
Nobody gewahrte die hagere Gestalt eines Mannes, völlig nackt, in dem Totenschädel glühten ein paar unheimliche Augen, welche noch von Lebenskraft sprachen, wie auch der Körper wohl äußerst mager, doch sehnig und kräftig war.
»Wer bist du?«
Nobody war eben Han-si, erzählte alles, was jener wissen wollte. Lange dauerte das Verhör auch nicht, es konnte ja niemand anders sein als ein Eingeweihter, mehr interessierte sich der Gaukler für die aufgefundene Leiche des verunglückten Schwimmers.
»Komm mit,« sagte er dann, nahm ihm das Paket ab und geleitete ihn an der Hand über die zerklüfteten Felsen, zwischen denen man sich auch am hellichten Tage Hals und Beine brechen konnte.
Hier und da eine Robbe, ungeheure Tiere, und jedenfalls immer an einem solchen Platze, wo sie nicht von spitzen Steinen gedrückt wurden. Mehr als siebenundzwanzig solcher bequemen Ruheplätzchen gab es hier eben nicht, deshalb wurde auch kein weiterer Zuwachs in dieser Kolonie geduldet, sonst wäre immer Streit gewesen.
Die Tiere bellten nicht mehr, zeigten sich aber doch unruhig, schnauften den Fremden an.
»Deshalb benahmen sie sich heute auch ganz anders als sonst, wenn Fanhei kam, ich merkte es gleich. Nun, desto besser, so überwinden sie jetzt gleich ihre Unruhe, gewöhnen sich gleich an einen fremden Besuch, falls sie schon heute nacht kommen.«
Also es wurde heute nacht noch ein anderer Besuch erwartet, aus mehreren Personen bestehend, und alles war von langer Hand vorbereitet, der Gaukler hatte deshalb die Robben erst zähmen oder doch an sich gewöhnen müssen.
Doch Nobody bemerkte bald, daß dieser Mann auch sonst eine große Macht über die Tiere besaß.
Sie hatten ungefähr die Mitte des platten Felsens erreicht, wo sich eine tiefe Höhlung befand, und Nobody glaubte, mit Bestimmtheit annehmen zu können, daß sie künstlich ausgearbeitet war.
Diese Ansicht wurde zur Gewißheit, als Nobody in der Mitte dieser Höhlung noch ein tiefes Bohrloch bemerkte, in welches der Kawanho auch gleich wieder eine Eisenstange steckte, die er von irgendwo zum Vorschein brachte.
»Wie lange hast du Zeit?« fragte er, während er den Steinbohrer hin und her drehte.
»Bis morgen früh, und ich muß doch auch noch in der Nacht zurückschwimmen.«
»Du mußt? Weshalb?«
»Weil ich doch sonst gesehen würde.«
»Hast du Frau und Kinder?«
»Nein.«
»Dann könntest du doch auch ganz hier bleiben, dann bist du eben deinem Herrn davongelaufen.«
Die Eröffnung war für Nobody nicht eben angenehm, hier auf der nackten Klippe längere Zeit verweilen zu müssen, vielleicht noch jahrelang wie dieser Einsiedler, sich jedenfalls nur von rohen Fischen nährend, die der Alte entweder mit der Angel fing oder sich von den Robben fangen ließ, die, wie schon früher einmal erwähnt, wenn sie einmal gezähmt sind, zu so etwas gar nicht erst abgerichtet zu werden brauchen.
Mit solch einem langen Aufenthalte wäre Nobody natürlich nicht einverstanden gewesen, nicht einmal mit einem nur mehrtägigen.
Aber woher bekam der Alte das Trinkwasser? Dieser nackte Felsen sah gar nicht danach aus, als ob er eine Quelle besäße, und genug unvermischtes Regenwasser dürfte sich hier auch kaum ansammeln.
Die Antwort sollte sofort kommen. Der Alte hatte den Steinbohrer nur wieder in Bereitschaft gesetzt, nun enthüllte er erst das Paket, öffnete die Blechdose mit einem Messer, sie dabei vorsichtig haltend, und als er den Deckel entfernt hatte, setzte er die Büchse an den Mund und trank!
War diese Wassermenge, vielleicht ein Liter, genügend, um sein Leben zu erhalten, selbst wenn man ihm täglich solch ein Quantum brachte?
Nun, es war eben ein Asket, das sah man ihm ja gleich an, und die Ernährung des menschlichen Körpers läßt sich nicht solche Regeln vorschreiben, wie es Aerzte tun, die aber auch schon davon abkommen. Peter von Alcantara hat vierzig Jahre lang nur aller drei Tage ein Stückchen Brot und einen Schluck Wasser zu sich genommen und hat dennoch ein hohes Alter erreicht, der Wille tut's, nicht die Nahrung, und außerdem kam hier ja noch immer Regenwasser in Betracht.
Nobody aber war ob des Inhalts dieser geheimnisvollen Büchse, die eine noch geheimnisvollere Schwimmtour nötig machte, trotzdem sehr enttäuscht, als auf einmal ein unterirdisches Geräusch den ganzen Felsen dermaßen erschütterte, daß Nobody erst an ein Erdbeben glaubte.
Doch der Kawanho verzog keine Miene, er drehte an seinem Steinbohrer weiter, und ebenso ruhig verhielten sich bei diesem unterirdischen Donnern und Beben des ganzen Felsens auch die Robben.
Aus alledem mußte Nobody schließen, daß die Tiere an dieses unterirdische Geräusch und Beben schon längst gewöhnt waren, so etwa wie ihre nördlichen und südlichen Kollegen an das donnernde Krachen von berstenden Eisschollen und Eisbergen, und schließlich war das Geräusch gar nicht so fürchterlich, nur im ersten Augenblick hatte es in der stillen Nacht auf den Ahnungslosen so gewirkt, und jetzt hörte Nobody ganz deutlich das taktmäßige Hämmern heraus, oder vielleicht auch mehr ein Rammen. Hatte man sich einmal daran gewöhnt, so kam man auch zu der Ansicht, daß ein Boot ziemlich dicht vorbeifahren konnte, ohne dieses unterirdische Arbeiten zu hören.
»Heute nacht noch kommen wir durch. Weißt du, was das ist?«
Nobody war jetzt kein Champion-Detektiv, sondern ein chinesischer Diener, der keinen besonderen Mut zu zeigen brauchte, und es war wohl ganz richtig, wenn er nun in allen Gliedern zitterte.
»Ein Erdbeben!« stammelte er.
»Du brauchst keine Furcht zu haben. Das sind Menschen, welche dort unten arbeiten.«
»Im Meere?«
»Nein, in diesem Felsen, der doch natürlich nicht schwimmt, sondern mit dem Meeresgrunde verwachsen ist.«
»Wie kommen die aber dahinein?«
»Sie haben einen Tunnel gebohrt, allerdings unter dem Meeresgrund hinweg, und sie haben viele, viele Jahre lang daran gearbeitet.«
Nobody brauchte sein Staunen nicht zu erheucheln.
»Hier wird der Tunnel herauskommen,« fuhr der Kawanho fort, »und um ihnen genau die Stelle zu bezeichnen, wo die Oeffnung sein muß, habe ich dieses Loch gebohrt. Jede Minute müssen sie es finden, und dann dauert es nicht mehr lange, so haben sie das letzte Hindernis beseitigt.«
»Viele Jahre lang hast du an diesem kleinen Loche gebohrt?« fragte Nobody zunächst mit gutem Vorbedacht.
»Nein, nur zwei Tage.«
»Du lebst aber doch schon viele Jahre auf diesem Felsen.«
»Wer sagte dir das?«
»Wan-tschang.«
»Ja, aber nur, um die Robben an mich zu gewöhnen, daß sie mir gehorchen.«
»Und warum wird der Tunnel gebaut?«
»Das wirst du, wenn nicht schon heute nacht, so doch morgen nacht erfahren. Denn ich werde dich hier behalten. Wie weit bist du zum Tao-Tao vorgeschritten?«
»Bis zum neunten Wort,« entgegnete Nobody, in der Hoffnung, daß diese Antwort der Frage entspräche, und der Gaukler hatte auch nichts daran auszusetzen.
»Und was ist dir als Belohnung versprochen worden, wenn du hierherschwimmst?«
»Mein Loman soll gleich vollgemacht werden.«
Ein böses Grinsen verzerrte das abgezehrte Gesicht des Alten.
»Ich dachte es mir. Aber wenn du hier bei mir bleibst, brauchst du kein Loman mehr, du kannst im Paradies aus- und eingehen und, wenn du willst für immer darin bleiben, dir auch gleich das Allerbeste und Allerfrischeste aussuchen.«
Das eine hatte Nobody verstanden, das andere noch nicht. Das Paradies war also eine irdische Stätte, oder vielmehr eine unterirdische, aber doch noch zur Erde gehörend, nicht nur ein erträumtes Paradies der Phantasie, und wenn es schon einen Eingang dazu gab, so sollte hier noch ein anderer geschaffen werden. Was der Alte mit dem Allerfrischesten meinte, wobei er so höhnisch grinste, verstand Nobody noch nicht ganz. Er hatte wohl schon eine Ahnung, von der er sich aber nicht beeinflussen lassen wollte.
Jedenfalls riskierten die Chinesen viel, wenn sie den Eingang gerade hierher verlegten.
Da knickte der Alte zusammen, als wolle er hinstürzen. So tief war er mit dem Bohrer plötzlich gefahren.
»Durch,« sagte er, als er sich wieder aufrichtete, »nun geht es auch unten bei denen schnell.«
Er steckte den Bohrer nochmals hinein, so tief wie er selbst hinablangen konnte, und bald hörte das unterirdische Arbeiten auf, es wurde in anderer Weise geklopft.
»Ai, ai,« rief der Alte hinab, den Mund auf das Loch am Boden pressend.
Für Nobodys Ohr kam eine unverständliche Antwort zurück. Eine weitere Verständigung war auch nicht nötig. Die Arbeitenden hatten jetzt eben die bestimmte Richtung angewiesen bekommen. In den Felsen hinein hatten sie sich durch Berechnung allein zu finden gewußt, wie ja die Chinesen in Bergbau und dergleichen Außerordentliches leisten, trotz der primitiven Werkzeuge und des Fehlens von geometrischen Kenntnissen, ohne welche unsere Techniker gar nicht auskommen könnten.
Jetzt hörte man ganz deutlich, wie die Steine weniger losgeklopft, als gespalten wurden, indem man erst vorbohrte und dann Keile hineintrieb, wodurch man immer große Blöcke loslösen konnte, denn donnernd hörte man solche zu Boden stürzen.
Und immer hohler klangen die Töne, immer näher klangen sie, und da brach die letzte Schicht; statt des kleinen Loches befand sich jetzt am Boden der Vertiefung ein großes, durch welches bequem der Leib eines Mannes schlüpfen konnte.
Wie aber, wenn nun die hohe See hier über den Felsen brandete? Mußte sich der ganze Tunnel dann nicht mit Wasser füllen?
Nun, die Chinesen würden den Tunneleingang wohl auch wieder wasserdicht zu verschließen wissen, und zwar in ganz unauffälliger Weise, so daß dann dieser Robbenfelsen auch einmal inspiziert werden konnte; die Gefahr war nun vorüber, jetzt brauchte sich der Gaukler nicht mehr ständig hier aufzuhalten. Jedenfalls war er des Schwimmens unkundig, und wie vorsichtig man gewesen, das zeigte sich, indem man, um ihm Trinkwasser zu bringen, niemals ein Boot benutzt hatte.
Als damals die beiden Schiffbrüchigen einige Zeit auf dem Felsen verweilen mußten, bis sie abgeholt wurden, da hatte sich der Alte inzwischen wohl zu verstecken gewußt.
Das Ende einer Leiter kam zum Vorschein, der bezopfte Kopf eines Chinesen tauchte auf.
»Jetzt bist du erlöst, Mok.«
Dieser antwortete nicht, er blickte in westlicher Richtung in die Nacht hinein, seine Augen bohrten sich förmlich in die Finsternis. Er hob den ausgestreckten Arm.
»Da - da kommen sie,« flüsterte er, »gerade zur rechten Zeit.«
Lichter schwebten auf dem Wasser genug, aber was der Alte sehen wollte, das erkannte auch Nobody nicht, bis es ihm doch war, als ob er einen Ruderschlag vernähme.
Immer mehr Chinesen tauchten aus dem Loche auf, tief atmeten sie die Nachtluft ein, sie freuten sich des vollendeten Werkes, flüsterten mit dem Gaukler, dabei nach Nobody blickend - doch das Hauptinteresse nahm jetzt das Geräusch in Anspruch, welches nach und nach für alle hörbar ward, und es war wirklich ein taktmäßiger Ruderschlag.
»Das ist Makong, der Fischer, er bringt sie schon,« wurde geflüstert, und eine ungeheuere Aufregung bemächtigte sich aller.
Da tauchten auch schon die Umrisse eines großen Bootes auf, ein zweites folgte.
»Makong!«
»Ich bin es,« erscholl es aus der Nacht zurück, und die Boote wurden abgestoppt. Zu unterscheiden war in ihnen noch nichts.
»Ist die Dschonke da?«
»Ich bringe sie sogar schon mit, zweiundfünfzig Stück.«
»Nicht möglich!«
»Was ist nicht möglich?«
»Wie kannst du wagen, gleich mit den Weibern zu kommen, ohne dich erst zu erkundigen, ob hier auch alles so weit ist?«
»Es wurde mir doch gesagt, daß ich in der ersten Neumondnacht kommen sollte, da sei der Tunnel fertig, und Neumond ist schon vorbei.«
»Dieser Befehl wurde widerrufen.«
»Von wem?«
»Durch einen Boten, den wir an dich sandten.«
»Zu mir ist kein Bote gekommen, der etwas widerrufen hat.«
Hiermit war diese Angelegenheit erledigt. Es war ja eben geglückt, durch einen Zufall war der Erwartete weder zu früh noch zu spät gekommen.
Auch hatte man während dieses Gespräches, welches ein aus der Erde getauchter Chinese, jedenfalls ein Oberhaupt der geheimen Gesellschaft, mit dem Bootsführer gehalten, immer gehandelt, das erste Boot war näher gekommen, die auf dem Felsen stehenden Chinesen nahmen zugeworfene Taue in Empfang, und das erste Boot entleerte sich seiner lebendigen Ladung, dann das zweite.
Also Weiber waren es, die man hier erwartete! Nobody sah sie selbst, und wenn es sich etwa um Frauenraub handelte, so waren es doch chinesische Frauen, die sie geraubt hatten - vermummte, ängstliche Geschöpfchen, die sich größtenteils kaum auf den verkrüppelten Füßen bewegen konnten, welche getragen und dann an Seilen in das finstere Loch hinabgelassen wurden, während sich der Gaukler jetzt ausschließlich mit den Robben beschäftigte, um diese über den ungewohnten Vorgang zu beruhigen, was ihm auch gelang; keine einzige bellte auch nur.
Kein Staunen, kein frivoler Spott - es war eher ein wehmütiges Gefühl, das Nobody beschlich, als er nun wußte, weshalb die Chinesen diese ungeheuere Arbeit geleistet, unter dem Meeresgrunde gebohrt hatten, um hier einen geheimen Eingang zu schaffen.
Also Weiber waren es, die sie auf diese Weise nach San Francisco schmuggeln wollten, Frauen und Mädchen aus ihrer eigenen Heimat!
Konnte man es ihnen denn schließlich verdenken? Ist es nicht fast eine Grausamkeit der amerikanischen Regierung, besonders, wenn man die früher angedeuteten Verhältnisse in Betracht zieht, daß sie nur den männlichen, nicht den weiblichen Chinesen den Eintritt in ihr Land erlaubt? Dann sollten sie eben überhaupt gar keine Chinesen nach Amerika lassen.
Nun, die bezopfte Bevölkerung von San Francisco hatte sich ja zu helfen gewußt. Das heimatliche Verbot, daß Frauen auswandern, war ja ganz illusorisch. Wer will denn das verhindern? Wenn einmal ein Schiff da ist, kommt man auch an Bord. Aber das Anlandbringen hat seine Schwierigkeiten.
Und viele Jahre hatten die Chinesen deshalb gearbeitet, im Meere selbst hatten sie einen Eingang für ihre neue Heimat geschaffen, Tiere des Meeres hatten deswegen erst gezähmt werden müssen.
Wirklich, es war geradezu etwas Rührendes dabei!
Allerdings konnte man auch noch an etwas anderes denken, nämlich, daß diese Weiber nicht etwa erwartete Frauen, Bräute und Schwestern waren, deren Sehnsucht nach dem Herzallerliebsten in der Heimat zu groß geworden war.
Die stärkste Andeutung, um was es sich handelte, hatte zuletzt der Kawanho gemacht - - der gehorsame Schwimmer könne, wenn er hier bliebe, in Tao-Tao gleich das Allerbeste und Allerfrischeste bekommen.
Doch da muß man, um gerecht zu sein, wieder mit chinesischen Ansichten und Sitten rechnen. In China ist so etwas erlaubt, gehört sogar mit zum guten Tone, weil mit zur Religion, wie sich auch in Japan die Teestuben der Geishas gleich neben den Tempeln befinden.
Wenn es sich also um sonst nichts weiter handelte, als nur Weiber, sagen wir gleich Freudenmädchen, hereinzuschmuggeln - dann war die Sache an sich ganz harmlos. Wenigstens für Nobody.
Von anderer Seite konnte das freilich auch anders aufgefaßt werden. Diese Frauenschmuggler setzten sich dabei einer furchtbaren Gefahr aus. Wenn das bekannt wurde, der gefeite Robbenfelsen durch so etwas geschändet - in San Francisco stand ein neues Chinesenmassaker bevor, wie es schon zweimal gewütet hat.
Als das letzte Weib hinabgelassen worden war, folgten auch die meisten Männer nach, dabei eine Leiter benutzend, und Nobody mischte sich schnell unter sie.
Denn noch war ja längst nicht alles für ihn aufgeklärt.
Wer er war, so weit Han-si unbekannt, hatten sie ja unterdessen schon von dem Kawanho erfahren, einer hatte es dem anderen wiedererzählt, der kühne Schwimmer, der zuletzt dem in hohem Ansehen stehenden Kawanho Gesellschaft geleistet hatte, wurde mit Hochachtung behandelt, andere waren mit Han-si schon bekannt, sprachen mit ihm, und Nobody verstand mit diesen alten und ihm doch ganz neuen Freunden fertig zu werden, ohne daß diese auch nur das geringste merkten.
Tief, tief ging es auf Leitern hinab, ehe der horizontale Schacht kam. Denn dieser mußte ja noch unter dem Meeresboden liegen und bedurfte einer gar starken Decke. Für Nobody war es überhaupt ein fast unbegreifliches Werk, das die Chinesen da vollbracht hatten.
Die zweiundfünfzig Weiber voran, welche teils geführt, teils getragen wurden, ging es diesen Schacht entlang, bei dem die Erbauer natürlich alles Ueberflüssige vermieden hatten. Ein normaler Mensch konnte darin kaum aufrecht stehen, und wenn sie ihn so breit gemacht hatten, daß sich zwei Personen ausweichen konnten, ohne übereinander zu kriechen, so war eben mit der Körperfülle von so vielen Chinesen gerechnet worden; denn je dicker der Chinese, desto angesehener ist er, und dasselbe gilt auch von den Frauen. Die größte Körperfülle ist eben nach Ansicht des Chinesen die höchste Schönheit.
Nach etwa fünfhundert Metern ging es wieder Leitern hinauf, die obersten zeigten Spuren, daß hier erst vor kurzem etwas zusammengebrochen und repariert worden war, und Nobody taxierte wohl ganz richtig, daß sich gerade an dieser Stelle auf der Erdoberfläche Mojans Haus befand.
Hier war eben die Untertunnelung des Meeres in Angriff genommen worden, wozu man doch viel tiefer gehen mußte, und man konnte ja damit nicht erst ganz nahe der sandigen Küste anfangen.
Dieses letzte Arbeiten war es gewesen, was Mojan gehört hatte, und er hätte niemals etwas davon bemerkt, hätte er nicht einmal zufällig mit dem Ohre dicht am Boden gelegen.
Dann wieder ein langer horizontaler Gang, in der Ferne blitzten viele Lichter auf, und bald war man am Ziel, wo der Weibertransport von zahlreichen Chinesen mit Jubel in Empfang genommen wurde.
Es ist schwer zu beschreiben, was Nobody hier eigentlich vorfand.
Es war gewissermaßen eine ganze Stadt, die sich hier unter der Erde entwickelt hatte, eine Chinesenstadt, mit allem was dazu gehört, mit den einstöckigen Häusern und dem ganzen Jahrmarktstreiben, nur daß es keinen Himmel gab, daß die Straßen und Gassen eben unter der Erde angelegt, in den Kalkfelsen hineingetrieben waren.
In diesem Labyrinth gab es für einen Neuling keine Orientierung, und obgleich Nobody sich ganz frei bewegen konnte, ward es ihm doch außerordentlich schwer, etwas zu erfahren, eben weil er als Chinese auftreten mußte, der nicht so wißbegierig fragen darf.
Endlich wurde Nobody als vermeintlicher Han-si von einem Freunde angeredet, der sich als gesprächiger, gern aufklärender Chinese erwies, und der stolz darauf war, denjenigen, der im letzten Schlußakt eine bedeutende Rolle gespielt hatte, herumführen zu können.
Das erste Gold ward in Kalifornien im Jahre 1848 gefunden; sofort kamen Chinesen in Masse, aber sie arbeiteten nicht ausschließlich als Goldgräber, sondern legten sich auch gleich auf Handel und Gewerbe, dadurch vielleicht noch mehr verdienend. Diese siedelten sich im Osten des schnell emporblühenden San Francisco an, legten den Grund zu der noch heute existierenden Chinesenkolonie, der sich schließlich nach Erschöpfung der Goldgruben auch alle anderen Chinesen beigesellten, in enger Gemeinschaft ihr eigenes Viertel, ihre eigene Stadt bildend.
Man hatte die Chinesen als Rivalen, mit denen gar nicht zu konkurrieren war, natürlich niemals leiden mögen, hatte ihnen alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt, sie waren besonders damals, in der Goldzeit, fanatischen Verfolgungen ausgesetzt gewesen, auch die Polizei war gegen sie, wenn nicht gesetzlich, dann auf eigene Faust, und so hatten sich die Chinesen von allem Anfang an unter die Erde zurückgezogen, hatten sich unter ihrer oberirdischen Kolonie eine zweite Heimstätte gegründet, wo sie ihren Neigungen nach Belieben und ungestört leben durften.
Ihre Verhältnisse wurden, als die Rowdyzeit Kaliforniens vorüber war, etwas besser, das Gesetz konnte ihr Leben besser schützen; aber die Chinesen sind und bleiben nun einmal für den Kaukasier und ganz besonders für den Yankee minderwertige Menschen, sind überhaupt keine Menschen, und so hatten die Chinesen ihre zweite, unterirdische Heimstätte lieber nicht aufgegeben, und innerhalb von vierzig Jahren hatte sich diese zu dem entwickelt, was Nobody gegenwärtig vorfand: eine vollkommene Stadt unter der Erde.
Es sei nur erwähnt, daß diese unterirdische Stadt ihr eigenes Bankhaus hatte, welches eigenes Papiergeld ausgab, allerdings nur hier unten gültig, hier aber auch als vollwertiges Geld angenommen. Dies genügt wohl, um den ganzen Charakter dieser unterirdischen Stadt zu kennzeichnen. Denn die Bank ist in Amerika immer die Hauptsache. Da war eine eigene Stadtverwaltung ganz selbstverständlich, Beamte waren angestellt, welche von den Kaufleuten und Handwerkern, von den Besitzern der Tingeltangels, der Spielhäuser und der Opiumhöhlen Steuern zu erheben hatten, es gab eine eigene Polizei und so weiter und so weiter.
Gearbeitet wurde hier unten allerdings nicht. Wenigstens nicht im allgemeinen. Die Handwerker legten nur ihre Sachen aus, die sie oben in ihren Hütten anfertigten.
Sonst herrschte ein allgemeines Jahrmarktstreiben mit allem, was dazu gehört, und das ist ja auch der Handel, das Schachern. Und dann vor allen Dingen natürlich Lustbarkeiten aller Art, und zwar nach chinesischem Geschmack.
Nobody kam gerade zur günstigsten Zeit, wo es am lebhaftesten zuging, in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag; denn diese unterirdische Stadt wurde natürlich nur zeitweilig benutzt. Sechs oder doch fünf Tage in der Woche stand sie leer, nur wenige kamen jeden Abend für kurze Zeit herunter, brauchten dazu auch eine besondere Erlaubnis, und im ganzen mochten es etwa hundert Personen sein, welche ständig hier unten hausten, das Oberlicht der Erde überhaupt nie wieder erblickten, und das galt besonders von zwei Dutzend Weibern, alte und junge, welche im Laufe der vierzig vergangenen Jahre eingeschmuggelt worden waren, die jüngeren natürlich zuletzt. Daß diese in Freudenhäusern verwandt wurden, kann wohl ruhig gesagt werden, das ist ja auch ganz selbstverständlich. Die alten erhielten so das Gnadenbrot wie auch mancher männliche Chinese, der wegen seines Alters nicht mehr als ständiger Beamter oder Arbeiter in dieser unterirdischen Stadt zu gebrauchen war.
Wie war es möglich, daß solch eine ausgebreitete Stadt, in der manchmal mehrere tausend Menschen zusammenkamen, unter der Erde existieren konnte, unterhalb einer dichtbevölkerten Kulturstadt, ohne daß oben die Polizei und sonst irgendein anderer Mensch, der nicht dazu gehörte, auch nur die geringste Ahnung davon hatte?
Ja, du lieber Gott, das ist eben chinesisch! Der Chinese ist eben solch ein gottbegnadeter Geheimniskrämer.
Nicht wahr, das klingt unglaublich? Nobody dachte auch manchmal, das alles sei nur ein Traum, wenn er sich auch an einer Pastete, die er frisch von der Pfanne kaufte, die Zunge verbrannte.
Es wird gehofft, daß der Leser nicht an der Wahrheit dieser Schilderung zweifelt. Aus der Phantasie heraus unter dem zivilisierten San Francisco so eine ganze zweite Stadt mit gelegentlich mehreren tausend Einwohnern entstehen zu lassen, das wäre doch etwas gar zu ungeheuerlich.
Nun, die Wahrheit ist ja schließlich doch an das Licht der Sonne gekommen, nämlich im Jahre 1906.
Bei dem fürchterlichen Erdbeben wurde auch das ganze Chinesenviertel ein Raub der Flammen, und als man mit den Aufräumungsarbeiten begann, hätte man vielleicht noch immer nicht die Zugänge zu der unterirdischen Stadt gefunden, so geschickt waren diese versteckt. Aber es kanten so viele Bodensenkungen vor, die man sich nicht erklären konnte, ein Schacht wurde auch ganz aufgedeckt, und als man nun weiter forschte, da eben fand man diese ganze unterirdische Stadt mit allem, was dazu gehört - ein wahres Labyrinth, von menschlichen Maulwürfen angelegt, ein menschlicher Ameisenhaufen, und diese Gänge blieben nicht etwa nur unter dem Chinesenviertel, sondern sie durchzogen auch kreuz und quer das eigentliche San Francisco, die vornehmsten Hauptstraßen; aber immer so tief angelegt, daß auch die mächtigsten Tiefbauten nicht hinabreichten, noch weit unterhalb des Niveaus, in welches man Gas- und Wasserleitung legt, und Brunnen gibt es in San Francisco gar nicht.
Was für ein Staunen damals, als diese unterirdische Stadt aufgedeckt wurde, in San Francisco gewesen ist, läßt sich gar nicht beschreiben. Unsere deutschen Zeitungen haben das gar nicht so wiedergeben können, es wurde nur ganz kurz nebenbei darüber berichtet. Denn man muß bedenken, daß damals sich das Hauptinteresse doch auf das Erdbeben selbst mit dem fürchterlichen Schaden konzentrierte, auf die verunglückten Menschen usw.
Und wenn vorhin gesagt wurde, das Staunen in San Francisco selbst ob dieser Entdeckung sei unermeßlich gewesen, so sind hiermit nur speziell dabei interessierte Kreise gemeint, vor allen Dingen die Polizei und die Verwaltungsbehörden. Denn sonst dachte ja jeder damals in seiner Todesangst oder Beutegier an alles andere als an so etwas.
Die Polizei aber war jedenfalls grenzenlos verblüfft, wie da plötzlich eine vollständige, unterirdische Stadt zum Vorschein kam! Einige haben gesagt, sie hätten schon längst so etwas geahnt; aber das ist natürlich Schwindel, Renommage, einfach Unsinn. Wenn man so etwas Ungeheuerliches ahnt, muß man doch auch der Sache auf den Grund zu gehen versuchen, da hätten sich doch schon Andeutungen in den Zeitungen gefunden.
Nein, es hat eben kein Mensch, der nicht selbst Zutritt zu dieser unterirdischen Stadt hatte, sich so etwas auch nur träumen lassen. Waren doch nicht einmal alle Chinesen eingeweiht, vielleicht nur die Hälfte, die andere wohnte ahnungslos über der unterirdischen Stadt, in welche ihre Landsleute zeitweilig verschwanden. Da ist doch von der weißen Bevölkerung San Franciscos gar nicht zu sprechen.
Wie freilich die Chinesen das fast sechzig Jahre lang haben so geheim halten können, das allerdings entzieht sich unserem Verstande. Das sind eben Chinesen - solche Chinesen, die den ganzen Tag von einer Hand voll Reis leben, die zu hundert Mann in einem engen Raume schlafen können und am anderen Morgen mit unermüdlichem Fleiße wieder arbeiten. - - -
Während es also bisher mit der holden Weiblichkeit sehr flau ausgesehen hatte - 10 000 Menschen mochten hier unten abwechselnd ein- und ausgehen, für welche nur ein Dutzend zarter Frauenherzen schlugen - waren jetzt gleich en gros 52 Stück eingeschmuggelt worden, lauter ausgesuchte Ware.
»Werden noch mehr kommen?« fragte Nobody seinen guten Freund, den er gar nicht kannte.
»Natürlich, jetzt können doch so viel hereingebracht werden, wie wir wollen.«
»Wann kommt der nächste Transport?«
»Das weiß ich freilich nicht, das ist Sache der Verwaltung, und auch dort wirst du darüber nichts erfahren können, das ist alles tiefstes Geheimnis, auch für uns.«
Ja, diese Wahrung der Geheimnisse selbst unter sich, das ist es ja eben, was solche Ungeheuerlichkeiten nur möglich macht, und dann nur noch etwas Glück. Das Erdbeben ist für die Chinesen eben einmal ein Unglück gewesen; aber wer weiß denn, wo sie jetzt schon wieder wühlen, und diesmal hält es vielleicht hundert Jahre an, ehe es zufällig einmal ans Licht der Sonne kommt.
»Weiße Frauen gibt es hier nicht?«
»Wie meinst du?«
»Nun, man kann doch einmal oben eine weiße Frau verschwinden lassen, sie kommt hierherunter ...«
»Wo denkst du hin?!« wurde Nobody entrüstet unterbrochen. »Ich kenne dich gar nicht mehr, Han-si, der du sonst so klug bist! Wir werden uns doch keiner solchen Gefahr aussetzen. Wenn oben ein weißer Teufel einmal getötet wird, so lassen wir uns bestrafen; aber hier unten darf nichts passieren.«
Es wurde damals in den Zeitungen geschrieben, in dieser unterirdischen Chinesenstadt seien die scheußlichsten Verbrechen verübt worden, hauptsächlich an weißen Männern, Frauen und Kindern, man hätte Skelette gefunden, noch Leichen, sogar noch lebendige Gefangene, weiße, welche schreckliche Dinge erzählen konnten, wie man sie hierhergelockt, und wie man sie hier behandelt hatte.
An alledem ist kein wahres Wort. Daß solche geheimnisvolle Entdeckungen in den Köpfen von phantasiebegabten Menschen gleich ganze Romane hervorrufen müssen, ist leicht erklärlich, und nun gar noch amerikanische Berichterstatter, welche nun dachten, mit solchen Geschichten einiges Geld zu verdienen.
Ebenso klar aber liegt auch auf der Hand, daß die Chinesen solche Greueltaten gar nicht verüben konnten, wollten sie ihr Geheimnis wahren. Es lag ihnen ja nur daran, nach ihrem Geschmacke leben zu können, und dieser ist nun allerdings von besonderer Art, da mögen dort unten allerdings viele Dinge getrieben worden sein, wovon Justiz und Polizei nichts hätte erfahren dürfen. Aber das wurde doch immer nur unter sich abgemacht.
Und Nobody hatte wieder einmal gemerkt, wie vorsichtig er als Chinese zu fragen hatte.
Also kaum die Hälfte aller in San Francisco lebenden Chinesen wurden in das unterirdische Paradies eingeweiht. Vor allen Dingen war man den chinesischen Dienern gegenüber, welche sich in europäische Häuser vermietet hatten, sehr vorsichtig.
Angesehene Personen wurden, wenn sie neu nach Amerika kamen, ohne weiteres eingeführt, vorausgesetzt, daß man ihnen vertrauen durfte. Aber warum hätte man das nicht tun sollen? Es handelte sich ja nur um die Einführung chinesischer Sitten und Lustbarkeiten in einem fremden Lande. Diese reichen Männer, meist Kaufleute und Ex- bezw. Importeure, unterstützten die ganze Sache besonders auch pekuniär, für sie war das gewissermaßen eine politische Propaganda.
Desgleichen wurden auch die kleineren Kaufleute, die Handwerker und selbst Arbeiter ohne viel Umstände, nur nach einer kurzen Prüfung ihrer Verschwiegenheit und sonstigen Gesinnung, in das unterirdische Tao-Tao eingeführt.
Am vorsichtigsten war man also mit jenen Dienern. Denn einmal waren diese meist Christen geworden, was schon eine Abtrünnigkeit bedeutet, und dann standen diese eben zu sehr unter dem Einfluß der ?weißen Teufel?.
Doch auch sie suchte man zu gewinnen, oder kam ihnen vielmehr aus Menschenfreundlichkeit entgegen, um ihnen im fremden Lande die heimatlichen Genüsse zu verschaffen.
Sobald man merkte, daß das Christentum eines Dieners nicht echt war, wenn er etwa gar wieder zum Da-o-li in die Pagode beten kam, heimlich, dann näherte man sich ihm, der Da-o-li machte geheimnisvolle Andeutungen, er könne ihm schon bei Lebzeiten den Eintritt in den chinesischen Himmel verschaffen, er wurde Prüfungen ausgesetzt, erhielt schon ein Loman, ein Eintrittsbillett zum Paradiese, und war dieses nach so und so vielen wohlbestandenen Prüfungen des Gehorsams ausgefüllt, dann eröffnete sich ihm das unterirdische Reich.
Auf diese Weise hatte der verunglückte La-tse sein Loman erhalten, Han-si war auf dem besten Wege dazu gewesen, Nobody hatte ihn nur abgelöst. Jetzt konnte er, wenn er Lust hatte, die Früchte davon genießen.
Es war wenig mehr, was Nobody sonst noch erfuhr.
Zu diesem unterirdischen Reiche gab es zahllose Eingänge. Meist befanden sie sich in Opiumhöhlen und in Herbergen, welche dann natürlich nur solche eingeweihte Schlafgäste aufnahmen, so versteckt und geschickt angebracht, daß bei einer Visitation dieser öffentlichen Häuser auch die beste Spürnase nichts entdeckt hätte - wie ja auch die Tatsache beweist.
Ferner hatte jede staatlich konzessionierte Pagode, also jeder chinesische Tempel, solch einen geheimen Eingang. In Menge strömten Sonnabends und Sonntags die frommen Konfuzianer und Andersgläubige in die Kirchen, und wer nicht begriff, wie die engen Mauern so viele Menschen fassen konnten, der hatte auch ganz recht. Die Gläubigen verschwanden dort drin eben unter der Erde.
Aber wer kümmerte sich denn in San Francisco um so etwas, wer hätte etwa die Eingehenden gezählt?
Und sogar europäische Privathäuser, in denen viel chinesische Diener gehalten wurden, hatten ihre eigenen Eingänge ins Reich der Nacht, ohne daß die weißen Kameraden nur davon etwas ahnten. Und was würde der Reverend sagen, wenn er erfuhr, daß auch sein Haus, in dem ausschließlich Chinesen angestellt waren, mit diesem chinesischen Paradiese in direkter Verbindung stand, daß dieser geheime Weg jede Nacht von seinen Dienern benutzt wurde, die er natürlich für die gläubigsten Christen hielt - im Hause des Missionars! - ja, daß es sogar in seiner Kirche solch einen geheimen Eingang gab, noch dazu gerade unter dem Altar angebracht!
Und gerade das war es, was Nobody so viel zu denken gab, ihm schwere Sorge bereitete. - -
Unsere Erzählung ist so ziemlich zu Ende. Nur wenig haben wir noch hinzuzufügen.
Noch vor Tagesanbruch tauchte Nobody in einer Opiumhöhle wieder an der Erdoberfläche auf und machte sich sofort auf den Heimweg, den er in tiefen Gedanken zurücklegte.
»Was soll ich nun tun? Ich stehe vor einem schrecklichen Entweder-Oder. Schon die erste Frage, was nun mit dem hypnotisierten Han-si anzufangen ist, weiß ich vorläufig noch nicht zu beantworten.«
In Mojans Zimmer war noch Licht. Nobody trat ein. Mojan ging in einem türkischen Schlafrocke auf und ab, der Hypnotisierte lag noch immer auf dem Sofa, mit einer Decke zugedeckt, da er ja ganz entkleidet war, so wie Nobody ihn verlassen hatte.
»Na, endlich, Sie haben lange auf sich warten lassen.«
»Mojan, was ich erlebt habe!«
»Na, was denn?«
»Können Sie schweigen? Nur unter diesen Umständen vertraue ich es Ihnen.«
»Ich kann schweigen. Können Sie es? Ich habe Ihnen nämlich auch etwas mitzuteilen. Doch erzählen Sie erst.«
Nobody tat es, und Mr. Cerberus Mojan hatte einmal tatsächlich Grund, seinen Rachen so weit aufzureißen.
»Sie erzählen mir wohl arabische Geistergeschichten?«
Er mußte es wohl glauben.
»Ja, aber was nun tun?«
»Wenn das herauskommt - der Mob arrangiert ein neues Chinesenmassaker, da kann keine Polizei schützen, die hilft selbst mit.«
»Das ist es eben. Schon die Entheiligung der Robbeninsel genügt, um alles in Flammen gegen die Chinesen zu setzen. Ach, und wenn ich nur an den biederen Reverend denke - in seinem eigenen Hause - diese furchtbare Enttäuschung - diese Schmach - ach, Mojan, ist mir elend zumute.«
»Ja, ich verstehe es.«
»Mojan, Sie sind einmal ernst, und ich gebe etwas auf Ihr Urteil; denn im Grunde genommen sind Sie doch ein ganz vernünftiger Mensch.«
»Das weiß ich allein.«
»So sagen Sie mir, ist es meine Pflicht - meine Pflicht vor Gott und den Menschen, diese Sache anzuzeigen?«
»Ihre Pflicht? Nee, nicht im geringsten. Das heißt, das müssen Sie mit Ihrem eigenen Gewissen ausmachen.«
»Mein Gewissen spricht mich frei, rät mir sogar ab, das Geheimnis der Oeffentlichkeit preiszugeben. Was das Treiben der Chinesen dort unten anbetrifft, und das mit dem Robbenfelsen, und wie sie die Frauen hereinschmuggeln und dort unten versteckt halten - Mojan, Sie wissen, wie unparteiisch ich immer denke.«
»Und ich,« entgegnete Mojan, »kann Ihnen nur eins sagen: wenn ich ein Chinese wäre, würde ich auch mitmachen und den Mann, der das alles ausgeheckt hat, als ein Genie bewundern.«
»Gut. Ich begrabe dieses Geheimnis in meinem Busen, und Ihr Wort habe ich schon.«
Daraufhin schüttelten sich die beiden Männer noch einmal die Hand.
»Ja,« nahm Nobody dann wieder das Wort, »nun handelt es sich aber noch um Han-si. Da bin ich auch in ein Dilemma gekommen, an das ich zuvor nicht gedacht hatte.«
»Wieso denn?« fragte Mojan, und es hatte recht fröhlich geklungen.
»Mein Gott, das ist doch selbstverständlich - der Chinese kann doch nicht ewig in der Hypnose liegen bleiben - ich muß ihn doch wieder wecken - -«
»Und Sie meinen, dann wird er sprechen?«
»Das gerade nicht - aber der echte Han-si ist es doch nicht gewesen - mein Gott, Mojan, stellen Sie sich doch nicht so dumm - Sie wissen doch ganz genau, was ich meine.«
»Jawohl, ich verstehe nur nicht recht, weshalb Sie sich um meinen Diener noch Sorge machen - der kann für Sie kein Hindernis bilden.«
Aufmerksam blickte Nobody seinen alten, dicken Freund an. Mojan sprach wieder einmal so eigentümlich, der mußte irgend etwas auf dem Rohre haben.
»Was ist mit Han-si?«
»Dort liegt er.«
»Er ist doch noch hypnotisiert.«
»Nee.«
»Was? Er ist von allein erwacht?«
»Ganz im Gegenteil, er ist von allein gestorben.«
Nobodys Hand, die sich nach der Decke ausgestreckt hatte, zuckte zurück, dann griff sie doch noch zu, die Decke wurde abgehoben - - da lag der Chinese, kalt und starr, ganz blau das aufgedunsene Gesicht, und sofort entdeckte das Auge des Detektivs um den Hals einen roten Streifen.
»Stranguliert! Um Gott, Mojan, wie ist das gekommen?!«
Mojan war wieder ernst geworden, sogar tiefernst, was ihm aber gar nicht stand.
»Er hat sich aufgehängt. Es ist meine Schuld. Wenn man es so nehmen will.«
»Was haben Sie getan?«
Mojan hatte an dem Hypnotisierten einmal Experimente machen wollen, hatte ihn zum Erwachen gebracht, ohne daß er es wollte, konnte ihn natürlich nicht wieder einschläfern. Der Erwachte sah sich nackt, und schon das Fehlen seiner Leibbinde mit dem Loman mochte ihn zum Selbstmord getrieben haben, zu dem der stoische Chinese ja sehr geneigt ist.
Mojan hatte ihn eingeschlossen, hatte aus der Hausapotheke ein Betäubungsmittel holen wollen - als er zurückkehrte, hatte Han-si dort an der Gardinenschnur gehangen.
Nobody hatte keine Vorwürfe, hätte gar nicht gewußt, weswegen.
»Gut, daß es so gekommen ist!« sagte er, weiter nichts. - - -
Noch an demselben Morgen wurde die Leiche des Selbstmörders von der Polizei aufgehoben. Auch diese fragte wegen des Chinesen gar nicht nach einem Grunde.
Und in der kurzen Zeit, welche sich Nobody noch in San Francisco aufhielt, merkte er unter der chinesischen Bevölkerung wegen des Selbstmordes Han-sis, der zuletzt noch eine so große Rolle gespielt hatte, nicht die geringste Aufregung. Das war bei dem chinesischen Charakter ja ganz ausgeschlossen, und auch sonst kümmerte sich Nobody nicht weiter darum, ebensowenig, was noch aus der unterirdischen Stadt wurde, ob noch mehr Frauen hereingeschmuggelt wurden usw.
Den Grund dieser seiner Teilnahmlosigkeit werden wir alsbald erfahren, und schließlich hatte er sich ja überhaupt vorgenommen, sich um alles das gar nicht mehr zu kümmern.
Jedenfalls also sollte das ganze unterirdische Geheimnis nicht eher ans Tageslicht kommen, als bis der Himmel selbst es aufdeckte - durch jenes fürchterliche Erdbeben.
Man hat ja dort unten auch chinesische Frauen genug gefunden, deren Vorhandensein allein ein Rätsel war - sie waren eben geschmuggelt worden - und mehr noch mochten verschüttet worden sein.
Doch von einem unter dem Meere angelegten Tunnel, der bis nach jenem Robbenfelsen führte, wußten die Zeitungen damals nichts zu erzählen. Dieser mag durch das Erdbeben eingestürzt sein - vom Meere ausgefüllt - die Chinesen mögen diesen Weg auch schon vorher aufgegeben haben.
Nur in Nobodys intimen Tagebüchern ist davon ausführlich zu lesen.

V. Ein Experiment.

Freudig stand Edward Scott von seinem Schreibtisch auf. Auf der in ein Kuvert eingeschlossenen Karte, die ihm der Diener überbracht, hatte sich der draußen wartende Herr als Nobody zu erkennen gegeben.
Er trat ein; der noch junge Kanadier mit den eisgrauen Haaren eilte ihm entgegen, um den langjährigen Freund in seine Arme zu schließen.
»Endlich erinnerst du dich einmal meiner! Du hast lange genug auf dich warten lassen. Aber,« Scott brach ab und musterte den Freund mit besorgten Blicken, »ist das dein natürliches Aussehen oder hast du dir nur ein solches gegeben?«
»Was für ein Aussehen? Was fällt dir an mir auf?«
»Du siehst recht leidend aus, Alfred.«
Ja, das war auch der Fall, und es war keine Maske. Nobody sah leidend, niedergeschlagen aus - besonders in den Augen war es zu lesen.
»Körperlich wohl, gesund, rüstig wie in meiner besten Zeit - aber die Seele fängt an zu altern.«
»Armer Freund!«
Er wußte ja, was ihm fehlte.
»Noch keine Spur?«
»Nicht die geringste.«
»Hast du es einmal mit öffentlichen Aufforderungen versucht?«
»Edward, sprich doch nicht so! Daß dies gar keinen Zweck hätte, liegt doch klar auf der Hand.«
Scott mußte es zugeben.
Ob Nobody inzwischen einmal wieder zu Hause gewesen war, wagte er gar nicht zu fragen.
»Aber du hast noch Hoffnung?«
Nobody zuckte nur die Schultern, als er sich auf einen Stuhl niederließ.
»Was heißt Hoffnung? Hoffen und Harren macht manchen zum Narren - und um es nicht zu werden, muß man arbeiten, rastlos arbeiten. Das betäubt auch und ist nicht so schädlich wie Morphium und dergleichen.«
»Wie weit bist du mit dem roten Buche gekommen?«
»Bis zur elften Bestimmung.«
»Was war die letzte?«
»Sie führte mich nach St. Louis. Ich wäre - du weißt ja - sowieso dorthin gekommen. Liest du Zeitungen?«
»O ja.«
»Hast du von dem Falle des Mr. Thorner gehört?«
»Jawohl, man kann sich nicht genug wundern, wie dieser wegen seines schmutzigen Geizes bekannte Mann plötzlich die Hälfte seines großen Vermögens einer Armenanstalt hat vermachen können, und das noch bei Lebzeiten. Ueber den muß geradezu der heilige Geist gekommen sein.«
»Nein, sondern ich bin über ihn gekommen,« entgegnete Nobody, und es hatte durchaus nicht humoristisch geklungen.
»Du? Nun ja, das ist ja so deine Weise, um jemanden zu bestrafen, den du aus irgendeinem Grunde nicht den Gerichten ausliefern willst, und ich vermute, daß dieser alte Geizhals etwas auf dem Gewissen hatte.«
»Allerdings.«
»Darf ich es erfahren?«
»Warum nicht?«
»Hast du auch erfahren, wie vor einigen Wochen Professor Hilligard aus San Francisco im Ballon das Felsengebirge überflog und in der Salzwüste von Pahutah verunglückte?«
»Wenigstens seine Gefährten verunglückten, der Professor kam heil davon, er fand eine Oase, an welcher, nachdem er acht Tage als Robinson gelebt hatte, ein Segelschlitten antrieb, welcher zwei unternehmenden Abenteurern durchgebrannt war, die dann aber ebenfalls dorthin gelangten.«
»Kannst du dich der Namen dieser Abenteurer entsinnen?«
»Jawohl, es stand ja alles in den Zeitungen, und ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Der eine hieß Knox ...«
»Dieser Frank Knox war ich selbst, und das dürfte wohl nicht in den Zeitungen gestanden haben.«
»Was, das warst du?« sagte Scott, aber ohne besonderes Staunen, dessen er ja niemals fähig gewesen war. »Nun ja, warum sollst du das nicht gewesen sein?«
»Und was wir sonst noch in der Oase gefunden haben, wirst du wohl auch nicht wissen, oder Professor Hilligard hätte sein Ehrenwort gebrochen, was ich ihm aber nicht zutraue.«
»Nein, ich weiß nichts. Was habt ihr in der Oase gefunden?«
Nobody erzählte von dem Parsen, mußte dann aber wieder eine Einschränkung machen.
»Du weißt doch, daß dieser Mr. Thorner, ursprünglich ein Engländer, ehemals ein wissenschaftlicher Forschungsreisender gewesen ist, der in den indischen Gebieten des Himalaja recht respektable Entdeckungen gemacht hat?«
»Jawohl, die Zeitungen berichteten darüber, und mich wundert nur, wie solch ein Mann ein schmutziger Geizhals sein oder doch noch werden kann. Das sieht praktischen Gelehrten doch ebensowenig wie Künstlern ähnlich.«
Hierin irrte sich Scott. Wir haben genug Künstler gehabt, die sich durch ganz besonderen Geiz auszeichneten. Allerdings Ausnahmen, aber doch ziemlich zahlreich. So wendete der unvergleichliche Geigerkönig Paganini, dabei ein ruheloser, dämonischer Charakter, jeden Pfennig zehnmal um, ehe er ihn ausgab. Andere Namen seien nicht genannt, um sie nicht zu verunglimpfen, und auch von Paganini sei erwähnt, daß er sich, unberechenbar, wie er war, noch in seinem späten Alter änderte, was doch sonst bei einem Geizfilz nie vorkommt, er gab zuletzt nur noch Konzerte zum Besten der Armen.
»Auch ist er ein großer Weiberfreund oder sagen wir gleich Mädchenjäger gewesen,« fuhr Nobody fort.
»Hm, davon machten sogar die offenherzigsten Zeitungen nur sehr zarte Andeutungen - wenn man eine so großartige Stiftung macht, werden gern die Augen zugedrückt. Aber so etwas läßt sich mit derartigen Kolonialreisenden schon eher vereinigen.«
»Nun, dieser Mr. Thorner hat vor schon fünfzig Jahren auch eine Forschungsexpedition durch die Salzwüste von Pahutah gemacht. Unter den Mitgliedern der Expedition befand sich auch ein junger Parse namens Jasman Jadarzin, den Thorner aus Indien mitgebracht hatte, desgleichen dessen junge Frau, der der weißhäutige Don Juan den Hof machte, ohne besonderes Glück zu haben, und so offen durfte er damit auch nicht herauskommen. Er wartete nur auf eine Gelegenheit, und die kam. Die Expedition rieb sich auf, zuletzt waren nur noch Thorner und sein Diener übrig, eben jener Parse, die beiden waren noch fähig, kultiviertes Land zu erreichen, aber Thorner hielt das eben für eine gute Gelegenheit und weil der Parse so nicht draufgehen wollte, hat er ihm den Schädel eingeschlagen und ihm auch noch einen Stich ins Herz gegeben. Weshalb? Weil sonst wohl das Wasser doch nicht gelangt hätte, vielleicht auch deshalb, weil der Parse eben in New-York eine hübsche Frau hatte.«
»Entsetzlich!« hauchte Scott, diesmal wirklich erschüttert.
»Aber Jadarzin war eben doch nicht tot, er erholte sich und ... das andere konnte er mir nicht erzählen, wie er nach der Oase gekommen ist. Er hat sich eben hingeschleppt. Dort gesundete er, der Schädelbruch heilte, aber nur äußerlich. Er blieb wahnsinnig, wie ich es dir geschildert habe. Hielt sich für den ersten Menschen auf der Erde, die für ihn seine Oase bedeutete. Mit Mühe brachte ich dies alles in der Hypnose aus ihm heraus.«
»Und dann suchtest du Thorner auf?«
»Ja. Was für einen Schreck der bekam, kannst du dir denken. Eben dieser Schreck zwang ihn schließlich zum Geständnis. Ich habe ihn bestraft genug. Daß das zwischen uns bleibt, brauche ich dir nicht erst zu sagen.«
»Selbstverständlich nicht.«
In der Unterhaltung trat eine längere Pause ein.
»So sind die Bestimmungen also immer richtig gewesen, welche ich dir gab?« nahm Scott dann wieder das Wort.
»Immer,« entgegnete Nobody, aus seinen Gedanken erwachend.
»Und wohin führt dich die nächste Bestimmung des roten Buches?«
»Ja, das ist es, was mich hierherbrachte. Ich wollte dir das Buch zurückgeben.«
Nobody zog das rote Büchelchen, jetzt schon stark abgegriffen, aus der Tasche und hielt es dem Freunde hin.
Dieser blickte ihn verwundert an.
»Warum das?«
»Kannst du nicht begreifen, wie tief unglücklich es mich macht, mich so als Sklave eines unabwendbaren Schicksals zu sehen?«
»Du bist nicht der Sklave eines unabwendbaren Schicksals.«
»Laß das! Ich weiß alles, was du sagen willst. Ich habe auf dein Anraten den Boetius gelesen, welcher römische Philosoph ja allerdings ganz korrekt ausführt, wie man eine Vorherbestimmung des Schicksals mit vollkommener Willensfreiheit des Handelns zusammenreimen kann, aber ... sag, Edward, warum bist du denn selbst früher über deine Sehergabe so unglücklich gewesen?«
Scott wußte keine Antwort. Nobody hatte recht.
»Ich möchte nicht mehr wissen, wohin mich das Schicksal führen wird.«
»Du kommst von ganz allein hin, brauchst dich gar nicht nach dem Buche zu richten.«
»Na ja, das ist doch immer die alte Geschichte - gut, komme ich hin, sowieso, dann brauche ich mein Ziel doch gar nicht erst zu wissen; denn Trost hat mir das bisher nicht gebracht - dagegen sehr viele bittere Enttäuschungen.«
Scott wußte, was sein Freund meinte. Nobody hoffte ja immer bei jeder Bestimmung, am Ziele seine Frau und Kinder zu finden.
»Hast du nicht alle die Bestimmungen schon einmal durchgelesen?«
»Gewiß, und ich weiß sofort, was du meinst, du hast recht; die Zurückgabe dieses Büchelchens nützt nichts; denn ich habe ja alle diese Zahlen der Reihe nach im Kopfe, habe doch alles auch schon auf der Landkarte aufgesucht.«
»Ja, was ist dann dagegen zu machen?«
»Ich weiß, was dagegen zu machen ist, und eben deshalb komme ich zu dir. Du weißt, Edward, wie sehr ich die hypnotische Willensbeeinflussung verurteile. Da ich aber nun einmal diese Gabe besitze, bin ich als Detektiv gezwungen, häufig davon Gebrauch zu machen. Ich wende sie ja auch nur bei Verbrechern an, um sie zum Geständnis zu bringen. Wirkliche Willensbeeinflussungen, also den posthypnotischen Befehl, vermeide ich mit wahrer Aengstlichkeit. Trotzdem, auch das habe ich getan, besonders in früheren Jahren. So will ich jetzt dasselbe einmal bei mir selbst anwenden, um mich von einem Uebel zu erlösen.«
»Du willst dir die Erinnerung an die geographischen Bestimmungen heraushypnotisieren?«
»Ja.«
»Du meinst, das geht?«
»Mit Leichtigkeit, unfehlbar, und du sollst mein Hypnotiseur sein.«
Scott schien einen für ihn äußerst unangenehmen Auftrag erhalten zu haben.
»Ich verstehe; aber warum gerade ich ...«
»Wem soll ich mich als Detektiv denn sonst anvertrauen? Etwa einem berufsmäßigen Hypnotiseur? Dann müßte eine mir vertraute Person doch immer als Zeuge dabeisein, und da kann es die vertraute Person doch gleich selbst tun.«
»Ich kann aber doch gar nicht hypnotisieren, habe noch nie ...«
»Ich werde dir zeigen, wie's gemacht wird.«
»Bist du eiserner Mann denn für Hypnose empfänglich?«
»Du weißt doch, daß ich ein äußerliches Mittel besitze, ein Tränkchen, und dem unterliegt jeder Mensch, also auch ich. Willst du mir nicht den Gefallen tun, Edward? Daraus, daß ich mich zu solch einem Schritte entschließe, mußt du doch sehen, wie unglücklich mich dieses Vorauswissen macht.«
»Wenn es so ist, bin ich selbstverständlich bereit dazu, und das um so mehr, da ich dieses dein Unglück doch erst verschuldet habe, und ich weiß ja aus eigener Erfahrung, wie unglücklich solch eine direkte oder indirekte Sehergabe macht. Wirklich, ich hätte dir das rote Buch gar nicht geben sollen.«
Die Vorbereitungen zu dem Experiment wurden getroffen. Nobody sagte dem Freunde, was er ihm dann Wort für Wort zu suggerieren habe, er schrieb es auch gleich auf, setzte sich bequem in einen Lehnstuhl, ließ sich etwas von dem Elixier einflößen, und diesmal war es der Meister, dessen Augäpfel sich zitternd nach oben verschoben.
»Hörst du mich sprechen, Alfred?«
»Ich - höre - dich,« lallte Nobody mit schwerer Zunge.
»Du wirst mir gehorchen!«
»Ich gehorche.«
Weiter brauchen wir die Art dieser Suggestion nicht wiederzugeben. Kurz, Nobody sollte die Erinnerung an die Zahlen des roten Buches verlieren, die sich seinem Gedächtnis bereits fest eingeprägt hatten. Um aber nicht einen Zustand hervorzurufen, der schon mehr an Wahnsinn grenzt, nicht etwa die Erinnerung an das rote Notizbuch selbst.
Die Suggestion war geschehen, Scott hätte den Hypnotisierten wecken können.
Hier aber zeigte sich einmal, wie furchtbar nahe die Versuchung liegt, mit einem Hypnotisierten Mißbrauch zu treiben, für jeden Menschen, und ist er kein an sich hochentwickelter Charakter, so wird er wohl einen bösen Mißbrauch treiben, vielleicht sich zum Vorteil, was aber nicht durchaus der Fall zu sein braucht. Es könnte sich auch nur um ein besonders interessantes Experiment handeln.
Es liegt eben ein merkwürdiger, ein dämonischer Reiz darin, einen Menschen so ganz unter seinem Willen stehend zu wissen, und je unnahbarer der Betreffende sonst ist, desto unwiderstehlicher wird dieser Reiz.
An Scotts reinen Charakter war gewiß nicht zu tasten, und dennoch unterlag auch er diesem geheimnisvollen Reiz. Freilich dachte er dabei nicht an seinen eigenen Vorteil, ganz im Gegenteil - und dennoch, er tat etwas, wozu Nobody ihm vielleicht bei klarem Bewußtsein nicht seine Zustimmung gegeben hätte. Jedenfalls hatte er doch gesagt, Scott solle nur die vor- und aufgetriebenen Worte zu ihm sagen, nichts weiter, ihn dann gleich wecken, aber Scott mußte doch noch auf eigene Faust ein eigenes Experiment vornehmen.
Es hatte allerdings einen heftigen Kampf gekostet, ehe er den Entschluß dazu gefaßt.
»Ich tu's,« murmelte er, »es ist ja nur zu seinem eigenen Vorteil, schaden kann es ihm ja auf keinen Fall, und gelingt es, aber es ist nicht gut für ihn, so brauche ich ihm das Orakel nicht mitzuteilen, er weiß ja gar nichts mehr davon.«
Ich brauche es ihm nicht zu sagen, er weiß ja nichts davon - - mit diesen Worten ist die Gefahr ausgedrückt, welche in der hypnotischen Behandlung liegt, wenn diese nicht vom lautersten Charakter ausgeführt wird.
»Hörst du mich sprechen, Alfred?«
»Ich höre dich.«
»Du wirst mir unbedingt gehorchen.«
»Ich gehorche dir unbedingt.«
Jetzt nahm der Hypnotiseur seine ganze Willenskraft zusammen.
»So befehle ich dir: werde hellsehend!!!«
»Ich werde hellsehend,« war die prompte Antwort.
»Du bist hellsehend?« fragte Scott etwas verdutzt.
»Ja, ich bin hellsehend.«
Aber das ging dem jungen Kanadier doch etwas gar zu fix. Er mißtraute der Geschichte, trat hinter den Rücken des Hypnotisierten.
»Kannst du mich sehen, Alfred?«
»Nein.«
»Ich befehle dir aber, du sollst hellsehend sein!!«
»Ich bin hellsehend,« war sofort wieder die bereitwillige Antwort.
»Siehst du mich?«
»Nein.«
»Du sollst mich aber sehen!«
»Ich sehe dich.«
Oho, was war denn das, wie reimte sich das zusammen?
»Du siehst mich?«
»Ja.«
»Was mache ich jetzt?«
Hätte Scott vorn gestanden, so hätte er bemerkt, welche seelische Anstrengungen sich in dem Antlitz des Hypnotisierten jetzt widerspiegelten.
»Du - du - hebst beide Arme hoch,« kam es dann zögernd heraus.
Nein, Scott hob gar keinen Arm hoch, sondern er hatte einen Leuchter von dem Tisch genommen.
»Siehst du, daß ich hier ein Buch vom Tisch genommen hatte?«
»Ja.«
»Was habe ich vom Tisch genommen?«
»Ein Buch.«
Es war aber kein Buch, sondern ein Leuchter.
»Siehst du,« fragte Scott hinter Nobodys Rücken weiter, »wie sich jetzt das Buch in eine lebendige Katze verwandelt?«
»Ja.«
»In was verwandelt sich das Buch?«
»In eine lebendige Katze.«
»Das siehst du ganz deutlich?«
»Ganz deutlich.«
Nun wußte Scott, wie diese ?Hellseherei? beschaffen war. Auch der willensstarke Nobody war in der Hypnose zum willensschwachen Jabruder geworden, der eben kraft eines stärkeren Willens alles bejahen muß.
Nein, so einfach ist die Geschichte nicht. Das wäre ja noch schöner, wenn das ginge! Dann wären wir ja lauter Götter! Der liebe Gott aber sorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen, und daß wir Menschen bleiben, und wenn man es mit aufgeklärten Augen betrachtet, so ist an der ganzen Hypnotik überhaupt gar nichts Besonderes. Alles was ist, ist natürlich, also auch der hypnotische Schlaf. Wir haben uns noch nicht so viel damit beschäftigt, es ist uns noch etwas zu neu. Schon die alten Aegypter kannten die Hypnotik und benutzten sie, und dennoch hat sich die Weltgeschichte ganz normal entwickelt.
Bei Scott war das etwas anderes gewesen, der war eben zur Hellseherei anormal, krankhaft veranlagt. Aber Nobody brachte er in der Hypnose nicht so weit, auch keinen anderen Menschen, der eben nicht zum Propheten geboren war.
Hinwiederum zeigte sich hier wieder einmal, wie gefährlich die Hypnose in unrechten Händen werden kann, man kann in ihr einen Menschen zum Lügner machen, ihm allerdings unbewußt, eben auch nur in diesem Zustande. Insofern aber haben die Richter ganz recht, wenn sie hypnotische Aussagen gar nicht gelten lassen. Das geht später vielleicht noch einmal zu machen, aber vorläufig noch nicht, da muß man in die Erkenntnis der ganzen Hypnotik noch viel tiefer eingedrungen sein.
Scott stellte sich wieder vor Nobody hin.
»Bist du hellsehend, Alfred?«
»Ja.«
»Weißt du, was das ist, hellsehend?«
»Ja.«
»Nun, was versteht man darunter?«
Nobody definierte es mit kurzen Worten ganz richtig.
»Du wirst mir gehorchen, Alfred!«
»Ich gehorche.«
»Mir unbedingt die Wahrheit sagen!«
»Die unbedingte Wahrheit.«
»Bist du wirklich hellsehend, Alfred?«
»Nnnnein,« kam es jetzt zögernd heraus.
Wenn sich die Sache so verhielt, dann wollte Scott lieber gar nicht erst den Versuch machen, ob Nobody vielleicht Gabriele und ihre Kinder sehen konnte.
Gewiß, wenn es befohlen würde, womöglich gar in ungnädigem Tone, würde der Hypnotisierte sie schauen, würde eine genaue Beschreibung geben - aber dies alles aus seiner Phantasie heraus, obgleich selbst es für Wirklichkeit haltend, und es läßt sich begreifen, zu was für verhängnisvollen Irrtümern so etwas Anlaß geben kann.
»Du wirst jetzt erwachen, wirst dich auf nichts mehr entsinnen können, was ich jetzt mit dir vorgenommen habe, die Erinnerung an den Inhalt des roten Notizbuches wird dir entschwunden sein ...«
Dies wurde noch genauer spezifiziert.
»Erwache!!!«
Nobodys Augen kehrten in ihre natürliche Stellung zurück, er erhob sich und benahm sich auch sonst ganz anders als Hypnotisierte nach dem Erwachen, wobei freilich zu bedenken ist, daß er sich nach wohlüberlegtem Plane mit Absicht hatte hypnotisieren lassen.
Er wußte sofort, was geschehen war, worauf es ankam.
Zuerst deutete er lächelnd auf das rote Notizbuch, welches noch immer auf dem Tische lag.
»Ja, Edward, nun mußt du das aber auch fortnehmen, das darf ich nun nicht mehr in die Hand bekommen. Am besten ist wohl, du verbrennst es gleich.«
Scott steckte es zu sich.
»Weißt du denn, weshalb ich dich hypnotisieren sollte?«
»Ja natürlich weiß ich das, ich habe es dir doch erst gesagt.«
Nobody schien angestrengt nachzusinnen, schloß die Augen, legte die Hand vor die Stirn.
»Bei Gott, ich kann mich absolut auf keine einzige Zahl mehr entsinnen. Früher konnte ich diese geographischen Bestimmungen im Schlafe herbeten - sie sind meinem Gedächtnis vollkommen entschwunden. Nun, da wäre es ja geglückt. Ich danke dir, Edward.«
»Ich habe dir erst noch etwas zu gestehen.«
Und der junge Kanadier, der so peinlich auf ein reines Gewissen hielt, beichtete seinem Freunde, was er noch sonst mit ihm in der Hypnose versucht hatte.
Nobody hatte kein Wort des Vorwurfs, im Gegenteil, er interessierte sich sehr dafür, ließ sich alles ganz genau beschreiben, und dann tat er über die ganze Hypnotik dieselben Aeußerungen, welche wir vorhin machten.
»Nun, dann lebe wohl, Edward!«
»Wohin begibst du dich jetzt?«
»Nach - nach ...«
Wieder sann Nobody angestrengt nach.
»Ich hatte doch schon ein Ziel im Auge, mich dabei nach dem roten Buch richtend, eben die zwölfte Bestimmung - aber wirklich, das alles ist meinem Gedächtnis vollkommen entschwunden.«
Man sieht daraus, daß die Suggestion nicht so einfach gewesen sein konnte. Es mußte noch anderes aus der Erinnerung verwischt werden als nur die Zahlen selbst.
»Soll ich einmal in dem roten Buche nachsehen?« fragte Scott.
»Um Gottes willen nicht,« lachte Nobody, »dann wäre das alles ja ganz zwecklos gewesen.«

VI. Zwei Schiffsunfälle.

Wir überspringen einige Wochen.
In England, in Frankreich und in noch manch anderem Lande herrschte großes Wehklagen.
Ein englischer Passagierdampfer der Linie Dover - Calais war im Nebel gerammt worden und augenblicklich gesunken.
Mehr als dreihundert Passagiere an Bord, und bisher waren erst vierzehn von Fischerbooten, die sich zufällig in der Nähe befunden hatten, aufgenommen worden.
Es war in der Nacht gewesen, bei undurchdringlichem Nebel, aber ganz ruhiger See, und so konnten wohl noch viel mehr gerettet worden sein, sie waren von anderen Schiffen aufgenommen worden; aber das alles mußte doch erst aufgeklärt werden - kurz und gut, diese fürchterliche Ungewißheit war es, welche manche Familie zur Verzweiflung brachte, und es läßt sich denken, mit welcher Angst jedesmal die neue Liste der Geretteten und der Toten in die Hand genommen wurde.
Dabei war auch noch eine besondere Qual. Man fischte Tote genug auf, sie wurden an die Küste getrieben, durch die Strömung ausschließlich an die englische Südküste, aber die Leichen waren meistenteils nur mit einem Hemd bekleidet, oder sonst nur ganz notdürftig, so hatten sie doch keine Legitimation bei sich, es war eben mitten in der Nacht geschehen, die Unglücklichen schienen bloß noch Zeit gehabt zu haben, aus ihren Kabinen an Deck zu eilen, und dann waren unterdessen schon Tage vergangen, die Leichen waren schon entstellt worden, konnten von ihren Angehörigen kaum noch rekognosziert werden.
In Westcliff, einem Städtchen dicht an der Küste, war die Leichenschauhalle eingerichtet worden. Die dorthin gehenden Züge waren immer überfüllt, desgleichen die Hotels, von Gästen, welche immer rote Augen hatten, von händeringenden Damen. Aus Frankreich, aus Deutschland, aus ganz Europa waren sie gekommen, aus Amerika konnte man sie mit dem nächsten Dampfer erwarten.
In der Leichenhalle spielten sich herzzerreißende Szenen ab. Aber noch schrecklicher vielleicht war die Ungewißheit, wenn sie vor einer fürchterlich aufgetriebenen Leiche standen, und sie wußten nicht, ob es der Vater, der Gatte, der Bruder, der Sohn war, oder ob es ein Fremder sein mochte. Ja, zwischen Familien kam es zum Streit um eine Leiche, jede glaubte, ihren Angehörigen zu erkennen. - - -
»Da schwimmt wieder eine Fünfpfundnote,« sagte einer der beiden Männer in dem kleinen Fischerboote.
Die Fünfpfundnote aber war eine männliche Leiche, die dort auf dem Wasser schwamm. Die Regierung hatte für jede Leiche, welche im Wasser oder am Strand gefunden und nach Westcliff gebracht würde, ein Pfund als Prämie ausgesetzt, aus Privatmitteln war diese auf fünf Pfund erhöht worden.
Es war eben nicht schön, daß die beiden Fischer in der Leiche nur eine Fünfpfundnote erblickten. Dabei aber brauchte von Hartherzigkeit keine Rede zu sein.
»Nun reicht's, nun mache ich mit Polly Hochzeit.«
Dort der Tod, hier Hochzeit! Das ist der Welt Lauf, und so muß es sein.
Die Fischer hielten ihr Fahrzeug auf die Leiche zu, welche noch nicht richtig zu erkennen war, weil sie ja nicht direkt schwamm, sondern im Wasser nur so trieb. Aber ein Mann war es, das konnte man schon an den Beinen sehen.
»Der ist einmal angezogen, dort gucken sogar die Stiefel heraus.«
»Es wird einer von der Besatzung sein.«
»Wird für so einen auch fünf Pfund gezahlt?« fragte der Hochzeitler mißtrauisch, wenn nicht ängstlich.
»Für jeden.«
»Na, dann ist's ja gut,« atmete der andere erleichtert aus.
Sie hatten die Leiche erreicht, umschlangen sie mit Stricken, hoben sie an Deck.
Der Mann war vollständig bekleidet, trug einen eleganten Straßenanzug mit weißer Wäsche, und daraus konnte man schließen, daß er doch wohl nicht zur Besatzung gehörte. Es war eben ein Passagier, der in der Nacht wach gewesen war. Solche wurden ja auch öfters gefunden, sie hatten vielleicht im Rauchsalon gesessen.
Direkt verwest konnten die Leichen in den wenigen Tagen noch nicht sein. Nur die sich innen entwickelnden Gase trieben sie immer so schrecklich auf, was ganz besonders im Wasser geschieht, bei Ertrunkenen, doch hatte dies hier der zugeknöpfte Anzug etwas verhindert.
Nur der Kopf war so groß geworden wie bei allen diesen Ertrunkenen, es ist förmlich, als ob auch die Schädelknochen sich ausdehnen könnten - es ist aber nur die sich loslösende Haut - und dann war auch schon das Gesicht durch gefräßige Möwen entstellt.
»Junge, Junge, Junge, 's kann einem doch wirklich leid tun!«
»Das ist noch ein ganz junger Kerl.«
»Na, der hat nicht lange gelitten, er hat vorher deinen tüchtigen Klaps auf den Kopf gekriegt.«
Bei genauerem Hinsehen bemerkte man, daß die Schädeldecke zertrümmert war.
»Wir wollen einmal sehen, was er in den Taschen hat.«
Ein Taschentuch, ein Messer, in der hinteren Hosentasche einen geladenen Revolver.
»Donnerwetter, das ist ein feiner Revolver, so einen habe ich noch gar nicht gesehen.«
»Und hier!«
Es war ein kleiner, aber schwerer Lederbeutel, den der eine Fischer aus der anderen Hosentasche gezogen hatte, außer einigem Silbergeld achtzehn Goldstücke enthaltend, französische und englische.
»Und hier erst, Herr du meine Güte! Dick, das sind ein paar Tausend!«
Es war eine Brieftasche, ein Paket Hundertdollarnoten enthaltend, auch amerikanisches Papiergeld.
»Ach, wir brauchen gar nicht erst zu zählen. Trag's gleich hinunter, Dick, leg's in deine Kiste.«
Die Fischer, welche so erpicht auf ihre Prämie von fünf Pfund waren, sprachen's nicht aus; aber man darf glauben, daß ihnen auch nicht ein einziger Gedanke kam, sich dieses Geld anzueignen, die Leiche verschwinden zu lassen, obgleich sie es ganz ungesehen hätten tun können.
»Wir wollen doch erst noch einmal nachsehen - hier sind noch andere Papiere - vielleicht steht drin, wer's ist.«
»Das machen sie dann schon an Land.«
»Laß mich nur, ich möchte doch wissen ...«
Er faltete ein großes Papier auseinander, dessen Schrift in dem Wasser nicht im geringsten gelitten hatte, und buchstabierte.
»Dick, das ist Sir Alfred Willcox!!«
»Was, der edle Baronet von Kent?!« schrie der andere.
»Ja, hier steht's - es ist ein sogenannter Reisepaß.«
»Das wäre doch Nobody, der Champion-Detektiv!«
»Ja, dann müßte's der sein.«
»Nein, dann ist er's nicht.«
»Weshalb nicht? Hier steht's doch: Inhaber dieses Passes ...«
»Nobody kann nicht ertrinken, noch weniger läßt der sich den Schädel eintreiben!«
Aber es half alles nichts - nach den anderen Papieren, die man sonst noch bei der Leiche fand, mußte es dennoch Sir Alfred Willcox sein, als Detektiv Nobody genannt, und das wurde auch in der Leichenhalle zu Westcliff von der Polizei bestätigt.
Es sei nur erwähnt, daß die Recherchen ergaben, wie Nobody sich zuletzt in Paris von der Polizei einen Paß auf den Namen Monsieur Charles Guilliaume hatte ausstellen lassen, er hatte zu dem ihm wohlbekannten Polizeioffizier geäußert, sich direkt nach London begeben zu wollen, und ... nun, hier lag er, der Paß war vorhanden, auch alle anderen Legitimationspapiere und Briefschaften, der einigen anderen Detektivs bekannte Revolver, dann vor allen Dingen das berühmte Taschenmesser mit der Iridiumsäge ... da konnte kein Zweifel mehr herrschen, selbst wenn nicht schon allein der muskulöse und dennoch so harmonisch gebaute Körper den Detektiv Nobody verraten hätte.
Wie ein Lauffeuer durchflog es ganz England, die ganze Welt: Bei dem Untergang der ?City of Paris? hat auch Detektiv Nobody seinen Tod gefunden!!
Und noch an demselben Tage trafen in Westcliff zwei Damen ein, die eine so tief verschleiert, daß man ihr Gesicht nicht sehen konnte.
Die andere legitimierte sich als Lady Willcox, sie wurde mit ihrer Begleiterin in die Leichenhalle geführt.
»Erkennen Mylady den Toten?«
Vor der Bahre des nur mit einem Leichenhemd Bekleideten brach die Verschleierte zusammen, die andere blieb gefaßter.
»Er ist es - Alfred!«
Die Leiche ward nach Maidstone übergeführt.
»Wo soll er seine letzte Ruhestätte finden?«
»Neben seiner Gabriele.«
Diese beiden Frauen kannten keine Eifersucht, am wenigsten um Tote.
Die Beerdigung mußte beschleunigt werden; denn hier war nichts mehr zu konservieren. Der Sarg war schon zugelötet.
Schleunigst wurden die Vorbereitungen getroffen. Das Grab unter der Linde, wo die Ueberreste der verbrannten Personen lagen, die von allen anderen noch immer für Gabriele und ihre Kinder gehalten wurden, befand sich noch ganz in derselben Beschaffenheit - ein Naturgrab, wohl mit Blumen geschmückt, aber ohne Gitter, ohne Gedenkstein.
Neben diesem Grabe wurde ein zweites bereitet.
»Und wenn dies hinter uns ist, was dann, Clarence?« fragte Theodora mit müder Stimme.
»Dann führen wir aus, was wir schon längst geplant haben,« entgegnete Lady Willcox, »wir begleiten dich nach deiner Heimat, nach der du dich wie dein Bruder so unsäglich zurücksehnst, wir bleiben alle beisammen.«
Die beiden Frauen, welche der Welt entsagen wollten, führten einen letzten Handstreich aus, den man ihnen in England nie verzeihen würde, wenigstens der Lady Willcox nicht, welche ja allein in Betracht kam.
Es war doch selbstverständlich, daß Sir Alfred Willcox, Waffenmeister des Hosenbandordens, Ehrendoktor usw. usw., mit fürstlichen Ehren begraben werden mußte. Das wurde doch eine nationale Feierlichkeit, vor allen Dingen mußten doch alle Repräsentanten des Adels dabeisein.
Aber die neue Lady Willcox, Clarence, hatte sich schon niemals um die ganze Gesellschaft gekümmert, als Nobody noch als Landwirt neben ihr lebte, und da war sie schließlich im Recht gewesen, auch Nobody hatte ja ganz zurückgezogen gelebt. Als er dann wieder auf die Reise gegangen war, hatte Clarence nicht einmal mehr Briefe beantwortet, und jetzt wurden die einlaufenden Beileidsbriefe von ihr sogar nicht geöffnet. Und es gehört doch etwas dazu, jeden Brief ungelesen ins Feuer zu werfen. Das kann nur jemand, der mit der Welt schon gänzlich abgeschlossen hat.
Ebenso sollte nun auch Nobodys Beerdigung stattfinden, mit Ausschluß der Oeffentlichkeit - es konnte jeder kommen, aber eingeladen wurde niemand, nichts bekannt gemacht, und das war erst recht für alle jene hohe Herrschaften ein Schlag ins Gesicht, den man niemals verzeihen konnte.
Am frühen Morgen, gleich nach Tagesanbruch, die Sonne hatte sich noch nicht ganz über den Horizont erhoben, fand die Beerdigung statt. Fröstelnd hüllte sich der Pastor von Maidstone in seinen Talar. Dann fing es auch noch an zu regnen. Er hatte sich eine so herrliche Predigt einstudiert, aber wie sollte da das Herz warm werden?
Die beiden Frauen, die Diener waren die einzigen Leidtragenden. Selbst in Maidstone wußte man ja nicht einmal, daß die Beerdigung so früh stattfand.
Von auswärts war nur ein einziger gekommen, der ja aber auch mit zur Familie gehörte: Wolf, der seit einem halben Jahre in der englischen Marine als Midshipman diente, als Seekadett, nicht, um später Offizier zu werden, wenigstens nicht in der Kriegsmarine, was für den namenlosen jungen Mann selbst unter Nobodys Protektorat Schwierigkeiten gehabt hätte. Aber in England ist das Kriegsschiff die Schule auch für den späteren Offizier der Handelsmarine.
Wolf war noch ganz derselbe. Ernst, verschlossen. Der Pfarrer erzählte in seiner Predigt, daß der Verstorbene nun neben seiner ersten Frau zu liegen käme, er hielt auch eine Ansprache an diese und deren Kinder, und ruhig konnte der fünfzehnjährige Junge zuhören, wie man der sicher noch lebenden Gabriele und ihren Kindern eine Leichenpredigt hielt.
Denn die anderen hatten das nicht etwa erfahren. Es gab nur drei Menschen, welche wußten, daß damals die verkohlten Knochen gar nicht Gabriele und ihren Kindern gehört hatten: Nobody selbst, Edward Scott und Wolf.
Wenn vielleicht noch andere darum wußten, wie etwa jener Herr, welcher damals Gabriele abgeholt hatte, so kennen wir diesen doch noch nicht.
Und von Wolf bekamen die beiden Frauen so wenig wie irgendein anderer Mensch etwas davon zu erfahren, und auch Nobody hatte ihnen niemals nur eine Andeutung gemacht. Das war das Geheimnis dieser drei Verbündeten.
»Amen,« sagte der Pfarrer.
Der Sarg wurde hinabgelassen.
»Amen,« erscholl neben Clarence eine leise, schluchzende Stimme.
Sie blickte auf. Erst jetzt bemerkte sie die beiden Fremden. Es war ein Gentleman, ein schon älterer Herr und eine schwarzgekleidete, dichtverschleierte Dame.
Nun, sie konnten der Trauerfeierlichkeit beiwohnen, niemand verwehrte ihnen das, der Park stand immer offen, sie konnten dann sogar wieder gehen, ohne ihre Namen genannt zu haben.
Dann wurde Clarence auf das seltsame Gebaren Wolfs aufmerksam, und das war auch danach angetan, um jetzt selbst die Traurigkeit zu vergessen.
Die beiden Fremden waren erst vor wenigen Minuten angelangt, und schon immer hatten die Augen des Seekadetten starr an der verschleierten Dame gehangen, und er hatte sich nach und nach wie zum Sprunge geduckt, und mit einem Male, gerade als sich der Sarg in das Grab hinabsenkte, sprang der Sohn des Schwarzfußindianers über dieses hinweg und lag der verschleierten Dame zu Füßen, umschlang ihre Knie.
»Gabriele, Tante Gabriele!!!« erklang es jauchzend.
Mit der Trauerfeierlichkeit war es natürlich vorbei. Weshalb, das braucht wohl nicht näher erklärt zu werden. Das Nachfolgende kann auch gar nicht geschildert werden. Am Grabe entstand ein förmlicher Tumult, unter den Dienern paarte sich Entsetzen mit hellem Jubel, es wurde geschrien und gejauchzt.
Wir versetzen uns in ein Zimmer des Schlosses, nachdem sich alles schon wieder etwas geklärt hatte.
Aber wie Clarence und Theodora hier hereingekommen waren, das wußten sie wohl selbst nicht.
Sie befanden sich dem Herrn und der Dame gegenüber, die jetzt ihren Schleier abgenommen hatte und ihre Züge zeigte, welche ganz denen des Bildes dort oben an der Wand glichen, nur von Traurigkeit durchzogen.
»Lady Willcox - Gabriele!«
»Ich bin es.«
Die beiden Frauen mußten ja immer noch nach Fassung ringen.
»Aus dem Grabe auferstanden - nein, es ist ja nicht möglich - ich träume nur!«
»Ich bin damals nicht verbrannt, bin gar nicht mit meinen Kindern zu Hause gewesen.«
Auch hier bedurfte es nochmals einer seelischen Klärung, ehe sie erzählen, ehe man ihr zuhören konnte.
Was Gabriele zu erzählen hatte, wissen wir. Nur noch wenig Neues ist hinzuzufügen.
Der Herr, der damals mit ihr wegen Nobodys Befreiung aus Newgate den Plan entworfen hatte, war Lord Briston gewesen, ein schottischer Edelmann, den Nobody kaum dem Namen nach kannte, obwohl er zu Nobodys größten Verehrern gehörte. Es gibt solche Menschen, welche nur durch Taten von sich reden machen, und wohl dem, der solch einen stillen Freund besitzt.
Auf seinem Landsitz im schottischen Gebirge war ihm ein eigentümlicher Gedanke gekommen, wie man den angeklagten und vielleicht schon verurteilten Nobody befreien könne, und er war sofort nach Maidstone geeilt.
Da der Plan gar nicht zur Ausführung kam, brauchen wir ihn auch nicht mehr kennen zu lernen.
Für Gabriele und deren Kinder waren also andere Personen eingeschoben worden, diese hatten ihren Tod in den Flammen gefunden.
Da aber nun Nobody trotzdem noch in derselben Nacht aus Newgate befreit worden war, nur auf ganz andere Weise, hatte sich auch Gabriele mit den Kindern zunächst versteckt gehalten, auf den Ausgang wartend.
Gleich darauf war Nobody nach Abessinien gegangen ... brachte außer einer Negerin und deren Bruder eine junge Französin als seine Gattin mit heim!
Was in Gabriele bei dieser Kunde vorging, läßt sich denken. Sie wußte ja, daß Nobody sie und ihre Kinder als Tote beweinte, daß er sie vermeintlich unter der Linde begraben hatte, selbstverständlich wollte sie ihn sobald wie möglich aufklären, dazu aber mußte sie ihn doch erst selbst haben, und sie hatte doch nicht einmal gewußt, daß er sich in Abessinien aufhielt, dort die Rolle eines eingeborenen Heerführers spielte ... und nun natürlich war alles zu spät!
Jetzt mochte er sie und ihre Kinder nur weiter als Tote betrauern. Doch er hatte sich ja schnell genug wieder zu trösten gewußt.
»Der edle Lord Briston gewährte mir ein Asyl; auf seinem Schlosse im schottischen Hochgebirge habe ich die ganze Zeit über gelebt, mich nur der Erziehung meiner Kinder widmend. Mehr habe ich nicht zu erzählen.«
O ja, sie hatte doch noch einiges zu berichten. Doch das würde noch nachträglich kommen.
Clarence hatte ihre Ruhe wiedergewonnen.
»Gestatten Sie zunächst eine Frage. Wie verhält sich denn das nun mit Wolf, welcher doch auch um den Plan wußte, und welcher gerettet wurde?«
Wolf befand sich im Zimmer, saß seiner Tante zu Füßen.
Und jetzt begann dieser zu erzählen, seine abenteuerlichen Schicksale.
Noch einmal wuchs die Erregung ins Unermeßliche.
»Wie? So hat Alfred also gewußt, daß Sie noch lebten?!«
Ja, dem war so. Erst jetzt erfuhr man, wie Nobody schon seit Jahren Gabriele und seine Kinder in aller Welt gesucht hatte.
Doch daran war jetzt nichts mehr zu ändern, das gehörte alles der Vergangenheit an.
»Warum er dies nur gar nicht in die Oeffentlichkeit gebracht hat!« rief Gabriele.
»Wenn er nun etwa einen Aufruf in die Zeitungen gesetzt hätte, würden Sie hervorgetreten sein?« fragte Clarence.
Da wußte Gabriele nichts zu sagen. Und das war auch eine Antwort. Nein, sie hätte es eben nicht getan! Und es war begreiflich.
Nobody hatte also ganz recht gehabt, wenn er so etwas gar nicht getan.
Daß Wolf nichts gesagt hatte, darüber brauchte man sich nicht zu wundern. Dieses Knaben verschlossener Charakter war ja allen nur zu gut bekannt. Gabriele hatte ihm gesagt, nicht darüber zu sprechen, desgleichen dann später Onkel Alfred, und Wolf hatte gehorcht, hätte sein Geheimnis als alter Mann mit ins Grab genommen.
»Als ich Alfreds Tod erfuhr,« fuhr Gabriele fort, ihr Spitzentuch häufig gebrauchend, »machte ich mich in Lord Bristons Begleitung auf. Ihn sehen konnte ich nicht mehr. Besser auch so, er bleibt in meiner Erinnerung, wie ich den schönen, ewig-jungen Mann kannte. Aber seinem Begräbnis mußte ich beiwohnen. Der Eingang zum Park stand ja offen. Ich wollte unerkannt bleiben, mich nach der Feierlichkeit still wieder zurückziehen, in meine Einsamkeit zurück, wollte auch fernerhin als tot gelten. Daß Wolf mich erkennen und verraten würde, ahnte ich nicht. Mehr habe ich nicht zu sagen.«
Clarence stand auf, trat auf sie zu, hielt ihr mit bittender Bewegung die Hand hin.
»Verzeihe mir, die ich nicht meine Rivalin, sondern meine Schwester nennen möchte,« erklang es mit zitternder Stimme.
»Was hätte ich Ihnen - dir denn zu verzeihen?« entgegnete Gabriele.
Aber die Hauptsache war doch, daß sie die Hand genommen, in einer Weise, die mehr sagte als Worte.
»Weißt du, in welchem Verhältnis dieses schwarze Weib, eine abessinische Fürstin, zu Alfred stand?« fragte Clarence.
»Ich weiß es.«
»Wie kannst du das wissen?«
»Auch wenn es nicht schon das öffentliche Gerücht sagte - ich habe es immer geahnt.«
»Und auch ihr kannst du verzeihen?«
»Nicht ihr habe ich zu verzeihen, sondern nur Alfred, und ich tue es aus ganzem Herzen, weil ich dieses Mannes Charakter zu würdigen wußte und noch zu würdigen weiß.«
Theodora war Clarences Beispiel gefolgt, und die drei Frauen ein und desselben Mannes küßten sich wie Freundinnen, wie Schwestern.
Es mußte für den eingeweihten Beobachter ein merkwürdiger Anblick sein, und doch ein herrlicher. Die wahre Nächstenliebe, welche nur von Verzeihung weiß, feierte einen göttlichen Triumph über die Ansichten dieser scheinheiligen Welt.
Die Versöhnung war geschehen, wenn je eine solche nötig gewesen wäre.
»Was gedenkst du nun zu tun, Gabriele?« nahm dann Clarence wieder das Wort.
»Das lasse mich erst dich fragen.«
»Theodora ist krank, das Heimweh verzehrt sie, das Kind des Südens und des Gebirges kann auch tatsächlich das hiesige Klima nicht vertragen, und dasselbe gilt von ihrem Bruder. Beide gehen alsbald in ihre abessinische Heimat zurück, und ich, die ich Theodora unverbrüchliche Freundschaft gelobt habe, werde sie begleiten.«
»Aber doch nicht für immer?«
»Das weiß ich noch nicht. Es wird darauf ankommen, wie die beiden Fürstenkinder, die allem entsagt haben, in ihrer Heimat empfangen und behandelt werden. Und für mich wird Abessinien, welches ich bisher fast nur unter der Erde kennen lernte, eine reiche Quelle von künstlerischen Studien bieten. Und du, Gabriele?«
»Ich widme mich nach wie vor der Erziehung meiner Kinder. Wo ich mich niederlasse, weiß ich noch nicht. Vielleicht werde ich das mir von Lord Briston so edelmütig angebotene Asyl weiter benutzen. Hier kann aber meines Bleibens wohl nicht länger sein.« - -
Sie hatten recht. Wie ein Lauffeuer verbreitete sich durch das ganze Land die Kunde von den von den Toten Auferstandenen, die Zeitungen beschäftigten sich ausschließlich mit Gabriele und ihren Kindern, welche in Schottland zurückgeblieben waren, Berichterstatter drängten sich herbei, es gab auch anderen Besuch, welchen man kaum zurückweisen konnte, kam doch selbst die Polizei und forderte Aufklärung.
Man machte es so kurz wie möglich. Gabriele gab ohne Rückhalt die geforderte Aufklärung. Etwas Verbotenes hatte sie ja nicht begangen.
Dann wurden schnellstens alle Verbindungen gelöst, und da man auf alle Rechtstitel und andere Ansprüche, welche die Witwe des Baronets von Kent machen konnte, verzichtete, erledigte sich diese Angelegenheit schnell genug.
Was an Nobodys eigenem Vermögen bar vorhanden war, wurde geschwisterlich geteilt, alles andere einem Advokaten zur Ueberweisung an eine wohltätige Gesellschaft übergeben.
Somit war Nobodys Hausstand aufgelöst, die Hinterbliebenen konnten gehen, wohin sie wollten.
Und Clarence und Theodora, sowie deren Bruder bestiegen mit den Kindern das nächste Schiff, das sie nach Abessinien bringen sollte. Gabriele begab sich nach Schottland zurück, um ihre beiden Söhne zu holen, auf daß auch diese noch einmal am Grabe des Vaters beten könnten. Diese wären ja gleich erkannt worden, sie hätten sich nicht so wie die Mutter verschleiern können, und jetzt war ja all diese Vorsicht hinfällig geworden.
Die beiden Söhne, von denen der älteste, Alfred, ganz das Ebenbild seines Vaters zu werden versprach, waren schon vernünftig genug und hauptsächlich darnach erzogen worden, daß sie, mit schonenden Worten in alles eingeweiht, dem Vater auch alles verzeihen konnten.
Es war eine weite Reise vom äußersten Norden Schottlands bis nach London. Fast 36 Stunden gebrauchte der Schnellzug.
Während der ganzen Fahrt war Gabriele in dem durchgehenden Zuge mit ihren Kindern allein in einem Coupé. Auf einzelnen Stationen, wo der Zug hielt, merkte sie wohl ein ungewöhnlich reges Leben, es mußte irgend etwas passiert sein, die Zeitungsjungen riefen Extrablätter aus, unter den ein- und aussteigenden Passagieren herrschte die größte Aufregung - doch Gabrieles Coupé befand sich ganz hinten im Zuge, die Zeitungsjungen kamen niemals so weit, man hörte dort hinten nicht mehr, was sie riefen, und Gabriele war viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, als daß sie sonderlich darauf geachtet hätte, und dasselbe galt von Alfred und Heinrich.
Der Zug lief in den Londoner Hauptbahnhof ein.
»Die erste Totenliste von der ?Recovery?!!!« schrien die Zeitungsjungen.
Und da stieß auch Gabriele einen markerschütternden Schrei aus.
Auf der ?Recovery? hatten sich Clarence und ihre Begleiter eingeschifft!
Und dann hatte auch Gabriele ein Zeitungsblatt in der Hand, ihr Auge irrte über die Spalten.
Ein neues Schiffsunglück, das zweite in dieser Woche, und es hatte nicht weniger Menschenleben gefordert - die ?Recovery? ist in der Spanischen See aus noch nicht aufgeklärter Ursache gesunken - Mannschaft und Passagiere hatten trotz der furchtbaren hohen See in die Boote gehen müssen - überall gekenterte Boote und treibende Leichen - über Lissabon ward die erste Liste der geborgenen Toten telegraphiert, deren Persönlichkeit man hatte feststellen können ... und darunter stand auch der Name einer Lady Clarence von Kent!
Sie hatte ein schwarzes Weib umschlungen gehabt, und gemeinsam in ihren Armen hielten die beiden drei Kinder.

VII. Neue Hoffnung.

»Amen!«
Mutter und Kinder erhoben sich. Sie hatten neben dem kleinen Grabhügel gekniet.
Die Abenddämmerung brach an. Kaum war noch zu unterscheiden, daß die drei Reisekleider trugen.
»Mama, dort steht ein Herr!«
Schon seit einiger Zeit hatte hinter den Büschen, nur halb von diesen verborgen, die hohe Gestalt eines Mannes gestanden.
Jetzt trat er vor, näherte sich mit dem Hute in der Hand der kleinen Gruppe.
»Lady Willcox!« erklang es leise und zitternd.
»Mein Gott, diese Stimme!« flüsterte Gabriele.
»Erkennen Sie mich?«
»Mister Scott!«
»Ich bin es.«
Das Wiedersehen war der Situation entsprechend - am Grabe des Gatten und Freundes.
»Er nannte Sie immer seinen besten Freund!« schluchzte Gabriele.
Edward Scott antwortete nicht, er machte eine Bewegung, als wolle er gehen.
»Wollen wir noch einmal niederknien?«
»Nein - ich kann nicht!«
Sein Schmerz war zu groß. Immerhin seltsam, am Grabe des Freundes nicht beten zu können.
»An diesem anderen Grabe,« sagte Scott dann, »hat Alfred Sie einst als tot beweint.«
»Ja, mich und die Kinder. Doch warum erinnern Sie mich jetzt daran?«
»Weil ... es ein Irrtum war. Alfred erfuhr es zu spät.«
Warum nur rührte Scott an diese alte Wunde?
»Als er dann durch Wolf erfuhr, daß Sie und die Kinder gar nicht den Tod in den Flammen gefunden hatten, also auch gar nicht hier begraben lagen, weihte er mich in alles ein,« fuhr Scott unerbittlich fort.
»Sie wußten darum?« mußte Gabriele wohl oder übel darauf eingehen.
»Ich war ja selbst mit dabei, als er den kleinen Wolf in der südlichen Eiswüste fand.«
»Ach ja, richtig!«
»Also eingeweiht hat er mich eigentlich nicht - ich war selbst mit dabei.«
Gabriele wußte kaum noch, was sie denken sollte. Scott kam ihr ganz verstört vor, obgleich sein Benehmen doch so gelassen wie immer war.
»Wie geht es Ihnen, Mister Scott?«
Er schien diese Frage ganz überhört zu haben.
»Erst durch mich kam er ja auf die Spur, daß Sie noch am Leben seien - denn durch mich fand er ja erst Wolf.«
»Durch Sie?« fragte Gabriele jetzt in ehrlichem Staunen, nicht gleich an die Sehergabe des einstigen Hausfreundes denkend.
»Ja, ich wies ihm den Weg, obgleich er diesen sowieso gegangen wäre. Sie wissen doch - meine unglückliche Gabe.«
»Ah so! Sie erhofften durch Alfred doch Heilung!«
»Ich fand sie auch durch ihn.«
»Es gelang? Sie sind nicht mehr ... Sie sind von Ihrem Leiden geheilt, wenn man diese Gabe als ein Leiden bezeichnen darf?«
»Ja. Darf ich Ihnen das Nähere erzählen?«
Gabriele zögerte sichtlich. Es ward ihr in Gesellschaft dieses früher so harmlosen, sympathischen Mannes immer unheimlicher.
»Ja, aber wo ... «
»Ich darf Sie wohl ins Haus zurückbegleiten.«
»Es ist nicht mehr mein Haus.«
»Sie dürfen es gar nicht mehr betreten?«
»O doch. So eilig brauche ich es nicht zu verlassen. Es wartet erst auf seinen neuen Herrn, den ich selbst noch gar nicht kenne. Kommen Sie, Mister Scott!«
An jeder Seite einen Knaben an sich drückend, schritt Gabriele dem Schloß zu, unterwegs erzählend, wie sie den Entschluß gefaßt habe, sich in Amerika anzusiedeln. Amerika ist ein kultiviertes Land, in dem man am leichtesten verschwinden kann, und das hatte Gabriele sehr nötig, um allem Gerede aus dem Wege zu gehen.
»Noch eine halbe Stunde, und Sie hätten mich nicht mehr hier getroffen, ich war zur Abreise bereit. Doch ist es wiederum gleichgültig, wann diese erfolgt. Bitte, treten Sie ein!«
Sie hatte auch ihre Söhne mit in das schon erleuchtete Zimmer genommen.
»Mylady, ich muß Sie allein sprechen.«
Schon beim ersten Blick, den sie hier im Scheine der Lampe auf ihn geworfen, war Gabriele erschrocken gewesen.
Einmal waren es die weißen Haare, mit denen sich der noch immer junge Kanadier ihr plötzlich präsentierte, und dann blickten seine Augen so unruhig und sogar verstört, sein ganzes Benehmen war ein seltsames, und nun zuletzt auch noch diese hervorgestoßenen Worte!
Doch eben daraus merkte Gabriele, daß er ihr wohl etwas Wichtiges zu sagen habe; eine gleiche Erregung bemächtigte sich ihrer.
»Alfred, Heinrich, geht einstweilen hinaus ...«
»Um Gottes willen,« wandte sie sich dann an den Freund, »was haben Sie mir mitzuteilen?«
Schnell hatte Scott seine Aufregung niedergekämpft, er war wieder gelassen wie immer, aber auch seine Augen hatten wieder den früheren, geheimnisvollen Geisterblick angenommen.
»Mylady,« begann er leise, »haben Sie die Leiche Ihres Gatten gesehen?«
Es war dazu angetan, daß Gabriele gleich zurückschreckte.
»Was wollen Sie damit sagen?«
»Bitte, beantworten Sie erst meine Frage: Haben Sie Alfred im Tode gesehen?«
»Nein.«
Edward Scott machte einen Gang durchs Zimmer, dann blieb er wieder vor Gabriele stehen, legte beide geballte Hände auf die Brust.
»Ich - ich kann nicht glauben, daß es wirklich Nobody gewesen ist, den sie dort unter der Linde begraben haben.«
Es läßt sich denken, was für einen furchtbaren Eindruck diese Worte auf Gabriele machten. Sie selbst verwandelte sich fast in eine Leiche.
Doch behielt sie ihre Besinnung.
»Wie kommen Sie auf diese gräßliche Vermutung?«
»Lassen Sie sich erzählen!«
Und Scott erzählte von dem roten Buche, und wie bisher noch alle Bestimmungen eingetroffen seien, wie Nobody stets, auch unfreiwillig, nach jenen Orten der Erde geführt worden war, und wie das rote Buch noch eine ganze Menge solcher geographischen Ortsbestimmungen enthielte.
»Und meiner felsenfesten Ueberzeugung nach muß Nobody erst alle diese Stationen durchlaufen, ehe er seinen Tod finden kann.«
Gabriele wußte kaum, was sie von alledem denken sollte. Jedenfalls zweifelte sie stark.
»Die Leiche wurde von Clarence, Theodora und noch vielen anderen als die Nobodys erkannt.«
»Sie soll aber doch schon stark entstellt, auch der Kopf zertrümmert gewesen sein.«
»Allerdings; aber nicht nur der Körperbau, sondern ebenso die Gesichtszüge waren noch als die Nobodys zu erkennen.«
»Es kann ein Doppelgänger von ihm gewesen sein.«
»Sind Ihnen denn nicht die Einzelheiten bekannt?«
»Doch.«
»Da müssen Sie doch auch wissen, was man alles bei ihm fand.«
»Ja, seinen Paß und alle anderen Legitimationspapiere, seinen Revolver, das Messer mit der Iridiumsäge.«
»Nun, sind das nicht Beweise, daß es wirklich Alfred gewesen ist?«
»Ist noch immer nicht nötig. Alfred kann das Opfer eines Verbrechens geworden sein, er ist beraubt worden, ein anderer, der ihm ungefähr etwas ähnlich sah, hat sich alle seine Sachen angeeignet, vielleicht mit der Absicht, Nobodys Rolle zu spielen, so sehr sah er ihm ähnlich, und bei der Ueberfahrt nach London fand er seinen Tod.«
Jetzt war es Gabriele, welche aufspringen mußte, um händeringend einige Gänge durchs Zimmer zu machen.
»Mann, Mann, was für Aussichten eröffnen Sie mir da! Aber all diese Vermutungen entspringen nur Ihrem Glauben an das rote Buch? Weil Nobody erst alle diese Prophezeiungen erfüllen müßte, wenn man sich so ausdrücken darf?«
»Nichts anderem. Er hat die Stufenfolge der Ortsangaben der Reihe nach durchlaufen, und er wird es auch noch weiter müssen. Ich kann an seinen Tod nicht glauben. Sie haben recht, es ist fast ein Frevel, an so etwas zu glauben - und doch, es ist so, und ... ich habe auch noch einen anderen Rückhalt für meine Ansicht.«
»Welchen?« fuhr Gabriele herum.
Scott erzählte, wie Nobody zu ihm gekommen war, erst vor sechs Wochen, um sich von ihm in der Hypnose die Erinnerung an die geographischen Ortsbestimmungen tilgen zu lassen.
»Weshalb tat er dies?«
Scott gab hierfür eine genügende Erklärung, wie wir es schon damals getan haben.
»Ich bekam aber von der ganzen Sache auch noch einen anderen Eindruck. Eine Vermutung lag doch auch sehr nahe. Nobody wußte Sie und die Kinder noch am Leben, hoffte es wenigstens, wissend, daß Sie damals den Tod nicht gefunden hatten. Und fast seit drei Jahren schon durchirrte er die Welt, um Sie zu suchen, immer hoffend, daß eine Bestimmung des roten Buches das Ziel angeben würde - immer vergebens. Endlich gab er die Hoffnung auf. Er wollte sich nicht mehr täuschen lassen. Deshalb ließ er durch Hypnose gleich die Erinnerung an die Ortsbestimmungen in seinem Gedächtnis verwischen. Nun liegt eine Vermutung ja sehr nahe. Er wollte es einmal auf andere Weise probieren. Zeitungsaufrufe hätten doch nichts genützt. Aber wie wäre es denn, wenn er einmal seinen Tod verkünden ließ? Würden Sie dann mit Ihren Kindern nicht wieder zum Vorschein kommen?«
Scott schwieg, und Gabriele schlug die Hände vor das Antlitz.
»Mein Gott, mein Gott, wenn das möglich wäre!« stöhnte sie.
Dann blickte sie den Freund mit starren Augen an.
»Ja, aber ... gesetzt nun den Fall, der Tote, den wir begraben haben, wäre nicht Alfred - wer soll es denn sonst sein?«
Scott hob langsam die Schultern.
»Das weiß ich nicht, das kann ich mir auch durch keine Vermutung erklären.«
»Dann könnte es doch nur sein, daß Alfred einen ihm ähnlichen Mann gefunden hat, den er bewog, sich als Nobody auszugeben und ... nein, das reimt sich ja auch alles wieder nicht zusammen.«
Scott stand auf.
»Wie dem auch sei,« sagte er in bestimmtem Tone, »für mich besteht die felsenfeste Ueberzeugung, daß der Tote, welcher dort unter der Linde begraben wurde, nicht Nobody gewesen ist! Nur dieses rote Buch hier, welches er mir zurückgegeben hat, bringt mich zu dieser Ueberzeugung. Mylady, wollen Sie mir Ihre zukünftige Adresse geben oder dafür sorgen, daß ich sie rechtzeitig bekomme?«
»Wie, Sie wollen schon gehen?«
»Ich gehe.«
»Wohin?«
»Meinen Freund Nobody suchen, und da darf keine Minute verloren gehen.«
»Mein Gott, mein Gott,« konnte Gabriele nach diesen so bestimmt gesprochenen Worten nur wiederum stöhnen, und dennoch klang es wie ein verhaltenes Jauchzen.
Welche Perspektive öffnete sich auch vor ihren Augen, wenn der Gatte noch lebte!
Gabriele hatte ihm ja verziehen, ihn überhaupt nie verurteilt, auch da sie gewußt, daß er gemeinschaftlich mit zwei Frauen lebe. Es war eben Nobody.
Aber Gabriele hätte niemals mit in diese Gemeinschaft treten können, das ging eben wider ihre Natur, und sie hatte für besser gehalten, lieber gar nicht aus ihrem Versteck hervorzutreten, hatte gar nicht gewagt, auch nur zu schreiben - kurz, sie wollte eben verschwunden bleiben.
Nun aber hatte sich dies mit dem Tode der Rivalinnen geändert, und mit tausend Freuden wäre sie bereit gewesen, sich wieder an die Seite des Vaters ihrer Kinder als treue Gattin zu gesellen.
Allerdings lag dem ja etwas wie Egoismus zugrunde, ein furchtbarer Egoismus - der Tod jener zwei oder sogar sechs Menschen war nötig gewesen, um wieder ihr Glück begründen zu können, aber ... es war menschlich, und es war eben so gekommen, wie Gott es wollte, und dieser will auch, daß, was des einen Unglück ist, des andern Glück bedeutet. Das ist der Welt unaufhaltsamer Lauf.
In Ruhe überlegten jetzt die beiden, alles erwägend.
Jenes erste Schiffsunglück war genau vor acht Tagen geschehen.
Ob nun der Doppelgänger - wie wir ihn nennen wollen - mit Nobodys Einverständnis sich für diesen ausgegeben hatte, oder ob hier eine verbrecherische Mystifikation mit vorausgegangenem Raube vorlag, oder was sonst - - Nobody hatte unterdessen erfahren können, daß er hier vorgeblich als Leiche gefunden und begraben war; denn davon hatten alle Zeitungen der Welt, telegraphisch benachrichtigt, erzählt.
Es gab nur drei Möglichkeiten, wonach Nobody dies hätte noch nicht wissen können.
Entweder er befand sich zurzeit in einer Gegend, wo keine Zeitungen oder doch nicht so schnell berichtende Zeitungen hinkamen, oder er wurde irgendwo gefangengehalten, wobei nicht gerade Menschen in Betracht zu kommen brauchten, man könnte auch an elementare Gewalten, an Krankheit denken; oder Nobody hatte irgend anderswo seinen Tod gefunden.
Von dieser letzteren Möglichkeit wollte aber Scott durchaus nichts wissen.
Nun gab es noch eine andere, sehr naheliegende Möglichkeit, weshalb Nobody seinen Tod und sein vermeintliches Begräbnis nicht dementierte: er war eben damit einverstanden, daß er für tot galt, daß man vermeintlich ihn hier begraben hatte.
»Er kann aber noch kommen,« meinte Gabriele, »es ist doch erst acht Tage her, das Begräbnis noch nicht einmal, und wer weiß denn, wo sich Nobody jetzt befindet.«
»Ich glaube nicht, daß er hierherkommt.«
»Weshalb nicht?«
»Weil - weil ...«
Scott blätterte in dem roten Notizbuche.
»Weil erst die dreiundzwanzigste Bestimmung ihn wieder nach England führt.«
Gegen solch eine Vertrauensseligkeit war gar nicht aufzukommen. Und Gabriele hatte ja auch kein Recht, an der Wahrhaftigkeit dieser prophetischen Angaben zu zweifeln, sie selbst hatte sich schon früher zu sehr überzeugen lassen müssen.
»Wann war Alfred bei Ihnen, um sich hypnotisieren zu lassen?«
»Vor sechs Wochen.«
»Woher kam er da?«
»Von San Francisco.«
»Was hatte er da zu tun gehabt? Erzählte er es Ihnen?«
»Ja. Er kam aus der Salzwüste von Pahutah nach San Francisco, um dort im Chinesenviertel ein Abenteuer zu erleben, über welches er mir allerdings Schweigen auferlegte.«
»Und welche Bestimmung war das dem roten Buche nach?«
»Die elfte Bestimmung führte ihn nach Pahutah, die zwölfte nach San Francisco.«
»Und die dreizehnte?«
»Die bezieht sich auf die spanischen Pyrenäen,« entgegnete Scott, ohne erst in sein Buch blicken zu müssen; denn darüber hatte er sich natürlich schon orientiert, die angegebenen Punkte auf der Karte aufgesucht. Freilich war in diesem Falle der ?Punkt? gerade sehr groß.
»Da ist er aber doch inzwischen in New-York und bei Ihnen auf Long-Island gewesen.«
»Allerdings.«
»Also müßte sich die dreizehnte Bestimmung doch eigentlich auf New-York oder noch mehr auf Long-Island beziehen.«
»O nein. So ausführlich sind die Bestimmungen nicht gegeben. Sonst müßten sie Nobodys Bewegungen ja Schritt für Schritt vorzeichnen. Sie geben immer nur den Ort an, wo er als Detektiv etwas erleben wird. Als Detektiv, in seinem Berufe, verstehen Sie? Als ich damals in Aegypten mir vornahm, meines Freundes ferneren Lebenslauf zu ergründen, stellte ich mir eben diese Aufgabe - seinen Lebensweg als Detektiv wollte ich im Geiste schauen.«
»Ah so, ich verstehe. Wollte er sich denn von New-York nun nach Spanien begeben?«
»Das wußte er selbst noch nicht.«
»Dies schrieb ihm doch das rote Buch vor.«
»Aber die Erinnerung daran hatte ich ihm ja, wenn man sich so ausdrücken darf, heraushypnotisiert, und dann bekam er das rote Buch doch nicht wieder in die Hände, gesagt habe ich ihm natürlich nichts davon.«
»Er besann sich auch nicht mehr auf diese nächste Bestimmung?«
»Nein. Danach hatte er selbst den hypnotischen Befehl speziell eingerichtet.«
»Und er wußte es dann wirklich nicht mehr?«
»Nein, er konnte sich nicht mehr darauf besinnen, wie ich mich gleich überzeugte.«
»Wunderbar, wunderbar,« murmelte Gabriele kopfschüttelnd. »Ja,« fuhr sie aber gleich wieder auf, »dann hat er sich doch aber auch nicht von New-York aus nach Spanien begeben.«
»Sicherlich.«
»Wieso denn? Wenn ihm der Wegweiser fehlt, auch die Erinnerung daran?«
»Mylady, verstehen Sie denn nicht?«
Und Scott hatte die schwere Ausgabe, Gabriele klarzumachen, daß es ganz gleich war, ob Nobody nun die Bestimmungen kannte oder nicht, ob er nun wollte oder nicht, wie das Schicksal ihn auf irgendeine Weise dennoch stets an den Ort führte, den das rote Buch prophezeite, und wie Nobody gleich jedem anderen Menschen dennoch nicht der willenlose Sklave eines unabänderlichen Schicksals ist.
Wir wollen nicht wiederum versuchen, dies zusammenzureimen - - für den, der das einmal durch langes Nachdenken begriffen hat, ist es nämlich ganz einfach, für andere ganz unerklärlich - - und Gabriele, in der Einsamkeit, in der unermeßlichen Wüste erwachsen, vielleicht auch zu mystischen Spekulationen geneigt, begriff es schnell genug.
»Wunderbar, wunderbar!« konnte sie wiederum nur sagen.
»Doch inzwischen,« fuhr Scott fort, »sind nun sechs Wochen vergangen, inzwischen kann Nobody also die Pyrenäen schon wieder verlassen haben.«
»Und wohin führt ihn die nächste Bestimmung?«
Scott gab sie aus dem roten Buche an. Indes wollen wir der Erzählung nicht vorgreifen.
»Wir können aber doch wenigstens dort in den Pyrenäen Erkundigungen einziehen, ob ein Mann, auf dessen Beschreibung wir auf Nobody schließen können, dort gewesen ist.«
»Gewiß. Das Terrain, welches durch die geographische Ortsbestimmung angegeben ist, umfaßt höchstens eine Quadratmeile. Die ist leicht nach Spuren abzuforschen, selbst wenn das Ziel nicht ein größeres Dorf sein sollte, was ich noch nicht bestimmt konstatieren konnte.«
»Und wenn wir nun eine Spur von Nobody finden, die er erst vor acht Tagen dort zurückgelassen hat?«
»Na, dann kann er hier natürlich nicht unter der Linde begraben liegen.«
»Auf nach den Pyrenäen!!« rief Gabriele, von der seligsten Hoffnungsfreudigkeit erfüllt, und alles Vergangene war vergessen.

VIII. Don Juan und Fra Diavolo.

»Sie kommen mir gerade wie gerufen.«
Mit diesen Worten wurde im Menschengewühl einer New-Yorker Hauptstraße ein würdevoller, älterer Herr, unter dessen breitrandigem Quäkerhute die weißen Haarsträhnen hervorquollen, von einem korpulenten Männlein angehalten.
»Du verkennst mich wohl, mein lieber Bruder in Jesu,« sagte der alte Quäker, der jeden mit du anredete, selbst in der englischen Sprache, die sich doch des ?du? sonst gar nicht bedient, mit zitteriger Stimme.
Aber das dicke Männlein hielt am langschößigen Rocke fest, nur konnte er das nicht an einem Knopfe tun, weil die Quäker an ihren Anzügen überhaupt keine Knöpfe tragen, nur Schnüre und Heftel.
»Nee nee, ich verkenne Sie nicht,« beharrte also Mr. Cerberus Mojan, denn kein anderer war das dicke Männlein.
»Du bist ein Mensch, deshalb irrst du dich - ich bin Samuel Edding aus Philadelphia.«
Der Alte nannte den sehr bekannten Namen eines Bürgers der Quäkerstadt Philadelphia, eines reichen Kaufmanns, Inhaber vieler Ehrenämter.
Aber Mojan ließ noch immer nicht los.
»Sie wollen der Quäker Samuel Edding sein? Ach, hören Sie auf zu quäken! Schwimmen Sie bald wieder einmal nach dem Robbenfelsen?«
Der Alte konnte eine Bewegung der Ueberraschung nicht unterdrücken, er warf einen vorsichtigen Blick um sich. Doch unbekümmert um die beiden drängte und hastete die Menschenmenge vorbei.
»Nun hört aber doch alles auf! Sie erkennen mich wirklich unter dieser Maske?« fragte er mit gedämpfter Stimme.
»Na, zweifeln Sie etwa noch daran? Aber Sie kommen mir wirklich wie gerufen. Ohne Sorge, ich verrate Sie nicht. Haben Sie Zeit?«
»Ja. Die Angelegenheit, weswegen ich hier als Samuel Edding auftrete, hat sich bereits erledigt.«
»Meinen Fall müßten Sie überhaupt allen anderen vorziehen. Es ist das erstemal, daß ich Ihre Hilfe als Detektiv in Anspruch nehme.«
»Und die Rattenwühlerei in Ihrem Keller, wo ich als Kaninchenbohrer funktionieren sollte?«
»Das war Kleinigkeit gegen den jetzigen Fall. Ich bin wirklich in größter Verlegenheit, oder es handelt sich doch um einen Hauptstreich.«
»Was ist denn geschehen?«
»Kommen Sie, wir frühstücken zusammen! Gleich hierherein!«
»In dieses Weinlokal? Kann ich nicht, ich bin doch Quäker.«
»Bah! Ich denke, Sie haben sich jetzt ausgequäkt?«
»Aber ich stelle einen bekannten Quäker vor, den würde ich blamieren.«
»So verschieben Sie Ihre Gesichtszüge etwas, das bringen Sie doch fertig?«
»Geht nicht, ich trage die Kleidung einer ehrenwerten Sekte. Treten Sie nur ein, auch mein Logis, wo ich mich umkleiden kann, ist hier ganz in der Nähe.«
»Aber machen Sie schnell, in einer Stunde geht mein Dampfer.«
»Wohin?«
»Nach Havre. Und dann reise ich weiter nach Spanien, nach den Pyrenäen. Sie wissen doch, meine Frau ist dort, ich habe mir nur ein Fläschchen Choleratropfen geholt.«
Der Erfolg dieser Worte war der, daß Nobody den Kopf senkte und sich mit der Hand über die Stirn fuhr.
»Pyrenäen - Pyrenäen?« murmelte er. »Wie ist mir denn ... ah so!«
Er konnte sich also wirklich nicht mehr erinnern, daß ihn dorthin die nächste Bestimmung rief. Aber eine dunkle Ahnung hatte er doch noch davon. Und hier nun kam das Schicksal wieder in Gestalt Mojans, der ihn wirklich nach Spanien in die Pyrenäen führen sollte.
»Was gibt es denn dort? Ihrer Frau ist doch nichts passiert?«
»Eben gerade das. Sie ist unter die Räuber gefallen. Doch das muß ich Ihnen ausführlich erzählen.«
»So gehen Sie in diese Weinstube, in zehn Minuten bin auch ich da.«
Diese waren noch nicht einmal verstrichen, als sich Nobody schon einfand, in anderer Gestalt, als jüngerer Gentleman, aber schon im Reiseanzug.
Was ihn bewogen hatte, sich vorhin das Aussehen eines bekannten Quäkers zu geben, wurde gar nicht mehr erwähnt. Diese Angelegenheit hatte sich eben erledigt.
»Kaum hatten Sie mich verlassen,« begann Mojan sofort, »in Etlentown meine ich - als ich dieses Telegramm erhielt. Hier, lesen Sie!«
Nobody nahm das dargereichte Formular. Die Depesche war in Toulouse aufgegeben, und die Worte, welche den Ozean durchlaufen hatten, lauteten:

»Ueberweise dem Bürgermeister von Viella, Katalonien, sofort hunderttausend Dollar. Bin in Gewalt von Räubern. Wenn nicht, schneidet man mir die Ohren ab, später mehr. Therese.«
Kaltblütig gab Nobody die Depesche, in der kein Wort gekürzt war, zurück.
»Haben Sie diese Summe abgeschickt?«
»Sofort!«
»Auf welche Weise?«
»Durch meinen Bankier in San Francisco telegraphisch nach Toulouse, welche Stadt ein Bankinstitut besitzt und jenem Gebirgsstädtchen am nächsten liegt. Von Toulouse aus kann das Geld bar mit der Eisenbahn bis nach Bagnères befördert werden, immer noch auf französischer Seite. Vorher wird aber in Toulouse angefragt, ob die Post von Bagnères auf telegraphische Anweisung eine halbe Million Francs auszahlen kann, was wohl schwerlich der Fall sein wird. So muß gleich von Toulouse ein zuverlässiger Kurier mit dem Gelde abgehen. Von Bagnères bis nach Viella über die Grenze hinweg ist es noch eine kleine Tagereise auf einem Maultier.«
Dieser verrückte Yankee konnte, wenn er wollte, recht kurz und sachgemäß sein.
»Hm. Denken Sie auch daran, daß dies alles eine Falle sein kann, ein Gaunerstreich?«
»Daran denke ich. Doch was bleibt mir anderes übrig, als das Geld sofort abzuschicken? Ich kann meiner Frau doch nicht beide Ohren und noch mehr abschneiden lassen.«
»Die Sache ist also doch die, daß der Bürgermeister von Viella die halbe Million Francs dem Räuber als Lösegeld für Ihre Frau aushändigen soll.«
»Natürlich, so ist es! Der Bürgermeister spielt den Vermittler.«
»Hm! Daß ein spanischer Bürgermeister solch eine Vermittlerrolle spielen kann, das wundert mich ja weniger. Aber kann der Bürgermeister von Viella dies alles nicht erst in Szene gesetzt haben? Daß Ihre Gattin vielleicht gar nichts von diesem Telegramm weiß?«
»Der Bürgermeister von Viella ist ein Ehrenmann.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich kenne ihn. Ich komme doch aus Viella, hatte meine Frau dort zurückgelassen.«
»Ah, Sie kennen schon die Verhältnisse! Da müssen Sie doch auch wissen, was für Räuber das sind.«
»Es können zwei Räuberbanden in Betracht kommen. Der Anführer der einen wird Don Juan genannt, der der anderen, weil er ein Jesuitenzögling gewesen ist, Fra Diavolo. Sie verstehen wohl, diese Namen, zwei berühmten Opern entnommen, sind ihnen von den Gästen von Bagnères gegeben worden.«
Nobody hatte seine Weltkarte ausgebreitet, studierte in Spanien herum, das hier freilich nur sehr klein erschien.
»Nein, ich verstehe gar nicht. Was sprechen Sie da von Gästen von Bagnères?«
»Nun, Badegäste - Bagnères ist doch ein berühmtes Bad in den Pyrenäen.«
Mojan war mit einer Spezialkarte von Spanien versehen, noch den südlichen Teil Frankreichs enthaltend.
Da sah man, daß Bagnères die Endstation einer Eisenbahnlinie war, dicht an der spanischen Grenze liegend; fünf geographische Meilen davon entfernt befand sich Viella. Auch der Weg dahin, ein Gebirgspfad, war angegeben.
Mojan schilderte noch, daß Bagnères, heilkräftige Quellen habend, ein sehr vornehmes, teures Bad sei, von den feinsten Herrschaften besucht, die dort im wildesten Teile der Pyrenäen Erholung und Zerstreuung suchen, ohne irgendwelchen Komfort vermissen zu brauchen.
»Und Viella?«
»Da ist gar nichts los. Aber eben deswegen zogen wir es dem geleckten Bagnères vor.«
»Die beiden Räuber sind auch in Bagnères bekannt?«
»Wie die bunten Hunde. O, die spielen dort sogar eine große Rolle, machen alle Reunions und anderen Gesellschaften mit.«
»Hm, ich kann mir lebhaft vorstellen, was für ein Vergnügen es diesen Herrschaften und besonders diesen Dämchen macht, mit solchen echten Räubern zu verkehren. Das ist ein Nervenkitzel ganz besonderer Art. Aber hätte der betreffende Räuber da nicht gleich die Depesche in Bagnères aufgeben, das Geld auch dorthin bestellen können, um es von dort zu erheben?«
»Nein, so weit geht die Gemütlichkeit der französischen Polizei nicht. Nur im Schutze der Gesellschaft fühlen sich die Spitzbuben sicher. Auf spanischem Gebiet dagegen können sie tun, was sie wollen; das von aller Welt abgeschlossene Viella ist von diesen Räubern und Schmugglern ganz abhängig.«
»Und was gedenken Sie nun zu tun?«
»Ich habe meine Pflicht getan. Das Geld mußte ich natürlich sofort überweisen. Daß, wenn alles seine Richtigkeit hat, der Räuber meine Frau gleich wieder in Freiheit setzen wird, daran zweifle ich nicht. Auch so ein Räuber hat seine Ehre - gerade so ein Räuber. Nun aber heißt es für mich, ihm dann die hunderttausend Dollar wieder abjagen, auch sonst noch ein Wörtchen mit ihm sprechen.«
»Bravo, da bin ich mit bei der Partie!« - -
Daß die beiden erst nach Havre fuhren, welches an der nördlichen Küste Frankreichs liegt, um dann die Reise durch das ganze Frankreich machen zu müssen, ist nicht zu verwundern.
Von Schnelldampfern ging eben nur noch einer nach Lissabon, und das ist nicht weniger weit entfernt von jener Gegend als Havre, und nach Havre ging ein Schnelldampfer zwei Tage früher, und von hier aus hatten sie bis nach Bagnères noch dreißig Stunden Eisenbahnfahrt, so daß die ganze Reise von New-York zehn Tage währte.
Daß Mojan während dieser langen Zeit sehr niedergeschlagen war, daß man wenig von seinem sonstigen Humor merkte, war begreiflich. Es war seine Frau, die er aus Neigung geheiratet, und vielleicht wurde sie noch immer im wilden Gebirge umhergeschleppt, und nun stelle man sich dieses weibliche Monstrum vor ...
Genug, Mojan hatte ganz seine gute Laune verloren, wanderte auf dem Promenadendeck rastlos hin und her, das Essen schmeckte ihm nicht, und bei der kleinsten Gelegenheit konnte er wieder einmal grob werden wie ein Rohrspatz.
Von New-York aus hatte er noch einmal an den Bürgermeister von Viella telegraphiert, desgleichen an den ihm bekannten Badearzt von Bagnères, eine briefliche Auskunft über die ganze Affäre postlagernd nach Havre erbittend.
Auf diese Auskunft nun hatte er acht Tage zu warten, da läßt sich die Unruhe des quecksilbernen Männchens an Bord des Dampfers begreifen.
»Wenn sie meiner Therese nun schon ein Ohr abgeschnitten haben?« seufzte er ein Mal übers andere. »Oder gar alle beide? Oder wenn sie ihr vielleicht sonst noch etwas anderes abgeschnitten haben?«
»Mojan, seien Sie doch ein Mann,« wollte ihn dann Mr. Hublin, wie sich Nobody jetzt nannte, beruhigen.
»Ein Mann bin ich.«
»Seien Sie ein Philosoph, der Sie doch sonst sind. Durch Ihre Ungeduld ändern Sie gar nichts.«
»Jawohl, hat sich was philosophieren. Wissen Sie, wie das tut, wenn einem ein Ohr oder gar alle beide abgeschnitten werden?«
»Nein, wissen Sie es denn?« fragte Nobody, nur mit Mühe ein Lächeln unterdrücken könnend.
»Allerdings weiß ich das. Mir hat man noch etwas ganz anderes abgeschnitten. Ich bin vor 2000 Jahren im Harem des Kalifen Harun al Hadschi Eunuche gewesen. Ei der Deichsel noch einmal!«
Und dann fing er wieder zu schimpfen an.
»Ei der Deichsel noch einmal! Tod und Pestilenz über sie, Millionen Tod und Pestilenz über sie, wenn sie meiner Therese auch nur ein einziges Härchen abgeschnitten haben! Ich ziehe ihnen die Kaldaunen einzeln aus dem Leibe und lasse sie diese sauer gekocht selber fressen.«
Das ist nur eine ganz harmlose Probe von den Ergüssen und Racheschwüren, die das dicke Männchen stündlich hören ließ.
Endlich befand man sich in Havre auf dem Postamt. Ja, für Mr. Cerberus Mojan lagerten zwei Briefe.
Der erste, den Mojan erbrach, war vom Badearzt. Er schilderte den Vorgang. Mrs. Mojan hatte trotz aller Warnung eine Tour ins Gebirge unternommen, allerdings begleitet von vier bis an die Zähne bewaffneten, ortskundigen Männern.
Diese waren allein zurückgekehrt. Wie der Ueberfall geschehen war, brauchen wir nicht weiter zu wissen. Jedenfalls war es ja auch ganz gemütlich zugegangen. Den renommierenden Spaniern durfte man doch nicht glauben. Die Hauptsache war, daß es der Bandenführer Fra Diavolo gewesen, der ihnen die Dame samt Maultier abgenommen hatte. Es hatte auch gleich eine Verhandlung wegen des Lösegeldes stattgefunden, einer der Männer hatte das aufgesetzte Telegramm bekommen und es nach Bagnères befördert.
Am Schlusse war dem Briefe noch beigefügt, daß soeben von Toulouse ein Kurier mit der halben Million Francs angekommen sei, noch heute würde dieser nach Viella aufbrechen, begleitet von einer Abteilung Soldaten von der in Bagnères liegenden Garnison und noch einer besonderen Sicherheitsmannschaft.
»Na, Gott sei Dank!« seufzte Mojan erleichtert. »Weshalb aber denn noch von einer besonderen Sicherheitswache, genügen denn die Soldaten nicht?«
»Diese französischen Soldaten können doch nicht über die Grenze.«
»Ach so, da haben Sie recht!« Der zweite Brief, vom Bürgermeister von Viella, enthielt dieselbe Schilderung des Vorganges, nur noch ausführlicher. Daß er das Geld empfangen würde, davon sei er schon benachrichtigt. Erhalten konnte er es natürlich noch nicht haben.
»Monsieur Cerberus Mojan,« sagte der Beamte am Schalter, als sich die beiden eben entfernen wollten, »hier läuft wieder ein Brief für Sie ein.«
Er war abermals vom Badearzt.

»Leider muß ich Ihnen mitteilen, daß die Expedition des Kuriers auf dem Wege nach Viella durch den Bandenführer Don Juan überfallen worden ist, dem es gelang, die halbe Million Francs zu erbeuten und ungehindert wieder in die Berge zu entkommen ...«
»Schöne Geschichte das!« unterbrach sich der Vorlesende. »Jetzt hat man mir außer meiner Frau auch noch mein Geld gestohlen!!«
»Der Brief scheint noch nicht zu Ende zu sein, lesen Sie doch weiter.«

»... aber soweit ich Fra Diavolo kenne, wird er ganz sicher trotzdem die Gefangene ausliefern, da das Lösegeld doch schon so gut wie deponiert war und ohne Ihre Schuld verloren ging.
P. S. Soeben erfahre ich durch einen baskischen Botenläufer, daß Ihre Gattin unter Fra Diavolos Begleitung tatsächlich schon auf dem Wege nach Viella ist.«
»Na, sehen Sie,« sagte Nobody, »was ein braver Räuber ist, der muß auch ein Ehrenmann sein. Und nun haben wir noch den außerordentlichen Vorteil, daß uns Fra Diavolo selbst behilflich sein wird, dem Rivalen die halbe Million Francs wieder abzujagen.«
»Monsieur Cerberus Mojan,« sagte der Beamte an einem anderen Schalter, »hier läuft soeben eine Depesche für Sie ein!«
»Gerettet, meine arme Therese ist mit ihren zweihundertundzwanzig Pfund Körpergewicht in Sicherheit!!« jubelte Mojan, und dann erst las er das ihm dargereichte Telegramm vor:

»Don Juan hat dem Fra Diavolo nun auch noch Ihre Gattin abgenommen.«
Doktor Zochel.«
»Ach, du griene Neine,« sagte Mojan, weiter nichts, hatte es auch ganz ruhig gesagt; aber seine Füße trugen ihn nicht mehr, er mußte sich schnell auf eine im Postzimmer stehende Bank setzen, aber nun trug diese Bank wieder ihn nicht - er brach mit der Bank zusammen und reckte seine kurzen Bratwurstbeinchen gen Himmel.




Es gibt in den französischen Pyrenäen zwei Bagnères, beide sind berühmte Heilbäder. Wir meinen also das in den Oberpyrenäen, ganz dicht an der spanischen Grenze, am Fuße der Maladetta gelegen.
Dieses Bagnères, näher bezeichnet als das de Luchon, das Aquae Onesiae der alten Römer, welche es schon als Heilstätte benutzten, was sie in ihrer letzten Zeit auch sehr nötig hatten, besitzt 54 heiße Quellen, welche äußerlich und innerlich besonders gegen Nervosität und Hysterie dienen, und danach sind die Besucher des kleinen, mit dem üppigsten Komfort eingerichteten Bergstädtchens beschaffen, danach auch die Herren und Dämchen, welche sich aus den einzelnen Coupés im Speisewagen zusammengefunden hatten - ausschließlich erstklassige Menschen, die im tollen Strudel des Pariser Lebens Opfer einer allgemeinen Verrücktheit geworden waren.
Man näherte sich der Endstation. Der Schnellzug passierte zahllose Tunnels, hatte andere Schwierigkeiten zu überwinden, fuhr langsamer.
Das Gesprächsthema hatte von Paris aus natürlich nur die letzte Räuberaffäre gebildet, und die Sensation war um so größer, als sich unter den Passagieren ja auch der Mann befand, um dessen Gattin sich alles drehte.
Wir wollen überspringen, was in den dreißig Stunden alles geschwatzt worden war. Nobody bewunderte Mojans Geduld, der alles über sich ergehen ließ, immer höflich Auskunft gab. Der so rücksichtslos werden könnende Yankee schien sich ganz verwandelt zu haben. Mojan selbst gab seinem Freunde in einer heimlichen Ecke hierfür die Erklärung - er sei vor einigen zehntausend Jahren einmal ein Schaf gewesen, vorhin habe er drei Portionen Lammbraten gegessen, noch dazu mit Petersilie, und so sei seine ehemalige Lammnatur jetzt wieder hervorgebrochen.
Doch die wenigsten dieser augenzwinkernden Herrchen und fingerzuckenden Dämchen waren mit besonderer Furcht erfüllt, nun direkt in das Gebiet zu kommen, in welchem ein Frauenräuber sein Unwesen trieb, dem doch auch sie zum Opfer fallen konnten.
Es war eben eine ganz exklusive Gesellschaft, ihre Nerven waren ja schon ganz abgestumpft, oder vielmehr viel zu sehr überreizt, was unter Umständen so ziemlich dasselbe ist. Gerade diese doch vorhandene Angst war einmal ein ganz besonderer Nervenkitzel, und ein Abenteuer mit dem Räuber wäre ihnen sogar sehr erwünscht gewesen; nur durfte es nicht gleich ans Leben gehen.
Ausnahmen gibt es überall. Cerberus Mojan und der still im Hintergrunde beobachtende Nobody waren solche - nämlich in bezug auf Nervosität und Hysterie - in St. Bertrand, der letzten Station, noch eine Stunde von Bagnères entfernt, gesellte sich diesen noch eine dritte Ausnahme hinzu.
Es war ein großer, herkulischer Mann mittleren Alters mit mächtigem blonden Vollbart, welcher den Schnellzug bestieg, durch die Gesichtszüge gleich den Engländer verratend.
Viele der Passagiere machten diese Reise ja nicht zum ersten Male, sie gehörten zu den alljährlichen Gästen des Nervenheilbades, und diese alle kannten den Herrn mit den verwitterten Zügen.
Mr. Lewis Geodfroy hatte auf seinem riesigen Landgute in England jährlich 10 000 Pfund Sterling zu verzehren, zog es aber vor, in den Pyrenäen Bären und Wölfe zu jagen, betrieb das als Profession, als ob es ihm nur auf das Schußgeld ankäme, strich dieses auch immer ein, für jeden Bären 20 Francs, für den Wolf fünf, und verbrauchte wohl schwerlich mehr, als dieses Schußgeld und was er sonst noch für Fleisch und Felle, die er verkaufte, bekam.
In dieser Gegend war Mr. Geodfroy, eigentlich fast nur unter dem Namen der Bärentöter bekannt, ein Sonderling. Doch solcher reicher Leute, besonders Engländer, die in irgendeiner Gegend nur von dem Ertrage der Jagd leben, gibt es ja noch genug. Sie laufen lieber in Lumpen herum - trockenes Brot brauchen solche Jäger ja nicht zu essen - ehe sie zu Hause die Zinsen ihres sich immer vermehrenden Vermögens anrühren. Es ist eben ihr Stolz, als echter Jäger zu leben.
Bei Mr. Geodfroy brauchte das nicht gerade der Fall zu sein. Daß er erster Klasse fahren konnte, so viel brachte ihm die Jagd auf Bären und Wölfe wohl schwerlich ein. Immerhin, dies war sein Lebensberuf, schließlich ein nützlicherer als das Sammeln von Briefmarken und ähnliche Beschäftigungen, worein doch auch so mancher reiche Müßiggänger seinen ganzen Lebenszweck setzt.
Obgleich ein echter Engländer, war er doch viel mitteilsamer als sonst die Söhne Albions, duldete dann freilich auch keinen Widerspruch, konnte sogar grob werden - also auch rücksichtslos wie ein echter Engländer, nur eben gesprächiger.
»Unsinn!« sagte er, nachdem er eine Weile das durcheinanderschwirrende Gespräch mitangehört hatte. »Von wem soll dem Fra Diavolo das Geld und die Dame abgejagt worden sein?«
»Von Don Juan.«
»Von was für einem Don Juan?«
»Nun, von dem bekannten Schmuggler und Räuber Don Juan, der eben zwischen Bagnères und Viella haust.«
»Unsinn!« wiederholte der Bärentöter. »Solch einen Räuberhauptmann Don Juan gibt es ja gar nicht.«
Allgemeine Aufregung! Unterhielt man sich nun seit bald dreißig Stunden über diesen famosen Räuberhauptmann, viele Herren hatten ihn persönlich gesehen, manche Dame prahlte mit einem Abenteuer mit ihm, und jetzt behauptete der Mensch, dieser Don Juan existiere gar nicht.
Nobody allerdings hatte schon längst herausgehört, daß man sich, während der Schmuggler Fra Diavolo eine ganz bekannte Figur war, über diesen Don Juan nicht recht im klaren war. Ein Widerspruch jagte den anderen. Bei dem allgemeinen Durcheinander dieser nervösen Personen merkte man das nur nicht so.
»Was, dieser Don Juan existiert gar nicht?« erklang es wie ein allgemeiner Schrei der Entrüstung.
»Nein!«
»Aber ich bitte Sie,« rief eine Dame, die während der dreißigstündigen Fahrt jetzt mit zuckenden Fingern ihre sechzigste Zigarette drehte, »ich habe ihn doch selbst gesehen!«
»Wen denn?«
»Nun, diesen Don Juan.«
»Den Don Juan in der Oper?« spottete der Bärentöter.
»Den Don Juan di Maladetta, so genannt, weil er auf der Maladetta haust.«
»Ja, dieser Don Juan di Maladetta existiert allerdings, aber wer ihn des Frauenraubes oder auch nur des Schmuggels bezichtigt, kann von ihm gerichtlich verklagt werden, und außerdem bekommt er es mit mir zu tun; denn dieser Johannes Rabenstein, oder vielmehr Graf von Rabenstein, wie er eigentlich heißt, ist mein spezieller Freund, und wer ihn beleidigt, der beleidigt mich.«
Und der große, herkulische Mann mit dem gewaltigen Barte ließ herausfordernd seine Augen über die ganze Gesellschaft schweifen - und alles war still, nur einer nicht.
»Erlauben Sie - Cerberus Mojan, Schmieröl Schwefel Schokolade.«
Erstaunt blickte der Bärentöter auf das kleine, dicke Männchen, das aufgestanden war und sich ihm mit diesen merkwürdigen Worten vorgestellt hätte. Doch er hatte nur eins herausgehört, was ihn so erstaunt machte.
»Wie? Sie sind - Mr. Mojan?«
»Bin ich.«
»Die geraubte Dame ist doch nicht etwa - Ihre Gattin?«
»Ist sie.«
Jetzt zeigte sich dieser bärbeißige Engländer doch als Gentleman.
»Ich bedauere Sie - bitte, nehmen Sie doch Platz an meinem Tische,« sagte er höflich und herzlich. »Geodfroy ist mein Name - Lewis Geodfroy aus Lincoln in England, Gutsbesitzer - bin aber hier in den Pyrenäen schon seit vielen Jahren ganz zu Hause und kann Ihnen daher vielleicht von großem Nutzen sein. Bitte, setzen Sie sich.«
Mojan machte Miene, das Anerbieten anzunehmen, winkte aber erst seinen Begleiter herbei.
»Erlauben Sie, daß ich vorstelle - Mr. Joachim, mein Sekretär, sehr bewandert in Spanien, der mich daher in dieser ganzen Sache vertritt.«
Auch das war eine eigentümliche Vorstellung. Hierdurch aber konnte Mr. Geodfroy schon ahnen, es mit einem Detektiv zu tun zu haben, und daher brauchte er sich dann nicht zu wundern, wenn dieser Sekretär statt seines Herrn immer das Wort führte oder doch Fragen stellte.
Zunächst aber war es Mr. Geodfroy, welcher unaufgefordert erzählte, über das Ganze einen Ueberblick gebend.
Zuerst kam Fra Diavolo daran, eigentlich Franzesco Diaz heißend. Schon die gleichlautenden Anfangssilben der Namen hatten zu seiner Benennung Anlaß gegeben. Er war hier geboren als Sohn eines begüterten Bauern, der den aufgeweckten Jungen zur Erziehung in ein Jesuitenstift gegeben hatte. Aber Priester wäre er wohl schwerlich geworden, nur dienender Bruder, so eine Art Stiefelputzer.
Gelernt hatte er dort denn auch nichts weiter, höchstens Dummheiten, böse Streiche und Laster - genug, in seinem sechzehnten Jahre entfloh er dem Kloster, kehrte in die Heimat zurück, lockte der unterdessen verwitweten Mutter alles Geld ab, verkaufte Haus und Hof, spielte den Kavalier, trieb es toll, verpraßte alles, und dann war er, wie es noch so manch anderer brave Gebirgsspanier getan hat, unter die Schmuggler gegangen.
»Mehr habe ich Ihnen über diesen Burschen kaum zu sagen. Er ist eben ein professioneller Schmuggler, pascht über die unwirtlichen Höhen der Maladetta hinweg Waren von Spanien nach Frankreich und umgekehrt. Gewiß, Fra Diavolo verdient seinen Namen, es ist ein verteufelter Kerl, der sich vor nichts fürchtet, mag auch manches Liebesabenteuer erlebt haben - aber was sonst dort drüben behauptet wurde - ein professioneller Frauenräuber - keine Ahnung! Es ist das erstemal, daß er einen Reisenden abgefangen hat, um aus ihm Lösegeld zu erpressen, und das ist ihm ja übel genug bekommen. Daß er in Bagnères hinter Schloß und Riegel sitzt, wissen Sie doch?«
Ja, das wußte Nobody, davon war schon vorhin genug gesprochen worden.
Hinter dem Frauenräuber her, den man auf französischem Boden vermutet hatte, waren Soldaten geschickt worden, und mit Leichtigkeit hatte man den Schmuggler auch gefangen, so leicht, daß man seiner Behauptung fast Glauben schenken konnte, er habe sich freiwillig stellen wollen, um eben zu versichern, daß sich die Dame und das Geld gar nicht mehr in seinem Besitze befänden, daß ihm beides ein größerer Räuber, Don Juan, abgenommen habe.
Jetzt hätten andere Fragen näher gelegen als die, welche Nobody zunächst stellte. Aber es war eben Nobody, welcher fragte, der immer sachgemäß vorging und dabei seine eigentümliche Methode hatte.
»Seit wann betreibt Fra Diavolo sein Schmuggelhandwerk?«
»Seit vielleicht zehn Jahren - genau seit elf Jahren.«
»Sie nannten ihn doch einen professionellen Schmuggler.«
»Das ist er auch!«
»Und seine Genossen?«
»Ja, das ist es eben. Ich merke, daß Sie gleich den Kern der Sache ergreifen, wovon die anderen Leute da« - der Bärentöter machte eine verächtliche Handbewegung nach den übrigen Tischen - »gar keine Ahnung haben. Die Genossen Fra Diavolos sind Bauern und Hirten, die am Tage ihrem ehrsamen Berufe nachgehen, den Schmuggel nur nächtlicherweile als einträgliches Nebengeschäft betreiben. Aber sie gebrauchen zu diesem gefährlichen Handwerk einen Führer, welcher jeden Schleichweg noch besser kennt als diese geborenen Gebirgsbewohner, die ihre Ziegen auf den höchsten Spitzen weiden lassen - denn ihre Terrainkenntnis ist doch immer nur eine beschränkte - sie brauchen zum gemeinsamen Handeln, soll der nächtliche Gang glücken, will man den Grenzwächtern Widerstand bieten können, ein Kommando, dem sie freiwillig, aber auch unbedingt gehorchen, und so wählt sich jede solche Bande einen Führer, der dann ein professioneller Schmuggler sein muß, der ganz in diesem Berufe aufgeht. Diese hier, die zwischen Bagnères und Viella pascht, oder richtiger über die Maladetta hinweg, steht unter der Führung von Fra Diavolo. Er beordert die geheimen Zusammenkünfte der sonst ehrsamen Bauern und Hirten, sorgt für Schmuggelware, sowie den ganzen Schmuggeltransport, verteilt den Gewinn, den Löwenanteil natürlich für sich in Anspruch nehmend usw. Die Bauern gehen dann wieder in ihre Gehöfte, die Hirten zu ihren Herden, Fra Diavolo zieht sich einstweilen wieder in seine Gebirgsschluchten zurück, bis sein geheimes Zeichen die Helfershelfer abermals um ihn versammelt.«
Aufmerksam hatte Nobody zugehört. Er bekam da nicht gerade etwas Neues zu hören, und doch war es ihm wichtig, dies aus solchem Munde bestätigt zu wissen. Dann aber fehlte ihm noch die Hauptsache.
»Es existieren mehrere solcher Schmugglergemeinschaften?«
»Ganz ausgeschlossen! Gewiß, es gibt an der französisch-spanischen Grenze noch andere Schmugglerbanden, eine ganze Menge - nur nicht aus ein und demselben Gebiet. Eher würde ein Löwe einen Rivalen auf seinem Jagdrevier dulden als ein Schmuggleranführer einen anderen. Und eben deshalb ist es ja ganz ausgeschlossen, daß neben Fra Diavolo, der hier bedingungslos herrscht, noch ein anderer Schmuggler existiert, etwa gar mit einer ganzen, organisierten Bande.«
»Er behauptet dies aber doch selbst.«
Der Bärentöter zuckte die Achseln. Dann lachte er.
»Ja, dieser Fra Diavolo ist eben nicht umsonst in einem Jesuitenkloster erzogen worden. Da hat er seine Pfiffigkeit gelernt. Er ist ein ganz schlauer Fuchs. Um mehr freie Hand zu haben, wenn er einmal erwischt wird, hat er das Märchen in die Welt gesetzt, neben ihm existiere im Gebiet der Maladetta noch ein anderer Schmuggler, der ihm ins Handwerk pfusche, mit dem er auch gar nicht konkurrieren könne; denn jener sei ihm mit seiner geheimnisvollen Bande bedeutend überlegen, und diesem schiebt er immer alle Schuld zu, wenn einmal ein ernstlicher Kampf mit Soldaten stattgefunden hat, wobei Blut geflossen ist.«
»Und dieser andere soll jener Don Juan sein?«
»So ist es. Dieser Name ist dem geheimnisvollen Unbekannten gegeben worden - wie das gekommen ist, weiß ich selbst nicht - vielleicht durch den Gleichklang, weil der Verdächtigte mit Vornamen Johannes heißt, was auf spanisch Juan ist.«
»Also ihr Freund Johannes Graf von Rabenstein!«
»Ja, nur um diesen könnte es sich handeln, d. h., dieser moderne Einsiedler wird von Fra Diavolo als Konkurrent ausgegeben und gilt daher auch allgemein, weil das Publikum nun einmal eine Sensation haben muß, als Schmuggler und Räuber, während mein Freund gar nicht an so etwas denkt, und diese Verdächtigung eines Unschuldigen ist eben die Gemeinheit dabei.«
»Wer ist denn dieser Johannes Graf von Rabenstein?«
Der Bärentöter erzählte.
Sein Vater war ein deutscher Graf aus den Rheinlanden gewesen, der sich auf einer Reise durch die Pyrenäen in die Tochter eines baskischen Bauern verliebt hatte, dessen Besitztum hoch oben auf einer Alm, hier Velita genannt, der Maladetta lag. Zunächst hatte er selbst lange auf der einsamen Alm, die so versteckt lag, daß nur Eingeweihte den Weg zu ihr kannten, gehaust, dann war er mit seiner spanischen Frau und schon einem Kinde in seine Heimat zurückgekehrt.
Wie der deutsche Edelmann und die ungebildete spanische Bäuerin dort mit der Gesellschaft fertig geworden war, wußte der Bärentöter selbst nicht, oder er verweilte doch nicht dabei - kurz, der dieser Ehe entsprungene Sohn Johannes hatte die beste Erziehung erhalten, hatte studiert, bis er vor acht Jahren, damals ein zwanzigjähriger Jüngling, nach dem Tode des Vaters mit seiner Mutter in deren Heimat zurückgekehrt war, die verlassene Almwirtschaft wieder übernehmend.
»Bald darauf starb die Mutter dort oben. Bei dem Sohne machte sich das Blut der Eltern geltend. Auch sein Vater war so ein einsamer Sonderling gewesen, dessen Vorfahren den Namen derer von Rabenstein nicht umsonst bekommen haben werden, auch ihr Stammschloß ist so eine Art von Rabennest, nun kommt noch das Blut der spanischen Baskin dazu, die sich nur im einsamen, unzugänglichen Gebirge wohlfühlt - kurz, Juan haust noch immer dort oben auf seiner Velita, einsam wie ein Einsiedler, oder mehr noch wie ein Hinterwäldler.«
»Wovon lebt er denn dort oben?«
»Nun, von der Almwirtschaft - er hält sich ein paar Kühe und Ziegen - mehr noch aber von der Jagd. Dort oben gibt es noch Bären und Isards, das sind kleine Gemsen, massenhaft.«
»Ganz allein?«
»Nur noch den Gomez hat er bei sich, einen alten Basken.«
»Sonst gar kein Gesinde weiter?«
»Niemanden. Wohl gehören noch mehr Leute dazu, die grüne Velita in der weißen Gletscherwelt hat einen ganz bedeutenden Umfang, aber Juan will eben als Einsiedler leben, hat sich nur auf das Notwendigste beschränkt, um sein Leben zu fristen.«
»Kommt er häufig nach Viella?«
»Im Jahre höchstens einmal, sonst verläßt er seine Velita überhaupt nicht.«
»Was tut er dann in Viella?«
»Er holt sich von der Post die Sachen ab, die er schon im Jahre zuvor sich hat schicken lassen, soweit diese nicht in Viella selbst zu bekommen sind.«
»Was für Sachen sind das?«
»Nun, Papier, Bücher, auch Noten und dergleichen, die er in seiner Einsamkeit nicht vermissen möchte. Es gibt doch auch noch andere Lebensbedürfnisse, die man sich nicht selbst herstellen kann.«
»Sie kennen ihn persönlich?«
»Gewiß doch. Es ist sechs Jahre her, als ich mich auf der Maladetta einmal unrettbar verstiegen hatte. Ich gedachte schon, meinen Qualen durch einen Sprung in die Tiefe ein Ende zu machen, als ich an einer weit entfernten Felswand einen lebenden Punkt bemerkte. Durch mein Fernrohr erkannte ich einen Menschen. Es gelang mir, mich bemerkbar zu machen, und der in Felle gehüllte Mann, der mich nach langer Mühe aus meiner entsetzlichen Lage befreite, war der Einsiedler von der Velita. Er brachte mich nach seiner Behausung, ich bedurfte sehr der Erholung, blieb zwei Wochen bei ihm, da schlossen wir Freundschaft. Es vergeht kein Jahr, daß ich nicht einige Wochen bei ihm verbringe, mit ihm auf die Jagd gehe.«
Nobody schüttelte leise den Kopf. Statt durch diese Erklärungen klarer zu werden, ward es für ihn nur immer unklarer.
»Bleiben wir einmal bei der Hauptsache. Es handelt sich um die Entführung der Mrs. Mojan, nicht minder auch um die halbe Million Francs. Wer ist nun der eigentliche Entführer der Dame?«
»Fra Diavolo; daraus macht er ja gar kein Hehl. Einbruchsdiebstähle und andere Diebereien hat er genug auf dem Kerbholz, aber ein direkter Frauenraub, überhaupt die Gefangennahme eines Fremden, so etwas ist hier zum ersten Male passiert. Fra Diavolo erfuhr eben, daß sich in dem einsamen Viella eine schwerreiche Dame aufhalte, sie machte mit ganz ungenügender Bedeckung einen Ausflug ins Gebirge - das war zu viel für den Schmuggler, dieser Versuchung erlag er. Ich glaube fast, die halbe Million hat ihm die Dame gleich selbst angeboten, auf solch eine ungeheure Summe wird der einfache Schmuggler wohl gar nicht gekommen sein.«
»Nun, und wo ist nun das Geld geblieben, welches schon auf dem Wege von Bagnères nach Viella war?«
»Das hat Fra Diavolo dem Kurier abgenommen, um noch einmal das Lösegeld fordern zu können.«
»Und nun behauptet Fra Diavolo, jener geheimnisvolle Konkurrent habe ihm selbst wiederum die halbe Million abgenommen?«
»Das behauptet er.«
»Und auch noch die Gefangene?«
»Dann auch die noch.«
»Und weshalb behauptet er das?«
»Um sich reinzuwaschen, um die Schuld einem anderen in die Schuhe zu schieben, dem allbekannten großen Unbekannten.«
»Herr, Ihr Wort in Ehren - aber in dieser Behauptung des Schmugglers liegt doch gar keine Logik.«
»Weshalb nicht?«
»Und Sie glauben wirklich nicht, daß dennoch ein zweiter Schmuggler oder Räuber in Betracht kommen könnte?«
»Auf keinen Fall. Ich kenne die Verhältnisse doch ganz genau.«
Nobody zeigte das Telegramm des Badearztes. Der Bärentöter las es, ließ ein verächtliches Zischen hören.
»Dieser Doktor Zochel betet nur dasselbe nach, was in Bagnères und der ganzen Umgebung von den leichtgläubigen und sensationslüsternen Badegästen und von den abergläubischen Gebirgsbewohnern darüber geschwatzt wird.«
»Daß es noch einen zweiten Schmuggler gebe, nicht wahr?«
»Ja, der sogar ebenfalls eine ganze Bande unter sich habe.«
»Also, jener Graf von Rabenstein kann wirklich nicht in Betracht kommen?«
»Meinen Kopf zum Pfande, wenn das nicht der ehrlichste Mensch ist, den Gottes Sonne bescheint!« rief der Bärentöter. »Wenn diese Beschuldigung nicht so lächerlich wäre, würde ich überhaupt jeden, der so etwas nachschwatzt, zur Rechenschaft ziehen.«
»Wieso lächerlich?«
»Wenn Sie die Verhältnisse so kennten, wie ich, würden Sie es gleich selbst einsehen. Bedenken Sie doch nur: dieser Rabenstein haust auf einer Höhe, zu der man erst in gut zwei Tagen hinaufgelangt, und nicht minder schwierig und lang ist der Abstieg. Und nun soll derselbe Mann bald hier, bald dort gesehen worden sein, noch dazu mit einem Dutzend von Begleitern, maskiert, und da seine Schmuggel- und Räuberstreiche ausführen, soll sich auch unter die Gäste von Bagnères mischen, an ihren Gesellschaften und Vergnügungen teilnehmen ...«
»Erlauben Sie, wie ist denn das möglich? Ist Graf von Rabenstein nicht in Bagnères bekannt?«
»Gewiß, und eben deshalb.«
»Nun, dann müßte man ihn doch auch erkennen, wenn er sich als Don Juan in die Gesellschaften mischt.«
»Ah, Sie wissen wohl nicht, daß in diesem Badeörtchen die Maskeraden äußerst beliebt sind?«
Doch, davon hatte Nobody schon gehört, nur im Augenblick nicht daran gedacht. Mindestens zweimal in der Woche während der Saison wurde in dem Badeort ein Maskenball arrangiert.
»Und da will sich Graf Rabenstein als der Räuber Don Juan zu erkennen gegeben haben?«
»Graf Rabenstein natürlich nicht - aber eine andere Maske hat sich für den Räuber Don Juan ausgegeben und seiner Behauptung auch gleich die Tat folgen lassen, da ist mancher Schmuck verschwunden, da mag tatsächlich manche Dame ein galantes Abenteuer erlebt haben. Fragen Sie nur die Herrschaften dort.«
Unter diesen fing denn auch gleich wieder ein Durcheinander an, jedes wollte etwas erzählen. Nobody kümmerte sich vorläufig nicht darum.
»Und wer ist denn diese rätselhafte Maske?« fragte er den Engländer.
»Na, eben kein anderer als Fra Diavolo selbst, der auf diese Weise auf seinen Doppelgänger vorbereitet, ihn gewissermaßen so in die Oeffentlichkeit einführt,« lachte der Bärentöter. »Verstehen Sie denn nun endlich?«
Ja, jetzt begann Nobody zu verstehen. Hier handelte es sich in der Tat um einen ganz merkwürdigen Fall.
»Ist denn die geheimnisvolle Maske niemals gefaßt worden?«
»O, Fra Diavolo ist ein zu schlauer Teufel, der läßt sich nicht so leicht fassen.«
»Aber jetzt hat man ihn doch bekommen.«
»Weshalb nicht? Der sitzt nicht zum ersten Male hinter Schloß und Riegel. Nur schade, daß man ihn niemals lange halten kann. Noch immer ist er vor seiner Aburteilung wieder ausgebrochen. Jedenfalls läßt er sich auch manchmal mit Absicht fangen.«
»Weshalb das?«
»Nun, eben um einmal den Beweis zu liefern, daß Don Juan doch ein anderer sein müsse.«
»Das heißt, dann, wenn Fra Diavolo einmal in Haft sitzt, macht sich Don Juan noch immer bemerkbar?«
»Gewiß, sowohl durch Streiche in den Bergen, als auch dadurch, daß er noch immer die Maskenbälle besucht.«
»Ja, das spricht aber doch eben für die Richtigkeit von Fra Diavolos Behauptung.«
»Durchaus nicht. Dann läßt der schlaue Fuchs einstweilen einen seiner Genossen die Rolle des Don Juans spielen.«
Das Gespräch wurde dadurch unterbrochen, daß der Zug sein Endziel erreicht hatte.
Schon unterwegs, als Nobody mit Mojan durch die eleganten Straßen des von himmelhohen Bergen eingeschlossenen Kurstädtchens schritt, hörte er überall, daß sich Fra Diavolo tatsächlich hinter den Gefängnismauern befand - aber es wurde auch schon darüber debattiert, wie lange das wohl dauern würde, bis man wieder einmal das Nachsehen habe.
»Den müssen wir dann sofort aufsuchen,« sagte Nobody zu Mojan, »das ist ja eine ganz mysteriöse Affäre; solch eine Unklarheit in einem eigentlich ganz bekannten Fall ist mir noch gar nicht vorgekommen - erst aber wollen wir einmal Doktor Zochel einen Besuch abstatten.«
»Aber die Hauptsache ist doch, daß ich meine Therese wiederbekomme, und bei dem Badearzte finden wir sie nicht,« sagte Cerberus Mojan in klagendem Tone.
»Das wohl schwerlich; wir müssen indes Schritt für Schritt vorgehen, um keinen Fehler zu machen, durch den wir erst recht Zeit versäumen.«
Doktor Zochel, ein Deutschschweizer, befand sich in seiner Wohnung und war zu sprechen, empfing die beiden Herren, zeigte für den ihm schon bekannten Mojan ebensoviel Teilnahme, wie man für das dicke Männchen auf dem Wege hierher Neugier gehabt hatte.
Auch hier wurde Nobody als Mojans Sekretär vorgestellt, der sich aber auch gleich als amerikanischer Detektiv zu erkennen gab, der in Spanien und auch in den Pyrenäen gut Bescheid wisse.
»Sie also, Herr Doktor, glauben an die Existenz eines zweiten Räubers oder Schmugglers namens Don Juan?« fragte Nobody, nachdem jener noch einmal die einzelnen Vorgänge geschildert hatte, wie man sie durch Hörensagen und zuletzt aus Fra Diavolos eigenem Munde erfahren.
»Ja, wer glaubt denn nicht an die Existenz dieses Don Juans?!« staunte der Arzt.
»Ich sprach einen Herrn, dessen Bekanntschaft wir in der Eisenbahn machten, einen Mr. Geodfroy ...«
»Ah, den Bärentöter!« rief der Arzt. »Ja der freilich! Das ist der einzige, welcher partout behauptet, daß Fra Diavolo und Don Juan ein und dieselbe Person seien, daß Fra Diavolo nur einen anderen vorschiebe, um hinter dessen Deckmantel seine Streiche auszuführen.«
»Sonst glaubt kein anderer Mensch an diese Doppelgängerei?«
»Niemand, und das ist auch ganz ausgeschlossen.«
»Womit motiviert Mr. Geodfroy diese Behauptung?«
»Er hält für ausgeschlossen, daß auf ein und demselben Gebiet zwei Schmuggler nebeneinander existieren könnten, und ... da hat er ja allerdings recht. Aber man braucht ja nur anzunehmen, daß die beiden unter einer Decke stecken, so ist alles ganz einfach erklärt.«
»Kann der auf der Velita der Maladetta hausende Einsiedler als der zweite, geheimnisvolle Bandit in Betracht kommen?«
Aufmerksam, wohl auch etwas mißtrauisch blickte der Arzt den Frager an.
»Herr, wie kommen Sie auf diese Vermutung?«
»In dem Speisewagen des Zuges wurde viel darüber gesprochen, daß dem so sei, während Mr. Geodfroy hiervon durchaus nichts wissen wollte, sogar warm für die Ehrenhaftigkeit dieses Grafen von Rabenstein eintrat, den er seinen Freund nannte.«
»Herr, es ist die allgemeine Ansicht, die Sie da gehört haben,« entgegnete Doktor Zochel nach einigem Zögern. »Sehen Sie, irgendein Mensch muß dieser zweite Schmuggler, dem man den Namen Don Juan gegeben hat, doch sein, und nun kann sich das hiesige Volk und noch schwerer diese verwöhnten Herrschaften, die hierher zur Kur kommen, nicht zusammenreimen, wie ein junger, gebildeter, jedenfalls auch begüterter Mann dort oben so einsam und entsagungsvoll haust, dabei muß doch irgendein Geheimnis sein, und bei dem maskierten Don Juan ist erst recht ein Geheimnis - da hat man die beiden eben zusammengebracht, und ich ...«
Achselzuckend und wie bedauernd, schon zu viel gesagt zu haben, brach der Arzt ab.
»Auch Sie sind der Ansicht, daß dieser deutsche Einsiedler wirklich der geheimnisvolle Bandit ist, nicht wahr?«
»Herr, ich will nichts gesagt haben!«
»Bitte, sprechen Sie sich doch offen aus. Es handelt sich um die Befreiung der Gattin dieses Herrn, und da ihr Aufenthalt noch unbekannt ist, müssen wir die Gefangene doch irgendwo im Gebirge suchen.«
»Nein, ich selbst kann kaum glauben, daß dieser Graf von Rabenstein und Don Juan ein und dieselbe Person sind,« lautete dann Doktor Zochels Entgegnung, sehr zur Verwunderung Nobodys, der das Gegenteil erwartet hatte.
»Kennen Sie Graf von Rabenstein persönlich?«
»Sogar sehr gut. Ich bin wohl der einzige, mit dem er in Bagnères, wenn er alljährlich hierherunterkommt, verkehrt. Denn Mr. Geodfroy gehört ja nicht zu uns, kaum zur menschlichen Gesellschaft, dessen Heimat ist ausschließlich das Gebirge. Ich bin nämlich des Grafen Geschäftsvermittler, wenn ich mich so ausdrücken darf, er ist ja ein gebildeter Mann, hat studiert, läßt sich Bücher besorgen, und hierin leiste ich ihm einige Dienste.«
»Und was für einen Eindruck macht er auf Sie?«
»Einen äußerst vorteilhaften. Allerdings spreche ich da als ein Mann, der eigentlich seinen Beruf verfehlt hat. Ich eigne mich nämlich gar nicht so recht zum Badearzt, der so ein halber Vergnügungskommissar und ein ganzer Salonlöwe sein muß. Bin ich das auch mit der Zeit geworden, so ist das doch nicht mein eigentlicher Charakter. Graf Johannes von Rabenstein also, ein noch junger Mann, ist ein stiller, bescheidener Mensch, der, wie man auf deutsch zu sagen pflegt, nicht bis drei zählen kann, in jeder Gesellschaft, auch nur in Gegenwart meiner Frau und selbst meiner halbwüchsigen Tochter, wie auf den Mund geschlagen, und das ist keine Verstellung, er mag schon immer ein schüchterner Charakter gewesen sein, und nun die absolute Einsamkeit dort oben, und im Gegensatz dazu das elegante, höfische Auftreten dieses Don Juans - gar kein Gedanke daran, daß die beiden ein und dieselbe Person sein könnten.«
»So kennen Sie auch diesen Don Juan selbst?«
»Ja, vom Maskenball her, unter der Maske.«
Doktor Zochel erzählte diese mehrfache Begegnung, wie da also auch er einen maskierten Mann kennen gelernt hatte, der sich ihm dann mit einigem Spott als der berühmte Don Juan vorgestellt hatte.
Wie dies geschah, mehrmals, brauchen wir jetzt nicht wiederzugeben, da Nobody es noch aus eigener Anschauung kennen lernen sollte.
»... sehen Sie doch nach, ob Sie Ihre Uhr noch haben, sagte er, schon in einiger Entfernung von mir - ich schnell hingegriffen - wahrhaftig, da ist meine goldene Uhr verschwunden, samt Kette - und der edle Räuber hatte sich bereits in dem allgemeinen Gedränge der Masken unsichtbar gemacht. Ja, nun mußte ich wohl glauben, daß ich wirklich so einen Strauchdieb vor mir gehabt hatte.«
Immer mehr bekam Nobody zu erfahren.
»Unerhört!« konnte er nur sagen. »Nun, und was weiter?«
»Ja, was nun weiter? Die Maske, ein Toreador, ein Stierkämpfer, war eben verschwunden. Aber um meine Uhr brauchte ich nicht bange zu sein - und richtig, als ich zu Hause kam, lag sie bereits in meinem Schlafzimmer auf dem Nachttisch.«
»Nanu!« staunte Nobody. »Wie kam die denn dorthin?«
»Nun, dieser sogenannte Don Juan hatte sie eben hingelegt.«
Diese Sache ward ja immer geheimnisvoller, und Nobody hatte auch gleich etwas herausgehört.
»Mir scheint, daß Don Juan, obgleich ein Taschendieb, immer so edelmütig ist und die gestohlenen Sachen wieder zurückgibt.«
»Wenigstens tut er das meistenteils bei solchen Kleinigkeiten wie bei einer goldenen Uhr. Gestohlen hat er auf solchen Maskenbällen schon genug; aber ich glaube, es gibt keine Dame und keinen Herrn, die sich beschweren könnten, das Gestohlene nicht zurückerhalten zu haben, und immer auf solch geheimnisvolle, rätselhafte Weise, die sich durchaus niemand erklären kann.«
»Weshalb nicht?«
»Bei mir lag doch ebensolch ein Fall vor. Haustür geschlossen, sämtliche Fenster von innen verriegelt, und dennoch lag die Uhr bereits in meinem Schlafzimmer. Völlig unerklärlich, wie der Dieb da hineingelangt ist. Auch Dienstpersonal war im Hause; aber nicht etwa, daß ich irgend jemandem eine Mittäterschaft zutraue. Und das macht Don Juan immer so. Ein maskierter Herr poussiert eine Dame; nach dem Schäferstündchen gesteht er ihr ganz offen, daß er ihr die Brosche oder ein Armband oder sonst etwas gestohlen hat, daß er nämlich der berüchtigte Don Juan ist - und ob die Dame von diesem Abenteuer nun entzückt ist oder nicht - der Verlust ihres Schmuckes oder der Börse bestürzt sie doch tief - und wenn sie nach Hause kommt, findet sie das Vermißte in ihrem Bett oder sonstwo. Es ist kein Zweifel, daß hier zwischen diesen Badegästen viele Geschichten erzählt werden, die erfunden oder doch übertrieben sind; aber auch ich kann genug beglaubigte Tatsachen berichten, und das mit der Uhr ist mir ja selbst passiert.«
»Unerhört!!« wiederholte Nobody, während Mojan einmal seinen Rachen aufriß. »Ist es denn der Polizei nicht möglich, diesen rätselhaften Burschen einmal abzufassen?«
»Wir haben sogar eine ausgezeichnete Polizei hier, tüchtige Kräfte sind darunter; aber bei diesem verwegenen Taschendiebe ist alles vergeblich, er entschwindet jeder ausgestreckten Hand, die ihn schon gepackt glaubt, wie ein Schatten.«
»Hat es noch kein Detektiv probiert?«
»Staatliche sowohl als private, immer vergebens. Erst im vorigen Jahre war ein Herr hier, welcher sich drei Monate abmühte, das Rätsel zu lösen, wer dieser Don Juan eigentlich ist, und ich bin fest überzeugt, daß dies kein anderer als der berühmte Detektiv Nobody gewesen ist.«
Unser Nobody mußte natürlich ein Lächeln unterdrücken.
»Was Sie nicht sagen!« stellte er sich erstaunt. »Woher wissen Sie das? Gab er sich zuletzt als Nobody zu erkennen?«
»Das allerdings nicht, und als man es ihm auf den Kopf zusagte, er sei sicher Nobody, der englische Champion-Detektiv Sir Willcox, stellte er es entschieden in Abrede.«
»Woraus schlossen Sie sonst, daß es Nobody gewesen sei?«
»Nun, die Zeitungen berichteten damals gerade, daß sich Nobody zur Ergründung eines nichtgenannten Falles nach den Pyrenäen begeben habe, dann wurden auch verschiedene Bilder von ihm gebracht - hier habe ich übrigens eines noch gerade bei der Hand ...«
Doktor Zochel brachte aus einem Schubfache des Schreibtisches eine Zeitung zum Vorschein, die einen Holzschnitt enthielt, einen jungen Mann darstellend.
Die Aehnlichkeit des echten Nobody mit diesem hier bestand darin, daß beide einen Mund, auf jeder Seite ein Ohr, zwei Augen und dazwischen einen Gesichtsvorsprung hatten.
»Das ist Nobody?«
»Gewiß, hier steht's drunter! Und das ist die Photographie des Mannes gewesen, der uns damals besuchte. Jawohl, das war kein anderer als der berühmte Nobody!«
»Und auch ihm ist's nicht gelungen, das Rätsel zu lösen?«
»Wie ich sagte.«
»Wie weit ist er denn gekommen?«
»Nun, einmal hätte er auf dem Maskenball, als jemand gerade die Hand in seiner Tasche hatte, ihn fast gepackt; aber er griff etwas zu spät zu, die Maske, die sich richtig wieder als Don Juan zu erkennen gegeben hatte, war schon mit dem Portemonnaie verschwunden.«
Es ist begreiflich, daß sich Nobody wiederum tüchtig anstrengen mußte, um seinen Ernst zu wahren. Mojan verstand zum Glück diese Kunst ebenfalls.
»Und hat er das Portemonnaie wiederbekommen?«
»Nein, diesmal behielt es der Taschendieb für sich selber.«
»Nun,« mußte Nobody jetzt doch lächeln, »ich hoffe, daß es mir nicht ebenso geht.«
»Wenn Sie sich ernstlich darum bemühen wollen, diese böse Sache endlich aufzuklären, so wünsche ich Ihnen alles Glück. Aber wegen des Einsiedlers dort oben auf der Maladetta brauchen Sie sich gar nicht erst in Todesgefahr zu bringen, der ist es nämlich ganz sicher nicht. Auch Nobody hätte deshalb bald sein Leben eingebüßt!«
»Wie kam das?«
»Auch er war auf die Vermutung gekommen, oder schenkte vielmehr der allgemeinen Ansicht, die ich aber nicht teile, daß jener Graf Rabenstein sich hinter der Maske des Räubers verstecke, Glauben oder doch Aufmerksamkeit, wollte ihn in seiner Höhe aufsuchen, machte sich in Begleitung zweier Bergführer auf den Weg, ausgerüstet mit allem, was zu einer tagelangen Gletscherpartie gehört ...«
»Wie? Ist denn der Weg nach dort oben so gefährlich? Selbst mit Ueberwindung von Gletschern muß man rechnen?«
»Na und ob!« lachte der Arzt. »Was meinen Sie wohl, die Maladetta! Einen eigentlichen Weg nach jener Velita gibt es überhaupt nicht, keinen ständigen; den Sie dieses Jahr gefunden haben, können Sie nächstes Jahr nicht mehr benutzen, schon nach einer Woche, schon morgen können Sie den Pfad, den Sie heute durch Einhauen von Stufen geschaffen haben, nicht mehr wiederfinden, indem eben nur Gletscher und vereiste Flächen in Betracht kommen, die sich ständig verschieben und verändern. Wissen Sie das noch nicht?«
»Nein, ich habe die Maladetta noch nie bestiegen, bin überhaupt noch nie in dieser Gegend gewesen.«
»Na, da kommen Sie nur erst einmal hin! Umsonst hat dieser Berg doch nicht den Namen Maladetta, das ist die Verfluchte, bekommen. Dann haben Sie wohl auch noch nicht von dem Maladetta-Gespenst gehört?«
Das war zwar der Fall, aber Nobody verneinte. Der Arzt gab eine Erklärung: ein Gespenst, ähnlich dem unseres Brockens, ein Berggeist, der sich dem Wanderer zeigt, ihm gangbare Wege vorgaukelt, bis jener weder aus noch ein weiß und auf einer Klippe, die er nicht wieder verlassen kann, verhungern oder erfrieren muß, wenn ihn das Gespenst nicht schon vorher in eine Gletscherspalte gelockt hat.
»Auch Nobody will es damals gesehen haben. Es wird ganz verschieden beschrieben, bald riesenhaft, als alter Mann, bald ein zwerghaftes Weibchen, jung und schön - Nobody erzählte von einer undeutlichen, zitternden Gestalt, die immer vor ihnen hergeschwebt sei - die Hauptsache aber seien Schalmeientöne gewesen, die sie irregeführt hätten - kurz, der eine Führer verunglückte bei dieser Partie tödlich, der andere erfror beide Ohren und Nobody seine linke Hand, und das zu einer Zeit, als hier unten bei uns dreißig Grad Hitze herrschten.«
Daß Nobody seine linke Hand erfroren hatte, wußte er selbst noch nicht.
»Hat er denn die Velita wenigstens erreicht?«
»Jawohl, aber nur, weil sie zufällig vom Bärentöter gefunden wurden, ohne den sie überhaupt nicht lebend davongekommen wären. Mr. Geodfroy befreite sie aus der Falle, aus der sie nicht wieder heraus konnten, brachte sie nach der Velita und auch wieder zurück.«
In diesem Augenblick bekam Nobody von Mojans Faust einen Puff hinten in die Rippen. Doch Nobody würdigte seinen Begleiter keines Blickes.
»Und was fand er dort oben?« fragte er den Arzt weiter.
»Jedenfalls lernte er den Grafen kennen und mußte sich überzeugen, daß dieser schüchterne Einsiedler durchaus keine Aehnlichkeit mit einem verwegenen Räuber hat, der im Scherz auch zum Taschendieb werden kann, nur gewissermaßen um Liebesverhältnisse anzubändeln.«
Nur noch kurze Zeit, dann verließen die beiden den Arzt, um sich nach dem Gefängnis zu begeben. Es konnte für den Gatten der entführten Dame keine Schwierigkeiten haben, den Gefangenen zu sprechen.
»Hören Sie,« begann Nobody unterwegs zu seinem dicken Begleiter, »was fiel Ihnen eigentlich ein, mich vorhin so in den Rücken zu boxen?«
»Ja, haben Sie bei der Erzählung des Arztes gar keinen Verdacht geschöpft?«
»Nein, welchen?«
»Ob nicht dieser Mr. Geodfroy selbst mit dem ...«
Ein warnendes Zischen von Nobodys Lippen kommend, unterbrach den Sprecher schnell.
Sie passierten eben eine schmale Nebenstraße des Gebirgsstädtchens, als aus dieser heraus die hohe Gestalt des Bärentöters kam, jetzt seinem Namen viel mehr Ehre machend, er glich mehr einem Hinterwäldler. Trotz der hier unten herrschenden Wärme war er ganz in Pelz gekleidet, wobei der des Bären die Hauptrolle spielte, selbst die Stiefel schienen aus dem Fell des Bären zu bestehen, und eine mächtige Büchse, Bergstock, Leine und über der Schulter hängende Bergeisen, unter die Füße zu schnallen, vervollständigten das abstrapazierte Kostüm.
»Hallo, wohin?« rief er. »Ich habe schon Erkundigungen eingezogen, wo ich Sie finden kann. Sie waren vorhin so schnell verschwunden.«
»Wir wollten Fra Diavolo in seiner Gefangenschaft aufsuchen.«
»Ich komme eben von ihm. Hatte schon lange nicht mehr die Ehre, den Burschen zu sehen, und ihn als Gefangenen zu bewundern, ist überhaupt eine Seltenheit, die man nicht vorübergehen lassen darf. Was wollen Sie bei dem?«
Es war eine recht brüske Frage gewesen. Doch Nobody blieb höflich.
»Nun, wir haben doch allen Grund, diesen Mann persönlich zu sehen, der uns alles erzählen kann.«
»Natürlich, natürlich. Nur werden Sie alles andere als die Wahrheit zu hören bekommen. Der Anfang der ganzen Geschichte mag wohl stimmen, wie er selbst Ihre Gattin überfallen oder entführt hat, aber sobald er dann von seinem Rivalen Don Juan beginnt, verirrt er sich auf das Gebiet des Märchens.«
»Darauf sind wir ja nun schon vorbereitet.«
»Wohlan denn. Und wo kann ich die Herren dann wiedersehen?«
»Wo Sie bestimmen.«
»Wie gedenken Sie zur Befreiung der Dame vorzugehen?«
»Das wissen wir noch gar nicht.«
»Wie ich Ihnen schon im Zuge sagte, stelle ich mich Ihnen ganz zur Verfügung, in den Dienst einer guten Sache, und ich versichere Sie, daß ich Ihnen ein besserer Führer im Gebirge bin, als Sie hier irgendwo auftreiben können; überdies wissen Sie doch niemals dabei, ob diese Männer nicht mit dem Schmuggler, ob er nun Fra Diavolo oder Don Juan heißt, unter einer Decke steckt. Ebenso können Sie auch behördlicherseits absolut keine Unterstützung finden, nur Hindernisse. Die Soldaten und Gendarmen, die man Ihnen zur Verfügung stellen würde, mögen wohl geborene Gebirgsbewohner gewesen sein, sind aber in diesem Badeort mit der Zeit zu entnervten Schwächlingen geworden. Wollen Sie mein Anerbieten annehmen, daß ich Ihnen als Führer diene?«
Nobody blickte den bärtigen Mann an. Er machte auf ihn einen durchaus ehrlichen, offenen Eindruck, und Nobody glaubte doch, jedem Menschen bis ins Herz blicken zu können, wollte sich in solch einer Beurteilung noch nie geirrt haben.
»Selbstverständlich nehmen wir Ihr Anerbieten mit größtem Danke an.«
»Gut. Sie bedürfen natürlich einiger Vorbereitungen, und Mister Mojan ist etwas korpulent ...«
Auf diesen zweifelnden Blick hin reckte Mojan seinen Schmerbauch heraus und versicherte, jeder Strapaze gewachsen zu sein, er habe schon die Jungfrau und andere Gebirgsriesen bestiegen, und handele es sich doch auch um die Befreiung seiner treuen Gattin.
»Nun, so begeben Sie sich nach dem Gefängnis. Sie werden von Fra Diavolo nichts anderes zu hören bekommen, als was er auch mir berichtete, was ich Ihnen also wiederholen könnte, aber sie wollen den Mann eben selbst sprechen, was ich Ihnen nicht verdenken kann.«
Sie machten ein Hotel aus, in dem sie sich treffen wollten, und verabschiedeten sich vorläufig.
Die beiden waren wieder allein auf der wenig belebten Straße.
»Mein Argwohn bestätigt sich immer mehr,« begann Mojan abermals, »daß dieser Engländer mit einem oder dem anderen Banditen unter einer Decke steckt.«
Nobody konnte dem nicht widersprechen. Wenn nicht das Aeußere, so mußte doch dieses Mannes fortwährende Versicherung, daß es gar keinen Don Juan gebe, solch einen Argwohn erregen, während alle anderen, die doch auch mitsprechen konnten, gerade das Gegenteil behaupteten.
»Wissen Sie,« fuhr Mojan fort, »mir kommt es vor, als wolle Mr. Geodfroy den Spieß umkehren, als wolle er gerade dem Fra Diavolo alle Schuld zuschieben, die der Don Juan auf dem Gewissen hat, und diesen selbst wolle er weißwaschen.«
»Mister Mojan,« entgegnete Nobody, »wir wollen uns lieber nicht mit Vermutungen abgeben, sondern selbständig beobachten und danach urteilen.«
»Und sollen wir uns diesem Bärentöter als Führer anvertrauen?«
»Das müssen wir unbedingt.«
»Weshalb unbedingt? Er könnte das Maladetta-Gespenst spielen und uns in einer Gletscherspalte verschwinden lassen.«
»Nein, eines Mordes oder eines anderen Verbrechens halte ich diesen Mann nicht für fähig, und hat er uns etwas zu verheimlichen, will er uns irreführen oder sonst von einer Spur abbringen, so kann ich dies gerade bei solch einer Gelegenheit am besten beobachten.«
Sie hatten das Gefängnis erreicht. Von dieser Straßenseite aus sah es recht harmlos aus, doch man mußte wissen, daß die Haftzellen nach einer Schlucht hinausgingen, welche jede Entweichung zur Unmöglichkeit machte.
Die beiden Herren wurden vom Anstaltsdirektor empfangen. Mojan mußte noch einmal alle Wenn und Aber der ganzen Angelegenheit über sich ergehen lassen. Dann begleitete der Direktor die beiden zu dem Untersuchungsgefangenen.
Auf dem Wege dorthin sah Nobody alle getroffenen Vorsichtsmaßregeln, der Direktor erläuterte sie ihm noch.
Der Hinterteil des Gebäudes, in dem die Gefangenen untergebracht, war von dem vorderen völlig getrennt, nur eine schmale, äußerst starke Gittertür mit dreifacher Sicherheit ermöglichte den Verkehr, und durch das Fenster einer leeren Zelle ließ der Direktor die beiden Herren in die Schlucht hinabsehen, und es gehörte ein schwindelfreies Auge dazu, um diesen Anblick ertragen zu können.
»Es wäre gar nicht nötig, daß die Fenster vergittert sind,« erklärte der Direktor, »hier hinab reicht kein Seil.«
»Weshalb denn nicht?« meinte Mojan in seiner naiven Weise. »Jedes Seil kann doch beliebig lang gemacht werden.«
»Das wohl,« lächelte der Direktor, »aber was meinen Sie wohl, was für ein mächtiges Bündel das sein müßte, welches der Gefangene in seiner Zelle zu verstecken hätte!«
Da hatte der Mann allerdings recht.
»Und außerdem,« fuhr er fort, »befände er sich dann erst in der Schlucht, aus der er doch wieder heraus müßte.«
»Besitzt diese keinen Ausgang? Ist das kein Tal?« fragte Nobody.
»Es ist eine unwegsame Schlucht, und daß hier ein Aus- oder Abstieg unmöglich ist, das sehen Sie wohl selbst.«
In der Tat, es war eine fürchterliche Schlucht. Sie war nach den Seiten hin nicht völlig zu überblicken, daran hinderte das Gitter des Fensters. Auf der anderen Seite stieg himmelhoch eine Felswand empor, wirklich bis in den Himmel, ihr Ende war von hier gar nicht zu sehen. Sie gehörte noch zur Maladetta, und so sollte die Schlucht auch auf allen Seiten begrenzt sein.
»Ist denn die Schlucht schon untersucht worden?« fragte Nobody.
»Nein, dahinab ist noch kein Mensch gekommen - wenigstens nicht lebendig. Aber auch der Wagemutigste hat noch nicht versucht, hinabzudringen. Wenn man dort links steht, sieht man diese Unmöglichkeit auch gleich ein. Es sind wohl Menschen versehentlich hinabgestürzt, Nachtschwärmer, wenigstens früher, bis diese gefährliche Stelle vermauert wurde.«
Plötzlich wurde Nobody, wie er so in die Schlucht hinabblickte, von einer Unruhe befallen. Denn wir wissen, was für eine merkwürdige Vorliebe dieser Mann von Jugend auf für alles besaß, was nur eine Aehnlichkeit mit einem Loche hatte, gleichgültig, ob er nur seinen Kopf hineinquetschen oder gar nur seinen Arm hineinstecken konnte, oder ob es sich um eine ganze Gebirgsschlucht handelte, in der einige Kirchen Platz fanden. Das Gebirge selbst ließ Nobody kalt, ein Bergfex war er nie gewesen, hatte nie seine Ehre darein gesetzt, einen noch unerstiegenen Berg zu erklimmen - aber wenn er so eine Schlucht sah, und er hörte, dahinein sei noch kein Mensch gekommen, so erfaßte ihn stets ein geheimnisvoller, unwiderstehlicher Drang, dorthinab zu gelangen.
Doch vorläufig mußte er sich beherrschen, hatte an anderes zu denken, wenn diese Schlucht auch immer noch im Kreise seiner jetzigen Interessen lag.
»Aber Fra Diavolo soll doch schon mehrmals gefangengenommen worden und stets wieder entsprungen sein.«
»Franzesco Diaz meinen Sie,« korrigierte der Direktor, der diesen Heldennamen nicht gelten lassen wollte. »Ja, aber nur nicht von hier. Entweder er war in einem spanischen Städtchen interniert, aus dessen Gefängnis, wenn nicht Spritzenhaus, ihm die Flucht stets gelang, oder er entsprang auf dem Transport, und das könnte vielleicht wiederum geschehen. Denn er ist spanischer Untertan, wir können ihn hier nicht aburteilen, er muß über die Grenze transportiert werden, oder von unseren Soldaten doch bis zur Grenze, wo er von spanischer Gendarmerie in Empfang genommen wird, und hierbei findet er vielleicht wieder Gelegenheit zur Flucht. Nur von hier aus ist sie ihm unmöglich.«
Sie betraten die Zelle des berüchtigten, wenn nicht berühmten Schmugglers.
Es war ein schlanker, sehniger Bursche, dessen spanischem Gesicht das langjährige Handwerk den Stempel des verwegenen Schmugglers und Räubers ein für allemal aufgedrückt hatte.
Er war mit schweren Ketten an die Wand gefesselt, konnte sich nur eben ausgestreckt auf den Boden niederlegen und zum Sitzen aufrichten.
Gleichgültig waren die schwarzen Augen auf die Eintretenden geheftet gewesen, mit einem Male aber loderten sie auf, Nobody erkannte in ihnen ganz deutlich einen Schreck.
Was sollte das? Wer von ihnen konnte dem Banditen einen Schreck einflößen? Was für ein Wiedererkennen fand hier statt?
Es sollte sich gleich aufklären, und wenn hier keine Verstellung vorlag, was Nobody bezweifelte, so stellte dieser Schreck dem Banditen ein sehr gutes Zeugnis aus.
»Bei der heiligen Madonna und bei meinem Schutzpatron, dem heiligen Sebastian!« rief er sofort. »Ich habe deine Frau ehrlich nach Viella abliefern wollen!«
Diese Worte konnten nur an Mojan gerichtet gewesen sein.
»Wie? Kennen Sie mich denn?«
»Ich kenne dich.«
»Woher denn?«
»Du wohntest doch in Viella, die runde Frau war doch dein Weib!«
Ach so, dieser Schmuggler, der bei der einheimischen Bevölkerung überall Schutz fand, hatte vorher natürlich spioniert und also auch das dicke Ehepaar schon in Viella beobachtet.
Deswegen befragt, gestand er es auch zu.
»Wie geschah der Ueberfall?«
Der Räuber erzählte es ohne Umschweife. Wir haben dem nichts mehr hinzuzufügen. Die vier Begleiter hatten beim Anblick der Räuber eben sofort die Flucht ergriffen.
»Wohin hattest du die Dame gebracht?«
»In ein Versteck, in eine Höhle, und wir haben sie wie eine Prinzessin mit aller Hochachtung behandelt.«
Dann schilderte Fra Diavolo auf Befragen weiter, wie er selbst mit seiner Bande, die Dame nach Viella eskortierend, von maskierten Wegelagerern überfallen worden sei. Ueber die Zahl derselben herrschte die größte Unklarheit. Schon der Kurier, der bei dem Geldtransport überfallen worden war, hatte von einem Dutzend gesprochen, andere hatten daraus viele Dutzend gemacht.
Diese Spanier wollten ihre Niederlage eben mit der Ueberzahl der Feinde beschönigen. Dieser hier gab zu, daß es höchstens sechs gewesen seien, die aber ausgezeichnet bewaffnet waren, auch in einem Hinterhalte gelegen hatten, und hätten Fra Diavolo und seine Begleiter nicht die Flucht ergriffen, so wären sie eben samt und sonders niedergeschossen worden.
So waren nur zwei von ihnen geblieben, tot oder verwundet, ihr Schicksal kannte man ja gar nicht. Don Juans Genossen hatten sie beseitigt, spurlos verschwinden lassen, tot oder lebendig.
»Beim heiligen Sebastian, ich habe die Dame wirklich nach Viella bringen wollen, obgleich mir das Lösegeld entgangen war.«
»Ich glaube dir,« entgegnete Nobody. »Doch jetzt laß mich erst noch einige andere Fragen stellen.«
»Frage, ich werde dir antworten - wenn nur diese Ausgeburt der Hölle unschädlich gemacht wird!« knirschte der Gefesselte mit den Zähnen.
»Also zwei Mann von dir blieben bei diesem Scharmützel zurück?«
»Zwei Mann. Der ... ich kann keine Namen nennen.«
»Hast du schon mehrmals Kämpfe mit diesem Don Juan und seiner Bande zu bestehen gehabt?«
Ja, bereits zweimal. Einmal waren die beiden Banden nächtlicherweile auf Schleichwegen zusammengetroffen, das andere Mal am hellichten Tage. Der geheime Ort, den Fra Diavolo zum Rendezvous für seine Genossen, die sonst also Hirten und Bauern waren, bestimmt hatte, war schon von jenen anderen besetzt gewesen, und wiederum war es zum Kugelwechsel gekommen, wiederum zum Nachteil von Fra Diavolos Leuten.
»Hatten die anderen keine Toten oder Verwundeten?«
»Das wohl, aber wir mußten weichen, sie sind viel besser bewaffnet als wir.«
»Inwiefern besser bewaffnet?«
Wie Nobody erst durch Fragen herausbringen mußte, besaßen jene moderne Hinterlader, während sich Fra Diavolos Leute nicht von den alten spanischen, sich vorn trichterförmig erweiternden Donnerbüchsen trennen konnten.
»Wie sind jene Leute gekleidet?«
»Sonst genau so wie wir.«
»Sie tragen Masken?«
»Stets.«
»Habt ihr denn bei den Scharmützeln niemals einen tödlich getroffen?«
»Das wohl sicherlich.«
»Aber niemals ist euch ein Toter oder Verwundeter in die Hände gefallen?«
»Niemals.«
»Nun, Franzesco Diaz, für wen hältst du nun diesen Don Juan?«
»Don Juan?« zischte der Gefangene. »Mögen ihn diese Herrschaften so nennen - für mich ist er der Magnolo von der Maladetta!«
Magnolo - im Spanischen so eine Art Popanz, oder ein Zauberer, ein Hexenmeister.
»Du meinst, er ist ein böser Zauberer?«
»Das ist er.«
»Und wer soll dieser Magnolo sonst sein?«
»Wer anders als Juan di Maladetta?!« stieß der Gefangene hervor. »Warum lebt er denn dort oben so allein? Warum fürchtet er die Menschen? Warum geht er jedem aus dem Wege? Warum ...?«
Und Fra Diavolo brachte noch andere Beschuldigungen vor nach seiner spanisch-naiven Ansicht, warum jener deutsche Einsiedler dort oben unbedingt ein böser Zauberer sein müsse. Der nicht geringste Grund für diesen Verdacht war der, daß er ja auch immer von weither Bücher bekam - für einen Gebirgsspanier aus dieser Gegend schon etwas Unbegreifliches, etwas ganz Verdächtiges. Wenn der Arzt Bücher brauchte, wenn hier im Badeort die Herrschaften, die Eingeborenen in Büchern lasen, so war das etwas ganz anderes, aber wozu brauchte der dort oben auf der einsamen Farm an der Grenze des ewigen Schnees solche gelehrte Bücher? Doch nur zu bösen Zwecken.
»Hast du den Juan di Maladetta schon gesehen?«
»Gewiß, schon oft.«
»Wo denn?«
»Hier unten, oder auf dem Wege, wenn er sich seine Bücher holt.«
»Weißt du, wie dieser Mann eigentlich heißt?« wollte sich Nobody noch einmal vergewissern, ob jener auch den richtigen meinte, daß er nicht etwa von einem anderen sprach, denn diesen Eindruck gewann Nobody jetzt fast.
»Er ist ein deutscher Edelmann und heißt Johannes von Rabenstein,« entgegnete aber der Räuber, den fremden Namen mit schwerer Zunge aussprechend.
»Und das soll derselbe sein, welcher dir sonst als Don Juan Konkurrenz macht?«
»Er ist derselbe, wenn er auch sonst ein ganz anderer ist!« versicherte Franzesco.
Es stellte sich durch weitere Fragen heraus, daß auch dieser Mann recht wohl wußte, wie jener Einsiedler sonst ein außerordentlich stiller, schüchterner Mensch sei.
Aber das war nur Verstellung - oder auch nicht - hier handelte es sich eben um eine Art von Werwolf, nur daß er immer seine menschliche Gestalt beibehielt. Von Zeit zu Zeit verwandelte sich der schüchterne junge Mensch in einen dreisten Räuber und Frauenverführer, der sogar mit Vorliebe jungen Mädchen das Blut aussaugte, und Nobody hätte stundenlang zuhören können, was für Geschichten Franzesco darüber zu erzählen wußte. Sogar Leichen scharrte er aus, um sie aufzufressen.
Doch Nobody hatte keine Lust, sich solchen spanischen Aberglauben auftischen zu lassen, dagegen zeigte jetzt Mr. Mojan reges Interesse.
»Was? Jungen Mädchen saugt er das Blut aus?« fragte er.
Franzesco erzählte schnell einige verbürgte Beispiele davon.
»Und - und - was wird er mit meiner Frau machen?« stotterte Mojan.
»Die hat er nur geraubt, um sich ebenfalls an ihrem Fleische zu ergötzen.«
Unterdessen überlegte Nobody. Er wurde nicht klar darüber, wer hier alles zusammen unter einer Decke steckte. Immer mehr bekam er über diesen Don Juan zu hören, was man ihm früher verschwiegen hatte. Allerdings war dies hier der erste eingeborene Spanier, den er deshalb darüber vernahm.
Er hatte große Lust, diesen Mann einmal in Hypnose zu nehmen. Dazu aber hätte er lieber erst den Direktor entfernt, was so ohne weiteres nicht ging. Dann erkannte er sofort, daß dieser Räuber mit den kühnen Augen nicht durch den Blick zu hypnotisieren war, da mußte er ihm sein inneres Mittel beibringen, wozu List oder Gewalt nötig war.
Kurz, Nobody gab diese Absicht auf, er beschloß, ganz auf eigene Faust vorzugehen.
»Weißt du, oder hast du eine Vermutung, wo Don Juan die Dame gefangenhalten mag?«
»Wie mag ein Mensch das wissen? Im Innern der Maladetta, wo ewig der feurige Schwefel dampft.«
Er wußte es eben nicht. Und die Maladetta ist nicht etwa ein Vulkan.
Sie verließen die Zelle wieder, um nichts klüger geworden.
Ihr nächstes Ziel war das angegebene Hotel, nach dem sie auch ihr Gepäck hatten schaffen lassen.
Mr. Geodfroy wartete dort ihrer, in seinem abgeschabten Jagdkostüm, in dem er selbst einem Bären glich, im eleganten Salon sitzend und auch von den Kellnern mit aller Ehrerbietung behandelt.
Obgleich es noch früh am Tage, sei heute nichts mehr zu machen. Der Gipfel der Maladetta war von schweren Wolken umhüllt, dort oben hagele es jetzt, jede Schneedecke könne ins Rutschen kommen, daher sei ein Aufstieg unmöglich.
»Ja, geehrter Herr, was beabsichtigen Sie eigentlich?«
»Ihnen behilflich zu sein, Mrs. Mojan wiederzufinden.«
»Und dazu müssen wir die Maladetta besteigen?«
»Anderswo kann sie wohl schwerlich versteckt sein. Freilich ist die Maladetta gar groß. Wir müssen meinen Freund aufsuchen, den Grafen Rabenstein. Wenn einer jeden Schlupfwinkel der Maladetta kennt, so ist es der. Sonst wüßte ich nicht, wo wir den Anfang einer Spur finden sollten. Nur ein sehr bequemes Mittel gäbe es, um gleich das Versteck und alles andere zu erfahren.«
»Welches Mittel?« fragten die beiden mit berechtigter Ueberraschung.
»Diesem gefangenen Räuber, dem Fra Diavolo, einmal die Daumschrauben anlegen, ihn durch Tortur zum Geständnis zwingen. Aber die heutige sogenannte Humanität erlaubt so etwas nicht mehr, und leider will auch der Gefängnisdirektor privatim von so etwas nichts wissen. Sonst hätte ich den Kerl schon vorhin einmal zwischen meine Fäuste genommen. Leider aber ging der Direktor mit, und so ist immer ein Beamter dabei, da läßt sich so etwas nicht machen.«
»Sie meinen, daß Fra Diavolo das Versteck der Dame kennt?«
»Na sicher!« lachte der Bärentöter. »Fra Diavolo hat sie doch selbst erst dorthingebracht!«
Er ließ sich eben von dem Gedanken nicht abbringen, daß Don Juan und Fra Diavolo ein und dieselbe Person seien, daß dies alles nur ein abgekartetes Komödienspiel einer einzelnen Person sei, wenn diese auch Helfershelfer haben mochte.
Nobody aber wollte dies noch immer nicht recht glauben.
Doch ansehen wollte er sich diesen Einsiedler unbedingt einmal.
»Die Jahreszeit ist längst vorbei, in der er einmal herunterkommt, da müssen Sie sich wohl hinaufbemühen, und, wie gesagt, von dem können Sie sich auch den besten Rat holen. Er ist überhaupt schon längere Zeit hinter Fra Diavolo her.«
»Weswegen?«
»Weil dieser ihm seine beiden zahmen Gemsen weggeschossen hat. Morgen wird sich das Wetter aufgeklärt haben, da können wir beizeiten aufbrechen.«
»Und man braucht zwei Tage, um jene Velita zu erreichen?«
»Mindestens zwei Tage.«
»Sie kennen den Weg?«
»Ja und nein. Ich muß mir stets einen neuen Aufstieg suchen. Die Gletscher und Schneedecken verschieben sich fortwährend.«
»Wo übernachten wir da unterwegs?«
»O, bequeme Unterschlupfe gibt es genug. Ich wollte noch heute den Aufstieg beginnen, hatte mich deshalb schon umgezogen, vorhin sah es noch nicht so trübe aus. Was machen wir inzwischen? Heute abend ist im Kurhaus Reunion. Wenn wir nicht zu lange ausruhen, können wir mitmachen.«
»Mit Masken?«
»Wie immer mit Masken. Vielleicht haben Sie gleich Gelegenheit, diesen Don Juan kennen zu lernen, der selten einmal fehlt.«
»Der, welcher ihn darstellen soll, sitzt aber doch im Gefängnis.«
»Dann wird er, um das rätselhafte Inkognito zu wahren, einstweilen von einem anderen vertreten. Er mag ja noch einige elegante Tunichtgute unter seiner Bande haben.«
»Haben Sie selbst noch nicht versucht, ihn bei solcher Gelegenheit zu fassen?«
»Ja, aber ich muß gestehen, daß er mir stets entkommen ist. Er ist glatt wie ein Aal.«
Ein Kellner, der für Mr. Geodfroy einen Brief brachte, unterbrach das Gespräch.
Mojan pflegte den ganzen Tag der Ruhe, um sich für den nächsten Tag und auch noch für den kommenden Abend zu stärken, während Nobody, welcher auch nach der langen Eisenbahnfahrt keiner Erholung bedurfte, sich in der Stadt umschaute und weitere Erkundigungen einzog.
Was er erfuhr, interessiert uns nicht. Es war nicht viel mehr, als was er bisher über die beiden Banditen zu hören bekommen hatte.




Der große Kursaal strahlte im Lichte der Kronleuchter, unter denen sich das bunte Gewühl der Masken bewegte.
Schon die Wahl der Kostüme verriet, was für eine exzentrische Gesellschaft sich hier zusammengefunden hatte: entweder so kostbar oder so verrückt wie möglich, oft sogar durch Zerlumptheit anstößig. Es fehlte also das, was bei solch einem Kostümfest doch die Hauptsache sein soll: der künstlerische Geschmack.
Dementsprechend war auch das Verhalten der Anwesenden. Da den meisten alkoholische Getränke verboten waren, so suchten sie sich in anderer Weise aufzuregen, zu berauschen - durch ausgelassene, aber vorläufig noch erkünstelte Fröhlichkeit, durch manchmal grobwerdende Scherze, und infolgedessen wiederum ward fast gar nicht getanzt. Es war eben ein Karnevalstreiben, das hier im kleinen fast allwöchentlich arrangiert wurde.
Einen Hauptzielpunkt der Scherze bildete eine überaus korpulente Dame. Unerklärlich war nur, wer hinter oder vielmehr in dieser Pompadour-Krinoline stecken konnte. Es mußte eine Dame sein, die erst mit dem letzten Zuge angekommen und auch sonst noch niemals hier gewesen war; denn eine so unverschämt dicke Frauensperson, die aber ihren Fächer mit Eleganz zu handhaben wußte, mußte doch unbedingt bekannt sein.
Daß aber nun in dieser Krinoline ein Mann stecken konnte, auf diesen Verdacht kam kein einziger. Denn sonst hätte man natürlich sofort gewußt, daß dies nur der fürchterlich dicke Yankee sein könne, der heute früh hier angekommen, um seine gefangene Frau auszulösen oder erst aufzusuchen.
Mr. Mojan spielte seine Rolle als Dame eben meisterhaft, er konnte eine solche vom Toupé an bis zum kleinen trippelnden Füßchen vorstellen, ja, bei seinem fettgepolsterten Brustkasten konnte er sogar mit einer Büste kokettieren.
Nur einer, der in einen schwarzen Domino gehüllte Nobody, erkannte, wie gezwungen bei dieser Dame alles war. Nicht gezwungen in Bewegungen, sondern gezwungen in dem Bestreben, alle die Scherze mit guter Laune hinzunehmen und sie sogar zu erwidern.
Denn das kleine, dicke Männchen in der Krinoline dachte jetzt wohl an alles andere als an solche Maskenscherze. Was machte jetzt wohl seine Frau?
Mojan hatte dieses Frauenkostüm aufs Geratewohl gewählt, sicher glaubend, daß, wenn ihn jemand aufsuchen wollte, man ihn auch gleich als den korpulenten Yankee erkennen würde. Dieser geborene Komödiant wußte eben selbst nicht, wie ausgezeichnet er seine Damenrolle spielte.
Als die unförmliche und doch so elegante Krinoline einmal Lust bekommen hatte, weil ein Vorkommnis im Saale alle nach einem anderen Punkte hinzog, wollte Nobody die Gelegenheit benutzen, seinem Freunde zu sagen, daß er auf diese Weise nicht erkannt würde, falls jemand ihn suchte.
Da aber näherte sich der Krinoline schon eine andere Maske, welche Nobodys Aufmerksamkeit fesselte.
Es war ein blauer Husar, dem die Uniform wie angegossen saß, einen Körperbau von vollendetstem Ebenmaß zeigte, und war die Husarenuniform auch nicht ganz echt, etwas phantastisch, so konnte man doch einen wirklichen Offizier darunter vermuten.
»So allein, schöne Maske?« eröffnete er das Gespräch mit der unvermeidlichen Redensart, und so allein war die Krinoline überhaupt gar nicht, der schwarze Domino stand sogar dicht neben ihr.
»Würden Sie mir nicht ein Schäferstündchen gewähren?« fuhr der blaue Husar auch gleich fort.
»Mein Herr!«
»Kennen Sie mich?«
»Sie sind sehr keck.«
»Wie alle Don Juans. Ich bitte nur um fünf Minuten unter vier Augen.«
Kein Zweifel, er war wirklich gekommen! Ohne Umschweife hatte er sich zu erkennen gegeben! Machte aus seiner Person gar kein Hehl; denn er hatte all dies gar nicht so leise gesagt.
Nobody hatte den blauen Husaren schon längere Zeit beobachtet, sich an seinem kecken Benehmen erfreut. Doch zu erkennen gegeben konnte er sich natürlich noch nicht haben. Der Eintritt in den Saal selbst bot gar keine Schwierigkeiten, es brauchte nur ein Entree bezahlt zu werden.
»Wollen Sie mir folgen?«
»Ich folge Ihnen.«
Ehe die anderen noch das Gerücht verbreiten konnten, daß sich der Räuber Don Juan wieder auf dem Balle befände und sich bereits zu erkennen gegeben habe, hatten die beiden schon den Saal verlassen.
Nur Nobody war ihnen gefolgt. Jetzt kam es darauf an, wohin sie sich wenden würden. Mojan war viel zu selbständig, um den Detektiv zur Begleitung aufzufordern; denn wenn es darauf ankäme, so glaubte dieser Yankee mit jedem anderen Menschen fertig zu werden, und für solch einen Fall hatten die beiden nichts ausgemacht.
Es konnte sehr leicht sein, daß dieser Mann, der sich jetzt Don Juan nannte, in diesem Kurhotel auch ein Zimmer besaß, und begab er sich nach diesem oder sonst nach einem geschlossenen Raum, so hatte Nobody keine Möglichkeit, ihnen unbemerkt dorthin zu folgen, um das Gespräch der beiden zu belauschen.
Doch Nobody hatte ganz richtig geurteilt, daß, wenn dies wirklich ein Mann war, der die Justiz zu fürchten hatte, wenn es nicht nur ein Spaßvogel war, der sich für den mystischen Räuber ausgab, er auch keinen geschlossenen Raum aufsuchen würde, in dem er leicht gestellt werden konnte.
Die beiden benutzten nicht die nach oben führende Treppe, sondern betraten nach dem Verlassen des Saales durch eine Seitentür den Garten, der hohen Baumbestand hatte, dann auch in einen Park überging, und da war es für Nobody, an sich schon ein schwarzer Schatten, ein leichtes, den beiden unbemerkt zu folgen.
»Wohin führen Sie mich?«
»Kommen Sie weiter nach hinten. Seien Sie unbesorgt, Mr. Mojan, ich habe Ihnen etwas zu eröffnen, was Sie sehr erfreuen wird.«
»Also Sie kennen mich?« entgegnete die Krinoline, ihre bisherige helle Stimme in die natürliche Lage zurückschraubend.
»Wie Sie hören. Ich mache Ihnen übrigens mein Kompliment, Sie spielen Ihre Rolle als Dame vorzüglich - nur mein Auge kann durch so etwas nicht getäuscht werden.«
Mojan hatte jetzt natürlich für etwas anderes Interesse als für solche Komplimente.
»Sie halten meine Frau gefangen?«
»Bitte, nicht hier! Wir sind gleich an Ort und Stelle, wo wir ungestört sprechen können.«
Sie befanden sich bereits im Park und schritten noch immer weiter nach hinten, bis eine Barriere ihnen Halt gebot.
Soweit es sich im Mondschein erkennen ließ, war einige Meter hinter dieser Barriere das feste Land zu Ende, wenn man sich so ausdrücken darf. Denn in einiger Entfernung stieg jäh eine Felswand empor, und da dort links das Gefängnis lag, so konnte Nobody annehmen, daß man sich hier am Rande derselben Schlucht befand, an der sich das Gefängnis erhob.
Aber die Barriere war nicht dicht am Rande errichtet, dahinter war noch mit Büschen und sogar mit großen Bäumen bestandenes Erdreich, doch war hier ein auffallendes Plakat angebracht, von einer Laterne beleuchtet, welches vor einem Uebersteigen der Barriere warnte, auch ganz besonders auf die Gefährlichkeit der dahinterliegenden Stelle aufmerksam machte.
Es hatte tatsächlich hier früher einmal ein Absturz von lockerem Erdreich stattgefunden.
Diese Vorkehrung zur Sicherheit ließ ja viel zu wünschen übrig; aber man befand sich eben in einem wilden Gebirgslande, ein Vermauern aller gefährlichen Stellen war gar nicht möglich, oder man hätte gleich das ganze Kurbad schließen müssen, und wer hier nächtliche Spaziergänge machen wollte, tat dies auf sein eigenes Risiko. Schon vor Betreten dieses Parkes nächtlicherweile war am Eingange durch ein riesengroßes Plakat gewarnt, man war auch keinem einzigen Menschen begegnet.
»Wollen Sie über diese Barriere steigen oder darunter hinwegkriechen?«
»Weshalb das?«
»Ich möchte, daß unsere Unterhaltung dort hinten stattfindet.«
»Wir sind doch auch hier ganz ungestört.«
»Herr, ich bin ein Räuber, den man mit allen Mitteln verfolgt, und dort hinten fühle ich mich am sichersten.«
»Hm,« musterte Mojan in der Krinoline bedenklich die Barriere, das Plakat und das dahinterliegende Terrain, »hier wird gewarnt, und ich wiege netto zweihundertundzwanzig Pfund.«
»Ohne Sorge,« hörte Nobody es leise lachen, »das vorstehende Erdreich ist abgestürzt, jetzt ist es lauter solider Felsen, der trägt noch etwas anderes als Ihre Last. Wenn Sie sich nicht bücken können, so reichen Sie mir Ihre Hand ...«
Aber schon war die unförmliche Krinoline mit einem eleganten Schwung über die Barriere voltigiert, der Husar folgte nach.
Als dann Nobody als wesenloser Schatten denselben Weg genommen hatte, nur auf dem Bauche rutschend, sah er die beiden, von der schmalen Sichel des Mondes beleuchtet, fast ganz dicht am Rande der fürchterlichen Tiefe stehen.
Es gehörte Mojans Sorglosigkeit oder wohl mehr Selbstbewußtsein dazu, um sich einem ihm unbekannten Manne, der sich selbst einen Räuber nannte, in solch einer gefährlichen Position gegenüberzustellen.
»Nun, was haben Sie mir über meine Frau mitzuteilen?«
Da blitzte es zunächst in der Hand des blauen Husaren - ein Revolver.
»Zunächst muß ich Ihnen sagen, daß ich jeden tätlichen Angriff ...«
»Nonsense, lassen Sie das Ding stecken.«
»Es ist mein furchtbarer Ernst, ich lasse mich nicht fassen ...«
»Lassen Sie das Ding stecken, sage ich,« wiederholte die dicke Krinoline in aller Gemütsruhe. »Von mir haben Sie ebensowenig etwas zu fürchten, wie ich mich vor Ihnen fürchte.«
Der maskierte Husar steckte auch wirklich den Revolver gleich wieder ein, brachte dafür aus seiner Brusttasche ein Päckchen zum Vorschein.
»Wissen Sie, was das ist?«
»Nee.«
»Banknoten - Ihre halbe Million Francs, die ich dem Fra Diavolo abgenommen habe.«
Nobody war nicht minder erstaunt als jedenfalls Mojan.
»Mir scheint fast, als ob Sie mir sie wiedergeben wollen,« sagte dieser, nachdem er endlich seinen Rachen wieder zugemacht hatte.
»Gewiß, nehmen Sie.«
Aber Mojan griff noch nicht gleich zu.
»Behalten Sie sie und geben Sie mir dafür lieber meine Frau wieder.«
»Auch Ihre Gattin sollen Sie zurückerhalten, doch nur unter einer Bedingung.«
»Unter welcher?«
»Hören Sie mich an, Herr. Ja, ich bin ein Schmuggler und Räuber, oder meinetwegen mehr ein Dieb. Zu räubern gibt es hier ja fast gar nichts, nicht einmal Frauentugend, man müßte denn gerade arme Bauern und verlassene Villen ausplündern, und das habe ich nicht nötig. Wissen Sie, wie ich mich hier manchmal als Taschendieb produziere?«
»Ja, aber Sie geben die Sachen immer wieder zurück.«
»Jawohl. Ich bin hier ohne Maske eine wohlbekannte Persönlichkeit, solche Spitzbübereien betreibe ich nur aus abenteuerlicher Lust, mehr noch gilt das von meinem Schmuggelhandwerk, das ich tatsächlich betreibe ...«
»Und Ihre Gefährten?«
»Lassen Sie die aus dem Spiele, ich spreche nur von mir. Meinetwegen denn - es gibt hier noch andere, welche ebenso wie ich dieses Leben eintönig finden, wenn nicht etwas Gefahr dabei ist, und als geeignetstes Gebiet für unsere absonderlichen Vergnügungen haben wir uns hier diesen Badeort in den wilden Pyrenäen ausgesucht. Daß einmal bei einem Rencontre mit Militär Blut fließt, stört uns wenig, dafür sind jene Soldaten, und wir sind Abenteurer, welche ebenfalls ihr Leben aufs Spiel setzen, bereit, gehangen zu werden, wenn sie einmal erwischt werden. Doch das sind Ansichten - das muß jeder mit seinem eigenen Gewissen abmachen - ich bin mit dem meinigen im reinen - für mich ist das ganze Leben ein Spiel, bei dem es auf ein Menschenleben mehr oder weniger nicht ankommt - basta.«
»Jawohl, mir wäre viel lieber, wenn Sie mir sagten, unter welchen Bedingungen Sie mir meine Frau zurückgeben,« meinte Mojan.
»Gestatten Sie mir nur noch einen Augenblick für meine Rechtfertigung. Ich nahm dem Kurier der Bank das Lösegeld ab, nur um wieder einmal von mir reden zu machen. Es war von vornherein bei mir bestimmt, daß ich Ihnen die halbe Million Francs zurückerstatten würde, nur wollte ich nun auch noch dem Fra Diavolo, dem ich schon so manchen Streich gespielt habe, die Gefangene aus den Zähnen rücken. Nun muß ich aber diesem Schmuggler lassen, daß er ein echter Räuber ist, nämlich auch Edelmut kennt; denn es ist Tatsache, daß er sich wirklich schon mit der Dame auf dem Wege nach Viella befand, um sie dort an den Bürgermeister abzuliefern, obgleich ihm das Lösegeld entgangen war. Das konnte jedoch meinen Entschluß nicht ändern, ich nahm ihm seine Gefangene ab, und da er sie nicht gutwillig herausgab, mußten ein paar Menschlein dabei ihr Leben lassen. Jetzt war Ihre Gattin meine Gefangene. Sie hat über nichts zu klagen gehabt. Sie wird Ihnen davon erzählen. Aber mir selbst ist dabei etwas Unangenehmes passiert.«
»Was?«
»Durch einen Zufall ist Ihre Gattin dahintergekommen, wer ich in Wirklichkeit bin. Ein Wort von ihr, und sie hat alles verraten, ich bin hier unmöglich.«
»Warum soll sie denn etwas verraten?«
»Das Wort Ihrer Gattin habe ich bereits, daß sie nichts verrät. Aber - wie es nun so ist zwischen Mann und Frau - geben Sie mir Ihr Ehrenwort, Ihre Gattin niemals zu fragen, wer ihr zweiter Entführer, also ich, gewesen sei, was sie sonst erlebt hat, undsoweiter undsoweiter. Sie wissen doch ganz genau, worauf es ankommt?«
»Das weiß ich.«
»Also auch keine weiteren Recherchen über mich anzustellen; denn nur die leiseste Andeutung Ihrer Gattin genügte, auf meine Spur zu kommen, und nur die leiseste Spur, und ich habe meine Rolle hier ausgespielt, wozu ich keine Lust habe.«
»Diese Worte sind alle gar nicht nötig. Geben Sie mir meine Frau wieder, und die ganze Zeit in den Pyrenäen soll für mich und meine Frau aus dem Leben, aus der Erinnerung gestrichen sein - auf mein Ehrenwort!«
»Das genügt mir. Denn ich habe schon von Mr. Cerberus Mojan gehört, und mehr noch verlasse ich mich auf meine Menschenkenntnis, und ich habe Sie während Ihres Hierseins beobachtet.«
Sie reichten sich zur Bekräftigung des Ehrenwortes die Hand. Beide trugen Handschuhe.
»Sobald ich meine Frau wiederhabe, reise ich von hier ab.«
»Abgemacht!«
Mojan hatte unterdessen das Päckchen genommen und, ohne es untersucht zu haben, in die Tasche gesteckt.
»Und meine Frau?«
»Sollen Sie morgen früh haben. Kennen Sie die Katzenschlucht?«
»Nein. Ist das diese hier?«
»Eine andere.«
»Ich bin hier ganz unbekannt.«
»Jedes Kind kann Ihnen die Katzenschlucht zeigen. Seien Sie morgen früh bei Sonnenaufgang in dieser Schlucht, welche nur einen Eingang hat, Sie werden Ihre Gattin ...«
Er hatte zuletzt sehr leise gesprochen, Nobody hatte angestrengt lauschen müssen, plötzlich aber knackte und brach es in dem hinter ihm befindlichen Gebüsch, Uniformen tauchten auf, aber keine Maskenkostüme, mehrere Gestalten stürzten vorwärts auf die beiden, die hellerleuchtet im Mondschein dastanden.
»Fangt ihn, packt ihn, diesmal kann er uns nicht entkommen!!«
Der maskierte Husar verlor kein einziges Wort. Er war von dem Näherkommen der Gebirgsgendarmen so überrascht worden wie Nobody. Aber er griff nicht zur Waffe. Nur den einen, der ihm schon zu nahe gekommen war, traf sein Faustschlag, der jenen zurückschleuderte, dann ein Sprung dorthin, wo sich die Schlucht öffnete, und er war von dem überwucherten Plateau verschwunden.
»Er hat sich in die Schlucht gestürzt!!« gellte der Ruf, während Mojan schon wie ein Rohrspatz zu schimpfen begann, was man ihn denn mit seinem Begleiter zu stören habe.
Man beachtete vorläufig die dicke Weibsperson mit der tiefen Stimme nicht, alle Spannung konzentrierte sich auf den verschwundenen Räuber.
Im Saale war eben bekannt geworden, daß wieder einmal Don Juan anwesend sei, in der Maske eines blauen Husaren, das hatte ein Gendarmerie-Offizier gehört, man hatte die beiden nach dem Parke gehen sehen, sie waren aufgespürt worden - und nun schien ihnen der verwegene Unbekannte doch wieder entgangen zu sein, freilich nur durch den Tod.
Aber gerade diese Gendarmen, die den Sprung in die Tiefe selbst gesehen hatten, wollten nicht daran glauben. Der rätselhafte Unbekannte war ihnen schon so oft entgangen, direkt aus ihren Fingern heraus, und ebenso oft waren sie von seinem Tode überzeugt gewesen.
Streichhölzer wurden angebrannt, einige Taschenlampen kamen zum Vorscheine, man schickte nach größeren Laternen, unterdessen gaben Zweige als Fackeln das hellste Licht, mit denen man, am Rande auf dem Bauche liegend, in die fürchterliche Tiefe hinableuchtete.
»Hier hinab ist er!«
Es konnte wohl auch nicht anders sein, dieser Vorsprung war von Gendarmen umzingelt gewesen, der Husar in seiner leuchtenden Uniform hätte sich geradezu unsichtbar machen müssen.
Aber dort unten mußte auch jede Katze zerschmettert ankommen. Es war eine grauenvolle Tiefe.
»Er kann doch nicht auf den Felsgrat gesprungen sein?« hieß es weiter in fragendem Tone.
Auch Nobody hatte sich platt am Rande des Abgrundes niedergelegt.
Wirklich, ein Felsgrat war vorhanden. Das war den hier geborenen Leuten, oder denen, die sonst dieser Schlucht schon näheres Interesse geschenkt hatten, natürlich bekannt.
Er befand sich etwa fünf Meter unterhalb des Randes und lief in einer Breite von einem halben Meter an der senkrechten Wand entlang.
Wenn man sich diese Maße vorstellt, so wird man zugeben, daß es eine Menschenunmöglichkeit ist, so tief hinab auf solch einen geringen Vorsprung zu springen. Solch einen Sprung hätte auch der verwegenste, zum Akrobaten ausgebildete Gemsenjäger, auf dessen Hacken die Förster sitzen, nicht gewagt.
Kein einziger dieser Gendarmen, im Gebirge groß geworden, kam auf die Vermutung oder konnte doch ernstlich glauben, daß der Räuber wirklich diesen Sprung gewagt hätte.
Oder hatte er ihn gewagt, so war er dabei in die Tiefe gestürzt, lag jetzt mit zerschmetterten Gliedern dort unten, oder aber ... der geheimnisvolle Mann war eben wieder auf irgendeine rätselhafte Weise entkommen.
Und wenn er wirklich auf dem schmalen Grat hätte festen Fuß gefaßt, wohin dann? Steil und ohne den kleinsten Riß senkte sich die Porphyrwand hinab, der Grat lief in beträchtlicher Länge hin, ward aber immer schmäler, bis er gänzlich aufhörte.
Nein, da gab es nichts, auf diesen Grat brauchte man keine Hoffnung zu setzen.
»Wieder entkommen!« lautete resigniert das Urteil, und die Gendarmen erhoben sich, um den Heimweg anzutreten.
»Und wegen euch Schufte bekomme ich nun wahrscheinlich meine Frau nicht!« begann jetzt Mojan zu schimpfen, und er schimpfte noch lange in seiner Weise fort.
Dann ward es still auf diesem gefährlichen Fleckchen Erde wie im ganzen Parke. Nur vom Kurhause herüber scholl die Tanzmusik und das Jubeln der Gäste. Ueber einem neuen Scherz war die neueste Sensation schon wieder vergessen worden. Das Leben ist so kurz - und der Tod so lang!
Auch der Mond war hinter der Maladetta untergegangen. Eine undurchdringliche Finsternis herrschte.
Wir aber wollen Augen besitzen, welche diese durchdringen können.
Nur ein Mann befand sich noch immer auf dem gefährlichen Vorsprung - Nobody.
Er hatte gelauscht, bis sich der letzte Fußtritt entfernt hatte, und er lauschte noch immer. Nur die Nachtkäfer surrten.
»Da - da ist er ja wieder!« sagte Nobody plötzlich mit vernehmlicher Stimme.
Keine Antwort. Wer hätte sie ihm auch geben sollen?
»Da ist der blaue Husar wieder - Don Juan - sehen Sie ihn denn nicht?«
Keine Frage, kein »wo denn?«
Nobody hatte es auch nicht gehofft. Er hatte auch selbst gar nichts gesehen, hatte sich nur überzeugen wollen, ob nicht etwa doch noch ein Gendarm auf dem Bauche lag und in die Schlucht hinabspähte, was ja alles möglich war, und es war gar nicht so leicht, alle Büsche danach abzusuchen, bei dieser Finsternis.
Nun aber war Nobody überzeugt, daß er keinen Beobachter, keinen Lauscher zu fürchten hatte. Er entledigte sich des Dominos und nestelte unter seiner Weste.
»Es ist doch besser, ich hole ihn sofort herauf,« murmelte er dabei, »es scheint Tau zu kommen, der könnte ihm schaden, und was ich vorhabe, ist wohl das Allereinfachste. Schlägt's fehl, kann ich keinen Hund auftreiben, so werde ich schon ein anderes Mittel finden. Und die Riemen? Ich könnte es auch mit einer Stange probieren, aber die muß erst vorgerichtet werden, mit so einem Handgriff daran, doch das dauerte lange, und ich kann das Ding damit vielleicht aus Versehen in die Tiefe hinabstoßen. Nein, das Einfachste bleibt der Lasso - etwas riskant, aber kurz, und wenn ich dabei hinabpurzelte, na, dann ...«
Während dieses unvollendet gebliebenen Selbstgespräches, mehr gedacht, hatte er unter seiner Weste mehrere Riemen zum Vorschein gebracht, welche dieser Detektiv immer um den Leib gewickelt trug, damit ihm nie das Nötige fehle, wenn es einen Mann oder auch ein halbes Dutzend Männer zu binden und zu knebeln galt.
Er knüpfte die einzelnen, meterlangen Riemen zusammen; es ward ein stattliches Seil. Die Lederriemen konnten noch eine ganz andere Last als einen Menschen tragen, und die Festigkeit der einzelnen Knoten prüfte Nobody durch einfaches Ziehen, und wenn ein Nobody auf diese Weise ein Seil zerreißen wollte und es gelang ihm nicht, dann durfte man sicher sein, daß sich diesem Seil auch ein Mensch anvertrauen durfte.
Er wählte einen nahe dem Abgrunde stehenden Baum aus, von dessen Solidität er sich nicht erst zu überzeugen brauchte, schlang den Lasso um den Stamm, warf das andere Ende, vielleicht aber höchstens noch vier Meter lang, in die Schlucht hinab, und die Vorbereitungen waren getroffen.
Das Wagnis war in Wirklichkeit weit größer, als es sich hier beschreiben läßt. An diesem Lasso, aus an sich doch nur dünnen Lederschnuren bestehend, welche beim festen Zugreifen, wenn das ganze Gewicht des Körpers daranhing, tief in das Fleisch einschneiden mußten, ließ sich Nobody über den Rand hinweg in die Tiefe hinab, bis seine Füße den Grat erreichten, und dieser befand sich doch noch tiefer als fünf Meter, so daß Nobody, der Hand über Hand hinabging, schon das Ende des Seiles erreicht hatte, und dann mußte er sich lang hängen lassen, um mit den Füßen den Grat zu erreichen.
Auf diese Weise mußte er dann wieder hinauf, das hatte er sich doch vorher ausgerechnet, und dieses Kunststückchen hätte ihm wahrscheinlich so leicht kein professioneller Akrobat nachgemacht, der sich am senkrechten Seil produziert, hätte so etwas an solch einer dünnen Lederschnur wenigstens wohl kaum gewagt.
Nobody befand sich sicher auf dem Grat. Ruhig machte er einige Schritte seitwärts, bückte sich, hob etwas auf.
Allen Augen, die vorhin im Scheine von Fackeln und Laternen hinabgespäht hatten, war es entgangen, nur dem Auge dieses Detektivs nicht.
Es war ein Handschuh, ein lederner, von grauer Farbe. Daß die Gendarmen diesen übersehen hatten, kam daher, weil dieser sonst rote Porphyr auch viele graue Einsprengungen hatte. So war ihnen der Handschuh in dem unsicheren Lichte entgangen. Nur diesem Detektiven nicht. Und solche graue Handschuhe aus Wildleder hatte auch der maskierte Husar getragen. Kein Zweifel, es war der seine! Nur der Polizeiwachtmeister hatte noch Handschuhe getragen, und die waren weiß gewesen, die der Krinolinendame schwarz und lang - kurz, Nobody war sicher, daß nur der blaue Husar diesen Handschuh verloren haben konnte, obgleich er nicht bemerkt hatte, daß er einen vorher oder ganz zuletzt abgestreift habe.
Nur mit den Fingerspitzen hatte Nobody den Handschuh aufgehoben, roch daran, zog ein Stück weißes Papier hervor, wickelte ihn ein und barg das Paketchen in der Tasche.
Dann begab er sich wieder dorthin zurück, wo das Lassoende über seinem Haupte hing, er mußte tasten, ehe er es fand, und mit einer Kraft und Geschicklichkeit, mit der er den besten Turner übertraf, gelang es ihm, sich nur mit den Händen an dem dünnen Lederseile wieder emporzuarbeiten.
Sonst hatte er für heute hier nichts mehr zu suchen. Auf dem Wege nach seinem Hotel begegnete er auf der Straße Mojan, der die Krinoline mit seinem gewöhnlichen Anzuge vertauscht hatte.
»Was mir passiert ist!« hielt er seinen Sekretär auf.
»Ich weiß alles.«
»Von dem blauen Husaren?«
»Alles weiß ich.«
»Waren Sie auch dabei, wie die Tölpel von Gendarmen mir meinen Mann verjagten?«
»Ich habe sogar Ihre Unterhaltung mit ihm aus nächster Nähe belauscht.«
Mojan wunderte sich nicht darüber.
»Ja, was soll ich nun machen?«
»Sich morgen früh einfach nach der Katzenschlucht begeben.«
»Nun wird er nicht mehr kommen!«
»Das werden Sie ja morgen sehen. Haben Sie das Paket mit den Banknoten geöffnet?«
»Ja.«
»Nun?«
»500 Tausendfrancsscheine - alles in Ordnung.«
»Dann kann ich Ihnen auch die Versicherung geben, daß er morgen kommen wird.«
»Und wenn er nun da hinunter gestürzt ist und sich den Hals gebrochen hat?«
»Fragen Sie nicht so dumm. Dann kann er natürlich nicht kommen.«
»Und dann kennen Sie doch auch mein Versprechen, das ich ihm gegeben habe.«
»Jawohl, und ich hoffe nur, daß Sie morgen mit Ihrer Gattin abreisen können, und daß sich die Gedächtnisschwäche nicht weiter erstreckt.«
»Und was werden Sie tun?«
»Meine Sache! Haben Sie nicht zufällig Doktor Zochel gesehen?«
»Nein, aber unten im Restaurationszimmer sitzt noch immer der Bürstentöter und trinkt wie ein Bärenbinder - oder umgekehrt.«
Ohne ein Wiedersehen verabredet zu haben, trennten sich die beiden Freunde.
Einige Minuten noch blieb Nobody in Gedanken versunken stehen.
»Soll ich mich mit meinem Anliegen an Mr. Geodfroy wenden? Nein, wenn ich ihn auch nicht im Verdacht habe - er könnte doch die unrichtige Person sein.«
Als er das Hotel betrat, stieß er mit Doktor Zochel zusammen.
»Herr Doktor, Sie kommen mir wie gerufen. Kann ich Sie einmal auf meinem Zimmer sprechen?«
Der Arzt folgte ihm hinauf, die beiden waren allein.
»Ich habe zwei große Anliegen an Sie, bitte aber erst um Ihre Diskretion.«
Der Arzt, dessen ehrenhaften, männlichen Charakter Nobody alsbald durchschaut hatte, so daß er sich an diesen allein vertrauensvoll wandte, sicherte ihm Verschwiegenheit zu.
»Wo ist hier die sogenannte Katzenschlucht?«
Doktor Zochel beschrieb ihm den Weg dorthin nach einem Plane der Umgegend, den er bei sich hatte. Nach diesem sah der Weg ganz einfach aus, die Schlucht war auch ganz nahe.
»Man braucht keinen Führer?«
»Durchaus nicht.«
Daß aber Nobody noch bei Nacht hinwollte, verschwieg er.
»Die zweite Frage ist: Können Sie mir hier einen guten Hund verschaffen?«
»Wozu?«
»Bitte, ich habe eine Spur gefunden ...«
»O nein, ich will mich nicht in Ihre Geschäftsgeheimnisse mischen, ich meine nur, wozu Sie den Hund brauchen. Ich habe einen, aber auf den Mann geht er nicht, ist auch nicht zur Jagd zu gebrauchen, obgleich er eine ausgezeichnet feine Nase hat.«
»Das ist es ja eben, was ich brauche! Eine Spürnase. Was für ein Hund ist es?«
»Ein kleiner Wachtel.«
»Der wäre mir auch sehr lieb, ein sehr großes, schweres Tier könnte ich nicht gebrauchen. Aber Wachtelhunde haben gewöhnlich keine besonders feine Nasen.«
»Ausnahmen gibt es überall, mein Lulu verfolgt jede Spur, auf die er einmal gebracht ist. Nur müßte ich selbst dabeisein, wenn Sie ihn verwenden wollen.«
»Weshalb?«
»Nun, er gehorcht eben keinem anderen als mir und höchstens noch meiner Frau.«
»Das kommt darauf an,« lächelte Nobody, »ich verstehe mich etwas auf Hundedressur.«
»Wetten, daß Sie mit meinem Lulu nichts ausrichten können?«
»Ich nehme die Wette nicht an, Sie würden sie verlieren.«
Sie begaben sich alsbald in des Arztes Wohnung. Es war noch gar nicht so sehr spät, und bei solchen festlichen Gelegenheiten ward ja überhaupt hier die Nacht zum Tage gemacht.
Nobody sah ein reizendes Wachtelhündchen, welches den fremden Herrn grimmig ankläffte.
Wir wissen, daß Nobody nicht nur Menschen bloß durch seinen Blick bändigen konnte, sondern auch auf jedes Tier eine rätselhafte Macht ausübte. Als er das Hündchen erst einmal in seiner Hand und auf seinem Schoße hatte, verwandelte es sich in das zutraulichste Geschöpf, es beachtete seinen Herrn gar nicht mehr, der außer sich vor Staunen war.
Dann machte Nobody einige Versuche und überzeugte sich, daß dieses Wachtelhündchen tatsächlich eine ausgezeichnete Nase besaß, auch hohe Intelligenz. Jeden im Zimmer versteckten Gegenstand, dessen Witterung es einmal angenommen, spürte es augenblicklich auf und ließ sich auf Nobodys Befehl dennoch zur Umkehr bewegen.
Das Zwerghündchen in der weiten Tasche seines dunklen Mantels, machte sich Nobody sofort auf den Weg nach der Katzenschlucht. Ohne irgendwelche Kenntnis von der Ortsbeschaffenheit zu haben, mußte er bei dieser Stockfinsternis damit rechnen, zu ihrem Auffinden Stunden zu gebrauchen, dann in ihr herumtasten zu müssen, ehe er ein geeignetes Versteck gefunden. Denn ein solches mußte er noch vor Anbruch der Morgendämmerung haben, und einen Fremden, wobei doch nur einer der geschwätzigen Eingeborenen in Betracht kommen konnte, wollte er durchaus nicht einweihen.
Doch es ging besser, als er gedacht hatte.
Die Chaussee, die er eine kurze Strecke zu verfolgen hatte, konnte er nicht verfehlen, und wenn Nobody auch nicht wie eine Katze im Dunkeln sehen konnte, so unterschied sein scharfes und geübtes Auge doch jeden helleren Gegenstand.
Er fand sich zurecht. Es war eine schmale Spalte in der die Chaussee begleitende Felswand, in die er einbiegen mußte. Durch sie floß ein Bach, und ohne Zögern trat Nobody in das Wasser und begann zu waten, und wenn er auch kleine Wasserfälle zu überwinden hatte, bis er keinen trockenen Faden mehr am Leibe hatte, er verließ den nassen Weg nicht, bis sich die erst kahlen Ufer mit Büschen bedeckten, was er schon fühlen konnte.
Als die Büsche immer dichter wurden, verließ er den Bach, kroch zwischen das Gestrüpp, immer tiefer, legte sich hin, und bald war er, das Hündchen an einer Schnur im Arm, sanft entschlafen, als wäre er warm auf Daunen gebettet.
Doch der erste schwache Schein, welcher noch weit der Morgendämmerung vorausging, genügte, wie er sich vorgenommen, um ihn zu wecken.
Er fütterte den Hund mit einigen Biskuits, dann, als es heller zu werden begann, steckte er den Kopf aus dem Gebüsch und hielt Umschau.
Es war eine schmale Schlucht, auf beiden Seiten von hohen, steilabfallenden Felswänden begrenzt, im Hintergrunde stürzte der Bach wohl an 80 Meter von einer Einsattelung herab. Ob dort die Schlucht geschlossen war, konnte Nobody von hier aus nicht erkennen, und er hielt dieses Versteck gerade für günstig, wollte es gar nicht erst verlassen.
Eine Stunde verging. Es war heller Tag geworden.
»Nun hab ich's Warten aber dicke!«
Nicht Nobody hatte dies gesagt, sondern eine helle Frauenstimme, auf deutsch, im schönsten sächsischen Dialekt.
Mrs. Therese Mojan verwitwete Hackerle!! Diese Stimme und dieser Dialekt waren doch bekannt!
Nobodys erster Griff war nach dem Kopfe des Wachtelhundes, ihm das Maul zuhaltend. Dann genügten einige geflüsterten Worte, um ihn am Bellen oder auch nur Knurren zu hindern.
Daß der Hund nicht gleich den sich nähernden Menschen gemeldet hatte, kam wohl daher, daß er gerade mit einem Biskuit beschäftigt gewesen war, und es war ja immerhin kein besonders erzogener oder auf so etwas abgerichteter Hund.
Nobody lugte vorsichtig hervor. Und da sah er sie auch!
Sie saß gar nicht weit entfernt auf einem Steine, der bankähnlich aus der Felswand hervortrat, trug ein kurzgeschürztes Lodenkostüm und - hatte eine schwarze Binde vor den Augen!
Wahrhaftig, der blaue Husar konnte doch nicht seinen Tod gefunden haben, und - er hatte sein Versprechen trotz alledem eingelöst!
Sonst konstatierte Nobody noch, daß ihr Kostüm gar nicht so mitgenommen aussah. Viele Strapazen auf Gebirgswanderungen konnte sie also nicht durchgemacht haben.
Jetzt streckte Mrs. Mojan beide Hände aus, griff tastend um sich, in der Luft herum, befühlte hinter sich die Felswand.
»Heernse, wo sin Se denn nur?«
Also sie war geführt worden, jedenfalls bis hierher. Hier hatte man sie allein gelassen.
Durfte Nobody daraus einen Schluß ziehen, daß sie sich jetzt des Deutschen bedient hatte? Er wollte es lieber nicht. Er kannte doch diese Frau, sie sprach in ihrer naiven Weise oftmals Deutsch, nicht daran denkend, daß man sie gar nicht verstand.
»Sin wir denn immer noch im Geller?«
Wie, in einem Keller wollte sie sein? Dann war daraus zu schließen, daß sie einen geschlossenen Gang, einen Tunnel passiert hatte. Dessen konnte sie sich wohl auch mit verbundenen Augen bewußt gewesen sein.
»Wenn Sie awer nu nich bald gomm, geh ich alleene meiner Wege.«
Und bald machte sie ihre Drohung war, sie erhob sich und tastete sich weiter, ihre Hand an der Felswand entlanggleiten lassend.
»Ja, ich bin immer noch im Geller. Hört der denn nich bald uff?«
Ihr Fuß geriet in hohes Gras.
»Awer hier wächst das Moos hoch - im Geller - nu so was!«
Es machte einen überaus humoristischen Eindruck, wie die Frau im Freien wandelte, im Gras und zwischen Bäumen, und sie glaubte noch immer, sie befände sich in einem finsteren Kellergange.
Aber es sollte noch besser kommen. Jetzt stieß sie gegen einen Baum.
»Na, da sin Se ja wieder! Gäm Se mir doch lieber Ihre Hand.«
Sie tastete an dem Baumstamm herum, und da mußte sie ihren Irrtum wohl gewahr werden.
»Hier im Geller wachsen ja Beeme!?« erklang es in höchstem Staunen.
Denn sie überzeugte sich an herabhängenden Zweigen, daß das wirklich frische, grüne Blätter waren.
»Da bin ich wohl gar schon draußen?« kam ihr jetzt die Erkenntnis.
Keine Antwort.
»Darf ich denn de Binde nu abnehmen?«
»Ja, Therese, de darfst!« erscholl aber da doch eine Antwort von einer Männerstimme, und ...
»Cerby!« jubelte da Therese, riß die Binde von den Augen, und sie lag in des Gatten Armen - soweit sich diese beiden Ehegatten bei ihrer beiderseitigen Leibesfülle umarmen konnten.
Dann blickten sie einander an.
»Meine Therese!«
»Mein Cerby!«
»Du siehst aber doch eigentlich ganz wohlgenährt aus?«
»Du bist aber dick geworden!«
Und dann sanken sie wieder einander an die Brust, respektive an den Bauch, und versuchten sich zu küssen.
»Aber,« warnte Mrs. Mojan vorher, ehe es zum Knalleffekt kam, mit erhobenem Finger, »du hast doch nicht etwa ...?«
Ja, Mr. Cerberus Mojan hatte. Wie fast alle echten Yankees kaute er nämlich Tabak, und so sperrte er erst seinen Rachen auf, griff mit der ganzen Hand hinein, brachte einen ansehnlichen Kloß zum Vorschein, den hielt er einstweilen hinter dem Nacken seiner Frau, und als der Kuß nach einiger Schwierigkeit geglückt war, steckte er den Tabakskloß wieder in den Mund - und dann wandelten die beiden Arm in Arm von dannen, dem Ausgange der Schlucht zu.
»Du, awer verraten därf ich nischt.«
Das war das letzte, was Nobody noch zu hören bekam.
»Glückliche Leutchen!« murmelte er, als er die beiden verschwinden sah.
Er dachte nicht daran, ihnen zu folgen, um Mrs. Mojan auszufragen. Besser, die beiden erfuhren gar nicht, daß er hier war, was er jetzt vorhatte.
Einige Zeit wartete er noch. Dann war sein Entschluß gefaßt.
Wenn diese Schlucht von jenem Unbekannten beobachtet wurde? Er konnte es nicht ändern, mußte es riskieren. Den Tag mußte er doch benutzen. Er hoffte nur, daß sich auch jener begnügen würde, die beiden die Schlucht verlassen zu sehen.
Nobody kroch aus seinem Versteck hervor. Fußabdrücke der Mrs. Mojan waren bald gefunden, er setzte Lulu auf die Spur, wo sie sich noch nicht mit der des Gatten vermischt hatte, einige ermunternde Worte, und der Wachtelhund nahm die Fährte sofort auf, verfolgte sie nach rückwärts.
Es war gut, daß Nobody den Hund mitgenommen hatte. Vorläufig war die Spur noch zu erkennen, bald aber wurde der Boden steinig, da hörte sie auch für sein Auge auf, nicht für die Nase des Hundes.
Sie führte bis nach der hinteren Felswand, die einen geschlossenen Eindruck machte, nur daß sie stark zerrissen war, auch Höhlen besaß, und in eine solche drang Lulu ein.
»Wieder eine Höhle, die sich unbedingt in einem Tunnel fortsetzt - ich bin und bleibe der Felsenmaulwurf.«
Mit letzterem mochte Nobody recht haben, aber nicht mit ersterem. Wenigstens zeigte die Höhle keine Fortsetzung.
Die Höhle war gar nicht so tief, dann hörte sie mit festem, glattem Gestein auf. Lulu blieb an der Wand stehen, schnüffelte am Boden, blickte seinen Herrn fragend an, wußte offenbar nicht, was nun weiter.
Eine geheime Tür, oder irgendeine geheime Passage. Jetzt war es an Nobody, diese zu finden, und da hatte dieses Detektivs Scharf- und Tastsinn ja auch noch niemals versagt.
Diesmal aber war es der Fall. Wohl eine Stunde lang tastete und prüfte Nobody an der Felswand herum, und dann mußte er seine Bemühungen aufgeben.
Hierheraus war Mrs. Mojan gekommen, daran war gar kein Zweifel. Der Hund irrte sich nicht, der zeigte immer wieder genau die Stelle an, wo sie den Fuß an den Boden gesetzt hatte, dicht an der Wand, und sie war auch nicht etwa hier erst hereingekommen und war an der Wand umgedreht, dann müßte eine zweite Spur vorhanden gewesen sein, und das war nicht der Fall. Dies alles zeigte der Hund an, den man nur zu verstehen brauchte.
Dann ließ Nobody ihn auch an dem Handschuh riechen - gewiß, der Hund fand eine Spur, welche dieselbe Witterung hatte, aber diese Spur führte kaum einen halben Meter von der Wand ab, da hörte sie schon wieder auf.
Der Besitzer des Handschuhs, sagen wir gleich Don Juan, hatte die Gefangene also nur herausgebracht, oder vielmehr nur in die Höhle hinein, mochte ihr gesagt haben, sie brauche nur immer mit der Hand an der Wand zu tasten, wie wahrscheinlich auch bisher, und war gleich wieder zurückgetreten, hinter ihm hatte sich wieder die Oeffnung geschlossen, welche Nobody jetzt nicht finden konnte.
Er wollte keine Zeit weiter vergeuden. Es gab noch ein anderes Ziel für ihn, und vielleicht war es sogar dasselbe, zu dem man auch noch auf einem anderen Wege gelangen konnte.
Eine halbe Stunde später befand er sich wieder hinter der Barriere an dem Rande des Abgrundes.
Es war noch sehr früher Morgen, dieser Park würde auch kaum belebt werden, und von der anderen Seite konnte Nobody nicht beobachtet werden. Das Gefängnis und andere Häuser lagen viel weiter abseits.
Diesmal brauchte Nobody nicht erst die Lederriemen zusammenzubinden, er hatte sich mit allem Nötigen versehen, und es schien, als habe er unter seiner Weste noch mehr solcher langen Leinen, wie er eine jetzt um den Baumstamm schlang.
Das Hündchen vorn im zugeknöpften Rock, ließ er sich hinab und befand sich zum zweiten Male auf dem schmalen Grat.
Erst jetzt, am hellen Tage, ward man sich der furchtbaren Lage bewußt. Denn unter solchen Verhältnissen, wenn man in solch eine Tiefe blickt, da scheint der Grat, auf dem man steht, immer schmäler zu werden, bis zum Messerrücken schrumpft er zusammen, ebenso wie es ein Unterschied ist, ob ein dickes Seil ganz niedrig oder bis zur Kirchturmspitze gespannt ist, oder wie ein sonst breites Brett, über einen Abgrund gelegt, zur dünnen Stange wird, auf der man nicht hinüberzubalancieren wagt.
Doch schwindelfrei blickte Nobody in die fürchterliche Tiefe. Seitwärts drangen die Sonnenstrahlen ein, die Schlucht war also erleuchtet, aber zu erkennen war dort unten nichts, und als Nobody sein Taschenfernrohr zu Hilfe nahm, erkannte er noch immer nur einen schwarzen Schlund.
Er steckte das Fernrohr wieder ein und wickelte dafür den Handschuh aus, ließ den Hund daran riechen.
»Nun such, mein kluges Tier, such!«
Der Wachtelhund senkte die Nase auf den Steinboden nieder, schnüffelte und lief nach links davon, und schon am Spiele des Schwanzes war zu erkennen, daß er wirklich eine Spur verfolgte.
Aber was sollte daraus werden? Schon nach etwa zehn Metern mußte sich auch das Tierchen an die Felswand schmiegen, um sich noch vorwärtsbewegen zu können. Entweder war der Hund so in die Verfolgung der Spur vertieft, daß er die neben ihm lauernde Gefahr gar nicht bemerkte, oder es war ihm überhaupt ganz gleichgültig, wie es neben ihm aussah, ob die Tiefe nur einen oder tausend Meter betrug, wie es ja genug solche Tiere gibt, auch größere, welche von einem Gefühl des Schwindels nichts wissen.
Aber Nobody mußte, wollte er so gehen, wie ein Mensch gewöhnlich geht, schon zurückbleiben.
Er tat noch einige Schritte, mit dem Rücken gegen die Wand, daß seine Füße kaum noch Platz fanden, dicht unter ihm gähnte die endlose Tiefe.
Doch was für einen Zweck hatte das? Jetzt konnte auch der Hund, noch zwei Schritte vor ihm, nicht weiter, seine Pfoten fanden keinen Platz mehr, oder der Körper ward doch von der Wand abgedrängt, und jetzt ward auch dieses Hündchen sich seiner gefährlichen Lage bewußt, es begann zu winseln, kehrte vorsichtig zurück, rückwärts gehend.
Ja, wie aber war der blaue Husar hier weitergekommen? Denn der Hund hatte bis zuletzt eine Spur verfolgt, das war ganz klar ersichtlich gewesen.
Und dort, vielleicht drei Meter von Nobody entfernt, hörte der Grat auch plötzlich auf. Oder dort konnte auch eine Ecke sein. Das war von hier aus gar nicht so deutlich zu unterscheiden.
Auch Nobody schlich zurück, immer fest gegen die Wand gepreßt, bis er wieder gehen konnte. Er knüpfte den Hund in den Rock, schwang sich hinauf.
Als er sich dort oben, wo er sich vorhin befunden, hinlegte und hinabspähte, erkannte er das Verhältnis, oder aber auch nicht.
Ja, eine scharfe Ecke befand sich hier. Bis an diese führte der nur noch fußbreite Grat, den nicht einmal der Hund mehr zu beschreiten gewagt hatte, und auch der Grat machte die Ecke mit, aber führte nur noch zwei Meter weit, dann hörte er definitiv auf, auf dem vorspringenden Sims wenigstens konnte auch keine Katze mehr laufen.
Was hatte das nun zu bedeuten? Diesen Weg mußte der blaue Husar unbedingt genommen haben, das hatte der Hund zu deutlich angezeigt, also auch um die Ecke herum. Aber wo war er dann verschwunden?
Das Haupthindernis war, daß Nobody gerade an dieser Stelle von hier oben aus die Wand gar nicht mustern konnte. Sie trat hier etwas nach innen zurück, war ausgehöhlt, und zudem trat auch noch hier oben die Wand etwas hervor. Zu weit aber durfte sich Nobody nicht vorbeugen, schon begann unter ihm Erdreich abzubröckeln.
Die einzige Mutmaßung, wollte man sich das Verschwinden des Flüchtlings auf natürliche Weise erklären, war die, daß sich gerade an dieser Stelle eine Höhle befand, oder eine Schachtöffnung, in der der schmale Grat endete.
Nobody sah keine Möglichkeit, sich von der Richtigkeit dieser Mutmaßung von hier oben aus zu überzeugen. Er hätte sich erst ein Drahtseil verschaffen müssen, an dem er sich hinablassen konnte. Denn gerade hier starrte der Rand von spitzen und schneidigen Vorsprüngen, sie hätten jedes andere Seil zerschnitten.
»Er ist unbedingt um diese Ecke gebogen, und was der kann, muß ich auch können!«
Mit diesem Entschlusse erhob er sich. Er wußte, daß er vielleicht in den Tod ging; denn wenn er sich dennoch täuschte, wenn sein Fuß jenseits der Ecke keinen Halt mehr fand? Dann würde er wohl schwerlich zurück können, dann wirbelte er hinab in die fürchterliche Tiefe.
Doch was hatte er auf dieser Erde noch zu verlieren? Nur noch sein erbärmliches, hoffnungsloses Leben.
Also zum zweiten oder zum dritten Male ließ er sich an dem Seile hinab, setzte das Hündchen wieder auf den Grat.
»Such, Lulu!«
Jawohl, der Hund nahm ganz sicher die Spur des Besitzers des Handschuhs auf.
Allzuweit ließ Nobody ihn diesmal nicht kommen, steckte den Hund wieder in die Tasche, jetzt aber in die seitliche Rocktasche, befahl ihm, sich ganz still zu verhalten, und er trat die Todeswanderung an, nun aber, da er dann um die Ecke mußte, mit dem Gesicht gegen die Wand.
Und das furchtbare Wagnis gelang! Mehr als Nobodys Körpergewandtheit war es wohl Gottes Hand, die ihn hielt, die seinen Todessturz in die gähnende Tiefe nicht wollte.
Noch ein Schritt, wie eine Schlange wand er sich um die Ecke, noch einmal konnte sein tastender Fuß festen Halt finden, ein Sprung - und er befand sich in der Höhle, in dem Loche, das ihm da seitwärts finster entgegengegähnt hatte.
Im ersten Augenblick, als er frei aufatmen konnte, wurde Nobody nur von einem einzigen Gedanken beherrscht: Was für ein Mann war das, der nächtlicherweile, nur im unsicheren Mondlichte, diesen schrecklichen Weg gewagt und zurückgelegt hatte? War das ein von einem irdischen Weibe geborener Mensch?
Wohl hatte ja Nobody dasselbe gewagt, auch ihm war es geglückt - aber welche Vorbereitungen hatte er erst dazu getroffen, und noch zitterte der sonst wie aus Stahl gebildete Detektiv vor körperlicher und noch mehr vor seelischer Anstrengung an allen Gliedern.
Und außerdem nun war der Husar doch nicht an einem Seile auf den Grat hinabgeglitten, sondern er war direkt hinabgesprungen, ohne weiteres, sofort mit gleichen Füßen, mitten in der größten Ueberraschung - und das war ein Sprung gewesen, in diese Tiefe, auf den schmalen Grat hinab, den ihm Nobody auch am hellen Tage nach ruhiger Abwägung der Verhältnisse nicht nachzumachen wagte.
Wohl mußte dieser rätselhafte Mann diesen Weg schon öfters zurückgelegt haben, sonst war ja so etwas gar nicht möglich, aber auch eine lange Uebung vorausgesetzt - Nobody konnte eben nur staunen.
»Wenn dieser Mann mir als Feind gegenübertritt, so habe ich es hier mit noch einem anderen Gegner zu tun als damals mit dem Spanier in New-York, mit dem Sennor Renardo, obgleich auch der schon mir fast gewachsen war!«
Dann hatte sich Nobody beruhigt, eben deshalb, weil er an das dachte, auf was es jetzt ankam. Mit nüchternen Augen blickte er sich um.
Es war ein kreisrundes Loch in der Felswand, von kaum einem Meter Durchmesser, so daß Nobody nicht aufrecht hatte hineinspringen können, sondern mit dem Kopf voran war er hineingeschossen, und so konnte er jetzt darin auch nur aufrecht sitzen oder knien, nicht stehen.
Und in dieser Enge schien sich das Loch auch nach hinten fortzusetzen. Nobody war entschlossen, dem Schachte zu folgen.
Zunächst setzte er das Wachtelhündchen in Freiheit, dann zog er seine Benzinlaterne aus der Tasche, ließ die magnetelektrische Zündung funktionieren.
Sie beleuchtete rote Porphyrwände, nichts weiter. Diese Wände zeigten so viele Zacken, daß Nobody an ein vulkanisches Gebilde dachte. Hier mußte sich einmal ein Lavastrom durchgebrochen haben, was aber nur in prähistorischer Zeit sich ereignet haben konnte. Von einer vulkanischen Tätigkeit war hier gar nichts mehr bekannt.
Leider war auch der Boden mit solchen spitzen Zacken besetzt, und um vorwärts zu kommen, mußte man auf den Knien kriechen. Doch schien sich der Schacht bald zu erweitern, dann auch der Boden ebener zu werden.
Die Hauptsache aber war, daß Lulu sofort wieder eifrig auf dem Boden zu schnüffeln begann, und als Nobody ihn erst noch einmal an dem Handschuh hatte riechen lassen, erkannte er mit Gewißheit, daß Lulu tatsächlich hier die Spur des blauen Husaren wiedergefunden hatte.
Es ging vorwärts. Bald konnte Nobody aufrecht gehen. Der Schacht machte einige Krümmungen, dann senkte er sich schräg hinab, immer schräger, bis man Obacht geben mußte, daß man nicht ins Gleiten kam, und dann folgten immer mehr Nebengänge, die sich kaum durch Größe unterschieden.
Welchen Nobody einzuschlagen hatte, darüber konnte er nicht im Zweifel sein, wenigstens wenn er die Spur des Räubers verfolgen wollte. Die Richtung wies ihm ja immer die Nase des Hundes an.
Aber Nobody konnte bei gewissen Gelegenheiten äußerst vorsichtig sein.
Gesetzt nun den Fall, diesem Hündchen stieß irgend etwas zu? Verloren war Nobody deshalb allerdings noch nicht, d. h., er hätte den Rückweg immer noch aus eigener Kraft gefunden.
Denn einmal hatte er einen Kompaß bei sich, und selbst wenn dieser abgelenkt worden wäre, wie damals in dem Labyrinth der Mammuthöhle, so hätte Nobody doch immer noch den Rückweg zu finden gewußt, indem er diesmal so vorsichtig war, an jedem abzweigenden Nebengange sich ein Zeichen zu machen, entweder durch Einritzen mit dem Messer, oder er brauchte nur einige Steinchen, die überall herumlagen, in besonderer Weise hinzulegen.
Aber dies nützte ihm nur, solange er sehen konnte, und in vollständiger Finsternis versagten auch dieses Detektivs Argusaugen, und dann war immer wieder damit zu rechnen, daß auch der Hund einmal verirren konnte.
Nobody war also von seiner Laterne abhängig, Diese war nicht mehr ganz mit Benzin gefüllt, doch reichte es noch für mindestens vier Stunden. So beschloß Nobody, diesem Schachte und der Spur höchstens zwei Stunden zu folgen. Dann mußte er unter allen Umständen, wenn er nicht einen Ausweg ins Freie direkt vor sich liegen sah, den Rückweg antreten.
Die Viertelstunden vergingen. Noch immer senkte sich der Schacht, bis er wieder eben wurde.
Wenn Nobody seinem Kompaß und seiner eigenen Berechnung trauen durfte, so konnte er sich jetzt ungefähr dort befinden, wo die Katzenschlucht in die Felswand der Maladetta einschnitt, und zwar schon am Grunde derselben.
Das Benehmen seines Hundes bestätigte ihm dies. Lulu wurde irre in der Spur. Er hatte eine zweite gefunden, die der ersten entgegenlief, und diese schien in der linken Felswand zu verschwinden.
Kein Zweifel, hier war die Stelle, wo der Räuber seine Gefangene aus dem Schachte heraus in die Katzenschlucht gelassen hatte. Hier befand sich eine geheime Felsentür. Aber wie Nobody auch suchte, er fand sie nicht, und gar zu lange wollte er sich dabei nicht aufhalten.
Lulu verfolgte den Schacht weiter, immer die Nase am Boden, und Nobody konnte sich mit Hilfe des Handschuhs überzeugen, daß es wirklich noch immer die Spur des blauen Husaren war.
Ob diese Spur nun freilich hinwärts oder herwärts lief, das konnte er nicht bestimmen. Der Boden war überall felsig, ohne die geringste Ansammlung von Staub oder dergleichen. Der Fuß hatte also nirgends einen sichtbaren Eindruck hinterlassen.
Immerhin, hier war Don Juan gegangen. Nobody folgte der Spur weiter.
Die erste Stunde war vergangen, als der Schacht, jetzt ganz sicher schon in der Felsformation der Maladetta befindlich, zu steigen begann, immer steiler wurde er, kaum war die Steigung noch zu bewältigen, und da mit einem Male sah Nobody zu seinem Staunen eine Treppe vor sich.
Sie war in der ganzen Breite des Schachtes, über einen Meter, in den Stein gehauen, jede Stufe sorgfältig bearbeitet, nicht nur so pro forma, wie die Bergsteiger es tun, daß der Fuß eben nur Platz findet, mit sehr weiten Absätzen - und das waren nicht etwa nur wenige Stufen.
Der volle Blendstrahl der Laterne reichte wenigstens zwanzig Meter weit, ein Dämmerlicht verbreitete er noch viel, viel weiter, und so weit Nobody auch blicken konnte, er sah die Treppe über sich steil emporsteigen.
Wer war der Schöpfer dieses gewaltigen Werkes? Der Räuber konnte es unmöglich allein gewesen sein, da hätte er viele, viele Jahre lang daran arbeiten müssen, andere hätten ihm auch kaum dabei helfen können, indem ja in dem schmalen Schachte keine zwei Menschen nebeneinander gehen, geschweige denn arbeiten konnten.
Außerdem machten die roten Stufen, wenn auch noch völlig gut erhalten, schon einen verwitterten Eindruck, waren sicher schon seit langer Zeit stark benutzt worden.
Gewiß, das war noch ein Werk der alten Römer! Besonders, wo diese im Gebirge Bäder angelegt hatten, findet man noch heute, wenn sie nicht schon verschüttet sind, immer solche unterirdische Tunnels. Es scheint, als ob die vornehmen Patrizier und ihre Frauen sich nach dem Bade vor dem Luftzug gefürchtet haben, sie hatten die öffentlichen Bäder mit ihren Häusern und auch mit dem Zirkus oder dem Theater verbunden, und was die alten Römer in solchen unterirdischen Bauten Fabelhaftes leisteten, das erkennt man ja noch heute besonders an den Katakomben wie auch an den Wasserleitungen, welche viele, viele Meilen durch die Felsengebirge führen.
Nobody stieg empor, und mit der Höhe der Treppe wuchs sein Staunen.
Bald hätte er seinen Vorsatz vergessen. Als er einmal nach der Uhr blickte, konstatierte er, daß er nun schon über eine halbe Stunde emporstieg und noch zeigte sich kein Ende der steilen Treppe.
Wie hoch mochte er in der halben Stunde schon gekommen sein? Da er sich unterwegs nie aufgehalten hatte, konnte er das ungefähr berechnen.
Wenn er in der Sekunde zwei Stufen nahm, so war er mindestens schon tausend Meter hoch gekommen.
Himmel, tausend Meter! Wie hoch ist die Maladetta? Nobody hatte sich darüber orientiert. Rund 3200 Meter.
Nun, da hätte er allerdings noch ein gutes Stück zu steigen gehabt, um dorthinzugelangen, noch zweimal so lange.
Doch nein, das war ein Irrtum. Einmal liegt Bagnères selbst schon in einer Höhe von 800 Metern, da doch vom Meeresniveau aus gerechnet wird, und dann gilt jene Höhe für den Pico de Nethou, eine unersteigbare Felsenspitze, die sich noch weit über den eigentlichen Gipfel der Maladetta erhebt.
»Ja, wenn die Treppe so weiter geht, dann brauche ich höchstens noch eine halbe Stunde, dann komme ich oben auf der Maladetta wieder heraus!«
Aber Nobody hatte nur noch zehn Minuten Zeit, dann mußte er, wollte er nicht wortbrüchig werden, umkehren.
Er benutzte die zehn Minuten, um rüstig aufwärtszusteigen, sprungweise immer gleich zwei Stufen nehmend.
Da zweigte sich rechterhand von der Treppe wieder einmal ein Nebenschacht ab, horizontal in das Gestein hineindringend.
Der Hund ließ ihn unberücksichtigt, er verfolgte die Treppe weiter, dorthinein führte also keine Spur, wohl aber stutzte Nobody.
War dort hinten nicht ein Lichtschimmer? Gewiß, wenn er den Blendstrahl abwandte, gewahrte er ganz deutlich, daß dort hinten eine natürliche Lichtquelle war, und außerdem empfand er einen wahrnehmbar kühleren Luftzug.
Die Treppe verlassend, wandte er sich in den horizontalen Schacht, und immer heller ward es, aber auch immer kühler, bis die Temperatur zur wirklichen Kälte herabsank, und dann stand Nobody unter einer Spalte, durch welche er oben den blauen Himmel leuchten sah. Außerdem tropfte es stark herab, das Wasser floß den Schacht entlang, aber nach der anderen Seite hin, wo er sich ins Finstere fortsetzte. Eiszapfen hingen bis in diesen Gang herab - Nobody befand sich ohne Zweifel unter einer Gletscherspalte, die bis hierherein ins feste Gestein führte.
Er verlöschte seine Lampe, hier brauchte er sie nicht mehr, so hell war es, und er durfte sich ja auch länger aufhalten, der Rückweg war gesichert.
Würde ihm gelingen, die Spalte zu erklimmen? Er schätzte die Höhe auf 40 Meter, hier unten waren die Wände nahe genug zusammen, um jenes Klettermanöver, bei dem wir ihn schon häufig beobachtet haben, das er den Australnegern abgelauscht zu haben schien, auszuführen; die Spalte erweiterte sich auch nicht - der Augenschein lehrte das Gegenteil, aber das war nur die bekannte optische Täuschung der Perspektive, und auch die Glätte der Eiswände sollte ihn nicht hindern.
Sich mit Knien und Händen, deren das Eis schmelzende Wärme eben ein Abgleiten verhinderte, gegen die vereisten Wände stemmend, befand sich Nobody nach zehn Minuten oben.
Er sah sich auf einem Gletscherfeld, welches von einer steilen Felswand ausging und sich in leichter Neigung nach einer Schlucht hinabsenkte.
Wie aber ward Nobody beim Anblick dessen, was er jenseits dieses Eisfeldes und der Schlucht liegen sah!
Eine grüne Matte, auf der einige Kühe und Ziegen weideten, im Hintergrunde ein Blockhaus mit Nebengebäuden - kein Zweifel, die Velita, die Almwirtschaft des Grafen von Rabenstein!
Es konnte gar nicht anders sein; denn die Maladetta hat sonst gar keine Almen, also auch keine Gehöfte. Nur auf diesem einzigen Terrain hier, durch die günstigste Lage bevorzugt, konnte etwas gedeihen, hier war das einzige Gehöft, das seit Jahrhunderten im Besitz ein und derselben baskischen Familie gewesen war, bis ein deutscher Graf, wohl ein echter Abenteurer, die einzige Tochter geheiratet, und auch dessen Sohn hatte sich aus Liebhaberei zur Jagd und Einsamkeit hier schließlich wieder eingefunden.
Sich an die Wand schmiegend, beobachtete Nobody. Da die zwei Wolfshunde, die sich an den Gebäuden umhertrieben, ihn noch nicht gewittert hatten, würden sie ihn wohl gar nicht bemerken, nur mußte er dafür sorgen, daß Lulu ruhig blieb. Die Entfernung war noch eine ziemlich große, wenn auch schon alles mit bloßen Augen zu unterscheiden.
Nach einiger kam Zeit kam aus der Blockhütte ein Mann hervor, in Pelze gehüllt, welcher die Kühe und Ziegen melkte. Als dies geschehen war, begab er sich in die Hütte zurück, und alles war wieder still.
Wie Nobody deutlich bemerkt hatte, war es ein alter Mann gewesen, also sicher Gomez, des Grafen einziger Gesellschafter.
Und Nobody wußte, weshalb er in Pelze gehüllt war, weshalb auch der Bärentöter ein Pelzkostüm getragen hatte, als er die Maladetta besteigen wollte.
Obgleich die Fläche dort drüben grün war, weil Schnee fehlte, herrschte hier oben doch eine schneidende Kälte, teils durch den von den Höhen kommenden Wind, teils durch die Nähe des Gletschers. Hier wirkten die Sonnenstrahlen des Septembers nicht mehr, welche dort drüben noch recht wohl erwärmen mochten.
So abgehärtet dieser Detektiv auch war, so erstarrte er selbst doch bald zur Eissäule. Lange konnte er nicht mehr so still liegen.
Was sollte er tun? Er hielt für möglich, wenn er den Gletscher an der Felswand entlangwanderte, dort über die Schlucht zu kommen; wahrscheinlich würde er die Velita dann von hinten betreten.
Aber ebenso fest war er überzeugt, daß er auch dorthinaufgelangen würde, wenn er wieder in der Gletscherspalte verschwand und die Treppe weiter verfolgte.
Also waren der Räuber Don Juan und der Besitzer dieser Velita, Graf Johannes von Rabenstein, doch ein und dieselbe Person?
Nun, das war noch gar nicht gesagt. Solche Schlüsse wollte Nobody lieber nicht ziehen.
Die dort drüben brauchten ja gar nicht zu wissen, daß sich unter ihnen solch ein Tunnel befand, der sogar bis dicht auf ihre Alm führte.
Aber wenn es nun doch der Fall war? Und wenn Nobody in seinem dünnen, eleganten Straßenkostüm dort drüben plötzlich auftauchte? Wenn er gefragt wurde, wie er hierherauf käme, was sollte er antworten? Durfte er denn die Wahrheit sagen?
Nobodys Entschluß war fertig. Er wollte noch einmal die Treppe weiter verfolgen, lange konnte er ja nicht dazu gebrauchen, um dort drüben an ihr Ende zu gelangen. Aber dort auf der Velita in seinem Sommerröckchen erscheinen, das durfte er auf keinen Fall. Nachdem er sich orientiert hatte, wollte er wieder zurück, wozu er ja höchstens anderthalb Stunden bedurfte, in Bagnères würde er sich schon mit warmer Kleidung versehen können und mit der übrigen Ausrüstung, die zu solch einer Gebirgstour gehört, dann konnte er diesen Weg abermals einschlagen, jenen aber sagen, er habe eben eine lange Gebirgstour über die Gletscher hinter sich.
So trat Nobody den Rückweg durch die Gletscherspalte an, ohne dort drüben eine zweite Person gesehen zu haben, und gesetzt den Fall, daß Graf Rabenstein wirklich der Räuber Don Juan war, so bezweifelte Nobody auch, daß dieser sich schon hier oben befand.
Der gefährliche Abstieg war geglückt. Weit gefährlicher dünkte für Nobody jetzt der Aufstieg der Treppe, so bequem diese sonst auch war.
Wenn ihm nun einer der Velitabewohner begegnete? Mit irgendeiner Begegnung hatte Nobody schon immer gerechnet, aber jetzt war er nahe dem Ziel, diese Gefahr selbst war seinem Bewußtsein näher gerückt.
Das einzige, was er dagegen tun konnte, war, daß er seine Laterne nicht anzündete. Dafür band er den Hund, der noch immer eifrig hinter der Spur her war, an eine Schnur, so ließ er sich führen, tastete im Dunkeln an der Wand.
Bald sollte sich zeigen, wie gut diese Vorsicht war.
Nobody hatte noch keine hundert Stufen hinter sich, eben machte die Treppe einen scharfen Winkel, als er plötzlich einen hellen Lichtschein und in diesem einen Mann stehen sah.
Es war nicht nötig, daß sich Nobody schnell an die Wand schmiegte. Der Mann stieg nur noch wenige Stufen herab, dann verschwand er in der Wand, also in einem Seitengang.
Hätte Nobody die Laterne brennen gehabt, er wäre unbedingt gesehen worden, und wer weiß, was dann gefolgt wäre. Außerdem war es ein großes Glück, daß sein Hund ruhig blieb. Lulu verfolgte zwar auch in dieser Stockfinsternis die Spur, schien aber doch vor dem plötzlichen Auftauchen eines Menschen in dieser finsteren Einsamkeit erschrocken zu sein, vergaß sein sonstiges Kläffen, schmiegte sich furchtsam an seinen gegenwärtigen Herrn an.
Nobody steckte ihn in die Tasche, überlegte nicht lange, schlich weiter. Er erreichte die Ecke, hinter der sich der schwache Lichtschein befand - an den Boden geschmiegt, lugte er hervor - ja, er hatte sich auch vorhin nicht geirrt, es war wirklich derselbe Alte im Schafsfell, den er schon auf der grünen Alm gesehen hatte.
Nun gab es aber auch gar keinen Zweifel mehr, daß Don Juan und Graf Rabenstein, der hier oben hauste, ein und dieselbe Person waren, man hätte gerade annehmen müssen, daß nur sein Diener von diesem unterirdischen Gange wußte.
Der Seitengang endete hier in einer Höhle, die mit Kisten und Fässern angefüllt war, außerdem waren Anzeichen vorhanden, daß hier ein Mensch wohnte oder gewohnt hatte, und Nobody irrte wohl nicht, wenn er annahm, daß in diesem unterirdischen Raume auch Mrs. Mojan gefangen gehalten worden war; hatte der blaue Husar doch selbst gesagt, sie sei zufällig hinter seine Schliche gekommen, und das war von hier aus ja auch sehr leicht möglich.
Die Rückkehr des Alten durfte Nobody sowieso nicht abwarten, so trat er selbst gleich den Rückweg an, die Treppe hinab. Dabei mußte er sich wohl des Lichtes bedienen, auch auf die Gefahr hin, dem Räuber zu begegnen, welcher Fall aber nicht eintreten sollte.
Im Zeitraum von anderthalb Stunden erreichte er wohlbehalten wieder die Oeffnung, durch welche man in die Schlucht hinabblickte, über ihm befand sich der Park des Kurhotels. Und oberirdisch sollte man zu demselben Wege nach der Velita nicht weniger als zwei Tage brauchen? Nun, wenn es dabei über Gletscher ging, wo erst Stufen zu hauen waren, wenn man sich durch Eis und Schnee überhaupt erst einen Weg suchen mußte, so war das schon glaubhaft, abgesehen davon, daß man um diese Schlucht herum einen kolossalen Umweg machen mußte, und wer wußte, wo der Aufstieg zur Maladetta erst beginnen konnte, während hier unter der Erde diese Umwege alle wegfielen.
Als Nobody wieder um die gefahrvolle Ecke bog, durchzuckte ihn ein jäher Schreck.
Bei aller Vorsicht hatte er eines doch ganz außer Acht gelassen. Die Gendarmen konnten doch zurückgekehrt sein, um die Stelle, wo gestern nacht der blaue Husar so spurlos verschwunden war, noch einmal bei Tage zu besichtigen, und sie erblickten das angeknüpfte Seil, sie nahmen es weg, dann war Nobody hier unten ...
Doch nein, da hing das Seil ja noch! Bald war Nobody oben, er selbst löste es ab, und nachdem er seinen Anzug etwas gesäubert hatte, eilte er nach seinem Hotel.
Unterwegs erkannte der freigelassene Hund Nobodys Oberhoheit nicht mehr an, er lief, wohl auch vom Hunger geplagt, in den ihm wohlbekannten Straßen davon, nach dem Hause seines Herrn.
Es war erst gegen Mittag, als Nobody sein Hotel betrat. Da kam ihm Mr. Geodfroy entgegen, noch immer in seinem Gebirgskostüm, das er hier wohl auch niemals ablegte.
»Wo haben Sie denn den ganzen Tag gesteckt?!« rief dieser ihm entgegen. »Ich suche Sie seit heute früh, jetzt könnten wir schon auf der halben Höhe der Maladetta sein!«
Nobody entschuldigte sich mit einem Frühspaziergang, bei dem er sich verirrt habe. Eine Entschuldigung war dies allerdings eigentlich nicht, der Aufbruch war doch für heute früh verabredet worden, da macht man nicht zuvor eine Promenade.
Doch Mr. Geodfroy achtete nicht weiter darauf.
»Nein, nein,« sagte er in begütigendem Tone, »so weit wären wir noch nicht gekommen, es ist sogar recht gut, daß wir gestern und auch heute früh noch nicht aufgebrochen sind.«
Ha, wenn der wüßte, wo Nobody in den wenigen Stunden schon gewesen war!
»Weshalb ist es ein großes Glück?«
»Weil mein Freund vorhin selbst gekommen ist.«
»Der Graf von Rabenstein?«
»Jawohl.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Er ist erst vor einer Stunde hier eingetroffen, ist schon gestern früh von seiner Velita aufgebrochen. Sehr guter Weg diesmal, sagte er. Nun begleiten wir ihn hinauf. Sie sind doch dabei?«
»Ja, ich möchte mir so eine Almwirtschaft auf der Maladetta gern einmal ansehen.«
»Und spionieren, ob dieser Einsiedler nicht doch vielleicht der berühmte Räuberhauptmann Don Juan ist,« lachte der Bärentöter. »Sehen Sie sich ihn nur einmal an, wie der zu der Rolle solch eines galanten Räubers paßt. Wie die Faust aufs Auge. Im Gebirge, einem Bären gegenüber - ja, da steht er seinen Mann - aber in der Gesellschaft ist er eine recht unglückliche Figur. Apropos, wissen Sie denn, daß Mr. Mojan seine Frau wieder hat?«
»Ich weiß es.«
»Auf welche rätselhafte Weise sie ihm zugeführt wurde?«
»Ich habe davon erzählen hören.«
»Die beiden sind schon abgereist.«
Das war für Nobody allerdings etwas Neues.
»Ich muß erst einmal auf die Post gehen, es ist etwas da für mich,« fuhr der Bärentöter eilig fort. »Sie finden den Grafen im Restaurationszimmer, werden ihn gleich an seinem linkischen Wesen erkennen. Machen Sie den armen Menschen nicht gar zu verlegen. Sonst warten Sie, bis ich wiederkomme, ich stelle Sie dann vor. Er hat heute wieder einmal seinen ganz besonders melancholischen Tag. Auf Wiedersehen!«
Mister Geodfroy ging davon, und Nobody betrat das Restaurationszimmer.
Es befanden sich mehrere Gäste darin. Nobody ließ seine Augen umherschweifen, und plötzlich erstarrte er, denn ... er glaubte sich selber dort sitzen zu sehen!«
Es war ein noch jugendlich aussehender Mann, ein blonder Lockenkopf, bäurisch gekleidet, d. h. wie ein Bauer im Sonntagsanzug, und zwar nicht wie ein spanischer, sondern etwa wie ein deutscher Bauer, und auch die sonnverbrannten, verwitterten Züge machten einen bäurischen Eindruck.
Nun ist freilich schwer zu sagen, weshalb Nobody in diesem Mann sein Ebenbild erkennen wollte.
Dieser Detektiv war doch eben ein Verwandlungskünstler, der sein Gesicht täglich im Spiegel studierte und daher darin jeden Zug und jedes Fältchen kannte.
Und jener semmelblonde Jüngling dort hatte ganz genau dieselbe Physiognomie wie er selbst, obgleich niemand ihn mit jenem verwechselt haben würde, weder seine Frau noch der scharfsichtige Mojan.
Wenn aber Nobody, besonders früher, die Maske eines jugendlichen Bauern gewählt hatte, dann war immer ganz genau dieselbe Charakterfigur herausgekommen, die dort allein an einem Tischchen saß, dann wäre das dort sein Spiegelbild gewesen, und dazu paßte sogar auch ganz genau die schlanke, aber kraftvolle Figur, welche unter dem groben Tuche sicherlich von Muskeln strotzte.
Wer sagte ihm denn, daß dies der Einsiedler von der Maladetta sei? Nur ein Gefühl, aber auch ein ganz sicheres.
Eine Minute beobachtete Nobody noch den Mann, den er seinen Doppelgänger nennen konnte, wenn auch nur in gewisser Hinsicht. Sonst konnte dieser Verwandlungskünstler ja überhaupt keinen ständigen Doppelgänger haben.
Ja, er machte einen recht linkischen Eindruck, wie er so untätig hinter seinem Glase Bier saß. Schon so wußte er nicht, wohin er mit seinen Händen sollte, wohin mit den Füßen, mit Absicht blickte er immer starr vor sich hin, wagte kaum, sein Bierglas anzufassen, tat dies höchst ungeschickt - alles nur aus dem Grunde, weil dieser sich der Einsamkeit ergeben habende Mensch glaubte, die Blicke aller anderen seien immer auf ihn gerichtet.
Das ist ein Gefühl, welches in seinen Folgen nur derjenige verstehen kann, der entweder diese unglückliche Charakterveranlagung selbst besitzt, oder es muß ein beobachtungsfähiger Künstler sein, ein Dichter, der sich in die Gedanken und Empfindungen eines jeden Menschen versetzen kann, und von alledem muß ja auch der Detektiv etwas besitzen.
Noch stärker zeigte sich die fremde Willensbeeinflussung - denn um eine solche handelte es sich im Grunde genommen - als der junge Mann aufstand, um vom Nebentische eine Zeitung zu nehmen. Kaum konnte er gehen, jeder Schritt war unsicher, er stolperte über die große Zehe. Hätte an diesem Tische jemand gesessen, so würde er solch eine Keckheit, eine Zeitung zu nehmen, niemals gewagt haben, und auch jetzt noch kehrte er mit feuerrotem Kopfe zurück, hätte beim Setzen beinahe den Stuhl verfehlt, und die Zeitung benutzte er zunächst dazu, um sein Bier umzuwerfen, was ihn nun vollends in die größte Verlegenheit brachte.
Und in diesem Augenblick kam es Nobody zum Bewußtsein: Wie, dieser schüchterne, verlegene Jüngling, wenn auch schon in der Nähe der Dreißig, das sollte jener Don Juan sein, derselbe, den er gestern abend längere Zeit beobachtet hatte?
Denn der blaue Husar war Nobody nicht erst aufgefallen, als sich dieser Mr. Mojans Krinoline näherte. Nobody hatte diesen blauen Husaren schon vorher längere Zeit im Auge gehabt, freilich ohne Ahnung, daß sich diese Maske dann als Don Juan vorstellen würde.
Sein prüfendes und für alles empfängliches Auge hatte nur seine Freude an der geschmeidigen, kraftvollen Gestalt in der kleidsamen Uniform gehabt, wie sie so ritterlich auftrat, wie sie sich durch den Saal bewegte, hier und da einer Dame etwas zuflüsternd, was ihm meistenteils einen Schlag mit dem Fächer eintrug oder eine ähnliche Bewegung erzeugte - also ein Kavalier, der sich auf dem Parkett zu Hause fühlte, für den allein die ganze Gesellschaft existierte - und nun hier dieser so überaus linkische Mensch!!
Und das war nicht etwa Verstellung. Das erkannte Nobody auf den ersten Blick. Das war eine angeborene Schüchternheit, die wohl schwerlich jemand, der einmal damit behaftet, überwinden kann.
Wirklich, Mr. Geodfroy hatte recht, wenn er gleich seinen Kopf zum Pfande anbot, daß sein Freund von der Maladetta unmöglich der galante Räuber Don Juan sein könne, wenn er alle solche Behauptungen für lächerliche Märchen des spanischen Aberglaubens bezeichnete, welche dann von den sensationslüsternen Badegästen gedankenlos nachgeplappert wurden.
Nur einer ließ sich durch alles das nicht irre machen: unser Nobody!
Es war eine lange Gedankenreihe, welche sein Hirn durcheilen mußte, um den Zusammenhang zu finden, und diese Gedankenreihe endete bei dem erklärenden Worte ?Maske?.
Wollen wir der Gedankenkette etwas folgen.
Wenn man wiederholt einen Schauspieler auf der Bühne gesehen hat, in ein und derselben Rolle oder in verschiedenen, und man macht dann seine persönliche Bekanntschaft, so wird man fast stets sehr enttäuscht sein. Es berührt doch sehr unangenehm, wenn ein berühmter Schauspieler, dessen Glanzrolle die Figur des idealen, melancholischen Hamlet ist, sich im gewöhnlichen Leben als ein Mensch entpuppt, der für nichts weiter Interesse hat als für Hummern und Champagner - oder sagen wir gleich: als für Sauferei und Fresserei. Solcher aber gibt es genug.
Am stärksten findet man diesen Unterschied, der zwischen den Brettern, welche die Welt nur bedeuten, und zwischen der wirklichen Welt herrscht, bei Komikern. Auf der Bühne Witzbolde und Clowns, über deren Späße man sich totlachen möchte, sie brauchen nur ein Gesicht zu machen - und im Leben, wenn man sie persönlich kennen lernt, sind es fast immer griesgrämige, mürrische Gesellen, zum Teil wahre Bullenbeißer. Andererseits findet man gerade unter diesen possenhaften Komikern hochgebildete Männer, die außerhalb der Bühne nur Sinn für ideale Kunst haben.
Aber das geht noch viel weiter. Alte Leute dürften sich noch auf den berühmten, unvergleichlichen Komiker Helmerding besinnen. Es wird behauptet, und dieser unvergleichliche Redekünstler bestritt es gar nicht, daß er im gewöhnlichen Leben gestottert habe.
Einmal wurde er von einem Stotterer verklagt, weil Helmerding ihn wegen seines Gebrechens verspotte, ihm seine Stotterei nachgeäfft habe.
Helmerding kam vor Gericht.
»Nenenenee, Herr Riririchter, ich stottottottere wiwiwirklich.«
»Aber Sie stottern doch nicht auf der Bühne.«
»Ja, das ist etwas anderes, da spreche ich unter der Maske, da bin ich ein anderer.«
Wird verstanden, was Helmerding hiermit sagen wollte? Das kann man eigentlich nur fühlen. Worte langen gar nicht zur völligen Erklärung.
Auf der Bühne ist eben der Schauspieler nicht mehr er selbst, sondern der, dessen Rolle er spielt - das nennt man Aufgehen, Sichversenken - und wer das nicht kann bis zum völligen Vergessen seiner eigenen Person, der bleibt ewig ein Stümper in der Kunst, und das gilt nicht nur vom Schauspieler, sondern von allen Künstlern, und vielleicht am allermeisten vom Dichter, und deshalb eben ist Shakespeare der größte aller Dichter, nicht durch seine Dramen, sondern durch seine Sonette.
Kurz, Nobody, selbst ein gottbegnadeter Künstler, konnte sich erklären, wie jemand, wenn er eine Maske vorlegt, ob diese nun in einem schwarzen Lappen oder nur in einem Gedanken besteht, ein völlig anderer Mensch werden kann, eben der Mensch, den er selbst vorstellen will. Nobody selbst machte dieses Kunststück ja fast täglich.
Ja, er hielt für möglich, trotz alledem und trotz alledem, daß dieser linkische Bauer, im Grunde genommen aber doch ein gebildeter, wahrscheinlich sogar ein hochveranlagter Mensch, in der Maske eines Offiziers diesen auch wirklich tadellos vorstellen konnte.
Oder sollte Nobody etwa auch daran zweifeln, daß dieser Tölpel, der über die große Zehe stolperte und bei der ersten Bewegung mit der Zeitung das Bierglas umwarf, nicht fähig gewesen wäre, wie eine Gemse unersteigliche Gebirgsgrate zu erklettern und dem Bären mit dem Messer zu Leibe zu rücken?
Ja, gebt nur etwas auf Aeußerlichkeiten. Bringt den geschniegelten Judenjungen, der schon mit sechzehn Jahren so ziemlich das ganze Leben hinter sich hat, auf die schwankenden Schiffsplanken und setzt dafür den wetterharten Seebären auf das Parkett des Salons - wie sie die Rollen wechseln! - und der kurzsichtige und gedankenlose Mensch, der sich von Aeußerlichkeiten blenden läßt - sein ganzes Leben wird aus lauter Enttäuschungen bestehen.
Nobodys Beobachtungsstudien waren beendet. Kurz entschlossen trat er an den Tisch.
»Gestatten Sie?«
Hilflos, mit rotem Kopfe schaute der Gefragte zu, wie der Kellner das verschüttete Bier aufwischte.
»Ich konnte wirklich nichts dafür,« murmelte er in einem fort.
Und nun wollte sich gar noch ein fremder Herr, der so sicher auftrat, an seinen Tisch setzen!
»Gestatten Sie, daß ich an Ihrem Tische Platz nehme?«
»Ach ja - ach ja - oder ich kann ja auch gehen.«
»Mein Name ist Hublin.«
Nur Verlegenheit, ganz ungekünstelt, nichts weiter.
Nobody hatte sich gesetzt.
»Ich habe die Ehre, Herrn Grafen von Rabenstein zu sprechen?«
»Ja - das heißt - eigentlich - jawohl, so heiße ich.«
Nobody beschloß, es möglichst kurz zu machen. Hier unten würde er mit diesem Manne doch niemals fertig werden. Hier und jetzt war das eben wirklich der Einsiedler von der Maladetta, der in seiner Einsamkeit allen Menschenumgang verlernt hatte.
»Ich logiere in diesem Hotel. Darf ich Sie bitten, mir auf mein Zimmer zu folgen?«
Ein klein wenig raffte sich der junge Mann jetzt doch zusammen. Er erschrak, was ob solch einer Bitte aber auch ganz begreiflich war.
»Auf Ihr Zimmer folgen?«
»Ich bitte darum.«
»Weshalb?«
»Ich habe Ihnen eine wichtige Eröffnung zu machen.«
»Was für eine Eröffnung denn?« stotterte der Graf mit immer röter werdendem Kopfe.
»Bitte, folgen Sie mir doch.«
Nobody hatte sich schon wieder erhoben - und ob der andere nun unter dem Banne dieser hypnotischen Augen stand oder nicht - auch der Graf stand auf und folgte dem Vorausschreitenden, noch immer so unbehilflich wie zuvor.
Nobody schloß hinter ihm die Tür des Zimmers, schob unbemerkt gleich den Riegel vor, was schon ein großes Hindernis ist, wenn jemand schnell fliehen will und weiß nichts von einem Riegel.
Noch verharrte der Graf in der Mitte des Zimmers in seiner verlegenen Stellung.
»Bitte, wollen Sie nicht Platz nehmen?«
Wohl ganz unbewußt ließ sich jener auf einen Stuhl nieder.
»Ja aber - ich weiß gar nicht ...«
»Haben Sie schon meinen Namen gehört?«
»Nein.«
»Mr. Hublin.«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Aber von Mr. Mojan müssen Sie doch schon gehört haben.«
Jetzt schien über den Schüchternen ein Schimmer des Bewußtseins zu kommen.
War solch eine Verstellung denn nur möglich? Nein, das war keine Verstellung, höchstens ... Selbstbetrug, oder wie man es nun nennen mag.
»Mr. Mojan hat seine Gattin heute wiederbekommen.«
»Ach - ja, ich hörte es schon - freut mich sehr - freut mich sehr,« murmelte jener.
Doch Nobody ließ sich jetzt durch nichts mehr irre machen.
»Dieser Cerberus Mojan war in Begleitung eines anderen Herrn.«
»So?«
»In der des Mr. Hublin. Es sollte mich wundern, wenn Mr. Geodfroy nicht von ihm gesprochen hätte. Er wollte ja heute mit ihm die Maladetta besteigen, Ihre Velita besuchen.«
»Ach so, Mr. Hublin - jawohl, jetzt besinne ich mich.«
»Dieser Hublin bin ich selbst.«
»Ach - freut mich - ehrt mich sehr.«
»Ich bin Detektiv.«
»So?«
»Ich begleitete Mr. Mojan, um ausfindig zu machen, wo seine Gattin gefangengehalten würde, wer ihr Entführer eigentlich sei.«
»Ach - haben Sie schon eine Ahnung?« lautete die unbefangene Frage.
»Das möchte ich eigentlich Sie fragen.«
Nur ein ganz klein wenig weiter wurden die Augen geöffnet.
»Mich?!«
»Ja, Sie. Sie wissen doch natürlich, daß Sie allgemein für diesen maskierten Räuber gehalten werden.«
»Ach so, jetzt weiß ich, was Sie meinen - aber das ist doch Unsinn - Sie brauchen doch nur den Bärentöter zu fragen.«
»Dieser Herr ist allerdings anderer Ansicht, ich aber ... Herr Graf, ich bin heute schon auf Ihrer Velita gewesen.«
»Auf meiner Velita?«
»Jawohl. In zwei Stunden bin ich hin- und zurückgegangen.«
Zunächst war ein ungläubiges Lächeln die einzige Wirkung.
»Wo soll denn diese meine Velita liegen?« fragte er dann, und jetzt sprach er schon etwas anders.
»Oben auf der Maladetta, wozu man sonst zwei Tage braucht.«
»Und Sie nur zwei Stunden? Aber bitte, wie ist denn das möglich?«
»Indem ich denselben Weg ging, den auch Sie gewöhnlich benutzen.«
»Den Weg, den ich immer benutze? Welchen denn?«
»Sie können ihn von der Katzenschlucht aus betreten, durch jene geheime Tür, aus welcher Sie heute früh die Mrs. Mojan herausließen, ein anderer Eingang befindet sich dort in der Felswand, an der Sie gestern abend als blauer Husar mit Mr. Mojan verhandelten. In diese Oeffnung bin ich heute früh eingedrungen - eine sehr gefährliche Ecke dort - habe den Gang verfolgt, bin die endlose Treppe emporgestie ...«
Eine blitzschnelle Bewegung, in der Hand des Grafen blitzte es, ein Knacks, dann ein Knall mit Feuerstrom ... da aber hatte Nobody die Hand mit dem Revolver schon hochgeschlagen gehabt, und hätte das erstemal der Revolver nicht versagt, so wäre er doch noch zu spät gekommen.
Aber nicht Nobody wäre ein Opfer des Schusses geworden, sondern der Graf; denn dieser hatte den blitzschnell hervorgerissenen Revolver gegen seine eigene Schläfe gerichtet gehabt.
»Mensch, was tun Sie!!«
Im nächsten Augenblick tanzten die beiden Männer im Ringkampf durch das Zimmer, Stühle und Tische umwerfend und gemeinsam Kopf an Kopf in die Scheibe des Wandspiegels fahrend. Der schüchterne Mann hatte sich mit einem Male ganz verändert.
Dabei war schwer zu unterscheiden, was der Ringkampf eigentlich bezweckte. Es schien um den Besitz des Revolvers zu gehen. Aber wiederum schien es fast, als wolle der Graf die Waffe immer nur gegen seine eigene Stirn oder Brust richten, woran Nobody ihn zu hindern suchte.
Nicht lange währte es, nur eine halbe Minute, dann hatte sich entschieden, wer der Stärkere und der Gewandtere war - Nobody. Er hatte dem an sich harmlosen Gegner schließlich die Waffe aus der Hand gerungen, jetzt konnte auch Nobody freier zugreifen, und gleich darauf lag der Graf auf dem Sofa und waren ihm auch schon die Hände gebunden.
»Bin ich nicht Herr über mein Leben?!« keuchte er.
»Still!« flüsterte der auf dem Besiegten knieende Nobody. »Wenn jemand kommt, müssen wir eine Ausrede haben.«
Aber niemand kam. Das Zimmer war abgelegen, der Schuß und der sonstige Spektakel mußten ganz überhört worden sein.
Nobody stieg von seinem Opfer herab.
»Wollen Sie vernünftig sein?«
»Geben Sie mir die Hände frei,« keuchte der andere nach wie vor, und jetzt allerdings hatte er sich total verändert.
»Wenn Sie vernünftig sein wollen. Was beabsichtigen Sie?«
»Mich zu töten.«
»Weshalb?«
»Mit mir ist es aus.«
»Dann verschieben Sie Ihren Selbstmord noch ein bißchen,« sagte Nobody gemütlich. »Hindern kann ich ja keinen Menschen, Selbstmord zu begehen, aber es braucht doch nicht gleich zu sein.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Noch ein bißchen mit Ihnen plaudern.«
»Geben Sie mich frei!«
»Nicht eher, als bis Sie mir Ihr Ehrenwort gegeben haben, in meiner Gegenwart nicht mehr Hand an sich selbst zu legen.«
»Hat denn ein Schmuggler und Räuber noch ein Ehrenwort?« erklang es bitter zurück.
Hiermit hatte dieser Mann aber auch schon ein Geständnis abgelegt.
»Für mich, ja,« entgegnete Nobody, »auch ein Räuber kann ein Ehrenmann sein, besonders, wenn er sein Handwerk nur aus abenteuerlicher Neigung betreibt.«
Ueberrascht blickte der Graf den Sprecher an.
»Herr, wer sind Sie?«
»Haben Sie schon von dem Detektiv Nobody gehört?«
»Was, Sie sind ...«
»Der Detektiv Nobody.«
»Der Baronet von Kent?«
»Ich bin es.«
»Herr, geben sie mich frei! Mit Ihnen kann ich sprechen.«
Es geschah. Was der Graf zu beichten hatte, läßt sich kaum wiedergeben.
Es war die alte Geschichte - die Geschichte von den Extremen, die sich berühren.
Wie viele Menschen gibt es nicht, welche die Hälfte ihres Lebens auf dem Betschemel liegen und sich zu Ehren Gottes und für ihre eigene Seligkeit kasteien, und zur anderen Hälfte waten sie im tiefsten Kote der Sünde, und das nicht zur Hälfte der ganzen Lebensperiode, sondern immer abwechselnd.
Bei diesem Manne hier war es kein Hang zur Religion und dann wieder zur schmutzigen Sünde, sondern Liebe zur beschaulichen und dennoch arbeitsamen Einsamkeit und dann wieder zu Abenteuern jeder Art.
In seinen Jünglingsjahren hatte Graf Johannes das Leben wenig genossen. Er war zu eckig gewesen, zu schüchtern, hatte die Menschen geflohen - und niemand hatte geahnt, was für ein Feuer im Innern des jungen Mannes brannte, wie er sich nach toller Lust sehnte.
Schauspieler hätte er werden mögen. Er war Schauspieler bis in die Fingerspitzen. Aber er wagte gar nicht, etwas zu sagen, er wäre ja doch nur ausgelacht worden, und glaubte er schließlich selbst nicht daran.
Dann, majorenn geworden, hatte er sein mütterliches Erbteil hier in den Pyrenäen besichtigt. Dem menschenscheuen Jüngling hatte es hier gefallen, er war hier geblieben, war Bauer und Jäger geworden - aber durchaus nicht etwa zufrieden mit diesem selbsterwählten Lose, sondern unglücklich bis ins Mark.
Durch Zufall hatte er den alten, unterirdischen Römerweg entdeckt. Es gab noch andere Tunnels, sie führten von Spanien direkt hinüber nach Frankreich.
Einmal war er Schmugglern begegnet, welche sich auf der Flucht befanden, nicht nur vor den Grenzwächtern, sondern auch vor Fra Diavolos Bande, der sie ins Handwerk pfuschten.
Johannes hatte sie gerettet, weniger aus Erbarmen, als aus angeborener Lust an Abenteuern, um den Verfolgern ein Schnippchen zu schlagen.
Um sich selbst nicht zu verraten, hatte er eine Maske getragen, dann wollte er doch auch das Geheimnis der unterirdischen Gänge nicht preisgeben - so hatte er sich selbst mit einem rätselhaften Geheimnis umgeben, und dabei war es geblieben, auch als er selbst Anführer einer Schmugglerbande wurde, welche der des Fra Diavolo Konkurrenz machte. Seine eigenen Anhänger, sonst aber auch Bauern und Hirten, hielten ihn für einen Magnolo, für einen Hexenmeister, für das manchmal zu Fleisch und Blut werdende Maladetta-Gespenst. Auch sie durften nur mit verbundenen Augen die Tunnels passieren.
Aber bei Jagd und Schmuggelei war es nicht geblieben. Johannes wußte die unterirdischen Gänge, welche dicht bei Bagnères mündeten, nicht nur unterhalb des Kurparkes und in der Katzenschlucht, weiter zu verwerten.
Im Schutze der Maske mischte er sich in die fröhlichen Gesellschaften, und hier war er der Fröhlichsten einer, hier verübte er die tollsten Streiche - eben ein ganz anderer - bis er sich wieder nach seiner erhabenen Einsamkeit zurücksehnte.
Ein anderer hätte dieses Doppelleben gar nicht verstanden, noch weniger, wie jemand solch eine doppelte Rolle überhaupt spielen kann, daß ihn unter der Maske nicht einmal der beste Freund, der scharfsichtige Bärentöter, wiedererkannte.
Aber, wie gesagt, Nobody verstand alles sofort. Er war in gewissem Sinne ja sogar ein ganz ähnlicher Charakter.
»Ich habe nichts mehr hinzuzufügen,« schloß der Graf seine Selbstbiographie.
»Haben Sie denn direkte Verbrechen begangen?« fragte Nobody offen.
»Was nennen Sie Verbrechen? Ja, ich habe genug Menschenleben auf dem Gewissen, welches dadurch aber nicht beschwert wird. Das war immer Grenzkampf, und fragen Sie nur die hiesigen Gebirgsbewohner, wie sie den Schmuggel als ein ganz ehrenwertes Gewerbe betrachten.«
Das war und ist eine Ansicht, über die gar nicht zu streiten ist. Bei uns ist ja überhaupt ganz genau dasselbe der Fall. Ruhig, sogar mit Stolz präsentiert der Hausherr die von ihm selbst geschmuggelten Zigarren, die Hausfrau den im Unterrock oder sonstwo durchgepaschten Tee. Keine Idee von einem Bewußtsein, daß solche Zollhintergehung im Grunde genommen nichts weiter als Diebstahl ist.
Nein, Graf Rabenstein hatte nichts verbrochen, nichts gestohlen. Seine Taschendiebstähle auf den Maskenbällen waren nur Scherze gewesen, übrigens auch ganz plump ausgeführt, dieser Jäger eignete sich zu allem anderen als zum raffinierten Taschendieb. Diese nervenüberreizten Badegäste machten nur noch viel mehr hinzu, übertrieben alles. Auch der Badearzt war hiervon nicht frei. Als Don Juan damals die Uhr, die zufällig aus der Tasche herausgehangen, in das Schlafzimmer gebracht, hatten Haus und Zimmer einfach offen gestanden, kein dienstbarer Geist war anwesend gewesen.
»Und die Gefangennahme der Dame?«
Ein Jux, weiter nichts - dem Rivalen wieder einmal einen Streich gespielt. Mrs. Mojan hatte während ihrer Gefangenschaft nicht zu klagen gehabt. Nur hatte sie dabei erfahren, daß ihr Entführer dort oben auf der Alm hauste, und wenn sie sich dann näher erkundigte, mußte sie alles wissen.
»Und da Sie nun erkannt sind, wollen Sie gleich Selbstmord begehen?«
Nicht gerade deshalb. Er hatte sich schon immer mit Selbstmordgedanken getragen. Weshalb? Allgemeiner Lebensüberdruß. Wer solche Doppelnaturen kennt, findet gar nichts weiter dabei. Die Komödie ist aus, der Vorhang fällt ...
Nobody machte einige Gänge durchs Zimmer. Der junge Mann saß auf dem Sofa - nicht mehr schüchtern, aber auch kein Räuber mehr - apathisch, gelangweilt.
»Es ist also noch immer Ihr Vorsatz, Selbstmord zu begehen?«
»Unbedingt!«
»Wenn ich Ihnen nun die Versicherung gebe, daß ich nichts verraten werde ...?«
»Nein, geben Sie sich keine Mühe. Endlich ist es so weit gekommen, wie ich es schon längst herbeigesehnt habe, wenn ich auch nicht freiwillig hineinspringen wollte. Nun aber ist es aus. Fragen Sie nicht, ich könnte Ihnen keine Erklärung geben ...«
»Und ich verstehe sogar die Erklärung, die Sie mir nicht geben können.«
»Ja, deshalb heißen Sie eben Nobody.«
»Sie kennen mich?«
»Ich habe viel von Ihnen gehört.«
»Durch wen?«
»Durch meinen Freund Mr. Geodfroy. Er ist ein begeisterter Verehrer von Ihnen, ist stolz darauf, daß Sie sein Landsmann sind, hat mir auch viel über Sie zu lesen gegeben, von Ihnen selbst geschrieben, und daraus konnte ich Ihren Charakter beurteilen.«
Nobody fragte nicht weiter nach einem ?Wieso?. Es gibt Menschen, welche nicht viele Worte brauchen, um einander zu verstehen.
Er machte noch einige Gänge durchs Zimmer, und dann blieb er wieder vor dem Grafen stehen.
»Ich frage Sie nochmals: ist es wirklich Ihr fester Entschluß, sich das Leben nehmen zu wollen?«
»Mein unerschütterlicher.«
»Dann kann auch ich Sie nicht daran hindern.«
»Das können Sie allerdings nicht.«
»Obgleich ich den Selbstmord verurteile.«
»Herr, das lassen Sie eines jeden Menschen eigene Sache sein.«
»Recht so, und zum Morallehrer fühle ich mich nicht berufen. Aber, würden Sie durch Ihren Selbstmord noch ein gutes Werk tun?«
»Gewiß, sehr gern, wenn ich wüßte, wie.«
»Das werde ich Ihnen gleich sagen. Das heißt, nicht eigentlich ein gutes, ein edles Werk, sondern nur eine Gefälligkeit für mich.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
»Ich glaube, Sie eignen sich wirklich zum Schauspieler.«
»Zweifeln Sie noch daran?«
»Könnten Sie auch meine Rolle spielen?«




Eine Woche später gab sich in Paris ein Herr einem Polizeileutnant als der Detektiv Nobody zu erkennen und wieder einige Wochen später nach jener Schiffskatastrophe ward Nobodys Leiche aufgefischt.
Nobody wurde beweint und begraben, und dann kam Edward Scott und behauptete, daß der Begrabene schwerlich Nobody sein könne.
Er mußte wohl recht haben. Wir wollen gleich verraten, daß Scott freilich nicht wissen konnte, daß der junge Graf Rabenstein als Nobodys Stellvertreter auf dem Dampfer während der Ueberfahrt einen Selbstmord hatte begehen wollen, aber er hatte seine Absicht nicht ausführen können, über Nacht war ihm das Schicksal auf natürliche Weise zuvorgekommen, hatte auch noch gleich seinen Kopf und sein Gesicht unkenntlich gemacht.
Scott und Gabriele trafen in Bagnères ein. Denn nach jener geographischen Ortsbestimmung konnte als Stadt nur dieser Badeort in Betracht kommen, obgleich Nobody ja nicht gerade hier zu weilen brauchte, er konnte auch in der weiteren Umgegend beschäftigt gewesen sein.
Als aber nun die beiden alles erfuhren, was sich vor drei Wochen hier zugetragen hatte, von Mr. Mojan, der in Begleitung eines Detektivs hier gewesen war, da befanden sie sich nicht im geringsten Zweifel, daß dies nur Nobody gewesen sein konnte, wenn auch der Name und die Beschreibung, die man ihnen von dem Herrn gab, nicht stimmten.
Aber wo war dieser Detektiv Hublin jetzt? Er hatte mit dem Einsiedler von der Maladetta, der einmal heruntergekommen, das Hotel verlassen und war seitdem verschwunden, ebenso wie Mr. Geodfroy, mehr konnte man ihnen nicht sagen. Die beiden sahen noch die Soldaten abmarschieren, welche den gefangenen Fra Diavolo über die Grenze nach Spanien hinüberbrachten, wo er diesmal richtig gehangen wurde, dann machten sich die beiden, nachdem sie lange genug untätig gewartet hatten, auf den Weg nach des Grafen Velita.
Von Führern und anderen Hilfsmannschaften unterstützt, erreichten sie die Velita nach ungeheueren Strapazen erst nach drei Tagen.
Kühe und Ziegen, welche, weil ihnen die abgegraste Alm nicht mehr genügend Futter bot, die gefüllten Heuschober mit ihren Hörnern zu erbrechen versuchten, zwei noch mehr verhungerte Wolfshunde - und schon daraus war zu schließen, daß die Velita bereits seit längerer Zeit von den Bewohnern verlassen worden war.
Aus Gnade und Barmherzigkeit wurden die Tiere getötet, dann trat die Expedition den Rückweg an.
Unterwegs, als man vor einem furchtbaren Schneesturm, der sich unten im Tale als Gewitterregen zeigte, Schutz in einer Höhle suchte, fand man darin eine Leiche - den Bärentöter, Mr. Geodfroy, trotz aller Pelze erfroren, schon von Wölfen angefressen.
Und nur mit knapper Not entging die Expedition einem gleichen Schicksale, bis sie glücklich wieder im warmen Tale anlangte.

IX. Auf der Teufelsinsel.

»Was nun?« fragte Gabriele.
Scott wollte nichts von einem längeren Warten wissen.
»Nobody lebte damals noch, als seine vermeintliche Leiche begraben wurde, das ist hiermit erwiesen. Und damit ist auch die Richtigkeit der Bestimmungen in dem roten Buche erwiesen. Nobody ist hier gewesen. Seine Mission war eben schon vor unserer Ankunft beendet.«
»Und wohin soll die nächste Bestimmung ihn führen?«
Das rote Buch gab Auskunft.
Es war eigentlich merkwürdig, daß Scott überhaupt erst nachsehen mußte. Er hatte doch damit rechnen müssen, Nobody, wenn er nun einmal noch seinen Missionen als Detektiv nachging, nicht mehr hier zu finden, die beiden kamen ja zwei Wochen später, und da hatte sich Scott gewiß schon über die nächsten geographischen Ortsbestimmungen orientiert, die einzelnen Punkte auf der Karte aufgesucht.
Gabriele hatte ihn deswegen auch bereits verschiedene Male gefragt, aber immer hatte der Kanadier ihr geschickt auszuweichen gewußt, das Gespräch schnell auf ein anderes Thema gelenkt, welches Gabriele ebenso interessieren mußte.
»Nun, welchen Ort gibt denn die nächste Bestimmung an?«
Scott schien plötzlich nicht mehr lesen zu können, so starrte er in das rote, jetzt schon sehr abgegriffene Büchelchen.
»Sechs Grad zweiunddreißig Minuten sechsundzwanzig Sekunden nördliche Breite, zweiundfünfzig Grad vierzehn Minuten dreiundfünfzig Sekunden westliche Länge,« las er dann wie mühsam vor.
»Und wo ist das?«
»Ja, wo ist das?« wiederholte Scott wie geistesabwesend.
»Das muß doch - muß doch - etwa das nördliche Südamerika sein?«
»Hm - leicht möglich - das nördliche Südamerika,« murmelte Scott wie zuvor nach.
Aufmerksam blickte Gabriele ihn an, und da kam ihr eine Erkenntnis.
»Ja, wissen Sie denn das nicht?«
»Nein.«
»Sie haben noch gar nicht nachgesehen? Ja, wie ist mir denn - jetzt fällt mir etwas ein - immer, wenn ich Sie deshalb fragte, wußten Sie mir auszuweichen. Mr. Scott, ich flehe Sie an - verheimlichen Sie nichts - was es auch sein mag - alles kann ich ertragen, nur keine Ungewißheit!!«
Mit angstvollen Augen und bebenden Lippen hatte Gabriele es gerufen, und der junge Kanadier mit den weißen Haaren raffte sich empor. Zunächst breitete er eine Karte auf dem Tische aus.
»Hier ist dieser Punkt,« sagte er, mit dem Finger auf die Nordostküste Südamerikas deutend. »Kennen Sie diese Gegend?«
Gabriele beugte sich darüber.
»Das ist Guyana, Französisch-Guyana.«
»Ja, aber nicht das Festland.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fragte Gabriele angstvoll, und es hatte auch ganz merkwürdig aus Scotts Munde geklungen.
»Es ist eine Insel.«
»Was für eine Insel?«
»Haben Sie noch nichts von der Teufelsinsel gehört?«
Nein, alles kann der Mensch doch nicht wissen, und obgleich schon seit alters her Strafinsel der französischen Regierung für die schwersten Verbrecher, die vom Tode begnadigt, war diese Insel damals doch nicht so aller Welt bekannt, wie sie es durch den Fall des Kapitän Dreyfus geworden ist.
Edward Scott wußte besser Bescheid. Er erzählte, was für eine Bewandtnis es mit dieser kleinen Insel an der Küste von Guyana oder Französisch-Cayenne, obgleich so nur die Hauptstadt heißt, habe.
Mit einem Male konnte Gabriele wieder heiter lachen.
»Und da jagen Sie mir durch Ihre Geheimnistuerei erst solch einen Schreck ein? Wozu denn das?«
»So haben Sie nicht verstanden, um was es sich handelt?«
»Daß Alfred auf dieser sogenannten Teufelsinsel ist oder gewesen ist.«
»Wenn er noch lebt, was ich ja nicht bezweifle, so muß er wohl auch noch dort sein.«
»Weshalb das?«
»Weil noch kein Gefangener die Teufelsinsel lebendig wieder verlassen hat.«
Und Scott konnte auch weiter schildern, weshalb dies unmöglich ist. Der Hauptgrund - es klingt absurd, und doch ist es so - liegt darin, daß auf der ganzen Insel kein Stückchen Holz zu finden ist. An alle anderen Inseln dieser Gegend wird von der Küste aus oder von der anderen Seite aus dem offenen Meere Treibholz angeschwemmt, nur gerade an dieser kleinen Insel nicht, wohl wegen der dort herrschenden, eigentümlichen Strömung.
Es wäre gar nicht nötig, daß dort ständig ein französisches Kriegsschiff kreuzt, die Insel beobachtend, daß auf ihr eine starke Besatzung liegt, daß jeder, der die Entweichung eines Sträflings nur zuerst meldet, hundert Francs Prämie erhält, wer ihn wiederbringt oder tötet, 300 bis 500 Francs, was auch den Eingeborenen und Negern an der Küste wohlbekannt ist, und daß der Gefangene, der den Fluchtplan eines Leidensgenossen verrät, große Vergünstigungen erhält, Tabak und dergleichen, auch weniger Prügel.
Die Gefangenen sind eben gar nicht imstande, die Felseninsel zu verlassen, an ein Schwimmen gar nicht zu denken. In diesem Falle sind die zahllosen Haifische die besten Wächter.
Aber trotz dieser grausigen Schilderungen behielt Gabriele ihren einmal wiedergefundenen fröhlichen Mut nun bei.
»Wenn er lebendig auf der Teufelsinsel ist, dann ist ja alles gut. Aber als was soll er sich darauf befinden?«
»Sicher als Gefangener.«
»Als Gefangener? Wie sollte das möglich sein? Was hat Alfred mit Frankreich zu tun?«
»Nun, er hat schon oft genug mit Frankreich zu tun gehabt, und Alfred - oder ich will ihn jetzt lieber Nobody nennen - dieser Nobody hat schon oft genug Partei für einen Verbrecher genommen. Es kann sich auch um einen unschuldig Verurteilten handeln, er ist gebeten worden, diesen von der Teufelsinsel zu befreien, er hat es versucht und ... auch Nobody kann einmal gefaßt werden.«
»Gesetzt, dies ist der Fall - dann würde er sich doch zu erkennen geben.«
»Was hülfe das? Dann hat er doch eine strafbare Handlung begangen.«
»Und deshalb gleich zeit seines Lebens auf die Teufelsinsel verbannt?«
»Wer einmal die Teufelsinsel betreten, ihre Geheimnisse erfahren hat, kommt nicht wieder von ihr herunter.«
»Was für Geheimnisse?«
»Und seien es nur die, daß er Zeuge barbarischer Grausamkeiten geworden ist.«
»Könnte er sich nicht als Beamter Zutritt verschafft haben?«
»Dann gälte genau dasselbe.«
»Wieso?«
»Weil auch die Soldaten und Beamten, welche auf der Teufelsinsel einmal stationiert sind, nicht wieder herunterkommen.«
»Nun, wie dem auch sei, jedenfalls haben wir Alfred auf der Teufelsinsel zu suchen. Wie können wir erfahren, ob er sich überhaupt dort befindet?«
Scott konnte wohl sagen, wohin sie sich zu wenden hatten, konnte aber auch gleich versichern, daß sie auf diese Weise nichts erfahren würden.
Und außerdem, wenn sie bei den betreffenden Behörden in Paris Erkundigungen einzogen, und Nobody befand sich wirklich als Gefangener auf der Teufelsinsel, vereitelten sie sich dadurch nicht die Aussicht, ihn befreien zu können, indem man dann eben gleich so etwas vermuten würde?
Nein, lieber nicht! So begaben sie sich gleich selbst an Ort und Stelle, zuerst wenigstens nach Cayenne.
In vierzehn Tagen hatte von Lissabon aus ein französischer Dampfer sie hingebracht.
Hierzu muß noch einiges bemerkt werden. Die Isle du Diable ist durchaus nicht die einzige Insel, nach welche Frankreich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilte Verbrecher deportiert.
Ganz Guyana ist eine Verbrecherkolonie. Besonders an den Ufern des Oyak sind sie angesiedelt worden, werden mit Holzschlagen und auf Plantagen beschäftigt, mit Straßenbau und dergleichen, erliegen samt und sonders sehr bald dem mörderischen Klima.
In der Mündung dieses Stromes und weiter draußen im Meere liegt dann noch eine ganze Menge von größeren und kleineren Inseln, welche sämtlich mit Sträflingen besiedelt worden sind, ebenfalls meist mit Fällen der kostbaren Farbhölzer beschäftigt.
Auch Cayenne ist solch eine Strafinsel, aber nicht etwa, daß ihre Bevölkerung ausschließlich aus Sträflingen besteht. Zählt doch schon die gleichnamige Hauptstadt, welche eben auf dieser Insel liegt, über 6000 Einwohner, meist Farbige, Gesindel der schlimmsten Sorte, die sich alle nur zu gern eine Prämie verdienen.
Die allerschwerste Strafe besteht nun allerdings in Deportation nach der sogenannten Teufelsinsel, welche noch weiter draußen im Meere liegt. Von Zwangsarbeit kann man hier nicht einmal sprechen, auf dem schwarzen Stein, der die Tropensonne erst recht unerträglich macht, wächst nicht einmal ein Grashalm - und gerade durch diese Untätigkeit, ewig der glühenden Sonne ausgesetzt, in den kleinen Steinhäusern erst recht gebraten werdend, ist hier eine wirkliche Hölle geschaffen worden.
Die hier angestellten Soldaten und Beamten haben sich ebenfalls eines Vergehens schuldig gemacht, erst nach so und so langer Zeit guter Führung werden sie abgelöst, was aber nie eintritt, und sofort, wenn sie den Fluchtplan eines Gefangenen entdecken.
Die Bastille, in welcher gefährliche Politiker für immer stumm gemacht wurden, die man aus irgendeinem Grunde nicht töten wollte - vielleicht sind sie ja doch noch einmal zu gebrauchen, oder es kommt etwa später noch einmal auf eine Aussage an - haben die Franzosen abgeschafft, hier an der südamerikanischen Küste haben sie eine neue Bastille angelegt.
Von allen Seiten wurden die beiden Fremden, welche in einem Hotel in Cayenne abstiegen, mißtrauisch beobachtet.
Dabei zeigte sich, daß sich weder Scott noch Gabriele zu so etwas eignete. Letztere mochte eine schlaue und verwegene Wüstenräuberin gewesen sein, aber so etwas Geheimes wußte sie nicht geschickt anzufangen.
Sie hatten nicht nach Paris geschrieben, um ihr Vorhaben nicht zu verraten, um also auch keinen Namen zu nennen, und jetzt mußte auch die fremde Dame ihren Paß vorzeigen, und Gabriele hatte keinen anderen als ihren echten, also zu London auf den Namen Lady Willcox ausgestellt.
Da wäre ja nun gleich alles verraten gewesen - wenn es wirklich etwas zu verraten gab.
Der Polizei-Offizier dankte höflich, die Sache war erledigt.
»Nein, es ist nichts bekannt, daß sich Nobody auf der Teufelsinsel befindet,« sagte Scott beim Verlassen des Paßbureaus.
»Weshalb nicht?«
»Der Name Sir Alfred Willcox, als der Nobodys ist doch gar zu bekannt, der Beamte hätte beim Lesen Ihres Passes doch wenigstens mit einer Muskel gezuckt.«
»Sie vergessen wohl ganz, daß Sir Willcox als tot und begraben gilt und ich als Witwe, als welche ich mich auch kleide.«
Da konnte sich Scott nur vor die Stirn schlagen. Daran hatte er im Augenblick gar nicht gedacht. Außerdem war ja auch ganz offenbar, daß Nobody mit Absicht als tot gelten wollte, da würde er doch auch niemals seinen rechten Namen nennen.
Um so weniger aber war Aussicht vorhanden, jemals zu erfahren, ob er sich wirklich auf der Teufelsinsel befand.
Die Tage vergingen, und die beiden, welche immer mißtrauischer von den Spionen beobachtet wurden, waren noch keinen Schritt weiter gekommen, wußten nicht, an wen sie sich wenden sollten. Ueberall nur käufliche Subjekte.
Doch Gabriele schien den Mut nicht zu verlieren.
»Was sollte Alfreds nächstes Ziel sein?«
»New-York.«
»Well, gehen auch wir nach New-York. Und so immer weiter, bis ans Ende der Welt - ich wenigstens tue es - einmal werde ich doch mit ihm zusammentreffen.«
Noch in derselben Nacht ging ein in Cayenne liegender amerikanischer Dampfer nach New-York. Die Billetts wurden gelöst. Gabriele hörte es um so lieber, daß das nächste Ziel New-York sei, weil sie schon ihre Kinder dorthin unter sicherem Schutze geschickt hatte. Denn, wie erwähnt, war ja ihre Absicht von vornherein gewesen, sich in Amerika anzusiedeln.
Kurz nach Mitternacht lichtete der Dampfer die Anker.
Wohl mochte es die schmerzlichste Enttäuschung sein, als Gabriele das Land wieder verließ, wo sie ihren Gatten wiederzufinden gehofft hatte. Wie lange würde denn dieses grausame Versteckspiel des Schicksals noch währen?
Da plötzlich hallten in der Ferne Kanonenschüsse, ununterbrochen; aber sie schienen immer näher zu kommen - sie wurden eben auf allen Inseln wiederholt - und von dem schon auf See befindlichen Schiffe konnte man beobachten, wie es in der Stadt Cayenne plötzlich lebendig wurde, wie in einem aufgestocherten Ameisenhaufen, alle Häuser und Hütten wurden mit einem Male erleuchtet - und da stiegen dort, wo das Fort lag, verschiedenfarbige Raketen zum nächtlichen Himmel empor, ebenso wie draußen auf dem einsamen Meere.
»Von der Teufelsinsel ist wieder ein Gefangener entflohen,« erklärte der Kapitän seinen Passagieren, »ich kenne diese Zeichen - hat gar keinen Zweck - Selbstmord, weiter nichts - lieber in einem Haifischmagen enden, als noch länger Sonnenqualen und Peitschenhiebe ertragen.«
Und Gabriele griff plötzlich nach ihrem Herzen. Aber sie war nicht die einzige, welche von solcher Aufregung gepackt wurde.
Ein Gefangener von der Teufelsinsel geflohen! - das genügte, um alle wieder aus der Koje zu treiben, und vielleicht am allermeisten aufgeregt wurden die Matrosen.
Der Mann konnte ja nur hoffen, sich durch Schwimmen zu retten, an Land oder nach dem nächsten Schiffe, und so unmöglich es auch erschien, daß er gerade dieses Schiff erreichen, daß man ihn von hier aus erblicken könne - trotzdem, man befand sich noch seitwärts von der Teufelsinsel, man hoffte auf das große Los, und wer darauf achtete, hätte sogar bemerken können, wie der Kapitän etwas den Kurs ändern ließ. Auch er hoffte, auch er hätte gern einen jener Unglücklichen gerettet, vielleicht noch lieber den Franzosen einen Streich gespielt.
»Dort - dort!« wurde gerufen, und ausgestreckte Hände deuteten.
Die Matrosen meinten die dunklen Umrisse, welche sich deutlich aus dem nächtlichen Meere erhoben. Das war sie, die berüchtigte Insel, die Wohnstätte des französischen Teufels.
In einiger Entfernung davon ergoß sich von einem Punkte, der mit farbigen Lichtern umgeben war, ein blendend weißer Strahl, über das Meer hin und her huschend. Das war das französische Kriegsschiff, das mit seinem elektrischen Scheinwerfer die Wasserfläche nach dem Schwimmer absuchte.
Als es den Dampfer bemerkte, signalisierte es durch farbige Lichter, sich aus diesem Wassergebiet zu entfernen, warnte direkt vor einem Näherkommen.
Diesem Befehle eines Kriegsschiffes mußte gehorcht werden, sonst konnte es gleich einige Granaten geben, ja, der amerikanische Dampfer war sogar so gefällig, ebenfalls seinen elektrischen Scheinwerfer spielen zu lassen. Er wollte dem kriegerischen Kameraden behilflich sein, den Flüchtling zu finden.
»Aber wir müssen uns wenigstens als amerikanisches Schiff zu erkennen geben, einem französischen würde er sich ja doch nicht nähern.«
Es geschah, die betreffenden Lichter, welche die Nationalität des Schiffes angaben, leuchteten an. Topmast auf.
»Es ist doch sehr fraglich,« meinte der Kapitän, »ob der Mann diese Signalsprache versteht, und überhaupt, es ist ja ganz zwecklos, dort ist wieder so ein wimmelnder Trupp von Haifischen, der ist ja schon längst ...«
Der Kapitän brach ab und lauschte, und da wirklich noch einmal ...
»Mann über Bord!!« heulte es durch die finstere Nacht.
Ein gellender Schrei antwortete. Er war aus Gabrieles Munde gekommen, und das sonst so starke Weib sank in Scotts Arme.
Aber auch noch andere Rufe wurden laut, aus rohen Matrosenkehlen jubelnd kommend.
»Das ist er, das ist er!!«
Der Scheinwerfer bestrich mehr die Umgegend des stoppenden Dampfers, und da - da ...
Da strebte ein menschlicher Schwimmer mit machtvollen Stößen dem Schiffe zu, umlauert von zehn-, von hundertfachem Tode, nämlich umschwärmt von zahllosen phosphoreszierenden Haifischen.
Doch in diesem Falle hat der elektrische Scheinwerfer sein Gutes. Von dem blendenden Lichte getroffen, stoben die feigen Hyänen des Meeres im Nu davon, und ehe sie zurückkommen konnten, hatte der Schwimmer schon ein Seil erfaßt, hatte sich an Deck geschwungen.
Es war eine kraftvolle Gestalt, nur mit der gestreiften Hose und dem gestempelten Hemd bekleidet, wie die Deportierten auf der Teufelsinsel sie tragen, ein schwarzbraunes Gesicht, nur durch das blonde Haar und durch Bart den Kaukasier, den Germanen verratend.
»Gerettet, ein ameri ...«
Das Wort erstarb ihm im Munde. Seine Augen welche die Höhlen zu verlassen drohten, hingen stier an der weiblichen Gestalt, die in des hünenhaften Kanadiers Armen lag.
Da aber raffte sich Gabriele auf.
»Alfred, mein Alfred!!«
Und sie hatte sich in seine Arme geworfen.
Nicht mit den Augen, sondern mit dem Herzen hatte sie ihn erkannt.
»Nun ist alles, alles wieder gut!« erklang es jauchzend von seinen bärtigen Lippen. »Du weißt ...?«
»Ich weiß alles, alles!« - - -
Es ist nur noch wenig hinzuzufügen.
Ja, Nobody, der ewig getäuschten Hoffnung überdrüssig, hatte aus der Welt verschwinden wollen - wenigstens als Nobody.
Er hatte sich zunächst nach Frankreich gewandt, hatte sich Legitimationspapiere verschafft, ohne zu wissen, daß der eigentliche Besitzer ein schon lange gesuchter Hochverräter war.
Auf dem Transport nach Marseille hatte er erfahren, daß Clarence, Theodora und deren Kinder ihren Tod gefunden.
Ob von dieser Kunde selbst zu Tode getroffen oder von neuer Hoffnung beseelt - diesem Manne war jetzt alles gleichgültig geworden.
Gut, er wollte sich einmal nach der Teufelsinsel bringen lassen, wozu er nach kurzer Gerichtsverhandlung verurteilt worden war. Für immer darauf bleiben wollte er natürlich nicht.
So war es geschehen. Zwei Wochen hatte er darauf zugebracht, dann hatte diesen Mann nichts halten können, auch die Haifische nicht.
Mehr hatte Nobody kaum zu erzählen.
Sie waren wieder vereint. Und hiermit schließt die zweite Periode aus Nobodys Leben.

Impressum Datenschutz