Detektiv Nobodys Erlebnisse und Reiseabenteuer.

 

 

Von

 

Robert Kraft.

 

 

IX. Band.

 

 

 

Inhalt

 

 

Die neuen Amazonen

Delphin und Seelöwe

Des Meeres und der Seele Rätsel

Mordendes Gold

Des Rätsels Lösung

Im Reiche Snorri Sturlusons

Die Pygmäen

Meuterei an Bord

Der Himmel stürzt ein!

 

 

I.
Die neuen Amazonen

Die ›Wetterhexe‹ lag noch nicht im Hafen von Lissabon. Daß sie noch kommen würde, daran zweifelte Nobody nicht.

Er quartierte sich in einer Privatwohnung ein, schlenderte zwar in der portugiesischen Hauptstadt umher, hielt aber allem Straßengespräch sein Ohr verschlossen, nahm auch keine Zeitung zur Hand.

Dies tat er deshalb, um seine Pflicht als Detektiv nicht einer neuen Sache widmen zu müssen, die vielleicht dazwischenkommen konnte. Von London aus wäre ihm nur das Allerwichtigste nachgeschickt worden. Doch er erhielt nichts.

Am frühen Morgen des fünften Tages, als Nobody aus seinem nach dem Hafen führenden Fenster blickte, sah er weit draußen auf der Reede die ›Wetterhexe‹ wie eine Riesenzigarre liegen.

Der aus den Schloten aufsteigende schwarze Qualm und weiße Dampfwolken verrieten, daß sie eben erst angekommen sein konnte; die Feuerungskanäle und die Kessel wurden abgelassen.

Nobody sofort ein Boot gemietet und hinausgefahren!

Oben neben der herabhängenden Fallreepstreppe stand Jochen Puttfarken, schüttelte gegen das ankommende Boot abwehrend die Hand und wackelte mit dem Elefantenrüssel.

»Nix da, nix da. Que busca uste? Nix zu handeln, Zutritt verboten.«

»Auch für den Master?«

Zwergnase rief etwas, das Echo war ein einziger Freudenschrei, der durch das ganze Schiff ging, bis er endlich in Anoks Worten ausklang:

»Ja ja, nee nee, er ist wirklich da, ja ja, nee nee.«

Als Nobody die Ruderer abgelohnt hatte und die Fallreepstreppe hinaufgeklettert, langten Flederwischs lange Arme herab, griffen ihm unter die Achseln, hoben ihn über die Brüstung und schwenkten erst den ganzen Nobody unter einem Freudengeheul im Kreise herum, bis er ihn fein säuberlich wieder an den Boden setzte.

»Scott ist auch an Bord.«

Da kam er schon. Selbst die Freude des Wiedersehens konnte die zu seinem Charakter nun einmal gehörende Niedergeschlagenheit nicht gänzlich verwischen. Er war noch ganz derselbe.

Nobody mußte erst viele Hände schütteln, es gab Fragen über Frau und Kinder zu stellen und zu beantworten, dann saßen die drei in der Kajüte.

»Nun, Edward, was für einen Erfolg hast du gehabt?«

Der Gefragte hob nur die Achseln, ging gar nicht darauf ein. Seine Worte betrafen gleich etwas ganz anderes.

»Ich folgte der Eingabe, dich nach den Paumotuinseln zu dirigieren, augenblicklich. Als ich jene Depesche schon abgesandt hatte, kam mir erst nachträglich die Erkenntnis, daß du der Wetterhexe bedürfen würdest. Die Wetterhexe lag, wie mir offenbar wurde, in Algier, und ich selbst sah mich an Bord. Du verstehst. Jene erste Depesche war schon fort. Um dich nicht irrezumachen, depeschierte ich nach Algier an Freund Flederwisch, mich dort zu erwarten, benutzte das nächste Schiff. So ist es gekommen, daß du vier Tage hier warten mußtest. Daß du kommen und warten würdest, wußte ich bestimmt.«

Ueber seine eigene Angelegenheit wollte er also gar nicht sprechen. Daß er immer noch mit dem Aufsuchen des geliebten Weibes beschäftigt war, das zeigte ja schon sein letzter Aufenthalt in Aden, doch immer noch nahe jener Gegend, in welcher die Wahnsinnige verschwunden war.

Fürwahr, was für ein Unglück mußte das doch sein! Anderen konnte er mit seiner hellseherischen Gabe immer helfen — nur sich selbst nicht!

Um ihn abzulenken, begann Nobody beim Frühstückstisch gleich von seinem letzten Abenteuer zu erzählen, wie er im Serail gewesen war.

Von seiner Tarnkappe erwähnte er in Gegenwart Flederwischs natürlich nichts, auch nicht von dem Wiedererscheinen des Mephistopheles.

Ein so guter Freund ihm Flederwisch auch war — in diese Angelegenheiten wollte er ihn doch lieber nicht einweihen. Flederwisch war trotz seiner sonstigen Genialität überhaupt eine viel zu derbe Seemannsnatur, ein hartgesottener Realist dazu, der hätte so etwas gar nicht begriffen. Und wozu auch? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.

Und Nobody hatte ja auch sonst genug zu erzählen, die Fadinah von Godscham hatte er im

Serail getroffen, und Mr. Cerberus Mojan — und wie sich nun Nobody die Serviette um die Hüften band und vormachte, wie das kleine, dicke Männchen zwischen den Odalisken getanzt hatte,lilililinks, rererechts — lilililinks, rerererechts — höhöhöher die Beibeibeine!-Flederwisch wälzte sich vor Lachen am Boden.

Dann mußte dem natürlich gleich etwas anderes in den Sinn kommen.

»Ach, ach, Alfred, warum hast du mich da nicht mitgenommen? Du hättest es doch fertig gebracht, auch mich ins Serail zu schmuggeln!«

»Ja, du hättest gerade noch zwischen den Frauenzimmern gefehlt!«

Unterdessen hatten die Kessel neuen Dampf bekommen, der Kapitän mußte auf die Kommandobrücke.

»Also wohin?«

»Das angegebene Ziel bleibt bestehen,« entgegnete Scott.

»Da handelt es sich immer noch darum, ob lilililinks oder rerererechts herum — ob durch den Suezkanal oder um Kap Horn.«

»Welcher Weg ist der nähere?«

»Das bleibt sich ziemlich gleich. Durch den Suezkanal ist es nur viel gefahrloser und bequemer, auch interessanter, und daß dieser Weg etwas kostspieliger ist, wegen der Durchfahrtssteuer, das hat ja bei uns, wie wir gebaut sind, nichts zu sagen.«

Da ereignete sich wieder jener rätselhafte Vorgang, den zu beobachten Nobody schon lange nicht mehr Gelegenheit gehabt hatte.

Plötzlich nahmen die Augen des jungen Kanadiers einen ganz stieren Ausdruck an, sein sonst so gesundes Antlitz wurde leichenartig — und er wußte selbst, was mit ihm vorging, er deckte sein Gesicht mit den Händen — doch nur einen Augenblick; als er die Hände entfernte, war der Anfall schon vorüber.

»Um Kap Horn herum,« lautete jetzt seine Entscheidung, für deren rätselhaftes Entstehen er wohl selbst keine Erklärung hätte geben können.

Die beiden, welche das Schicksal auf eine so seltsame Weise zusammengeführt hatte, waren allein, und jetzt gab Nobody seine Erklärung noch einmal zum besten, aber in erweiterter Auflage.

Es war doch ganz merkwürdig mit dem jungen Mann, der so von gesunder Lebenskraft strotzte.

Wohl hörte er aufmerksam zu, aber sonst machte das ungeheuerliche Abenteuer seines Freundes, wie ihm jener Mephistopheles wieder erschienen war, dessen Leiche er doch selbst mit abgeschnitten und einbalsamiert hatte, auch nicht den geringsten Eindruck auf ihn. Er war gegen alles wie abgestorben.

Daß er aufmerksam zugehört hatte, verrieten dann gleich seine Fragen.

»Er sagte, daß er dir selbst das Taschenmesser entwendet habe?«

»Soviel ich mich entsinne. Ich befand mich natürlich in einer kolossalen Aufregung.«

»Hast du so etwas bemerkt?«

»Nicht das geringste, und es gehört schon etwas dazu, mir etwas aus der Tasche zu nehmen.«

»Nun, eine außerordentliche Fingergewandtheit ist diesem Hexenmeister wohl zuzutrauen. Da ist aber doch anzunehmen, daß er noch ein drittes Tarngewand hat.«

»Ich weiß nicht — mehr kann ich nicht sagen.«

»Hattest du jenen Ring bei dir?«

»Ja.«

»In welcher Tasche?«

»In einer inneren Tasche der Weste.«

»Mir scheint der Ring bei der ganzen Geschichte doch eine große Rolle zu spielen; es ist eben das Siegel des Meisters. Hat er dir den Ring nicht abgefordert, als du in der Falle saßest, etwa als Preis für deine Befreiung?«

»Mit keinem Worte hat er des Ringes Erwähnung getan, auch nicht der beiden Tarngewänder.«

»Er selbst konnte dich noch nicht in dem Käfig sitzen sehen.«

»Doch, das machte ganz den Eindruck. Er fixierte mich durch eine Lorgnette, und ich bin fest überzeugt, daß dies ein Augenglas war, welches die Unsichtbarkeit des Gewebes wieder aufhebt.«

»Nun, nach allem, was ich vernommen habe, besteht für mich kein Zweifel, daß es unser Monsieur Sinclaire gewesen ist. Er befand sich zufällig im Serail des türkischen Sultans, oder er ist dir schon immer nachgeschlichen, hat dich im Serail beobachtet, hat mit Bestimmtheit gewußt, daß du in jene Falle gehen würdest, und um dir einmal seine Überlegenheit zu zeigen — das nimmst du mir doch nicht übel, Alfred, übrigens hast du dich ja im Grunde genommen als der Ueberlegenere bewiesen — hat er dir zuvor dein Taschenmesser entwendet, welches dich hätte befreien können.«

»Und die Mumie, die jetzt in meinem Keller in einem verschlossenen und versiegelten Eisenkasten liegt? Wer ist das?«

»Ich habe eine Erklärung dafür. Dieser Geheimniskrämer, der sich von einer Sekte als Gott anbeten läßt, wird wohl für einen Doppelgänger gesorgt haben, der ihm wie ein Ei dem andern glich, damit dieser ihn zeitweilig vertreten konnte. Der echte Mephistopheles ist gar nicht tot gewesen. Er hat den Ausweg aus deinem Keller zu finden gewußt. Du hast zwei Jahre lang nicht nach ihm gesehen. Nun hast du die Anfrage an deine Gattin geschickt. Wie lange bist du noch in Odessa gewesen?«

»Drei Tage.«

»So hatte Sinclaire genügend Zeit, dir zuvorzukommen, sein Doppelgänger war unterdessen schon gestorben, oder Sinclaire hat ihn deswegen erst getötet — dem ist ja alles zuzutrauen, obgleich ihm große Züge nicht abzusprechen sind — hat seinen Doppelgänger einbalsamiert und mumifiziert, ihm genau dasselbe Aussehen gegeben, das er selbst nach deiner Methode jetzt haben müßte, diesem Mann scheint in dieser Hinsicht ja gar nichts unmöglich zu sein, und so hat er seinen Doppelgänger in deinen Keller in die Bleikiste hineinpraktiziert.«

»Und wozu dies alles?«

»Na, um sich einen Jux zu machen! Um dich zu irritieren, zu verblüffen - nein, um sich eben einen Jux zu machen!! Denke doch nur daran, was für einen Charakter du vor dir hast!«

Scott hatte dieselbe Erklärung gegeben, die sich Nobody bereits selbst zurechtgelegt.

Am treffendsten aber waren Scotts letzte Worte gewesen.

Das war ein Mann, welcher nicht nach den ›Fliegenden Blättern‹ oder nach dem ›Kladderadatsch‹ griff, wenn er einmal lachen wollte, deshalb ging er auch nicht in eine Komödie — der machte Witzchen auf seine eigene Weise.

Ja, wenn man von allem Fürchterlichen absah, von den einbalsamierten Leichen usw., war an der ganzen Figur so etwas Humoristisches - was übrigens auch bei unserem christlichen Teufel zutrifft!

»Außerdem,« fuhr der Kanadier fort, »weiß ich ganz bestimmt, daß unser Mephistopheles noch am Leben ist.«

»Wodurch weißt du das?«

»Was wir auf dem von mir so genau bezeichneten Punkte im Großen Ozean finden werden, davon habe ich selbst noch nicht die geringste Ahnung. Ich schrieb diese Ortsbestimmung in bewußtlosem Zustande nieder. Um nähere Erklärung hierüber zu erhalten, zog ich die Kristallkugel zu Rate. Und was zeigte sie mir immer und immer wieder?«

»Nun?«

»Nichts anderes als die von Haß und Hohn verzerrte Teufelsfratze! Und du weißt, wenn ich jemanden zu sehen begehre, und er weilt nicht mehr unter den Lebenden, so sehe ich in dem Kristall nur - still, der Kapitän kommt wieder.«

Die Schiffsplanken zitterten bereits unter den Umdrehungen der Doppelschrauben. Flederwisch hatte das Kommando dem ersten Steuermann übergeben, er kehrte zurück, um in Gesellschaft seiner Freunde das Frühstück fortzusetzen.

 

—————

 

Mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Knoten jagte der Torpedodampfer dem Süden zu. Während der Reise ereignete sich nichts Erwähnenswertes.

Am fünfzehnten Tage kam Kap Blanco in Sicht, ein Vorgebirge Patagoniens, für die Seefahrer eine wichtige Orientierungsmarke.

Ja, das war eine andere Fahrt gewesen als damals die mit Mojans famosem Käsekasten!

Die See war seit einigen Tagen außerordentlich ruhig, wie man es in diesem Gewässer selten beobachten kann. Nobody stand auf der Kommandobrücke und betrachtete die Zeichnung, welche den Kurs des Dampfers angab, allstündlich durch neue Ausnahmen ergänzt.

»Flederwisch, willst du nicht einen mehr östlichen Kurs nehmen? Ich möchte so dicht wie möglich an den Argonauteninseln vorüber.«

Flederwisch hatte kein einziges ›Warum?‹ er antwortete durch ein neues Ruderkommando.

Und am anderen Morgen ging es mit Viertelkraft an der Gruppe der Argonauteninseln vorüber, mit äußerster Vorsicht so nahe wie möglich, bis die Wetterhexe auf Nobodys Wunsch ganz stoppte.

Er wählte sich vier der ihm sympathischsten Matrosen aus, sie gingen in ein Boot, stießen ab, ohne daß von irgendeiner Seite irgendeine Frage gestellt worden wäre.

O, es ist etwas Herrliches um solch eine schweigsame Freundschaft! Wenn die anderen es erfahren dürften, so würde es ihnen der Freund doch sagen — aber es ist eben besser, es geschieht nicht!

»Ich werde eine der Felseninseln betreten,« sagte der am Steuer sitzende Nobody unterwegs. »Wenn ihr etwas Besonderes sehen oder erleben solltet, so werdet ihr nicht darüber sprechen, nicht wahr?«

Die Matrosen gaben ihre Antwort, indem sie schwiegen. Nur Anok mußte mit einem ›ja ja, nee nee‹, seine besondere Zustimmung versichern.

Heute gab es zwischen den Klippen keine Brandung, das Boot wußte einen Weg hindurchzufinden — und der Steuernde kannte diese Gegend ja zur Genüge.

Dicht an dem Felsplateau konnte das Boot beilegen. Hochaufatmend betrat Nobody das feste Land.

Ein Jahr war vergangen! Würde er sie wiederfinden, die schöne, sanfte Frau, deren Losungswort ›Bete und arbeite!‹ und dabei verheiratet an den leibhaftigen Teufel?

Und ihn, den ungeschlachten Riesen Goliath, den biederen Pieter Nielson?

Die nächste Minute mußte ihm Gewißheit bringen.

Nobody umschritt den Felsenkegel, der als vermeintlicher Vulkan einen so angenehmen Duft nach gebratenen Zwiebeln ausgehaucht hatte — da war die Stelle, wo sich der geheime Eingang befand, nur dieses Detektivs fabelhafter Orientierungssinn wußte sie wiederzufinden, der Mechanismus funktionierte noch — Nobody trat ein in die ihm so wohlbekannten Räume.

»Hallo!!!«

Keine Antwort. Ausgezogen! Unter Mitnahme der Bibliothek, vieler Teppiche und manches anderem, so waren auch die Behälter mit dem Eiweiß erzeugenden Stoffe verschwunden.

Hatte der Mephistopheles Frau und Diener abgeholt? Was wußte Nobody!

Warum hatten sie die geheime Felsenwohnung nicht durch eine Sprengung zerstört?

Nun, warum denn? Sie konnten die Wohnung ja vielleicht wieder benutzen wollen, und fand ein anderer hier zufällig den geheimen Eingang und die ganze Behausung, so konnte er wohl erkennen, daß sich hier Menschen dereinst recht behaglich eingerichtet hatten, aber auch weiter nichts.

Auf die Vermutung, daß hier einst elektrisches. Licht geleuchtet hatte, konnte niemand kommen, in dieser Hinsicht waren alle Spuren sorgfältig getilgt worden.

Mehr hatte Nobody hier nicht zu suchen. Er begab sich wieder ins Freie und nach dem Boot zurück.

Unterdessen mußte sich auf der ›Wetterhexe‹ irgend etwas ereignet haben. So weit sie auch entfernt lag, bemerkte man doch, wie die Mannschaft hastig an Deck hin und her lief oder sich hinten am Heck zusammendrängte, auch schien ein großes Boot klargemacht zu werden.

Nobody beruhigte seine vier Matrosen, die durch dieses Gebaren ihrer Kameraden natürlich ebenfalls in Aufregung versetzt wurden.

»Es kann keine Gefahr vorhanden sein,« erklärte Nobody, sein Taschenfernrohr benutzend, »und wäre unsere Anwesenheit dringlich, so würden sie doch ein ›Sofort an Bord zurück‹ signalisieren. Mir scheint, es wird etwas auf See beobachtet, und das dürften Walfische sein; denn es ist das Walfischboot, welches ausgeschwungen wird. Laßt uns eilen.«

Mit Macht legten sich die Matrosen in die Riemen; bald hatten sie den Dampfer erreicht.

Nobody sollte sich nicht geirrt haben.

»Ein Walfisch, ein Pottwal, ein riesiger Kerl, und er träumt!«

So wurde den Ankommenden entgegengerufen — nein, nur entgegengeflüstert, nämlich damit der schlafende Wal es nicht etwa höre. Und dabei war von dem Burschen von hier untenaus noch gar nichts zu sehen, und oben vom Deck konnte man nur in weiter, weiter Ferne die ausgespritzten Wassersäulen sehen, eigentlich nur die Regenbogen, welche der Sonnenschein in dem Wasserdampf erzeugte, und erst durch ein gutes Fernrohr erkannte man die Umrisse des Kopfes, des zur Hälfte hervorsehenden Rückens und des Schwanzes.

Aber die Jagdleidenschaft hatte sich aller bemächtigt, es wurde nur noch in flüsterndem Tone gesprochen.

Das Boot war noch nicht wieder gehievt, als sich der Torpedojäger schon wieder in Bewegung setzte, aber langsam, ganz langsam, um nicht das Wasser zu sehr aufzurühren, daß der Wal ja nicht in seinem ›Traume‹ gestört würde.

Die Walfischjäger unterscheiden nämlich zwischen einem schlafenden und einem träumenden Wal. Liegt ein Wal still, so wie dieser es tat, Kopf und Mittelrücken und Schwanz aus dem Wasser reckend, so kann man mit Sicherheit annehmen, daß er schläft. Wenn er dabei in regelmäßigen Zwischenpausen aus den Nasenlöchern Wassersäulen emporspritzt, so sagt der Seemann: er träumt — vielleicht gar nicht so mit Unrecht. Dann geht der Wal auch während des Schlafens der Füllung seines Magens nach, verschluckt Wasser, welches Mollusken und dergleichen enthält, gibt das überflüssige Wasser durch die Nase mit Heftigkeit wieder von sich. Träumenden Walen kann sich der Jäger am leichtesten nähern.

»Scott mag ihn nicht harpunieren,« flüsterte Flederwisch, der tatsächlich vor Jagdfieber zitterte. »Du, Alfred, bei so etwas hört alle zartfühlende und uneigennützige Freundschaft auf — Kopf gewinnt, Wappen verliert.«

»Na, da wirf du!«

Flederwisch warf die schon bereitgehaltene Geldmünze, fing sie.

»Kopf! Ich habe ihn, ich habe ihn!!« jauchzte Flederwisch.

»Halt, zeige erst mal her, ob die Münze nicht auf jeder Seite einen Kopf hat, dir ist doch alles zuzutrauen. Nee, diesmal bist du ausnahmsweise ehrlich gewesen.«

»Ich habe ihn, ich habe ihn!!« jauchzte Flederwisch nochmals.

»Die Nürnberger hängen keinen, sie hätten ihn denn schon.«

»O, den habe ich schon so gut wie in meiner Tasche,« versicherte Flederwisch. »Und was für ein Bursche das ist! Hundert Fuß mindestens!«

Bis auf eine Seemeile näherte sich die ›Wetterhexe‹ dem regungslos daliegenden Tiere. Jetzt konnte seine Länge mittels des sogenannten kongruenten Verfahrens, einer geometrischen Figur, die man an Deck entwarf, dabei nach Kopf- und Schwanzende visierend, ziemlich genau bestimmt werden.

Ueber die Größe der Riesenwale, zu denen der Pottwal gehört, wird viel gefabelt. Exemplare von dreißig Meter Länge gehören zu den Seltenheiten, und man messe sich diese Länge nur aus, was für ein Ungeheuer das ist, dabei von zehn bis zwölf Meter Umfang! Fürwahr, ein phantastischer Nimrodskopf braucht nicht die Zeiten der Urwelt herbeizusehnen, andere Ungetüme hat es damals auch nicht gegeben!

Aber das hier war eine ganz seltene Ausnahme! Einunddreißig Meter brachte man mit der geometrischen Figur heraus! Ein Goliath unter den Riesenwalen! Ja, er gehörte auch keiner ›Schule‹ an, wie die Tranjäger die Walfischherden nennen, es war ein aus der Gesellschaft gestoßenes Männchen, und bei jeder in Herden lebenden Tiergattung entwickeln sich solche Einsiedler zu besonderer Größe — aber auch ihre Bösartigkeit entwickelt sich in der Einsamkeit — und der Pott ist sowieso der einzige Wal, welcher auch ungereizt ein Boot angreift, auch einmal gleich mit voller Wucht gegen ein großes Schiff rennt, selbst diesem gefährlich werden könnend — doch desto größer ist ja nur das Vergnügen, besonders wenn es dem Jäger nicht nur auf Erbeutung des Trans und der Barten ankommt.

»Gott sei Dank, Gott sei Dank, daß meine Frau nicht mit an Bord ist, die würde mich ja gar nicht gehen lassen,« murmelte der lange Flederwisch ein Mal übers andere mit zitternden Lippen.

Der Schiffsarzt machte den Vorschlag, dem Vieh mit dem Torpedojäger unter Volldampf zwischen die Rippen zu rennen, das sei doch eine viel bequemere Jagdmethode.

Der gute Mann wäre von der gesamten Mannschaft beinahe gelyncht worden!

Die ›Wetterhexe‹ besaß einen Apparat, eine Art von Kanone, aus dem Raketen geschossen wurden, bei Seenot konnte die Rettungsleine tausend Meter weit nach dem Lande geschleudert werden, auch die Harpune hätte man schießen können - doch nein, das einzig Ritterliche bei der Walfischjagd ist und bleibt doch die Harpune, die vom Boot aus mit der Hand geschleudert wird — und dann hinterher die Jagd, das Nachschleifen, jeden Augenblick in Gefahr, sein Leben zu verlieren, alle Knochen im Leibe zermalmt zu bekommen — es gibt ja gar nichts Herrlicheres in diesem Leben.

Das mächtig lange und dabei sehr schmale Boot wurde ins Wasser gelassen. Auf den Duchten saßen nicht weniger als sechzehn Matrosen, die ausgesuchtesten ›Puller‹, d. H. Ruderer, die aufgekrempelten Hemdärmeln zeigten Muskeln von Stahl und Sehnen wie Stricke.

Die letzten Instruktionen wurden erteilt. Vorn im Boot befanden sich zwei Harpunrollen, mit selbsttätiger Einrichtung versehen, daß sich über das blitzschnell abwickelnde Seil Wasser ergoß, damit das Seil nicht anbrannte. Also das Boot war für zwei Harpuniere berechnet. Die zweite Harpune durfte Nobody in die Hand nehmen, als Ersatzmann, falls Flederwisch einen Fehlwurf tat oder sonst etwas nicht klappte.

Aber wehe, wenn er seine Harpune ohne Flederwischs Erlaubnis warf!!

»Ich beiße dir gleich den Kopf ab! Und mit unserer Freundschaft ist es dann aus!«

Nur die Wahl des Steurers machte noch Schwierigkeiten. Und das kaltblütige Kommando, die Erfahrung des Steuermanns entscheidet gewöhnlich die ganze Jagd. Ein nur um einen Augenblick zu frühes oder zu spätes Kommando, das angespannte Seil zerspringt wie Glas, und fort ist der Wal mit der festsitzenden Harpune.

Ein gelernter Harpunier war an Bord, doch der hatte sich schon einmal nicht als Steuermann bewährt. Und Flederwisch wollte harpunieren, desgleichen Nobody. Er mochte noch einen anderen Grund haben, sich nicht als Steuermann anzubieten. Auch das unvermeidlichste Unglück bleibt immer eine Blamage.

»Ich will das Steuer übernehmen,« sagte Scott in seiner phlegmatischen Weise.

»Haben Sie schon ein Walfischboot gesteuert?«

»Schon oft, kenne alle Regeln.«

Die Besatzung war vollzählig, der junge Kanadier übernahm das Kommando.

»Klar bei Riemen! Riemen hoch! Setzt ab! Laßt fallen! Ruder. . . . .an!!!«

Fort ging es! Die mächtigen Riemen aus Eschenholz bogen sich wie die Gerten. Wie ein Pfeil schoß das Boot über die fast glatte Wasserfläche, nur hinter sich eine aufgewirbelte Furche lassend. Dabei so gut wie geräuschlos.

Und der Walfisch schlief, träumte, spritzte in regelmäßigen Zwischenpausen zwei dampfartige Wassersäulen empor, sechs Meter hoch. Wassersäulen halb so hoch wie der Wal lang ist, sind Fabeln.

Von hinten näherte sich das Boot dem Ungetüm. Jetzt hob der Steuernde den linken Arm, nur noch mit diesem kommandierte er, und die Rudernden duckten sich wie Panther zum Sprunge zusammen, die glühenden Augen auf den Steuermann geheftet, seinen erhobenen Arm beobachtend, jede seiner Gesichtsmuskeln.

Hochaufgerichtet stand Flederwisch vorn im Boot, die schwere Harpune mit Widerhaken in der erhobenen Faust, den rechten Fuß zurückgestemmt, den Oberkörper zurückgeneigt, schon fertig zum Wurf. Der erst vor Jagdfieber zitternde hatte sich in eine eherne Statue verwandelt.

Und diese Augen, diese Augen!!

Wo ist denn nur der Maler, der so etwas endlich einmal mit dem Pinsel wiedergibt?

Nur eins gibt es noch, was sich mit solch einer Walfischjagd im entscheidenden Moment vergleichen läßt: wenn der einfache Matrose, der als bester Schütze das Dreißigzentimetergeschütz als Nummer Eins bedient, nach dem feindlichen Panzerschiff visiert, die Abzugsleine in der Hand!

Verstehst du, Leser, was hiermit gesagt werden soll?

Das Menschlein im Kampfe gegen den Riesen der Schöpfung - und hier der armselige Matrose, in seiner Hand hält er das Schicksal eines kolossalen Werkes, der Quintessenz von jahrhundertlangem Streben menschlichen Geistes und menschlichen Könnens — ein Werk, das viele, viele Millionen gekostet hat, besetzt mit vielen Hunderten von Menschen — ein Ruck, und aus der Hand des armseligen Matrosen fliegt das Schicksal als stählerne Granate hin mit einem Entweder — Oder!

O, was für Gesichter, was für Augen man da sehen kann!!

Halb Raubtier, halb Gott!!

Genug! —

Etwas seitwärts und hinter Flederwisch stand Nobody in derselben Stellung. Nur daß der philosophisch veranlagte Detektiv in diesem kritischen Augenblick seine eigenen Empfindungen studierte.

Wann der Wurf geschehen mußte, das konnte der Steuernde nicht angeben. Womöglich die Lunge mußte die Harpune durchbohren. Zu dieser Gelegenheit hatte der Steuernde nur zu verhelfen.

Schlafend lag der Walfisch da. Zwischen Kopf und Schwanzende ragte das Mittelstück wie eine grauschwarze Felseninsel hervor, wie gewöhnlich mit kleinen Seemuscheln und Seetang bewachsen.

Jetzt, jetzt . . . , Flederwisch neigte den Oberkörper noch etwas zurück . . . .

»Halt! Um Gottes willen halt!!!« heulte da plötzlich Nobody laut auf und machte eine Bewegung als wolle er Flederwisch in den Arm fallen, ihm die Harpune entreißen.

Zu spät, schon war sie mit Riesenkraft geschleudert worden.

Es gab einen Klang, als ob in der Kesselschmiede der große Hammer auf das Blech fiele, und dann ein Krachen und Bersten und Splittern — und neunzehn Menschen lagen zwischen den Boottrümmern im Wasser.

Wohl aber hatte der Kanadier richtig gesteuert, nicht etwa direkt auf den Wal zu, sondern zuletzt beidrehend, so daß das Boot mit dem schwimmenden Wal in eine Richtung kam, um diesem sofort folgen zu können; denn sobald der Wal die Spitze der Harpune auch nur an seinem Speck fühlt, würde er mit Gedankenschnelle davonschießen — aber nein, das war eben nicht geschehen, der Wal blieb ruhig liegen, obgleich er doch nach wie vor Wasser spritzte, also lebte!!

Da war das Boot an dem Riesenleibe in Trümmern gegangen!

Ja, wie soll das folgende nun geschildert werden! Und nun erst diese Gedanken! Denn sie alle hatten den eigentümlichen Klang gehört, gerade als wenn ein Hammer mit Macht auf eine Stahlplatte gefallen wäre, und die meisten hatten auch noch die abspringende Harpune gesehen.

Die Erkenntnis zeigte sich dadurch, daß sie alle sofort auf den Rücken des Walfisches kletterten. Wenn man freilich ins Wasser gefallen ist, mitten in den Atlantischen Ozean hinein, klettert man auch noch auf etwas ganz anderes.

Und dann standen sie da, blickten unter sich und einander an. Merkwürdige Figuren! Die merkwürdigste Figur war vielleicht Flederwisch.

Das lange Laster hatte die Schultern hochgezogen, ließ die Arme baumeln, und so stand er mit geknickten Knien und mit halbgeöffnetem Munde da, triefend wie alle ändern.

Gott weiß, was sich in seinem Gehirn jetzt abspielte, daß er plötzlich zu singen anfing, mit ganz vergnügter Stimme:

»Na was sagst de denn dazu, na was sagst de denn dazu, meine Mutter will nicht haben, daß ich heiraten tu!«

Nobody machte eine Bewegung, wie ein aus dem Wasser kommender Hund, aber er wollte wohl etwas anderes abschütteln als nur das Wasser, und dann bückte er sich und tastete mit den Händen, kratzte an den Muscheln.

»Eisenplatten!«

»Ja ja, das habe ich auch gleich herausgehört, so musikalisch bin ich auch. Das ist ein feuerfester Panzerwalfisch.«

»Edward!!«

Doch der junge Kanadier gab keine Meinung von sich, der war damit beschäftigt, in aller Seelenruhe die aufgegangenen Schnüre seines Stiefels wieder zu binden.

»Ja ja, nee nee,« ließ sich hingegen Anok vernehmen, »das sind wirklich zusammengenietete Eisenplatten. Gibt es denn nur solche Walfische? Und daß das Luder noch so ruhig liegen bleibt!«

»Anok, ich hab's!« triumphierte Jochen Puttfarken. »Das ist gar kein Walfisch, das ist ein Schiff aus Eisen, was nur wie ein Walfisch gebaut ist, und da stecken Menschen drin!!«

»Ja ja . . .«

Anok verschwand wie alle anderen plötzlich im Wasser, und wie er wieder auftauchte, spuckte er das eingeschluckte Salzwasser aus und fuhr in seiner begonnenen Rede fort:

». . .nee nee.«

Der eiserne Walfisch hatte sich unter ihren Füßen gesenkt.

Auf der ›Wetterhexe‹ war der rätselhafte Vorgang natürlich beobachtet worden, und was es auch sein mochte, sie eilte schleunigst zur Hilfe herbei.

Fünf Minuten später befanden sich alle neunzehn Mann wohlbehalten an Bord und . . .konnten wieder einander mit offenen Mäulern anblicken.

Wie sollen alle die Mutmaßungen geschildert werden?

Wir befassen uns nicht damit.

Nicht umsonst haben wir aus der ganzen Szene nur das Humoristische herausgegriffen. Sonst hätte überhaupt in anschaulicher Weise gar kein Leben hineingebracht werden können.

»Edward, hat dir keine Ahnung gesagt, daß wir hier bei den Argonauteninseln eines der Unterseeboote finden werden?«

»Nein.«

Nur einmal ein Lot ausgeworfen, und als dies bei fünfundzwanzig Faden noch keinen Grund hatte, zog Nobody es selbst wieder heraus, und dann unter Volldampf fort, fort, fort!!! Auch Nobody unterlag dem ersten Grausen!

Man versetze sich nur in die Lage, dann wird man dieses Grausen gerechtfertigt finden.

Dann befanden sich die drei allein in der Kajüte. Sie brauchten sich nicht nur in Mutmaßungen zu ergehen. Hierbei wolle sich der geneigte Leser erinnern, daß auch Flederwisch schon etwas von jener geheimnisvollen Person erfahren hatte, damals in dem unterirdischen Flusse. Nobody hatte seinen Freund eingeweiht, soweit er es für dienlich hielt.

»Wir haben eins seiner fabelhaften Unterseeboote gesehen!«

»Ja, und er hat ihnen genau das Aussehen eines Walfisches gegeben, so daß das Fahrzeug gar nicht auffällt, wenn es einmal auftaucht und von einem Schiffe gesehen wird. Man hält es eben für einen Walfisch.«

»Im Innern müssen Menschen gewesen sein.«

»Ich hörte zuletzt ganz deutlich ein Hämmern.«

»Ich auch.«

»Ob sie es nur gar nicht bemerkt haben, wie unser Boot mit voller Wucht dagegen rannte?«

Das war eine offene Frage, und hiermit wollen wir die Unterhaltung schließen, bei der ja doch nichts herauskam.

 

—————

 

Mit demselben guten Wetter war Kap Horn passiert worden, jetzt wurde ein nordwestlicher Kurs eingeschlagen, und wieder acht Tage später passierte die Wetterhexe den Wendekreis des Steinbocks.

Schon hatte man rechterhand die durch einen Dichter verherrlichte Korallenklippe Salaz y Gomez hinter sich, vorher noch die Osterinseln, und immer mehrten sich die Koralleneilande, bis vor den Reisenden die beiden erloschenen Vulkane von Apucarua auftauchten.

Unterdessen hatte sich Nobody in der reichhaltigen Schiffsbibliothek weiter über sein Ziel und die ganze Inselgruppe der Paumotus orientieren können.

Seine erste Annahme, daß er in dieser Gegend keine Felsen finden könne, weil es hier ja nur flache Korralleninseln gäbe, war eine irrige gewesen.

Alle diese Gruppen von Koralleninseln im Großen oder Stillen Ozean sind die Spuren von langsam gesunkenen Ländermassen — also, wohlverstanden, nicht die letzten Reste von einstmaligen Ländermassen, die durch eine Erdkatastrope plötzlich zerrissen, vernichtet worden sind, sondern die Koralleneilande zeigen nur an, wo die Kontinente einst sich über dem Wasser erhoben haben, und diese Kontinente müssen im Laufe der Jahrtausende, vielleicht auch der Jahrmillionen ganz, ganz langsam versunken sein.

Das ist Darwins Theorie, deren Richtigkeit Alexander von Humboldt bewiesen hat. Die Koralle, ein Tier, ein Infusor — das, was wir als Schmuck tragen, ist nur ihr kalkiges Gehäuse — kann eine Tiefe von höchstens vierzig Metern nicht überschreiten, dann stirbt sie ab. Am liebsten siedelt sie sich dort an, wo sie abwechselnd mit Luft und Wasser in Berührung kommt, also an der Küste, wo die Brandung spült.

So haben sich die Korallen auch an den Küsten jener vorsündflutlichen Länder angesiedelt. Diese versanken langsam im Meer. Um in der Tiefe nicht zugrunde zu gehen, baute die Koralle immer nach oben, unten nur ihr rotes und weißes Kalkgehäuse zurücklassend.

Die Landmassen waren ganz verschwunden, nur die Korallenformation bezeichnete noch ihre Küsten. Wind und Wellenschlag arbeiteten, zertrümmerten die Korallen, auf dem Boden des Meeres entstanden Schutthaufen, auf denen sich ebenfalls lebende Korallen ansiedelten, wegen des Sinkens des Grundes ebenfalls immer nach oben wachsend.

Auf diese Weise sind alle Koralleninseln entstanden, und an jeder zeigt sich noch der vorgelagerte Ring. Oben verwittert der Kalk zu Erde, eine Kokosnuß, die ihre Keimkraft noch nach Jahren behält, treibt an, faßt festen Fuß - die Koralleninsel ist auch bewohnbar geworden — bewohnbar für den, der sich mit Kokosnuß und salzigem Wasser begnügen kann . . . und vielleicht auch Geschmack an Menschenfleisch findet.

Doch es gibt auch gebirgige Inseln unter ihnen. Meist ragt nur ein kegelförmiger Berg in die Höhe. Das sind die höchsten Spitzen des einstigen Kontinentes gewesen. Nach weiteren Jahrtausenden werden auch sie, wenngleich das Sinken selbst nicht mit den feinsten Instrumenten festzustellen ist, verschwunden sein — die Koralle wird Weiterarbeiten.

Zu diesen seltenen Berginseln gehört auch das hufeisenförmige Apucarua, etwa eine deutsche Ouadratmeile umfassend. Auf jedem Bogen des Hufeisens erhebt sich ein erloschener Vulkan.

Einst bildeten die Paumotu-Inseln einen Zankapfel zwischen England und Frankreich. Die Engländer traten von ihrem vermeintlichen Recht unter der Bedingung zurück, daß keine der Inseln befestigt würde, worauf die Franzosen eingingen.

Zur Zeit der Entdeckung soll Apucarua stark bevölkert gewesen sein. Hier sind ja auch viel günstigere Lebensbedingungen als auf den niedrigen Koralleninseln, vor allen Dingen sind klare Quellen vorhanden. Trotzdem ist die große Insel mit fruchtbarem Boden jetzt gänzlich unbewohnt. Die weißen Fremdlinge wurden aufgefressen: als Rache ließen sie eine ansteckende Krankheit zurück; die Eingeborenen flohen, dann mögen sie sich auch vor den Geistern der verspeisten Missionare gefürchtet haben — kurz und gut, die Bewohner der umliegenden Inseln kommen alljährlich nur einmal nach Apucarua, um die Aepfel von den Bäumen zu schlagen, oder vielmehr die Kokosnüsse, und sie mitzunehmen. Das genügt ja auch vollkommen. Mit dem fruchtbaren Boden wissen diese Karaiben sowieso nichts anzufangen, das ganz salzlose Wasser mag ihnen gar nicht mehr schmecken. Und die Franzosen haben nach einer mißglückten Strafkolonie ebenfalls den Versuch aufgegeben, aus Apucarua etwas zu machen.

Die Seekarte zeigte genau eine sorgfältig ausgepeilte Wasserstraße, welche ziemlich dicht an Apucarua vorüberging, benutzbar auch für das tiefstgehende Kriegsschiff.

Aber seit man sich innerhalb dieser Inselgruppe befand, hatte das Auge noch kein modernes Fahrzeug erblickt, höchstens einmal das Bastsegel eines Südseebootes, auf dessen weit hinausragendem Ausleger, um das schmale Boot in der Balance zu halten, Eingeborene kauerten, welche von einer der mit nickenden Kokospalmen bedeckten Koralleninsel zur anderen eilten. Nähern durfte sich die Wetterhexe solch einer Koralleninsel nicht.

Und links vor ihnen lag die große, mit zwei Kegelbergen geschmückte Insel, Apucarua, das ersehnte Ziel!

Die Aufregung der drei Freunde läßt sich denken. War es weder Scott noch Nobody anzumerken, so mochte ihre Spannung innerlich doch eine ebenso große sein, wie die Flederwischs, der seiner Ungeduld freien Lauf ließ.

»Was in aller Welt werden wir nur dort auf der Insel finden?!«

»Wir werden ja sehen.«

»Zum Teufel noch einmal, ja, das hoffe ich auch, aber das bezeichnete Terrain ist doch nicht größer als ein Gemüsegarten.«

»Desto besser für uns. Zunächst finde nur einen günstigen Anlegeplatz.«

»Den müssen wir erst suchen. Davon ist auf keiner Karte etwas angegeben. Hier an diesen Seiten ist gar nicht daran zu denken, über die Korallen kommt kein Kahn hinweg. Wir müssen erst die ganze Insel umfahren, das Hufeisen reckt seine Hörner nach Norden, vielleicht können wir wenigstens mit dem Motorboote in die Bucht eindringen, welche die beiden Hörner bilden.«

»So umfahren wir die Insel.«

Der Anblick der Insel bot nichts Interessantes. Hinter den ringförmigen Korallenriffen ein flacher, mit zahlreichen, aber dünngesäten Kokospalmen bedeckter Strand, dann gleich schräg aufsteigend die beiden Berge, dazwischen ein Sattel — ein farbloses, nichtssagendes Bild. Eine wirkliche grüne Vegetation schien ganz zu fehlen. Doch man war zu weit entfernt, um etwas deutlich unterscheiden zu können, durfte sich den Riffen auch nicht weiter nähern.

»Jochen, was schnüffelst du denn da?« fragte Nobody.

Der krummbeinige Nasenkönig hatte mit zurückgeneigtem Kopfe seinen Elefantenrüssel nach der Insel gereckt und sog die Lust ein, dabei mit den Ohren wackelnd.

»Hier rükt dat nach . . . nach . . . Hoornoodeln?«

»Wonach riecht es?« lachte Nobody, nicht recht verstanden zu haben glaubend. »Nach Haarnadeln?«

»Ja, nach Haarnadeln,« befleißigte sich Jochen Puttfarken eines einwandfreien Deutsches.

»Riechen denn Haarnadeln?«

»Na und ob! Nee, faktisch. Das riecht gerade wie — wie . . . halt, jetzt hab ich's! . . . . gerade wie immer in der Schlafkammer von meiner Guste.«

»Das ist wohl deine Braut?«

»Yes. In Hamburg . . . halt, nee, nee . . . die in Hamburg heißt Mary . . . in Bremerhaven wollt' ich sagen.«

»Du hast wohl so ziemlich in jedem Hafen eine Braut?« examinierte Nobody.

»Yes.« ,

Dabei ließ sich Jochen Puttfarken nicht in seiner Untersuchung stören, er witterte noch immer mit seinem Elefantenrüssel nach der Insel.

»Wenn die nun alle auf einer Heirat bestehen?«

»Is nich. Die sind alle schon verheiratet. Wenn ich mir eine neue Braut anschaffe, die muß allemal schon verheiratet sein. — Nee, faktisch, das riecht hier wie in der Schlafkammer von meiner Guste, was mir die liebste ist — so halb nach ausgekämmten Haaren, halb nach Unterrock und am allermeisten nach Nacht . . .«

»Da sind Menschen!!« wurde Jochen Puttfarken leider unterbrochen.

Der Kanadier, das Fernrohr vor den Augen, hatte es gerufen.

»Ja, dort auf dem tiefen Sattel, eine ganze Menge.«

»Insulaner?«

»Insulaner wohl, aber schwerlich Eingeborene. Sie gehen alle weiß gekleidet, und die nackt herumlaufenden Karaiben kennen höchstens braune Gewebe aus Kokosfasern.«

»Wie das wimmelt! Wie in einem aufgestocherten Ameisenhaufen.«

»Der Anblick des Torpedojägers ruft große Aufregung hervor.«

»He jüüüüühhh,« ließ sich da ein Matrose vernehmen. »Was is denn dat?«

Er hatte im Wasser etwas schwimmen sehen, hatte es mit einer Hakenstange aufgefischt.

Die drei Freunde glaubten erst, er habe einen braunen Aal in den Händen. Der Irrtum klärte sich schnell genug auf.

»Ein Zopf!!«

Es war ein geflochtener Zopf von braunen Haaren, oben kunstgerecht an einem Bund befestigt, unten mit einer roten Schleife fest zusammengebunden, so daß er sich auch im Wasser nicht gelöst hatte.

»Die Karaibenweiber haben keine solche falschen Zöpfe,« versicherte Flederwisch. »Ich habe auf Tahiti einmal solch ein braunes Frauenzimmer zur . . . .«

»Das brauchst du mir nicht erst zu erklären, daß dieser Zopf von keiner Südseeinsulanerin stammt. Der ist aus der Werkstatt eines Borstenbinders — wollte sagen aus dem Atelier eines Haarkünstlers hervorgegangen. Na, den hat eben eine moderne Tochter Europas über Bord geworfen oder fallen lassen . . .«

»He jüüüüühhh, wat is denn dat?« erklang es da schon wieder.

»Dat is so'n Ding,« erklärte zunächst ein Matrose, »was sich die Frauenzimmer um den Bauch binden, damit nix runterrutscht.«

»Nu natürlich, das ist doch so'n Ding, was jedes Weibsbild so gut haben muß wie jeder Mann Kautabak. Das ist doch'n Klosett.«

Das Korsett wurde in Triumph angebracht.

»Fein, pikfein,« erklärte der lange Flederwisch mit Kennermiene.

»Hm,« brummte Nobody, »echtes Fischbein — da sind sogar noch die blauen Achselschleifen dran.«

»Das ist jetzt die neuste Mode. Ich habe erst neulich eine . . .«

»Wie kommt das alles hierher?«

»Da hat sich eine ausgezogen und das ganze Gelumpe über Bord geworfen.«

»Oder ist über Bord gefallen, ein Haifisch hat sie verschluckt und nur den falschen Zopf und das Klosett wieder ausgespuckt.«

»Nee, wirklich, Alfred, — rieche mal — das riecht noch ganz frisch.«

So flogen die Witze hin und her.

»He, jüüüüühhh, schon wedder so'n Zopp!!«

»He jüüüüühhh, schon wedder so'n Klosett!!« .

Und an Deck des Torpedodampfers speicherte es sich auf — gegen zwei Dutzend Zöpfe und drei Dutzend Korsetts, und immer mehr noch dieser weiblichen Toilettengegenstände trieben auf der Wasserfläche und wurden von den Matrosen aufgefischt.

»Seht, seht,« konnte Jochen Puttfarken mit Recht triumphieren, »ich hab's ja gleich gesagt, hier rükt's nach Hoornoodeln!«

Nobody, in der einen Hand einen falschen Zopf, in der anderen ein elegantes Korsett, schüttelte tiefsinnig den Kopf.

»Da muß ein Fahrzeug gescheitert sein, das als Fracht falsche Zöpfe und Korsetts an Bord hatte.«

»Aber ich bitte dich, lieber Alfred,« ergriff Flederwisch ganz aufgeregt das Wort, »hier rieche doch nur einmal - das Korsett riecht doch noch ganz frisch und warm - auf so etwas verstehe ich mich doch - und hier die Achselklappen oder Schweißlappen oder wie das Luderzeug heißt - rieche doch nur einmal . . .«

»Paul, wenn du mir jetzt noch einmal das Ding so dicht unter die Nase hältst, haue ich dir eine herunter!«

»Du? Du? Du Knirps langst ja gar nicht zu mir herauf!«

»Mir ganz egal, dann steige ich erst auf einen Stuhl! Nun gib du doch eine andere Erklärung dafür, wie die falschen Zöpfe und die Korsetts hierher zwischen die ostpolynesischen Koralleninseln kommen.«

Der lange Flederwisch konnte auch nur die Schultern heben.

»Da ist ein Jude untergegangen, der in alten Damenkonfektionsartikeln gemacht hat,« meinte er dann.

So ging es noch einige Zeit weiter, halb im Ernst, mehr noch im Scherz. Letzterer mußte abgebrochen werden, weil die Matrosen schon begannen, durch das Beispiel ihrer Herren übermütig geworden, sich die Korsetts umzubinden und die Zöpfe auf den Köpfen festzustecken, was ihnen natürlich schnell verboten wurde.

»Ich habe eine Erklärung,« begann Scott, kam aber nicht weiter.

Die Insel war umfahren worden, man hatte einen offenen Blick in die große Bucht, welche der ganzen Insel die hufeisenförmige Gestalt gab, und man entdeckte noch etwas Ueberraschendes, was die falschen Zöpfe und die Korsetts zunächst vergessen ließ.

Uebrigens hatten Nobody sowohl, wie Flederwisch bereits dieselbe Erklärung gefunden, nur kamen auch sie nicht dazu, sie auszusprechen, und dann später sollte sich zeigen, daß diese ihre Erklärung der Wahrheit auch sehr nahekam—-aber nicht minder recht hatte auch Jochen Puttfarken mit seinen Hoornoodeln.

»Alle Wetter, die unbewohnte Insel ist ja dicht bevölkert und sogar befestigt!! Eine ganz moderne Villenkolonie!«

Sie war bisher von dem einen Berge verdeckt gewesen. Was das Auge hier auf dem einen Horn des Hufeisens erblickte, war eigentlich ein Rätsel.

Um die Bucht herum, zwischen den Kokospalmen standen wenigstens zwei Dutzend Villen, elegant und modern, im schweizerischem Stil, mit Balkon und allem, was dazu gehört, wie man sie hier auf einer Paumotuinsel nimmermehr vermutet hätte.

In dem Hafen dicht am Land lag ein großer Dampfer, ferner noch mehrere kleine Fahrzeuge, darunter ganz deutlich auch Motorboote erkennbar. Am meisten Eindruck auf den Kenner der polynesischen Verhältnisse aber machten vielleicht die Batterien, welche sich längs des Hafens hinzogen, Bollwerke, aus denen Geschützmündungen drohend hervorsahen, bereit, den Hafen zu verteidigen. Großen Eindruck machten auch die beiden freistehenden Kanonen, mächtige Dinger modernster Konstruktion, wohl Vierzigzentimetergeschütze, wie sie nur Argentinien auf Bestellung bei Krupp hat anfertigen lassen, aber unpraktisch aufgestellt, die wären von einem feindlichen Schiff sofort unbrauchbar gemacht worden.

Die Kenner der Verhältnisse, besonders der politischen, waren einfach sprachlos vor Staunen!

Wie, so hatte sich hier auf einer der Paumotuinseln in aller Heimlichkeit eine Kolonisation vollzogen?! Und die Insel war gegen alle Abmachung der dabei interessierten europäischen Mächte sogar regelrecht befestigt worden?! Eine unerhörte Dreistigkeit!

»Das kann nur ein Privatunternehmen sein!« erklang es sofort.

»Paßt auf, da hat Amerika seine Hand im Spiele, das hat das Unternehmen sanktioniert!«

»I wo, die Vereinigten Staaten werden sich hüten, so weit ist der Yankee noch lange nicht.«

»Was aber sind das nun für weißgekleidete Kolonisten?«

Hier glich das Ganze erst recht einem aufgestocherten Ameisenhaufen. Sie drängten sich zusammen, gestikulierten lebhaft, rannten in den Schweizervillen ein und aus, wohl um Fernrohre zu holen, dann war das allgemeine Ziel der große Dampfer, auf dessen Deck es alsbald zu wimmeln begann.

»Das sind Frauenzimmer — kein Zweifel, das sind ausschließlich Frauen — und zwar nur weißhäutige mit Haaren in allen Schattierungen!«

Die Entdeckung wurde bestätigt. Jetzt konnte man auch erkennen, daß sie gleichmäßig in eine Art von kurzer Tunika nach antikem Muster gekleidet waren.

»Ich will mich hängen lassen, wenn das nicht eine Kolonie von emanzipierten Weibern ist, die sich hier niedergelassen haben, um ein bißchen selbständige Frauenrepublik zu spielen!«

Hiermit war auch die Erklärung für die aufgefischten falschen Zöpfe und Korsetts gegeben.

Die erste, die niemand ausgesprochen hatte, war die gewesen, daß auf einem Vergnügungsdampfer, der hier passiert war, unter den an Bord befindlichen Damen plötzlich eine Emanzipation bestimmter Richtung ausgebrochen war, dahin zielend, daß man keine falschen Zöpfe und Korsetts mehr tragen solle. So etwas entsteht und wickelt sich in der Weltgeschichte ja manchmal sehr schnell ab, besonders unter Damen.

Da mochte sich an Bord des englischen oder amerikanischen Dampfers so ein hochverehrter ›Reverend‹ befunden haben, so ein Pastor, dessen Einfluß auf englische und amerikanische Frauenherzen manchmal ein unglaublicher ist, der hatte bei Gelegenheit einmal über den falschen Haarschmuck und über die Büstenhalter gewettert — schwubb, flogen diese Utensilien der weiblichen Toilettenkunst über Bord! Und das war gerade hier in dieser Gegend erst vor kurzem passiert.

Durch die neue Entdeckung wurde diese Theorie hinfällig. Aber der Wahrheit war sie doch sehr nahe gekommen.

»Ob da nicht ein Hochehrwürden Reverend dazwischen ist?«

»Nur Weiber, nichts als Weiber.«

»Na ja, einen anderen Bock wird der in seinem Garten wohl nicht neben sich dulden, und so leicht ist ein einzelner Mann nicht herauszufinden, besonders wenn auch der glattrasierte Pfaffe solch eine römische Tunika trägt.«

»Aber wie in aller Welt konnte das nur so heimlich ausgeführt werden, daß kein Zeitungsreporter etwas davon erfahren hat?«

Das war eigentlich auch für Nobody das allergrößte Rätsel. Lebhaft dachte er an die Bewohnerinnen des Koloradotales. Hatten Irma und Mademoiselle Clarence ihre utopistischen Pläne hier verwirklicht, hier in der Südsee eine Frauenrepublik gegründet?

Doch nein, schnell verwarf er solch einen Gedanken. Er sah die geistreiche Französin mit dem tiefernsten Antlitz vor sich, sah die gemütliche Russin als Hausfrau am Backtrog stehen, und sie hatten ihm ja ihre Ansichten und Pläne entwickelt, allerdings handelte es sich um eine Frauenemanzipation - aber so etwas, hier auf einer Insel der Südsee eine Frauenrepublick zu gründen - nein, niemals!

»Sie signalisieren!«

An dem vorderen Maste des am Strande liegenden Dampfers gingen einige Flaggen hoch, unsicher, wurden gleich wieder herabgeholt und durch andere ersetzt, die aber auch noch nicht richtig waren.

»Flederwisch, stelle dich und dein Schiff vor, wir wollen uns jeder Höflichkeit befleißigen.«

Jetzt war nur noch eine einzige Flagge am Mast, und die hatte allerdings eine bestimmte Bedeutung. Sie sagte: Stopp! du darfst dich nicht weiter nähern!

Das konnte Flederwisch sowieso nicht. Die Wetterhexe lag quer vor der weiten Bucht, und wenn auch jener große Dampfer eingedrungen war, so durfte die Wetterhexe ihm das doch nicht ohne weiteres nachmachen, das Fahrwasser war unbekannt, es hätte Meter für Meter ausgepeilt werden müssen, oder man bekam einen Lotsen an Bord.

Die Anker rasselten herab und fanden auf dem nicht allzutiefen Korallengrund sofort festen Halt.

»Wetterhexe, Kapitän Flederwisch,« meldete der Signalmast des Torpedodampfers, und am Heck wurde die englische Handelsflagge gezeigt.

Vorher sei noch erwähnt, daß man sich mittels der Signalflaggen vollkommen unterhalten kann. Es könnte und wird sogar bei Gelegenheit bei den Fragen und Antworten der höflichste Briefstil eingehalten. Und das geht vielleicht noch schneller als Schreiben. Man muß nur bedenken, wie dieses System im Laufe der Jahrhunderte entwickelt und ausgearbeitet worden ist. Das muß man auch einmal selbst gesehen haben, um die Schnelligkeit begreifen zu können, wie mit den Flaggen signalisiert wird. Die einzelnen Flaggen werden da nicht etwa an eine Leine geknüpft — die Flaggen sind in Knäuel zusammengewickelt, diese werden auf Kommando des besonders ausgebildeten Steuermanns, der Nummern hersagt, der Reihe nach in die Oesen einer Leine eingehängt, die Leine wird hochgezogen, oben ist ein Mechanismus vorhanden, der die Bündel zum Entrollen bringt wieder herunter, da geht schon der zweite Satz hoch, der unterdessen zusammengestellt worden ist, die aufgewickelten Flaggen werden wieder kunstgerecht zusammengerollt, daß die Nummer zu sehen ist, und so geht das immer fort.

»Die Offiziere S.M.S. ›Leipzig‹ erwidern herzlichst die Grüße ihrer englischen Kameraden und bitten sie höflichst, heute abend etwas zu ihnen an Bord kommen zu wollen.«

Das ist mit Flaggen schneller ausgedrückt als hier geschrieben werden kann, da wird kein Wort, keine Interpunktion ausgelassen, es findet eine regelrechte Deklination und Konjugation statt. Freilich ist dazu der Gebrauch des internationalen, in englischer Sprache gehaltenen Flaggensignalbuches nötig. Denn natürlich gibt es da viele Tausende von Abkürzungen, den Sigeln in der Stenographie entsprechend. Doch ist solch ein Irrtum, wie er in der Stenographie vor kommen kann, gar nicht möglich, hier könnte das Risiko dabei ein zu großes sein.

Der geniale Flederwisch hatte das ganze internationale Flaggenbuch im Kopf, mehr noch als jeder Steuermannsmaat es haben muß, und seine Matrosen waren im Auffinden der Nummern wie die Pudel dressiert.

Jetzt hätten die Kolonisten ebenfalls sagen müssen, wer sie seien, welchem Staate sie angehörten, aber es geschah nicht. Wohl gingen einige Flaggen hoch, ebenso zögernd und erst immer wieder heruntergeholt wie zuerst, aber es lag kein Sinn in ihnen.

»Was — sein — haben — nein — Petroleum Hurra,« buchstabierte Flederwisch. »Die scheinen noch nicht das Alphabet gelernt zu haben. Was für eine Frage soll ich stellen, Alfred?«

»Frage sie direkt, wer sie sind. Vielleicht können sie besser lesen. Frage direkt: Was für eine Kolonie ist das?«

Die betreffenden Flaggen gingen hoch.

Lange ließ die Antwort auf sich warten. Dann kletterten die bunten Läppchen auf jenem Dampfer unentschlossen empor.

»Wir — haben — Vögel — im — Leibe.«

Das brüllende Gelächter der Matrosen konnte nicht im Keime erstickt werden.

»Ja, im Kopfe, im Kopfe!!!«

Das Lachen mußte gehört worden sein, eilfertig wurden die Lappen heruntergeholt, eine Spezialflagge wurde gehißt.

Auf weißem Felde zeigte sich in blauer Farbe ein leichtgeschürztes Weib, mit Speer und Bogen bewaffnet.

»Eine Diana, oder wohl richtiger eine Amazone zu Fuß,« erklärte Nobody. »Wir haben moderne Amazonen vor uns.«

Die Unterhaltung mittels Flaggen ging weiter, von Nobody dirigiert.

»Unter welcher Reichsflagge steht ihr?«

»Kaffee,« lautete die prompte Antwort. Den Matrosen war das Lachen verboten worden. Wie sie damit fertig wurden, war ihre Sache.

»Wie lange seid ihr schon hier?«

Ueberhaupt keine Antwort.

»Dürfen wir an Land kommen?«

»Wir — Waschtisch — hoffen — fürchten Oberbramstengrahe — Gutenacht — Kartoffeln.«

»Wollen Sie uns an Bord besuchen?«

»Wir — haben,« — die ersten beiden Flaggen waren nämlich oben hängengeblieben — »wir — haben Hurra — Diarrhöe — Hurra.«

»Haltet's Maul!!!« donnerte Flederwisch seine Matrosen an. »Aber wirklich, nach was für einem Flaggenbuche die signalisieren, das möchte ich auch wissen.«

Nobody ließ die sinnlose Unterhaltung abbrechen.

Er hatte unterdessen eine genaue, geographische Berechnung der Ortslage gemacht. Es stimmte, auf dieser Insel mußten sich die von Scott angegebenen Linien kreuzen, aber wohl nicht auf dem festen Lande, sondern im Wasser, dort hinten in der Bucht, soweit er das von hier aus taxieren konnte.

Hing nun das Geheimnis, das er hier finden sollte, mit dieser Amazonenkolonie zusammen? Vielleicht, vielleicht auch nicht! Hier auf einer Insel der Südsee eine Ansiedlung von emanzipierten Frauenzimmern zu entdecken, das war ja sehr interessant, aber . . . Nobody bezweifelte, daß dies der eigentliche Grund war, weswegen das Schicksal ihn hierhergeführt hatte.

»Wir werden den Damen einen Besuch abstatten. Laßt die große Jolle aussetzen.«

Jetzt, nachdem Flederwisch seine Pflicht erledigt hatte, wozu er beim Signalisieren seinen Kopf hatte anstrengen müssen, geriet er ganz aus dem Häuschen.

»Himmeldonnerwetter — so eine Masse Frauenzimmer auf einer Insel- und ohne Mann - du, Alfred, ob die wohl hübsch sind?«

»Was weiß denn ich?«

Der lange Don Juan machte plötzlich ein betrübtes Gesicht, als er sich hinter den Ohren kratzte.

»Wenn sich ein Weibsbild auf eine einsame Insel zurückzieht, da kann's nicht hübsch sein. Das werden nette alte Megären sein.«

»Ich werde es ja gleich sehen und dir dann mitteilen.«

»Du? Na, ich gehe natürlich mit ins Boot!«

»Wenn du das vor deiner Frau verantworten kannst.«

»Ach, Turandot ist doch nicht somnambul veranlangt. Außerdem tu ich's ja nur der Wissenschaft wegen, um sozusagen meine Kenntnisse zu erweitern.«

Kaum war zu merken, daß hier ein Ruderboot ausgesetzt und bemannt werden sollte, als drüben eiligst einige Flaggen hochkletterten.

»Wir — halt — essen!«

»Die sind gerade bei der Mahlzeit und wollen nicht gestört sein.«

»Na, wenn das nur kein Irrtum ist. Das Signalisieren geht mir jetzt etwas gar zu fix.«

Richtig, die letzte Flagge, welche in dieser Zusammensetzung ,essen« ausdrückt, wurde wieder herabgeholt und durch ›stechen‹ ersetzt.

»Wir — halt — stechen! Kinder, seht euch vor, die wollen uns stechen, wenn wir Ihre Insel betreten. Oder wollen die etwa gar hierherüberstechen? Halt, was ist denn das?«

Einige von den betunikaten Weibern waren nach den beiden großen Geschützen geeilt — kein Zweifel, sie machten dieselben klar zum Gefecht! Ja, sie benahmen sich gar nicht einmal so ungeschickt, deutlich konnte man erkennen, wie jetzt eine Granate hochgewunden und hinten eingeschoben wurde, alles regelrecht nach Kommando.

»Na, nun hört aber die Gemütlichkeit auf!«

Es geschah noch etwas ganz anderes. Aus den Häusern kamen anders gekleidete Amazonen heraus, in blauen Kostümen, man konnte eine Art von Uniformen mit Käppis erkennen, richtig bewaffnet mit Säbeln und Gewehren, sie stellten sich in Reih und Glied auf und marschierten sektionsweise nach dem Strand, nahmen dort die Gewehre von den Schultern, nach Kommando, und alles klappte mit militärischem Drill.

»Die wollen uns nicht an Land lassen, die bedrohen uns mit Gewalt.«

»Vorläufig geben sie eine militärische Demonstration zum besten.«

»Alfred, soll ich ihnen einmal eins aus dem Zehnzentimetergeschütz über die Köpfe weg knallen?«

»Um Gottes willen! Schließlich sind es ja doch Damen, und du weißt — geh den Frauen zart entgegen, du gewinnst sie, auf mein Wort.«

»Ja, aber wenn man keck und verwegen ist, kommt man noch schneller bei ihnen fort — ich will doch lieber einmal knallen.«

Doch Flederwisch scherzte ja nur. So gewalttätig war er Damen gegenüber gar nicht.

Aber dort drüben nahm die militärische Demonstration ihren Fortgang, immer mehr uniformierte Amazonen stellten sich in Reih und Glied, die Geschütze wurden nach dem Torpedodampfer gerichtet.

»Wenn ich nicht wüßte, daß ich wache,« murmelte Nobody, »glaubte ich, ich befände mich im Theater, das Corps du Ballett führte so ein phantastisches Stück auf. Nein, so eine Komödie! Nun sage man nicht mehr, daß in der Wirklichkeit irgend etwas unmöglich sei!«

Jetzt kletterte an dem Signalmast eine weibliche Gestalt empor, sehr gewandt, sie löste die hängengebliebene ,Wir«-Flagge, gleich darauf gingen andere hoch, und mit einem Male hatten die Signale Sinn und Verstand. Die damit eingeweihte Person hatte gefehlt, es kam überhaupt jetzt in alles mehr Ordnung hinein.

»Was für ein Schiff ist das?« wurde jetzt präzis gefragt.

Auf Nobodys Anordnung mußte auch nochmals geantwortet werden.

»Die Wetterhexe.«

»Wo beheimatet?«

»Auf den unter englischem Protektorat stehenden Schwefelinseln.«

»Doch nicht Kapitän Flederwisch?«

Das ›Doch‹ war wirklich vorangesetzt worden.

Unter den gesamten Frauen entstand eine Bewegung, auch die ›Regimenter‹ konnten nicht stehen bleiben.

»Du, Paul,« sagte Nobody zu seinem Freunde, »du bist erkannt worden, und du brauchst nicht so unternehmend deinen Schnurrbart zu drehen, hier wirst du kein Glück haben.«

»Das werden wir ja sehen.«

Ehe die Flaggen dort herunter waren, ließ Nobody schnell eine Frage stellen.

»Was für eine Ansiedlung ist das?«

Eine ganze Menge von Flaggenreihen gingen in die Höhe, richtig gestellt, nur unordentlich gehißt. Die einzelnen Angaben wurden notiert.

»Die Frauenrepublik Amazona. Wir haben diese Insel von der französischen Regierung gekauft, bilden einen selbständigen und anerkannten Staat und befehlen euch, sofort dieses Gewässer zu verlassen.«

Damit noch nicht genug — es wurden auch noch zwei Ausrufungszeichen gehißt, denen nach einer Pause noch ein drittes Ausrufungszeichen nachkletterte.

»Oho,« sagte Nodody, »diese Damen treten ja sehr befehlerisch auf. Daß eine Gesellschaft von Damen diese Insel von der französischen Regierung gekauft hat, kann möglich sein, obgleich mir rätselhaft ist, wie sich das so gänzlich der Oeffentlichkeit entzogen hat. Aber ein selbständiger Staat, der von den anderen Mächten anerkannt sein soll- nein, meine Damen, das ist entweder Renommage oder Einbildung, die schon an Größenwahnsinn grenzt.«

Und die Flaggen wurden gestellt.

»Seit wann ist diese Ansiedlung als selbständiger Staat anerkannt?«

»Das werden Sie schon noch zu hören bekommen!« kam nach einiger Zeit die wenig höfliche, aber solchen Damen ganz entsprechende Antwort zurück.

Die Matrosen verstanden den Witz, sie brachen wieder in ein schallendes Gelächter aus.

Schnell kletterten auf dem Signalmast andere Flaggenreihen empor.

»Verlaßt sofort dieses Gewässer, oder wir brauchen unser Recht!!!«

»Sie haben kein Recht.«

»Das werden Sie sehen!«

Wieder wurde an den beiden mächtigen Kanonen hantiert, zum Jubel der Matrosen — nur Nobody schien sich einschüchtern zu lassen.

»Ich bitte um eine Unterredung,« lautete sein nächstes Signal.

Drüben auf dem Dampfer ward eifrig debattiert, ehe die Antwort kam.

»Worüber?«

»Ich habe den Damen etwas mitzuteilen.«

»Signalisieren Sie es.«

Die einfache Nein-Flagge wurde gehißt.

»Weshalb nicht?«

»Es kann nur mündlich geschehen«

Jetzt erwachte dort drüben die weibliche Neugier mit aller Macht, die sich auch auf diese seemännische Weise Luft machen mußte.

»Paßt auf, jetzt kommt: ach, sagen Sie es uns doch!« meinte Nobody.

Richtig, wenigstens war es ganz dasselbe, nur das ›Ach‹ fehlte.

»Signalisieren Sie es uns doch.«

»Ich bitte, an Land kommen zu dürfen.«

Jetzt war die Antwort sofort da:

»Kein Mann darf unsere Insel betreten!!!!«

»Fünf Ausrufungszeichen haben sie leider nicht,« meinte Flederwisch und ließ auf Nobodys Anordnung weiter signalisieren:

»So schicken Sie eine Gesandtschaft zu uns.«

Wieder ein eifriges Debattieren.

»Ja, wir werden eine Gesandtschaft schicken.«

»Wir warten. Danke.«

Aber so schnell waren die drüben noch nicht fertig.

»Wir fordern als Sicherheit drei Geiseln.«

»Ich — ich — ich gehe hinüber!!« schrie Flederwisch sofort.

»Ick ook,« ließ sich Jochen Puttfarkens Stimme vernehmen.

O, da waren noch mehr, die sich freiwillig als Geiseln meldeten. Doch die Damen wurden sich schnell genug ihrer Inkonsequenz bewußt. Kein männlicher Fuß sollte ja die keusche Insel betreten.

»Wir verzichten auf die Geiseln, wir trauen Ihnen.«

»Wir danken und werden dieses Vertrauen rechtfertigen.«

Drüben fand eine Beratung statt, bei der es sehr lebhaft zuging! Die Damen zankten sich offenbar, wer nach dem fremden Dampfer gehen sollte, gerieten sich dabei fast in die Haare, und daß dies nicht wirklich geschah, daran mochte nur der Gedanke schuld sein, daß sie eben von fremden Augen beobachtet wurden, noch dazu von Männeraugen.

Schließlich hatten sie sich doch geeinigt. Zehn Damen, oder Amazonen, wie wir sie gleich nennen wollen, stiegen in ein Boot.

Um das Amt der ›Steuermännin‹ schien gleich wieder Zank zu entstehen, bis sie sich auch hierüber geeinigt hatten. Eine mußte wieder ›raus‹, acht griffen zu den Riemen, die neunte, welche man schon aus der großen Entfernung als eine außerordentlich dicke Person erkannte, setzte sich ans Steuer.

Es sollte losgehen. Aber es wollte nicht losgehen. Sie kamen, zum Gaudium der Matrosen, nicht in Takt, überhaupt gar nicht von der Küste ab, an der eine leichte Brandung herrschen mochte.

Trotzdem schienen die Damen des Ruderns kundig zu sein, das sah man gleich daran, wie sie die Riemen ergriffen hatten, aber sie waren eben wohl nur im Sportboot zu Hause, das schwere Seeboot brachten sie nicht frei, konnten die langen Riemen nicht in die Gewalt bekommen.

Sie setzten sich nicht lange einer Blamage aus, verließen das Ruderboot wieder und gingen in ein anderes, welches jedenfalls, wie sich dann auch zeigte, durch einen Motor getrieben wurde.

Aber auch mit dem ging es nicht so schnell. Es war nicht in Ordnung, es fehlte etwas, wohl vor allen Dingen der ›nervus rerum‹, das Benzin oder Petroleum, denn bald wurde ein Faß angerollt, und wieder amüsierten sich die beobachtenden Matrosen, wie ungeschickt sich die Amazonen bei dieser an sich so einfachen Arbeit benahmen, was besonders auch dadurch kam, daß nicht weniger als sechs Damen Hand an das kleine Fäßchen legten oder legen wollten.

Plötzlich ein entsetzliches Gekreische, eine allgemeine Flucht der sechs kriegerischen Amazonen nach allen Richtungen — o Schreck, das Faß hatte einen Reifen verloren, war gleich ganz in Trümmer gegangen! Bis hierher duftete es nach Benzin.

Den Matrosen war alles laute Lachen verboten worden.

Aus einem größeren Gebäude, wohl das Magazin, wurde ein zweites Faß hervorgeholt. Diesmal gelang der Transport unter vereinten Kräften — d. h., er gelang ziemlich, nicht ganz. Schon dicht an dem Boote geriet das Faß auf dem etwas schrägen Strande ins Rollen, wieder ein allgemeines Kreischen, ein Auseinanderstieben nach allen Richtungen, und das Faß war in den Fluten des Großen Ozeans verschwunden.

Ein drittes Faß verließ das Magazin.

»Wenn das so weitergeht — das kann ja noch gut werden,« meinte Flederwisch. »Unser Proviant reicht nur noch für drei Monate.«

Doch nein, das dritte Faß wurde von anderen, sachkundigeren Händen in Empfang genommen. Die außerordentlich dicke Amazone war selbst hingegangen, sie wollte keine Hilfe haben, man sah ganz deutlich, wie sie in die Hände spuckte, sie faßte kräftig an und hatte mit leichter Mühe das Faß bis dicht ans Boot gerollt.

»Bravo! Wenn das nicht die Präsidentin der Frauenrepublik ist, dann hat sie diesen Posten verdient. Aber sie wird's wohl sein, sie sitzt am Steuer, führt überhaupt das ganze Regiment.«

Nach einer weiteren Viertelstunde ging das Motorboot glücklich ab.

Unterdessen hatten Nobody und Scott genügend Zeit gehabt, noch einmal die genaueste geographische Berechnung zu machen, bis auf Zehntelsekunden, was die meisten Seeleute mit ihren Instrumenten gar nicht können, hatten auch auf einem an Deck stehenden Tisch solch eine geometrische Kongruenzzeichnung entworfen.

Nach dieser Berechnung lag das von Scott so genau bezeichnete Terrain ziemlich in der Mitte der Insel, von hier aus gar nicht zu erblicken, umfaßte dieselbe doch fast eine deutsche Quadratmeile, dann lagerten wahrscheinlich auch die Berge davor.

Nobody teilte seine Beobachtung Flederwisch mit. Doch mit dem war jetzt gar nicht mehr über so etwas zu sprechen. Was kümmerte der sich darum, was für ein Geheimnis dort verborgen war? Der hatte jetzt nur noch die Weiber im Kopfe, und auch Nobody lenkte seine Aufmerksamkeit dem sich nähernden Boote zu.

Am meisten interessierte ihn das korpulente, am Steuer sitzende Weib. Durch dieses kam er wieder zu der Ansicht, daß dies alles dennoch das Werk jener Damen aus dem Koloradotale sein müsse. Denn solch ein Monstrum von weiblicher Dicke hatte er nur eben dort gesehen, das konnte nur Mrs. Therese Hackerle sein, und ohne noch ihre Gesichtszüge erkennen zu können, ward ihm das zur Gewißheit, als die eine Amazone aufstand, und er in ihr mit untrüglicher Gewißheit Miß Maud Field erkannte, jenes Monstrum von einem Weibe in entgegengesetzter Richtung, diese unendlich lange Hopfenstange ohne Schultern, er sah auch schon die Gläser ihrer Brille blitzen.

Also auf diese Weise hatten die Russin, die er für eine recht praktische Frau gehalten, und die geistvolle Französin ihre Pläne verwirklicht, welche die tatsächlich ungebührlich unter der Herrschaft des Mannes stehende Frau befreien sollten?

Nobody empfand fast einen Schmerz. Nun, er wollte es nehmen, wie es nun einmal war.

»Du bist und bleibst der Kapitän,« wandte er sich an Flederwisch. »Ich selbst werde mich für einen Berichterstatter der Londoner Times ausgeben.«

»Weshalb das? Das dürfte die Damen gerade recht verschlossen machen, daß wir nichts von ihnen erfahren.«

»Ganz im Gegenteil. Ich habe nämlich den Grund ihres Gesinnungswechsels gleich durchschaut. Anfangs mögen sie ja ihre emanzipierten Kolonisationspläne in aller Heimlichkeit ausgeführt haben, da sie nun aber einmal so weit, lassen sie sich nur zu gern interviewen, auf daß nun alle Welt von ihrer Genialität lesen und sie bewundern möchte. Ich kann mich ja auch irren, aber ich glaube kaum.«

Jetzt konnte man die Insassen des Bootes deutlich erkennen. Die neun Amazonen waren alle gleichartig gekleidet, in ein blaues Kostüm, halb Uniform, halb Ballett, letzteres besonders, da das hellblaue Röckchen nur bis an die Knie reichte, und wenn die Beine nicht nackt waren, so waren sie nur mit fleischfarbenen Trikots bedeckt, und dazu nun noch nur eine Art Sandalen oder schon mehr Ballettschuhe, mit blauen Riemen kreuzweise befestigt.

Zu dieser kriegsmäßigen Ausrüstung mußte natürlich unbedingt ein Degen gehören, auch das keck auf dem Ohre sitzende Käppi paßte dazu, weniger für solch eine Amazone der Revolver am Gürtel.

Nobody brauchte sich nicht allzusehr zu wundern, daß solch eine Komödie in der Weltgeschichte vorkommen könne.

Es gibt nichts Neues unter der Sonne, es ist alles schon dagewesen.

Hat der geneigte Leser von der Kolonie der Ikarier gehört, welche der französische Kommunist Cabet ums Jahr 1850 in Texas gründete?

Ganz genau dasselbe in Grün!

Solcher Kolonien oder Sekten, die sich nach antikem Muster oder sonst nach einem bizarren Geschmack kleideten und deren Mitglieder gerade das Entgegengesetzte taten, wozu die Natur den Menschen bestimmt hat — mit einem Wort: nur immer so verrückt wie möglich! — hat es aber schon zahllose gegeben! Dr. Georg Schuster führt in seinem Werke ›Sekten, Orden und geheime Gesellschaften‹ nur die hauptsächlichsten davon an, und es sind schon eine ganze Menge.

Demnächst wird ein amerikanischer Prophet wiederum solch einen idealen Staat nach altgriechischem Muster gründen, mit Gütergemeinschaft, aber mit strenger Trennung zwischen Mann und Frau, wie es auch bei den Shakern ist, und diesem Propheten, den der Schreiber dieses selbst in London hat sprechen hören, Propaganda machend, dessen Name ihm aber entfallen ist, sind aus den höchsten Kreisen für seine Zwecke schon Millionen zugeflossen.

Es ist nichts verrückt genug, daß es nicht sofort begeisterte Anhänger findet.

In New-York besteht schon seit langen und besteht noch heute die ›Legion of Ladys‹, Damen in Amazonenuniform, welche regelrecht exerzieren, sich in den Waffen üben, mit der festen Absicht, bei dem nächsten Kriege, den die Vereinigten Staaten haben werden, als aktive Soldaten mit ins Feld zu gehen, um der Welt zu beweisen, daß die Frauen das Vaterland genau so gut verteidigen können wie die Männer.

Und was ist es mit der Heilsarmee? Ja, heute sind die Halleluja-Mädchen eine allbekannte Erscheinung, da blickt man gar nicht mehr hin. Das ist es eben. Kommt aber ein Bauer nach der Stadt und sieht zum ersten Male solch ein weibliches Regiment mit ›Blut und Feuer‹ und mit Pauken und Trompetenklang durch die Straßen marschieren — na, der hat noch etwas ganz anderes gesehen, als hier unsere welterfahrenen Freunde auf einer einsamen Insel in der Südsee zu sehen bekamen.

Ob nun das wilde Texas oder eine Südsee-Insel, das bleibt sich doch ganz gleich. Die Ikarier gingen weniger an Geldmangel als an den beständigen Angriffen der beutegierigen Apachen zugrunde — und an ihrer Uneinigkeit!

Nein, Mrs. Hackerle war die monströse Dicktheit nicht. Herrgott, hatte die Waden!! Aber wo hatte Nobody dieses Gesicht nur schon einmal gesehen?

Wenn nicht Mrs. Therese Hackerle, dann war es jedenfalls ihre Schwester. Solch eine unförmliche Dicke konnte die Natur nicht so bald wiederholen, das mußte wenigstens in der Familie bleiben, und daher auch die bekannten Gesichtszüge.

Aber die Miß Field war es wirklich, und die unsäglich lange Hopfenstange mit den endlos langen Beinen und Armen, in dem kurzen, ärmellosen Kleidchen erst recht grotesk erscheinend, ihre nicht vorhandenen Reize zur Geltung bringend, wurde von den Matrosen vielleicht noch mehr bewundert als ihr dickes Gegenstück.

Eine Bemerkung, die ein Matrose in einem besonderen Dialekte machte, warnte vor einer Gefahr.

»Heinrich, nu sich mal bloß die Klapperschlange, was die for därre Beene hat!«

Die Gefahr bestand darin, daß die lachlustigen Matrosen die Deputation, aus empfindlichen Damen bestehend, beleidigen könnten. Sie wurden entfernt, der eigentliche Empfang sollte in der Kajüte stattfinden, wozu schon alles vorbereitet wurde.

»Die getrauen sich nicht hinein, die wollen mindestens an Deck bleiben,« meinte Flederwisch.

»Oho, da bin ich gerade entgegengesetzter Meinung. Die werden doch zeigen wollen, wozu sie mit Schwert und Pistole bewaffnet sind, und wie sehr sie uns Männer verachten!«

Das Motorboot hatte die ausgeworfene Fallreepstreppe erreicht, legte unter der ansehnlichen Hand der Dicken recht geschickt bei.

Sie kletterten an Deck, stellten sich in Reih und Glied, lauter recht hübsche, gutgewachsene Mädchen, in denen Nobody sofort, aus ihrem ganzen Gebaren, was sich aber auch in den Zügen ausdrückt, emanzipierte Amerikanerinnen der Geldaristokratie erkannte.

Die eine erkannte er sogar direkt, das war keine andere als die Tochter des Multimillionärs Samson aus Chicago, und eine andere schien die geschiedene Gattin eines New-Yorker Sportsmannes zu sein.

Ja, wenn nur nicht das lange Skelett gewesen wäre! Wie das dastand, von der Stelle, wo andere Menschen die Schultern haben, die langen Knochenarme herabbaumeln lassend, vornübergeneigt, die Knie geknickt, und nun überhaupt dieses kurze Röckchen zu der ganzen Jammerfigur, und die große Brille auf der spitzen Nase - Nobody wunderte sich nur, wie sein Freund Flederwisch seinen Ernst so bewahren konnte.

Und nun diese Dicke mit dem Schmerbauch, den sie noch extra herausreckte, mit diesen fettgepolsterten Armen und Beinen - Herrgott, wo hatte er nur dieses Gesicht schon einmal gesehen?!

Flederwisch machte mit unerschütterlichem Ernst die Honneurs.

»Es ehrt mich ebenso, wie es mich freut. . . . .«

»Es hat Sie gar nichts zu ehren noch zu freuen,« wurde er sofort von der Dicken mit einer Stimme unterbrochen, die sich zwischen Baß und Fistel bewegte, nämlich manchmal überschnappte. »Sind Sie der berüchtigte Kapitän Flederwisch?«

»Der bin ich, aber daß ich berüchtigt bin . . . .«

»Schweigen Sie, wenn ich spreche! Sie sind als ein Verführer der weiblichen Unschuld bekannt; aber bei uns kommen Sie da gerade an die Unrechten. Ehem. Ich bin die Präsidentin der Frauenrepublik Amazona, mein Name ist Diana. Hier stelle ich Ihnen vor: Miß Juno, meine Ministerin — das sind heute meine Offiziere, Miß Delphine, Herakline, Achilline . . .«

Sie ›iente‹ mit überschnappender Stimme noch sieben andere Namen herunter, nur klassische.

»Darf ich die Damen bitten, sich in die Kajüte bemühen zu wollen?«

»Warum denn nicht? Wir fürchten euch sogenannte Herren der Schöpfung nicht im geringsten, und ich sage Ihnen gleich: wir, die Sie hier sehen, sind sämtlich keusche Jungfrauen, und wenn wir auch schon verheiratet gewesen sind, und wenn wir auch schon, wie zum Beispiel ich, Mütter sind — ich zum Beispiel bin Mutter von neun lebendigen Kindern — bleibt sich ganz gleich — und wenn Sie einen Angriff auf unsere jungfräuliche Tugend machen, dann schießen wir Sie ohne weitere Vorrede über den Haufen. Verstanden?«

»Ja, obgleich diese Worte gar nicht nötig gewesen wären. Bitte, wollen Sie mir in die Kajüte folgen.«

Die wehrhaften Amazonen marschierten in Reih und Glied nach der Kajüte, die Herren schlossen sich ihnen an.

Und Nobody — der schlich hinterdrein wie ein Träumender!

Ja, träumte er denn wirklich nicht nur?!

Nein! Es war Tatsache! Jetzt hatte er dieses dicke Frauenzimmer erkannt!

Und wenn er vielleicht an seinem gesunden Verstand zweifelte, so sollte er noch auf dem Wege nach der Kajüte von der Richtigkeit seines Blickes überzeugt werden.

Die Präsidentin ließ ihren Gefährtinnen den Vortritt, sie wußte sich unauffällig auch hinter die beiden anderen Männer zu bringen, plötzlich war sie an Nobodys Seite, zupfte diesen am Rock.

»Nobody, um Gottes willen,« flüsterte eine Baßstimme, die jetzt nicht mehr überschnappte, »besorgen Sie mir schnell ein Rasiermesser — meins ist schon ganz stumpf geworden — kann's nicht schleifen — und — und — haben Sie nicht einen Prim?«

Mr. Cerberus Mojan!!!

Miß Diana, die Präsidentin der Frauenrepublik Amazona, die jungfräuliche Mutter von neun lebendigen Kindern - niemand anders als Cerberus Mojan!!

Doch mit einem Seelenruck war Nobody wieder Herr seiner selbst.

»Wird alles besorgt,« hauchte er, und im nächsten Augenblick schon hatte die schaumgeborene Diana eine Rolle Kautabak in der Hand, von der der Yankee auch in der distinguiertesten Damengesellschaft ungeniert abbeißt, was in Amerika auch dem umschwärmtesten Jüngling nicht übelgenommen wird — andre Länder, andre Sitten — und das besorgte denn auch sofort Cerberus Mojan, nur nicht so ungeniert, das konnte er als Frau denn doch nicht, sondern er tat es in aller Schnelligkeit hinter den Rücken der anderen und ließ die ansehnliche Tabaksrolle in den Falten seines Amazonenkostüms verschwinden.

Mit einem zweiten Seelenruck hatte Nobody den Entschluß gefaßt, sich über nichts mehr zu wundern. Wie Mr. Cerberus Mojan, von dem er erst vor fünf Wochen in Odessa Abschied genommen hatte, so gewissermaßen im Handumdrehen zur Präsidentin einer Frauenrepublik avanciert war, das würde er schon noch erfahren.

Uebrigens konnte er sich recht gut für eine Frau ausgeben, für so eine alte, dicke Bauerfrau mit groben Zügen, wie man sie oft genug mit Schmuck überladen auch in der besten Gesellschaft antrifft; der Goldüberzug gleicht ja alles aus, und das Ueberschnappen der Stimme, was sich schriftlich nicht weiter charakterisieren läßt, paßte hierzu sehr gut, das war nicht etwa die Folge des Versuches, seine an sich tiefe Stimme in eine hohe Lage zu bringen, denn daß dies Mojan konnte, hatte er ja als Eunuche bewiesen — nein, er kopierte offenbar eine ihm bekannte Frauensperson, und das gelang ihm vortrefflich, wie wir ja auch schon einmal Nobody haben bedauern hören, daß an dem kleinen, dicken Männchen ein gottbegnadeter Schauspieler verloren gegangen wäre.

Ferner sei noch bemerkt, daß Nobody den Scharfblick dieses Mannes nur bewundern konnte, der ihn sofort erkannt hatte. Zwar trug Nobody jetzt keine besondere Maske - immerhin, den Matrosen, die ihren ›Master‹ doch eigentlich zur Genüge kannten, hatte er erst seinen Namen nennen müssen. Auch Miß Field erkannte ihn ja nicht wieder.

»Ich erlaube mir vorzustellen — Mr. Scott, Forschungsreisender — Mr. Payne, Spezialberichterstatter der Londoner ›Times‹.«

Diese Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Nobody hatte ganz richtig taxiert. Diese Damen, mochten sie ihr Unternehmen zuerst auch noch so geheim gehalten haben, ließen sich nur zu gern interviewen, jetzt war es ihr sehnlichster Wunsch, daß alles in die breite Öffentlichkeit kam, wofür die tonangebenden ›Times‹ ja am besten sorgen konnten.

Freudige Ueberraschung malte sich in allen Zügen. Darüber wurde dann sogar vergessen, was man hier eigentlich Wichtiges erfahren sollte. Oder das war es eben gewesen.

Miß Juno, die gerade das Gegenteil von einer junonischen Gestalt besaß, nahm ihre große Hornbrille von der Nase, hob ihr blaues Ballettkleidchen, so hoch, daß Nobody erst glaubte, sie wolle sich mit dem Kleidersaum die Nase putzen — aber nein, nur die Brille putzte sie — und setzte sich dieselbe wieder auf die Nase.

»Spezialberichterstatter der ›Times‹?«

»Ja, meine Gnädige.«

»Sie kommen extra hierher, um uns zu besuchen, um uns zu interviewen? Haben Sie denn von unserem Unternehmen erfahren?«

»Nein, meine Gnädige. Nur der Zufall führt mich hierher. Ich begleitete Mr. Scott auf seiner Forschungsreise. Natürlich wurde uns bald klar, was hier vorliegt — eine Kolonie kühner Vertreterinnen des weiblichen Geschlechtes — diese Gelegenheit möchte ich mir doch nicht entgehen lassen.«

»Ihre Berichte über uns werden in der ›Times‹ erscheinen?«

»Selbstverständlich.«

»Dürfen diese Berichte von anderen Zeitungen nachgedruckt werden?«

»Wenn Sie es wünschen, gewiß.«

»Gut, interviewen Sie uns!«

Die Damen setzten sich, es wurden ihnen Erfrischungen angeboten. Von Wein wollten sie nichts wissen, nur Limonade und Biskuit nahmen sie an. Doch aus der Appetitlosigkeit war für den scharfen Beobachter zu erkennen, daß sie auch mit solch ausgesucht feinem Backwerk reichlich versehen sein mußten.

»Sie haben mir da doch nicht etwas hineingegossen?« fragte Mojan, der als schaumgeborene Diana eigentlich das Vorbild jungfräulicher Schlankheit fein sollte, mißtrauisch, ehe er die Limonade zum Munde führte.

»Was sollte ich Ihnen denn in die Limonade getan haben?«

»So ein Mittelchen, was meine weiblichen Sinne betört, daß ich dann zu dummen Streichen aufgelegt bin.«

»O, Gnädige, wo denken Sie hin, was trauen Sie uns zu?!«

»Also denn mal los, fragen Sie!«

Das Interview begann. Der richtigen Bedeutung nach läßt sich dieses Wort gar nicht mehr übersetzen. Es ist etwas rein Journalistisches geworden. Das Fragen geschieht immer im Zickzack, schnell von einem Thema zum anderen springend, wie man ja auch bei solchen Interviewen bemerkt, welche die Zeitungen wörtlich wiedergeben. Mag sein, daß es etwas Gesuchtes ist, es ist Usus geworden, ein Journalist aber, den man recht wohl zu den Künstlern zählen kann, vermag sich dadurch auch ein ganz anderes Bild zu machen, als wenn er ordnungsgemäß fragt. Dieselben Kreuz- und Quersprünge beim Ausfragen finden wir ja übrigens auch beim Verhör durch den Untersuchungsrichter, und das ist nicht nur so planlos, wie es dem Uneingeweihten wohl erscheinen mag, und auch das Interviewen ist tatsächlich eine Kunst, die nicht gelernt werden kann. Der Journalist kommt durch seine scheinbar ganz planlose Fragerei nach und nach zu Mitteilungen von Dingen, die der andere eigentlich als sein tiefstes Geheimnis bewahren will.

Einem die Würmer aus der Nase ziehen - das ist die einzig richtige Übersetzung des Wortes ›interviewen‹.

Wir geben in gedrängter Kürze das wieder, was Nobody zunächst aus dem Munde der dicken, keuschen Diana erfuhr, worüber die Damen ja gar nichts verheimlichen wollten, ganz im Gegenteil.

Es waren nicht weniger als zweiundachtzig Damen, welche sich zusammengefunden hatten, um der Welt zu beweisen, daß es eine Kolonie, ein ganzes Reich ohne Männer geben könne.

Fast alle waren Amerikanerinnen, die meisten gehörten dem Lady-Athletic-Club und anderen Sportvereinen an.

Schon seit langer, langer Zeit waren im geheimen die Vorbereitungen getroffen worden. Man hatte diese Insel hier der französischen Regierung abgekauft. Die Südsee hatte den emanzipierten Damen immer in der Nase gesteckt, eine Deputation war hierhergeschickt worden, hatte Apucarua als das günstigste Eiland ausgekundschaftet.

Der Kauf hatte keine Schwierigkeiten geboten. Ehe man selbst übersiedelte, wurde die Insel schon eingerichtet, wozu man Handwerker mit allen nötigen Materialen vorausgeschickt hatte. Nun waren die zweiundachtzig Damen hier, um weiter zu kolonisieren, die selbständige Frauenrepublik Amazona bildend.

Das war das erste, was Nobody in großen Umrissen ohne Schwierigkeiten erfuhr. Alles wurde, gewissenhaft notiert.

Jetzt erst begann das eigentliche Interview, welches trotz des buntesten Durcheinanders Ordnung in die ganze Sache bringen mußte.

»Sind es nur ledige, verwitwete oder geschiedene Damen?«

»O nein, es sind auch genug solche dabei, welche noch immer im Joche der Ehe liegen.«

»Diese verheirateten Damen haben sich mit Erlaubnis ihrer Gatten diesem Unternehmen angeschlossen?«

»Erlaubnis? Gibt's ja gar nicht bei uns. Auch ich bin meinem Manne durchgebrannt, und er soll's nur versuchen, mich wiederzuholen, die Hosen habe ich an.«

So sprach Mr. Cerberus Mojan, jungfräuliche Mutter von neun lebendigen Kindern — ohne die zerquetschten, setzte Nobody noch hinzu, natürlich nicht laut, nur in Gedanken.

Nun hätte die Frage nahe gelegen, wie sich die verheirateten Frauen von ihren Kindern verabschiedet hatten, wie überhaupt die ganze Sache von ihrem eigenen Gewissen beurteilt wurde - wobei von allem Humor, welchen die männliche Präsidentin hineinbrachte, jetzt ganz abzusehen war.

Aber die nächste Frage berührte schon wieder ein ganz anderes Thema.

»Wieviel haben Sie der französischen Regierung für diese Insel bezahlt?«

»Viermalhunderttausend Francs.«

»Das ist sehr billig.«

»Das ist für das Ding gerade genug.«

»Als vollständiges Besitztum mit allen Rechten?«

»Ja, aber nur für Lebenszeit.«

»Aha, das ist schon etwas anderes. Also Erben können keinen Anspruch erheben?«

»Was für Erben?«

»Nun, z. B. die Kinder der verheirateten Damen, Ihre eigenen Kinder.«

»Die sind schon ein für allemal abgefunden, und Kinder können auf dieser Insel ja nicht mehr geboren werden. Ich wenigstens werde keinem Kinde wieder das Leben schenken, und alle meine Freundinnen denken genau so wie ich.«

»Werden die Damen längere Zeit auf dieser Insel verweilen?«

»Längere Zeit? Für immer, sterben wollen wir hier!- Es darf nur nicht gar so schnell gehen.«

»So wird also das ganze Amazonengeschlecht dereinst hier aussterben?«

»Natürlich. Dann haben wir bewiesen, so im Laufe von zehn bis fünfzig Jahren, daß auch ein Frauenreich bestehen kann, ohne jegliche männliche Kreatur, und das genügt der Weltgeschichte.«

»Haben Sie auch Tiere auf der Insel, Schlachttiere?« lautete plötzlich die nächste Frage.

»Jawohl, Hühner, Gänse, ein paar Schweine, auch einige Ziegenböcke wegen der Milch - aber ausschließlich weibliche Tiere. Auch männliche Tiere haben keinen Zutritt.«

Vielleicht ersieht der Leser hieraus, wie der Interviewer durch solch eine plötzliche Zwischenfrage die ganze Sache abgekürzt hatte.

Dasselbe bezweckte die nächste Frage, welche nämlich nicht direkt jener Antwort folgte, daß die Kolonie oder der ›Staat‹ auf Lebenszeit gegründet war.

»Wie lange sind die Damen schon auf der Insel?«

»O, schon acht Tage.«

Bisher hatte die Präsidentin trotz ihrer burschikosen und drastischen Weise immer zur Zufriedenheit sämtlicher Amazonen geantwortet, das bewies deren ständiges, lebhaftes Kopfnicken, auch die weiblichen Ziegenböcke, von denen man Milch erwartete, waren durch Kopfnicken gutgehießen worden - aber bei dem letzten ›o, schon acht Tage!‹ machten sie recht verlegene Gesichter.

Mit dieser wahrheitsgetreuen Auskunft hatte die sonst so gewandte Präsidentin eine Dummheit begangen. ›Auf Lebenszeit und noch länger‹ und ›schon acht Tage‹ reimt sich eben nicht zusammen, besonders wenn es sich um die Gründung einer ganzen Republik handelt.

Doch es machte nichts, der Interviewer schien den Widerspruch gar nicht zu merken, sprang gleich wieder auf etwas anderes über.

»Hat Ihnen die französische Regierung auf der Insel unbeschränkte Freiheit gewährt?«

»Die hat uns überhaupt gar nichts zu gewähren, wenn wir die Insel einmal gekauft haben,« lautete die patzige Antwort, gegeben im Sinne dieser emanzipierten Weiber.

Der erfahrene Mojan selbst mußte hierüber natürlich ganz anders denken, der kannte doch auch sicher die Abmachung zwischen England und Frankreich.

»Wer hat die Häuser aufgebaut?«

»Die Firma Moses, Meier und Kompanie in New-York, die überhaupt alles geliefert hat.«

»Was für eine Firma ist das? Was betreibt sie im Speziellen?«

»Na, die liefert eben dergleichen Einrichtungen, macht Hochzeiten, stellt das ganze Haus her, worin die Neuvermählten ihre Flitterwochen verbringen werden, veranstaltet die Kindtaufe, sorgt für das Wickelbett und für die Nutschflasche, begräbt die Toten — man braucht sich um gar nichts mehr zu kümmern.«

Nobody kannte solche Geschäfte — hervorgegangen aus den amerikanischen Verhältnissen — Ausstattungsbazare im verwegensten Sinne des Wortes.

»Steinerne Häuser?«

»Aus Holz. Sehr praktisch eingerichtet. Wenn der Wind so eine Schweizervilla einmal umbläst, kann man sie mit Leichtigkeit wieder aufrichten.«

»Ist das schon einmal passiert?«

»Leider noch nicht. Und provozieren wollen wir es doch lieber nicht. Als ich mich einmal an die eine Schweizervilla etwas derb anlehnte, kippte sie nur etwas. Aber umfallen tat sie nicht — die sind alle ganz solid gebaut.«

Wiederum seitens der Damen höchst mißmutige Gesichter — wohl mehr über die wackligen Schweizervillen als über ihre offenherzige Präsidentin.

»Haben Sie immer gutes Wetter gehabt?« lautete jetzt wieder so eine hinterlistige Frage, die aber nicht als solche empfunden wurde.

»Immer das schönste Wetter.«

»Wie sind Sie Präsidentin geworden?«

»Man hat mich dazu einstimmig gewählt.«

»Von Anfang an?«

»Nein. Ich bekam eigentlich von der ganzen Geschichte erst zu hören, als die Damen die Reise von San Francisco nach der Südsee antraten. Meine Schwester, Miß Therese Hackerle, führte mich ein . . .«

Mojan kam dem Interviewer sehr entgegen, nun mußte dieser aber auch darauf eingehen und sich zunächst erstaunt stellen.

»Wie, Mrs. Hackerle ist Ihre Schwester?!«

»Jawohl, kennen Sie sie denn?«

»Sehr gut sogar, ich machte ihre nähere Bekanntschaft in New-York, sie befand sich in Gesellschaft einer gewissen Mademoiselle Clarence Laboche und einer Mrs. Bowell . . .«

»Was Sie nicht sagen! Von diesen beiden geht die ganze Emanzipation ja erst aus!«

»Das ist nicht wahr!!!« erklang es acht- oder siebenstimmig. Denn Miß Field hatte sich der allgemeinen Entrüstung nicht mit angeschlossen.

Aha, da hatte es etwas gegeben, schon eine Uneinigkeit! Die ursprünglichen Führerinnen hatten sich von der Gesellschaft losgesagt oder waren ›hinausgewimmelt‹ worden, andere wollten sich mit ihren Federn schmücken.

Nun, Nobody wollte alles schon noch erfahren, wenn nicht jetzt sofort, dann später.

Vom Koloradotal hatte er gar nichts erwähnt, er wollte sich der Miß Field nicht zu erkennen geben.

»Befindet sich Mrs. Hackerle denn auch mit auf der Insel?«

»Nein, die ist im letzten Augenblicke von dem ganzen Unternehmen zurückgetreten — weshalb, weiß ich nicht.«

»Aus Gesundheitsrücksichten!« erklang es einstimmig im Chor.

»Mit wieviel Kanonen ist die Insel armiert?«

»Das ist Geheimnis, ein Preisgeben desselben ist Hochverrat und wird mit dem Tode bestraft.«

»Von wem haben Sie die beiden großen Geschütze bezogen? Von Krupp in Essen?«

»Nein, von Moses, Meier und Kompanie in New-York.«

Hm. Eine ganz neue Kanonengießerei! Und warum prägte sich auf den Gesichtern der Amazonen solch eine Verlegenheit aus?

»Wovon ernähren sich die Damen?«

»Von den Zinsen ihres Kapitals. Wer nicht mindestens eine halbe Million Dollar aufweisen konnte, wurde nicht angenommen.«

»Ja, aber ich meine die direkte Ernährungsfrage, wovon Sie sich. . .«

»Ach so, was wir essen, meinen Sie - Fleisch, Gemüse, Brot und dergleichen.«

»Woher erhalten Sie das?«

»Das kaufen wir uns.«

»Von wo?«

»Aller Vierteljahre wird von San Francisco ein Dampfer kommen, das ist schon kontraktlich ausgemacht, der uns so lange mit allem versorgt, bis wir uns vollständig allein ernähren können.«

»Sie wollen die Insel bebauen?«

»Na und ob, wir sind schon feste dabei.«

Nobody musterte die Hände der acht anderen Damen. Nach diesen konnten sie während der acht Tage noch keine grobe Arbeit geleistet haben.

»Sie haben Dienerinnen und Arbeiterinnen bei sich?«

»Nicht eine einzige. Wir machen alles allein. Der nächste Dampfer bringt uns sogar Webstühle.«

»Was für ein Dampfer ist das, der dort liegt?«

»Das ist der Anfang von unserer Kriegsflotte.«

»Sie können ihn auch bedienen?«

»Na und ob, wir exerzieren schon feste darauf.«

»Haben Sie ihn auch allein hergebracht?«

»Ich allein? Nu nein, schon vor die Kessel gehören sechs Heizer, und dann müssen doch auch Matrosen und Steuerleute und. . . . .«

»Ich meine, ob ihn die Amazonen während der Fahrt hierher selbst bedient haben?«

»Nein, damals noch nicht. Die Besatzung ging mit dem anderen Dampfer wieder zurück.«

»So darf also wirklich kein einziger männlicher Fuß die Insel betreten?«

»Niemals!«

»Wenn es sich um eine Sache der Wissenschaft handelt, werden die Damen aber wohl einmal eine Ausnahme machen.«

»Wieso um eine Sache der Wissenschaft?«

Nobody wollte jetzt doch gleich einmal seine eigenen Angelegenheiten erledigen. Ueber die Lebensweise dieser Amazonen konnte er sich ja noch immer orientieren.

»Der Fall verhält sich so: Neuerdings mischen sich ja große Zeitungen vielfach in Sachen, welche sonst nur Angelegenheit der Gelehrtenwelt sind. Das ist auch aller Ehren wert, und solche große Zeitungen haben den Vorteil, über ein bedeutendes Kapital zu verfügen, die besten und kostspieligsten Kräfte engagieren zu können, sie haben darin ja auch schon große Erfolge zu verzeichnen. So zum Beispiel wäre man heute über das Innere von Afrika noch lange nicht so weit orientiert, hätte Gordon Bennett, der Herausgeber des ›New-York Herald‹, nicht Stanley nach Afrika geschickt, um den verschollenen Livingstone aufzusuchen. Faktisch, unsere ganze Kenntnis über das dunkle Afrika verdanken wir eigentlich nur dieser amerikanischen Zeitung, denn sie hat durch ihr abenteuerliches Unternehmen alle die weiteren Afrikaexpeditionen erst angeregt.«

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung,« entgegnete die männliche Präsidentin, die überhaupt jetzt ganz sachgemäß wurde.

»So haben nun die Londoner ›Times‹ den schon bewährten Forschungsreisenden Edward Scott auf eigene Kosten ausgeschickt, um diejenigen Inseln der Südsee, welche ihre Entstehung nicht den Korallen verdanken, also die Bergspitzen von versunkenen Kontinenten, untersuchen zu lassen. Bei allen anderen derartigen Inseln, bei Marutea, Hau, Puttapuka und wie diese gebirgigen Inseln alle heißen, ist dies schon mit Erfolg geschehen. Es handelt sich nur noch um die Erforschung von dieser Insel hier, von Apucarua. Nun, meine Damen, für diese gute Sache der Wissenschaft werden Sie uns doch die Erlaubnis geben, Ihre Insel betreten zu dürfen.«

Eine Pause entstand. Nein, den Mienen nach zu schließen, schienen die modernen Amazonen gar nicht geneigt zu sein, ihre Erlaubnis zu geben. Ader es war ihnen selbst unangenehm.

Dann hatte jede etwas anzuführen.

»Ist denn das nur wirklich so wichtig?«

»Aus der Insel gibt es doch gar nichts mehr zu erforschen.«

»Das können wir doch selber machen.«

»Jawohl, wir teilen Ihnen dann das Resultat mit.«

»Ach, warum sind Sie nur nicht acht Tage eher gekommen, da sind wir noch gar nicht hier gewesen.«

»Nein, das ist wirklich unmöglich, das geht gegen unseren ersten Paragraphen.«

»Darüber können wir neun Mädchen hier,« ergriff jetzt das männliche Mädchen von fünfzig Jahren und Mutter von neun lebendigen Kinder das Wort, »überhaupt nicht entscheiden. Da sind wir gar nicht zuständig. Das muß erst einer Volksversammlung zur Beratung vorgelegt werden.«

Und als ob das wirklich ihr letztes im Ernst gesprochenes Wort gewesen wäre, so stand die Präsidentin jetzt auf, alle anderen erhoben sich mit ihr.

»Wir werden Ihnen unseren Entschluß noch heute, spätestens morgen früh zustellen. Das kann ich Ihnen versprechen, mehr aber auch nicht.«

»Und ich hoffe, daß es eine Erlaubnis sein wird.«

»Das kann ich Ihnen eben noch gar nicht versprechen, ich bin nichts weiter als die auf Lebensdauer gewählte Präsidentin der Frauenrepublik, sozusagen der Mund der in ihrem Entschlüsse einig gewordenen Bürgerinnen. Ich hingegen hoffe, daß Sie, auch wenn unser Entschluß verneinend ausfallen wird, zu keiner Gewalt greifen werden, um die Insel betreten zu wollen.«

»Selbstverständlich nicht,« versicherte Flederwisch.

»Halt,« fiel aber der immer vorsichtige Nobody schnell ein. »Der Herr Kapitän ist nur der nautische Führer der Expedition und hat als solcher in dieser Angelegenheit kein Versprechen zu geben, das kann nur ich als der eigentliche und verantwortliche Leiter der Expedition.«

»Soll das etwa heißen, daß Sie Gewalt anwenden wollen?« erklang es gereizt gleichzeitig im Chor.

»Nicht doch. Ich will mich nur durch kein Versprechen binden. Ohne jeden Zweifel werden wir Ihre Erlaubnis doch in Güte bekommen.«

»Solch ein Versuch würde Ihnen auch sehr übel bekommen,« sagte die am verwogensten aussehende Amazone in scharfem Tone. »Wir schießen nicht etwa mit gefüllten Schokoladenbonbons wie beim Karneval. Ein Bums, und Ihr ganzes Schiff fliegt in die Luft, und mag es noch so gepanzert sein.«

»Ja, ja,« mußte eine andere noch hinzusetzen, »und wagen Sie ja nicht, sich der Küste noch mehr zu nähern oder etwa gar in den Hafen eindringen zu wollen. Ringsum ist alles mit Seeminen gespickt, und zwar mit richtigen, welche wirklich mit einem furchtbaren Knall explodieren.«

»O, meine Damen,« bedauerte Nobody, sich über das Bumsen und Knallen weidlich amüsierend, »wir werden unseren vorläufigen Abschied doch nicht so feindselig gestalten? Wir sind doch Männer der Wissenschaft, also des Friedens. Dürfen wir den Damen sonst noch mit etwas anderem dienen?«

»Wir danken.«

»Gebricht es Ihnen an nichts?«

»Wir sind mit allem versorgt.«

»Haben die Damen nicht vielleicht etwas verloren?« ergriff Flederwisch da das Wort.

Nobody wußte, was jener wollte, und er ärgerte sich über ihn. Der konnte jetzt alles noch gründlich verderben. Aber die einleitende Frage war nun einmal gestellt, Nobody sah kein Mittel, das Weitere zu verhindern.

»Was sollen wir denn verloren haben?« lautete die erstaunte Gegenfrage.

»Vermissen Sie nichts?«

»Nein, was denn?«

»Ich dachte, vielleicht hätten die Damen ohne Absicht ihre . . .«

Ohne den Satz zu vollenden, zog der unverbesserliche Flederwisch einen der falschen Zöpfe aus der Hosentasche, wo er ihn schon für eine vorkommende Gelegenheit bereitgehalten hatte.

Und kaum hatte eine der jungen Amazonen den blonden Haarschwanz erblickt, noch geschmückt mit einigen Bändchen, als sie schon mit einem Hellen Jubelschrei darauslosstürzte.

»Das ist meiner, das ist meiner, ich habe meinen Zopf wieder!!!«

Im Nu war der Ernst der Situation wie weggeblasen. Wohl war es ein großes Risiko gewesen, dessen Flederwisch sich da unterfangen; aber es war eben geglückt.

Die Damen genierten sich ungeheuer, doch die freudige Erwartung behielt die Oberhand.

»Wo haben Sie den gefunden?«

»Wir haben ihn aufgefischt, im Meer, eine ganze Menge.«

»Noch mehr? Wo sind sie?«

Die zwei Dutzend Zöpfe wurden gebracht. Ach, dieser neue Jubel, als auch noch eine andere Amazone ihr Eigentum wiedererkannte!

»Und der gehört Miß Ridder — ich wollte sagen, der Miß Atalanta.«

»Und das hier ist der Zopf von Miß Leutnant Athene.«

»Haben Sie nicht noch mehr gefunden?«

»Haben Sie denn nicht auch meinen gefunden?«

»Haben Sie nicht meinen gesehen?«

So klang es durcheinander.

»Leider haben wir nicht mehr ausgefischt als diese hier. Aber kann ich Ihnen vielleicht mit so etwas dienen?«

Und Flederwisch brachte unter seiner Weste ein spitzenbesetztes Korsett zum Vorschein.

»Das ist meins, das ist meins!«

Ach, dieser Jubel, wie eine ihr eigenes Korsett wiedererkannte! Er überwog die Enttäuschung, das eigene nicht unter den jetzt vorgelegten Büstenhaltern vorzufinden, die Freude über die wiedergefundenen Kleinodien des weiblichen Geschlechtes ließ auch die Scham gar nicht recht aufkommen.

Eine Erklärung, wie Zöpfe und Korsetts ins Meer gekommen waren, gaben sie nicht, Nobody konnte sich das auch ganz allein erklären.

Die neuen Amazonen hatten vor, bei oder nach dem Betreten ihrer Insel den Entschluß gefaßt, dasjenige, ohne was man sich heutzutage kaum noch ein Weib vorstellen kann, von sich zu werfen und hatten dem Entschluß die Tat folgen lassen. Zöpfe und Korsetts waren dem Meere überantwortet worden, vielleicht auch noch Schminktöpfe und Puderquasten und dergleichen, die schon auf dem Grunde des Stillen Ozeans ruhten.

Dann mochten sie es bereut haben. Besonders ohne Korsett kann heute eben auch keine Amazone mehr existieren. Die Reue kam zu spät. Sie mochten danach gesucht haben, oder auch nicht, in dem Glauben, alles sei schon gesunken, und welche Schwierigkeiten sie mit dem Boot hatten, war ja schon von den Männern beobachtet worden.

Und nun waren sie wieder da! Welche Wonne!

»Da fehlen aber noch eine ganze Menge.«

»Wenn Sie wünschen, werde ich sofort noch einmal das Meer absuchen lassen, ich kann die Strömung genau berechnen.«

»Ach ja. bitte, bitte!!« verwandelten sich die Amazonen, die erst mit Kanonen und Sprengminen hatten bumsen und knallen wollen, in die zahmsten Weiber.

Die Damen wollten ungesäumt nach der Insel zurück, natürlich die Zöpfe und Korsetts mitnehmend. Mit dieser Freude mußten sie doch gleich ihre Kameradinnen überraschen.

Bei dem allgemeinen Aufbruch fand Mojan wiederum Gelegenheit, sich unbemerkt an Nobodys Seite zu machen.

»Ein Rasiermesser — um Gottes willen, ein Rasiermesser!« flüsterte er. »Mit meinem geht's nicht mehr, morgen kommt der Anfang vom Backenbart zum Vorschein!«

Nobody hatte es während des Kampfes um die Zöpfe und Korsetts bereits besorgt, ein ganzes Etui mit Streichriemen und allem, steckte es der Präsidentin zu, die es unter ihrem Röckchen verschwinden ließ.

»Warten Sie auf mich,« flüsterte Mojan noch einmal, »komme heute nacht an Bord, erzähle Ihnen alles.«

Dann hatte das Motorboot die neun Amazonen wieder aufgenommen, unter Steuerung der Präsidentin ging es dem Lande zu.

 

—————

 

 

II.
Delphin und Seelöwe.

 

Als das Boot außer Hörweite war, durften die Matrosen endlich ihre Lachlust befriedigen, worin ihre Herren ja mit gutem Beispiele vorangingen. Nur sich den Bauch zu halten, sich an Deck zu wälzen und andere Gesten waren verboten, welche die Damen von der Insel aus durchs Fernrohr hätten beobachten und daraus erkennen können, wie unbändig hier gelacht wurde, und wer das unbedingte Bedürfnis zu solchen Gesten hatte, mußte dazu an einen verborgenen Ort gehen.

Daß der stille Kanadier nicht mit in die allgemeine, ungeheure Heiterkeit einstimmte, ist wohl selbstverständlich, und nur seinetwegen wurde Nobody schnell wieder ernst, obgleich er am allermeisten Grund zum Lachen hatte; wußte er doch etwas, wovon die anderen noch keine Ahnung hatten — nämlich wer in dem umfangreichen Ballettröckchen der Amazonenpräsidentin steckte.

»Nun, Edward, was sagst du dazu?«

»Daß wir gar keinen Grund haben, diese Sache so heiter aufzufassen.«

»Was siehst du denn wieder Schwarzes dabei?«

»Ich sehe keine Möglichkeit, die Insel zu betreten, um an unser Ziel zu gelangen, wenn die Damen es uns nicht erlauben. Was sollen wir denn dagegen tun?«

Für manch anderen hätte Scott wohl ganz unverständlich gesprochen. Oder fürchteten sich diese Männer etwa vor dem ›Bumsen‹ und vor dem Knallen, mit dem die Amazonen gedroht hatten?

Für Nobody aber hatte der junge Kanadier ganz verständlich gesprochen.

»Ja, Edward, du hast leider recht. Zwischen Himmel und Erde gibt es manchmal Hindernisse, von denen sich der Vorwärtsstürmende gar nichts träumen läßt — und das Hindernis wird um so größer, je mehr der Held ein Ritter ohne Furcht und Tadel ist. Ja, an dem Eigensinn dieser verrückten Damen kann unser ganzes Unternehmen scheitern. Es sind eben Damen, die trotz ihrer Wehrhaftigkeit immer noch zum schwächeren Geschlecht gehören — ja, wir können sie doch nicht binden und knebeln, noch weniger zu Boden schlagen? — Na, Edward,« setzte Nobody in etwas anderem Tone hinzu, »deshalb denke ich natürlich nicht daran, diese Insel wieder zu verlassen, ohne erfahren zu haben, was wir auf dem von dir angegebenen Punkte finden sollten. Das wollen wir schon alles auch ohne Gewalt arrangieren.«

»Ich schlage vor,« nahm Flederwisch das Wort, »wenn du nun einmal in Güte zum Ziel kommen willst, so arrangieren wir an Bord unseres Schiffes einen Ball. Ich fertige in der kleinen Schiffsdruckerei eine Einladungskarte — das laßt nur meine Sorge sein, da will ich schon etwas aufsetzen — ich habe unten noch ein paar Kisten mit Kotillonorden und Knallbonbons, weil diese Amazonen doch nun einmal die Knallerei lieben — und ich verwette meinen Kopf, daß die Damen kommen werden, um sich mit uns im Tanze zu drehen und friedlich Knallbonbons zu zerreißen — na, und dann begleiten wir sie eben nach Hause — und behalten gleich den Hausschlüssel.«

»Daß es auf diese Weise geht,« entgegnete Nobody, »daran zweifle auch ich nicht. Aber das dürfte . . .  apropos, Paul, da fällt mir gerade ein — weiß deine Frau, daß du an Bord deines Schiffes vom letzten Male noch ein paar Kisten mit Kotillonorden und Knallbonbons übrig hast?«

Der lange Flederwisch wurde ganz unwirsch, konnte sich nur darauf beschränken, nichts von einem ›letzten Male‹ wissen zu wollen, und Nobody fuhr fort:

»Aber so schnell geht das doch nicht; ehe wir so vertraut werden, das nimmt doch längere Zeit in Anspruch, und so lange möchte ich hier nicht still liegen. Leider habe ich von vornherein einen großen Fehler begangen.«

»Was für einen?«

»Nicht ich, sondern Freund Scott hätte das Wort führen müssen. Wenigstens hätte er die Bitte vorbringen müssen, die Insel untersuchen zu dürfen; denn ich habe von vornherein bemerkt, wie teilnahmvoll die Augen der neun kriegerischen Amazonen immer auf ihm ruhten. Bringt Edward seine Bitte der ganzen Volksversammlung vor — dem kann niemand widerstehen, die steinernen Herzen der modernen Amazonen werden wie Wachs schmelzen.«

Der hünenhafte Kanadier konnte wie ein junges Mädchen erröten.

»Alfred, ich finde solche Scherze . . .«

»Ich scherze gar nicht — bei solch einem ungleichen Kampfe des stärkeren Geschlechtes gegen das schwächere muß man, wenn sich das letztere auf die Hinterbeine setzt, mit allen Mitteln rechnen. Doch Edward hat gar nicht nötig, von der Waffe seines unwiderstehlichen Zaubers Gebrauch zu machen. Es gibt noch ein anderes Mittel, welches uns schnellstens zum Ziele führen wird.«

»Was für ein Mittel?«

»Es ist sehr klein und noch dicker und kann auf den Händen laufen.«

Die beiden anderen mochten im Augenblick glauben, Nobody rede irre.

»Dieses Mittel,« fuhr er fort, »nennt sich Mr. Cerberus Mojan . . .«

»Was, du meinst doch nicht den verrückten amerikanischen Schmierölonkel?!«

»Bitte, nicht nur Schmieröl, sondern Schwefel, Schmieröl, Schokolade, außerdem macht dieses Mittel noch das eine Mal Käse, das andre Mal Romane, und gegenwärtig ist dieses unser Mittel die auf Lebenszeit gewählte Präsidentin der schon seit mindestens acht Tagen bestehenden Frauenrepublik Amazona.«

Nobody erzählte. Es wurde ihm schwer, diese Ungeheuerlichkeit seinen beiden Freunden glaubhaft zu machen. Und schließlich mußte auch Scott wenigstens lächeln.

»Er will heute nacht an Bord kommen,« schloß Nobody seinen Bericht, »und dann wollen wir uns seinem Stecken und Stab anvertrauen, er wird uns zum Ziele führen.« —

So begnügte man sich, das Treiben auf der Insel zu beobachten, auch ein Ruderboot wurde ausgeschickt, das bald vom Fischzug mit reicher Beute an Aalen und Flundern zurückkehrte. So nannten die Matrosen nämlich die falschen Zöpfe und die Korsetts, welche sie noch aufgefischt hatten.

Als Rathaus der Frauenrepublik Amazona, in dem die ›Volksversammlung‹ stattfand, diente offenbar der Dampfer, der Anfang der zukünftigen Kriegsflotte, und gar nicht so lange währte es, das Boot mit dem ersten Fischzug war eben zurückgekommen, da ging drüben am Signalmast die eine Flagge hoch, welche eine kommende Mitteilung verkündigte.

»Wir sind bereit, das Signal entgegenzunehmen,« wurde auf der ›Wetterhexe‹ ebenso durch eine einzige Flagge ausgedrückt, und dann wurden drüben nacheinander vier Reihen bunter Lappen ausgezogen, welche sagten:

»Die Volksversammlung hat das Gesuch abgelehnt. Wir bedauern. Kein Mann darf die Insel betreten!!!!«

»Ach, die armen Mädchen,« bedauerte auch Flederwisch, »die haben in ihrem Flaggenkasten nur vier Ausrufungszeichen.«

»Das ist gar nicht korrekt ausgedrückt,« meinte Nobody, »da fehlt auch die Unterschrift und die . . . was machst du da, Flederwisch?!«

Flederwisch hatte gleich einmal auf eigene Faust eine Reihe Flaggen gehißt, welche aussagten:

»Weitere sieben Haarflechten und neun Korsetts aufgefischt.«

Nobody fand diese eigenmächtige Handlungsweise seines Freundes als Antwort auf die Absage gar nicht so undiplomatisch, zartfühlend genug hatte er sich ja auch ausgedrückt — wobei nochmals bemerkt sein mag, daß es für die Flaggensprache keine Unmöglichkeit gibt, selbst ein amtliches Wort wie Obersteuerkontrolleursassistentenwohnungsumzugszuschußgebühren bietet dem Signalgast durchaus keine Schwierigkeiten — und wie tief Flederwisch trotz seiner Länge in die Falten des rätselhaften Frauenherzens eingedrungen war, das sollte auch gleich das Resultat dieser seiner Mitteilung zeigen.

Alsbald ging drüben wieder das Motorboot ab.

»Sie kommen, sie kommen!!«

»Sie wollen die Zöpfe und Korsetts abholen! Na, da können sie doch auch nicht so undankbar sein.«

»Steht da in dem Benzinkahne nicht ein Korb?«

»Jawohl, ein großer Korb — da wollen sie eben die Zöpfe und Korsetts hineinpacken.«

»Oder sie bringen uns Geschenke mit.«

»Vielleicht selbstgelegte Hühnereier.«

»Oder einen frischmelkenden Ziegenbock.«

»Jedenfalls ist der erste gesellschaftliche Verkehr angeknüpft. Ich werde schon meine Einladung zum Ball setzen.«

Die Präsidentin war nicht mit im Boot, diesmal wurde es von der bebrillten Klapperschlange gesteuert, und es rannte denn auch so an die eisernen Schiffsplanken, daß man für einen Untergang bangte. Es war noch gut abgegangen.

Ach, diese grenzenlose Enttäuschung!

Der große Korb enthielt weder Eier noch einen weiblichen Ziegenbock, sondern. . . . .zwei Dutzend falscher Zöpfe und drei Dutzend Korsetts! Sie wurden zurückgebracht! Laut Beschluß der Volksversammlung! Der Fund, als freies Seegut dem Finder gehörend, war nicht angenommen worden — mochten dabei auch noch so viele Tränen über verfrühte Freude geflossen sein.

»Wir haben noch mehr. . . . . .«

»Wir bedauern, daß Sie sich unnötig bemüht haben,« sagte die bebrillte Klapperschlange mit einer Bewegung, als wolle sie die nicht vorhandenen Schultern zucken.

»Es ist ja nicht möglich! Wollen Sie sich nicht erst einmal an Bord bemühen?«

»Adieu!«

»Bitte, nehmen Sie doch wenigstens diese Kleinigkeit an, es wird Ihnen und der Republik gewiß die größte Freude bereiten.«

Das von Flederwisch hingehaltene Paketchen fand gar keine Beachtung. Das Motorboot ging zurück.

»Was hast du denn in dem Paketchen?« fragte dann Nobody.

»Zwei Ausrufungszeichen aus meiner Flaggenkiste!«

»Du wirst mit deinen dummen Witzen noch die ganze Geschichte verderben.«

»Da ist gar nichts mehr zu verderben. Hier sind wir einmal gründlich hintenruntergerutscht. Das einzige wäre jetzt noch, daß . . . da, da . . . klar beim Rettungsboot!!!« unterbrach sich Flederwisch mit Donnerstimme, doch setzte er ebenso schnell das Gegenkommando hinzu: »Stopp, ist belegt!!! — Das sah fast aus, als ob das Motorboot kentern wollte. Aber besser so. Das Inswasserfallen und Ausdemwasserholen endet vorschriftsmäßig immer mit einer Heirat, und dieser knochige Bandwurm — nee, das möchte ich doch keinem meiner Jungen zuleide tun!«

»Nich in de Diete,« sagte der chinesische Bootsmann, der, wie dem geneigten Leser noch aus einer früheren, auf Java spielenden Erzählung erinnerlich sein wird, sein Deutsch in Berlin gelernt hatte.

Im Laufe des Nachmittags trafen die Amazonen ernstliche Maßregeln zur Verteidigung ihres bedrohten Vaterlandes.

Sektionsweise marschierten die Soldatinnen vom Hauptlager ab und verteilten sich als Posten an der Küste, um das männerverseuchte Schiff im Auge zu behalten.

Energie konnte man ihnen bei aller Verrücktheit nicht absprechen. Ueberall flackerten Feuerchen auf, offenbar Steinkohlenfeuer, an denen man die blauen Gestalten kauern sah, und sie waren doch nicht recht ausgerüstet, ihre trikotbekleideten Füße konnten sie nur durch Decken schützen, und es ist während der Nacht auch in diesen Breiten ganz empfindlich kalt.

»Die armen Mädchen,« bedauerte Flederwisch wiederum, und diesmal aufrichtig, »die werden sich einen Schnupfen für Lebenszeit holen, und das alles nur eines Hirngespinstes wegen.«

»Nasse Feut krägen see,« meinte Jochen Puttfarken, den Himmel musternd, an dem nach einem sonnigen Tage jetzt regenschwangere Wolken hingen.

Diese finstere Nacht hätte auch ein Unternehmen Nobodys unmöglich gemacht, falls er vorgehabt, schon heute nacht heimlich die Insel zu betreten und jene Stelle aufzusuchen. Ohne Sterne kann man keine geographische Ortsbestimmung vornehmen.

Wann und wie würde Cerberus Mojan kommen? Doch sicher in einem Boote; denn an ein Schwimmen war nicht zu denken — dort in der schwarzen Flut die phosphoreszierenden Streifen — das waren auf Beute lauernde Haifische, die das Schiff ständig umschwärmten.

Erwartungsvoll wurde auf einen Ruderschlag gelauscht.

Es war gegen Mitternacht, als Nobody, die Hand erhebend, ein leises Zischen ausstieß.

»Was hast du?« fragte Flederwisch.

»Hörst du es nicht?«

»Nein, was denn?«

»Ein Boot nähert sich.«

Flederwisch, obgleich er über gute Ohren verfügte, wollte es nicht glauben, keiner der Matrosen, bis sich eine Minute später dort, wo die Fallreepstreppe herabhing, eine dunkle Gestalt über die Bordwand schwang.

Er war wirklich im Boot gekommen, hatte dies unter dem Fallreep befestigt — wäre es ein Feind gewesen, der dies so lautlos fertiggebracht, und Nobody wäre nicht gewesen, die ganze Schiffsbesatzung hätte sich überrumpeln lassen.

Mr. Cerberus Mojan war dem Aeußeren nach noch immer die Präsidentin der Frauenrepublik, nur seine tiefe Stimme ließ er nicht mehr überschnappen, und dann hatte sich auch sein Inneres etwas geändert.

»Nun aber ein steifes Glas Grog!« war sein erstes Wort, als er die Kajüte betrat. »Wir müssen alle Abstinenzler sein. Und dann eine gute Zigarre! So emanzipiert wir auch sind — Trinken und Rauchen gibt's nicht bei uns. Es ist aller Ehren wert, daß sich einige der Frauenzimmer gleich ihr früheres Zigarettenrauchen abgewöhnt haben.«

Dann erzählte er. Zum Glück stotterte er nicht mehr. Wir geben seinen ausführlichen Bericht mit möglichst kurzen Worten wieder.

Mojan hatte sich von Odessa über New-York direkt nach San Francisco begeben, um dort eine bedrohte Kapitalanlage zu retten. In derselben Nacht noch wurde er in dem Hotel, das mit Damen überfüllt war, die wohl eine gemeinsame Vergnügungsreise machen wollten, heimlicher Zeuge eines Gespräches einiger solcher Damen, woraus Mojan alles erfuhr.

Eine Frauenrepublik! Auf einer Insel in der Südsee! Alles war schon fertig, morgen früh ging es ab!

In demselben Augenblick war Mr. Mojans Entschluß auch schon gefaßt. Da mußte er natürlich als Amazone mit.

Gedacht, getan — er verschaffte sich alles, um als Dame auftreten zu können, betrat als solche von neuem das Hotel.

»Sehe ich nicht gerade aus wie eine Bauerfrau, die das große Los gewonnen hat und mit ihrem Gelde etwas aus sich zu machen weiß?«

Nobody konnte das Urteil nur noch einmal bestätigen, was er sich bereits gebildet gehabt hatte.

Ein großer Zufall sollte Mojan zu Hilfe kommen. Daß alles so glücken würde, hatte er nämlich selbst nicht zu hoffen gewagt.

»Ich melde mich als eine Mrs. Harlow an, begehre die Leiterin der Vergnügungsreise zu sprechen. Man führt mich vor eine Dame, fast so dick wie ich. Mrs. Hackerle ist ihr Name, sie empfängt mich allein. Mein Plan ist natürlich wohlüberlegt, ich will ihr so von hintenherum erklären, daß ich recht wohl den eigentlichen Zweck dieser vorgeblichen Vergnügungsfahrt kenne — ich bin schon dabei, das alles auseinanderzusetzen — da plötzlich rutscht mir meine Perücke mit dem ganzen Toupet in den Nacken, Mrs. Hackerle sagt mir auf den haarlosen Kopf zu, daß ich ein Mann bin.

»Aber sonst freute sie sich sehr, mich als die betreffende Person gefunden zu haben, die gerade in ihren Plan passe. Jawohl, ich sollte dennoch mit. Meine Perücke wurde wieder so befestigt, daß sie nicht mehr Herunterrutschen konnte, und Mrs. Hackerle führte mich als ihre Schwester ein. Also, meine Herren, Hut ab vor mir — ich bin Mutter von neun lebendigen Kindern!«

Mojan erzählte in seiner drastischen Weise weiter, wurde aber auch sachlich.

Das ganze Unternehmen ging wirklich von dem Koloradotale aus, es war auch sonst alles so gekommen, wie Nobody geahnt hatte.

Während des anderthalben Jahres, das seitdem vergangen, hatten die vier Freundinnen im Koloradotale, denen sich als fünfte Großfürstin Margot zugesellt, eifrigst für ihre Emanzipationsidee Propaganda gemacht, wozu sie jetzt große Städte aufgesucht hatten, wenn auch noch immer ihre Werbungen im stillen betreibend.

Es waren denn auch genug Damen gewonnen worden, zuerst weit über hundert, den reichsten Familien Amerikas angehörend, die sich zunächst im Koloradotale zusammengefunden hatten.

Da aber hatte schon der Teufel den Samen der Zwietracht gesät. Jene fünf Damen hatten schließlich ein ganz vernünftiges Ziel im Auge: die Gründung einer sich selbständig ernähren könnenden Frauenkolonie. Warum denn nicht? Solche gibt es in Amerika schon einige, deshalb braucht dieser Erdteil nicht das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu heißen, da ist gar nichts Unmögliches dabei. Und hatten die vier Freundinnen in Gemeinschaft mit den sieben Schwestern Brisby solch eine Frauenkolonie nicht schon im Kleinen verwirklicht? Und bewiesen sie ihre Vernünftigkeit — wenigstens in einem gewissen Sinne — nicht auch dadurch, daß Mademoiselle Laboche, die Seele des Ganzen, ein offenes und geduldetes Liebesverhältnis mit einem Indianer unterhielt?

Ihre Unerfahrenheit bestand darin, daß sie sich zur Vergrößerung des Unternehmens an Damen wandten, die zu so etwas gar nicht geeignet waren, es gar nicht verstehen konnten. Von ehelichem und anderem Unglück verfolgte Frauen wären vielleicht die richtigen gewesen — was z. B. ganz bei der Anna Lee zutrifft, der Gründerin der in Ehelosigkeit lebenden Sekte der Shaker — aber doch nicht solche Mädels, deren Emanzipationsgelüste nichts weiter als Folgen der Langeweile und des Geldüberflusses sind.

Was die da predigten, das war doch für diese nichts. Merkwürdigerweise, und doch ganz erklärlich, waren gerade diese freien Mädchen tief entrüstet über das Liebesverhältnis der Französin, aber nicht etwa aus sittlicher Moral, sondern . . . weil sie eben alles mit ganz anderen Augen betrachteten.

Fort mit allen Männern! Die Männer sind überhaupt ein ganz überflüssiges Produkt der Schöpfung! Das ist es, was wir der Welt beweisen wollen und werden! Und wenn die Menschheit ausstirbt, was geht das uns an? Das soll ja auch nach gewissen modernen Philosophen, deren Ansicht leider jetzt herrscht — weil nämlich ein Narr viele Narren macht — das letzte, große Ziel der Menschheit sein, das Aussterben!

»Na, so sind die zweiundachtzig oder vielmehr einundachtzig Weibsbilder eben nach der Südsee gegangen, um hier die Frauenrepublik Amazona zu gründen. Das habe ich Ihnen ja schon alles heute früh erzählt, brauche es nicht zu wiederholen.«

»Wo sind Mrs. Bowell und Miß Laboche geblieben?«

»Im Koloradotale — aus Gesundheitsrücksichten, Sie haben's ja gehört.«

»Auch Mrs. Margot . . . oder wahrscheinlicher nannte sie sich Miß Viktoria Juvenal — die auch? Und die sieben Schwestern Brisby?« fragte Nobody weiter, der das lebhafteste Interesse dafür empfand, von seinen alten Freundinnen wieder zu hören.

»Ja, die waren zuletzt noch alle im Koloradotale. Auch einige von den Neuhinzugekommenen sind bei ihnen geblieben. Doch das habe ich ja alles nur vom Hörensagen. Mich geht ja auch nur die Bande von einundachtzig Amazonen etwas an. Also die Vorbereitungen waren schon getroffen, wir dampften sofort ab. Nun bemerke ich noch, daß jetzt auch Miß Field in meine männliche Eigenschaft eingeweiht wurde. Die ist nämlich nur gewissermaßen als Berichterstatterin mitgegangen, um das allgemeine Fiasko persönlich mit zu erleben. Dasselbe hatte auch Mrs. Hackerle vor, aber die trat im letzten Augenblicke noch zurück, weshalb, weiß ich nicht. Sie hatte mich ja als Ersatzfrau gestellt. Unterwegs beschloß man, gleich eine Präsidentin für die Frauenrepublik zu wählen, und ich war es, auf welche die einstimmige Wahl fiel.

»Wie ist denn das gekommen?«

»Das will ich Ihnen gleich erklären. Es wurden Zettel verteilt, jeder sollte den Namen derjenigen aufschreiben, die sie für die als Präsidentin geeignetste und würdigste Person hielt. Als nun die einzelnen Zettel vorgelesen wurden, da ergab sich, daß einundachtzig verschiedene Namen aufgeschrieben worden waren . . .«

»Einundachtzig verschiedene?«

»Sie staunen? Sie können sich das nicht erklären? Na, da hat ganz einfach jede sich selbst für die zur Präsidentin geeignetste und würdigste Person gehalten und daher ihren eigenen Namen aufgeschrieben. Das hatte ich aber vorausgeahnt, ich wußte einen Stimmzettel beiseite zu praktizieren und mir einen zweiten anzueignen, so gab ich meinen eigenen Namen zweimal ab, und infolgedessen wurde ich zwar nicht einstimmig, aber doch mit absoluter Stimmenmehrheit zur Präsidentin gewählt.«

Die Zuhörer lachten aus vollem Halse. Der Hauptwitz lag auch darin, wie das kleine, dicke Männchen in dem koketten Amazonenkostüm das alles so drollig vorzutragen wußte.

»Aber meine Autorität wurde auch schnell genug anerkannt,« fuhr er fort, und das durfte man ihm glauben, »und als nun gär während der Fahrt eins der Mädels über Bord purzelte, und ich ihr nach und wieder herausgeholt, da war meine lebenslängliche Stellung als Präsidentin gesichert.«

»Also die lange Hopfenstange weiß, daß Sie ein Mann sind?« fragte Flederwisch.

»Natürlich, die weiß es.«

»Und wer von den Damen sonst noch?«

»Keine einzige weiter.«

Dem Flederwisch mußte hierbei etwas nicht ganz klar sein, daß er so tiefsinnig den Kopf schüttelte.

»Hm! Warum haben Sie sich denn gerade dieses lange Knochengerippe ausgewählt?« meinte er dann. »Da sind doch junge und hübsche genug darunter.«

Mojan schnitt nur eine Grimasse, Flederwisch betrachtete diese Angelegenheit, daß nur die eine der Damen wußte, wie unter ihnen ein Mann weile, von einer ganz besonderen Seite, und um diese Angelegenheit zu erledigen, fing Nobody wieder zu examinieren an.

»Was treiben denn nun die Damen auf der Insel?«

»Gar nischt! Unsinn! Arbeit gäbe es genug, aber die Ludersch wollen ja nicht arbeiten. Das heißt, jede will immer kommandieren, und so ist es bei allem und jedem. Nicht einmal richtiges Essen wird gekocht. Na ja, etwas Reigen wird getanzt, was bald wie exerzieren aussieht, und was sie selbst die Ausbildung ihrer Wehrhaftigkeit nennen.«

»Und wie lange soll das währen?«

»Bis zum nächsten Regenwetter.«

»Wieso?«

Nobody konnte sich diese Frage wohl selbst beantworten, hatte er ja auch schon heute früh gefragt, ob die Damen immer schönes Wetter gehabt hätten, und schließlich bekam er doch etwas Neues zu hören, was er auch nicht erwartet hätte.

»Ja, wohin sollen die denn, wenn so ein Regenguß losbricht, wie er hier zu Hause ist? Höhlen gibt's hier nicht, in die man einstweilen eintreten kann.«

»Nun, in ihre Häuser.«

»In die Schweizerhäuschen? Deren Dach gewährt nicht einmal Schutz gegen die Sonne, überall scheint dieselbe durchs Dach hinein, und so sind auch die Dielen, alles siebartig durchlöchert, die ganze Schweizervilla wird bei so einem Regenguß eine große Brause.«

»Sind denn die Häuser so miserabel hergestellt?«

»Na und wie! Bei dem Geschäft hat die Ausrüstungsfirma Moses, Meier und Kompanie ihren Schnitt gemacht! Das ist überhaupt nicht einmal Holz, das ist alles nur Pappe, mit so einem Papier überklebt, das nur den Holzschnitt zeigt. Und so ist es mit allem und jedem, was diese Ehrenfirma geliefert hat. Zuerst haben sich die Mädels den ganzen Tag im Schießen geübt, und als sie nun die Patronen, die sie mitgebracht, verschossen hatten und den Munitionsvorrat anbrechen wollten, mit dem das Ausrüstungsgeschäft sie versorgt hatte — was war da drin in den Patronen?«

»Zucker.«

»Was, Zucker?«

»Die Patronen waren statt mit Pulver mit Niroxyn gefüllt, so ein neuer Sprengstoff, mit größerer Explosivkraft und viel billiger als Schießpulver, aber es hat sich nicht bewährt, durch einen chemischen Prozeß verwandelt sich das Niroxyn mit der Zeit in Zucker.«

»Nee, so weit, bis zum Niroxyn und bis zum Zucker haben es Moses und Meier noch nicht gebracht. Sägespäne waren drin in den Patronen — überhaupt nur leere Patronenhülsen waren es, und damit die nicht zusammenklapperten, waren sie in Sägespäne eingepackt. Wenn wir jetzt von Kariben angegriffen werden, können wir nur noch mit der Plembe und dem Gewehrkolben dreinschlagen. Und die Kanone? Besehen Sie sich die nur einmal in der Nähe. Alles aus Holz, nur mit Blei ein bißchen schwer gemacht. Die Batterie ist überhaupt nur gemalt.«

»Aber wie ist denn das möglich!« erklang es dreistimmig.

»Amerika ist groß,« gebrauchte der Yankee seiner Lieblingsausdrücke. »Ich will nicht einmal behaupten, daß noch niemand so übers Ohr gehauen worden wäre wie diese modernen Amazonen. Der Dampfer, der alles hierherbrachte, war von dem Ausrüstungsgeschäft selbst gechartert — aufgebaut und gleich wieder fort — ebenso schnell wurden die Mädels hier abgesetzt — als sie die ganze Bescherung sahen, konnten sie schon nicht mehr von der Insel herunter.«

»Diese Firma hat sich ja geradezu eines Verbrechens schuldig gemacht!«

»Bah. So etwas kommt in Amerika schließlich alle Tage vor. Von Moses, Meier und Kompanie ist jetzt natürlich nichts mehr vorhanden. Das war ihr letzter Trick. Die unerfahrenen Damen haben doch sowieso alles doppelt bezahlt, selbst wenn die Waren echt und solid gewesen wären. Nun wird ein Bankerott geschoben, und im großen Amerika gibt es einige Millionäre mehr. — Ja, laßt nur erst mal solch einen Regenguß kommen, wie er hier üblich ist! Dann bleibt von der ganzen Frauenrepublik Amazona gar nichts mehr übrig. Und nicht einmal den zurückgelassenen Dampfer können sie als letzte Zuflucht bewohnen, in dem alten Kasten wimmelt es von Ratten, ein Aufenthalt ist nur noch an Deck möglich, im Innern wird man einfach aufgefressen . . .«

Hastig kam der zweite Steuermann in die Kajüte.

»Kapitän, in der Atmosphäre bereitet sich etwas vor, das Quecksilber steigt plötzlich rapid!«

Daß es auch in der Kajüte immer wärmer geworden war, hatte man schon gemerkt, aber man hatte es der großen Petroleumlampe und dem Grog zugeschrieben.

Alles begab sich an Deck. Anstatt Nachtkühle zu finden, schlug es ihnen wie ein heißer Brodem entgegen. Ganz plötzlich sollte diese Umwandlung stattgefunden haben, besonders beängstigend dabei war die absolute Windstille.

Auch dort auf der Insel wurde empfunden, daß sich in der Atmosphäre irgend etwas Fürchterliches vorbereitete. Aengstlich sah man die Damen von einem Lagerfeuer zum anderen laufen.

»Nun sagt einmal,« begann Mojan wieder, »warum seid ihr eigentlich hierher . . .«

Da plötzlich eine furchtbare Detonation, in der stockfinsteren Nacht eine Lichterscheinung, welche aller Augen nach der Insel lenkte, und da sah man aus der Mitte derselben eine riesige Feuersäule emporsteigen, unter einem Funkenregen wieder in sich zusammenstürzend.

»Der Vulkan ist ausgebrochen!«

»Nein, die beiden Vulkane liegen auf beiden Seiten der Insel, und das brach aus der Mitte hervor!«

»Das sah eher aus wie die Explosion einer Mine!«

So hatte es im ersten Augenblick geklungen, und dann stand alles da und wartete, daß dies die Einleitung zu einer Naturkatastrophe sein müsse, obgleich sich in der Atmosphäre nichts geändert hatte. Noch immer die völlige Windstille und die furchtbare Spannung, welche das Quecksilber im Manometer immer mehr in die Höhe trieb.

Und doch, diese Explosion auf der Insel, für alle ein Rätsel, sollte die Einleitung zu einem Naturereignis gewesen sein!

»Horch!« flüsterte Flederwisch zuerst.

Es klang, als ob in weiter, weiter Ferne ein Eisenbahnzug vorübersause — nein, nicht vorüber, sondern er näherte sich, von Norden her — immer lauter wurde das Sausen, jetzt donnerte der Eisenbahnzug über eine Brücke . . .

Da kam dem Kapitän die Erkenntnis dieses eigentümlichen Geräusches, welches vielleicht schon jeder Leser gehört hat, nämlich wenn sich aus weiter Ferne seinem Standort schnell ein Hagelwetter nähert — gerade wie ein sausender Eisenbahnzug, bis sich das Sausen in ein Poltern verwandelt.

Hier aber gibt es keinen Hagel, hier hatte das noch etwas ganz anderes zu bedeuten.

»Ein Taifun!!!« schrie Flederwisch und stand mit einem Satze auf der Kommandobrücke, schon das Sprachrohr in der Hand.

Und dann brach es los, jeder Beschreibung spottend. Der Welt Untergang durch Sturm und Wasser!

»Gott sei euch armen Frauen gnädig!« flüsterte Nobody.

 

—————

 

Noch ein gewaltiger Regenguß, doch von keinem Winde mehr gepeitscht, und siegreich durchbrach die Sonne eines neuen Tages die Gewitterwolken.

Wenn sie geglaubt, ein Bild der Verwüstung zu erblicken, kahlrasierte Inseln inmitten eines sturmaufgewühlten Meeres mit häuserhohen Wogen, so hatten sie sich getäuscht. Doch die ewige Sonne kannte ja schon diese Verhältnisse.

Nichts besänftigt auch die aufgeregteste See so schnell wie ein heftiger Platzregen; das hatte der letzte Regenguß gründlich besorgt, und auf den Koralleninseln nickten die schlanken Kokospalmen so freundlich im leichten Morgenwinde, als hätten sie die ruhigste Nacht hinter sich.

Es ist ja wunderbar, wie die Natur für ihre Schöpfung zu sorgen weiß, wie sie ihre Kinder zum Kampfe gegen die feindlichen Mächte ausrüstet. Freilich, hier ist eben die Region der wirbelnden Taifune, und wären es keine Kokospalmen, so würde es hier überhaupt gar keinen Baum geben.

Berge trägt der Wirbelsturm ab, aber die sich vor ihm willig beugende Kokospalme läßt er stehen.

Auch der ›Wetterhexe‹, die dort zwischen zwei Koralleninseln hindurchdampfte, war nichts Besonderes anzusehen.

Aber die Matrosen, die konnten etwas von einer Nacht erzählen!

Dr. Wolfram war soeben dabei, einige Knochenbrüche zu schienen. Ihre Quetschwunden, von denen kein einziger verschont geblieben, mußten sich die Matrosen gegenseitig verbinden, und im Heizraum sah es noch schlimmer aus.

Bleich und erschöpft lag Kapitän Flederwisch auf dem Sofa des Kartenhauses. Seine Hände bluteten nicht, seelisch hatte er desto mehr gearbeitet, seine heisere Stimme war kaum mehr zu verstehen.

Doch was tat es? Wacker hatten sie sich durchgekämpft — nein, nicht sie, sondern die brave ›Wetterhexe‹. Wie sie sie liebten! Für keinen echten Seemann sind das nur tote Planken.

Wenn nur nicht die Sorge gewesen wäre, was sie in den nächsten Minuten erblicken würden.

»Apacarua in Sicht!« meldete der wachehabende Steuermann.

Eine fieberhafte Spannung bemächtigte sich aller.

Auch hier nickten auf dem flachen Strande noch die schlanken Kokospalmen — aber verschwunden waren der große Dampfer und die kleinen Boote, verschwunden die niedlichen Schweizerhäuschen, auch keine Trümmerhaufen bezeichneten die Stellen, wo sie gelegen und gestanden hatten.

»Dort liegt ein ganzer Knäuel von Menschenleibern!«

Zwischen den Kokospalmen hatten sie sich festgekeilt, übereinandergeschichtet, sich aneinander festklammernd.

Lebten sie denn noch? Kein Arm hob sich, um dem Dampfer zu winken, doch konnte man durch das Fernrohr erkennen, daß in dem wirren Knäuel noch Leben war.

Wieviele von ihnen würden fehlen? Mochte Gott gnädig gewesen sein gegen die Vermessenen, die des Naturgesetzes, welches zwischen Mann und Weib eine scharfe Grenze gezogen hat, zu spotten gewagt hatten.

»Ihr wäret dem Hungertode preisgegeben,« murmelte Mojan mit sichtlicher Erschütterung, »wenn die Karaiben euern Qualen nicht ein frühes Ende bereitet, ihren eigenen Hunger an euch stillend, und auch ich hätte euch nicht retten können.«

Ein Ruderboot landete. Man schritt auf den wirren Haufen von Frauenleibern zu, deren kokette Amazonenkostüme der Morgenwind noch nicht getrocknet hatte.

Vollständig hin, aber auch vollständig hin!!

Und nun gerade diese koketten Kostüme, dazu diese triefenden Haare, diese Gesichter, diese Augen, diese wimmernde Bewegungslosigkeit — es machte einen schrecklichen Eindruck, auch der roheste Matrose fühlte sein Herz bluten.

Was hatten sie durchgemacht? Ja, du lieber Gott, wer konnte denn davon etwas erzählen!

Soll einmal jemand seine Gedanken schildern, die er gehabt, als er aus der vierten Etage hinunterfiel! Das ist wieder etwas ganz anderes und doch etwas ganz Aehnliches.

Flederwisch betrachtete eine, wie sie so da kauerte, die Hände gerungen, mit stieren Augen vor sich hinblickend.

»Wenn da nur nicht nachträglich - noch etwas kommt,« murmelte er, »ein Anfall von Irrsinn, und so etwas ist ansteckend.«

Sie wurden wie die Heringe sortiert und gezählt.

Einundachtzig Stück! Keine einzige fehlte! Und alle lebten! Auch keine Quetschung, keine Schramme, gar nichts!

Aber gehen konnten sie nicht. Sie waren seelisch gebrochen, und die Seele ist die Triebfeder der ganzen menschlichen Maschinerie, zu der auch der Geist gehört, oder wie man das Ding, mit dem wir denken, nennen mag.

Man hielt sich nicht mit Bahren auf. Die Matrosen luden sie sich wie Mehlsäcke auf, so wurden sie nach und nach in die Boote und an Bord gebracht, wo man sie sorgsam bettete.

Das war das Ende der Frauenrepublik Amazona, gegründet auf Lebenszeit, wenn nicht in Hoffnung auf Neuwerbungen und Nachfolger für die Ewigkeit!

Nach achttägigem Bestehen eingeregnet!

Doch Scherz beiseite. Männlichen Kolonisten wäre es nicht anders gegangen. Diese Koralleninseln sind eben nur für Eingeborene bestimmt, welche man menschliche Amphibien nennen kann, für Europäer ist das nichts, und deshalb sind auch alle Kolonisationsversuche aufgegeben worden, die Erfahrung hat die Hoffnungslosigkeit gelehrt.

Kaum waren die Frauen geborgen worden, als Nobody und Scott das kleinste Motorboot der ›Wetterhexe‹ bestiegen und in die Bucht eindrangen, welche die ganze Insel fast in zwei Hälften teilte, die nur noch durch eine schmale Landzunge zusammenhingen.

Je tiefer sie hineinkamen, desto ruhiger wurde das Wasser. Nobody konnte geographische Ortsbestimmungen vornehmen.

»Noch 370 Meter weiter westlich, dann beginnt das von dir bezeichnet Terrain,« sagte Nobody nach der letzten Bestimmung.

Immer mehr verschmälerte sich der tiefe Wassereinschnitt, dann machte er eine scharfe Biegung, wie auch auf der Spezialkarte dieser Gegend verzeichnet war, und vor ihnen lag wieder eine weite Wasserfläche.

»Stopp!« sagte Nobody, die letzte Berechnung gemacht habend. »Wir sind gerade in der Mitte des Terrains, auf dem mich jemand erwarten soll. Also auf oder unter dem Wasser.«

Der Motor wurde einige Schraubenschläge zurückgestellt, dann lag das Boot still da.

»Nun, Edward?«

Der junge Kanadier hob nach seiner Weise die Schultern, ehe er eine Antwort gab.

»Ich sagte nicht, daß dich ›jemand‹ hier erwarte. Es kann ja auch ein ›etwas‹ sein.«

»Das bleibt sich auch ganz gleich, das meine ich nicht. Aber sagt dir dein Doppelgänger oder sonst eine Ahnung nichts?«

»Nein.«

»Dürfte die Explosion, die heute nacht auf der Insel erfolgte, nicht mit dem Geheimnis zusammenhängen, das ich hier entdecken soll?«

»Ich weiß nicht.«

Auch von den Weibern hatte Nobody hierüber nichts erfahren können. Diese waren noch gar nicht vernehmungsfähig gewesen. Und was hätten sie erzählen können? Auf der Insel befindlich, waren sie von dem Luftdruck, der die Explosion begleitet hatte, sämtlich zu Boden geschleudert worden, gleich darauf hatte der furchtbare Wirbelsturm mit dem Wolkenbruch eingesetzt, noch ehe sie sich wieder aufrichten konnten, so hatten sie die Feuergarbe eben mit dem schrecklichen Naturereignis in Verbindung gebracht.

Von Bord des weit entfernten Schiffes aus dagegen war dies alles objektiver beobachtet worden.

In dem Motorboot befanden sich zwei Skaphander mit den nötigen Luftbomben. Diesmal hatte Scott nicht geraten, von einer Ahnung beeinflußt, die Taucherkostüme mitzunehmen. Nobody ganz allein hatte das Boot damit ausrüsten lassen, obgleich er nicht etwa direkt vermutete, das Geheimnis im Wasser zu finden. Aber man weilte in der Gegend, wo das Land gegen das Meer gar nicht in Betracht kommt, sogar auf den Laguneninseln selbst, und so war diese Fürsorge begreiflich.

Nobody ergriff die Lotleine und peilte mehrmals an verschiedenen Stellen, untersuchte das mit Talg eingeschmierte Blei.

»Elf Meter, und wie hier überall besteht der Grund aus zerbröckelter Koralle. Das Wasser ist doch etwas aufgerührt worden, sonst könnten wir bis auf den Grund sehen. Na, da wollen wir mal.«

Nobody bereitete sich vor, den kleineren Skaphander anzulegen. Mit einer Hast, die ihm sonst fremd war, stand Scott plötzlich auf.

»Ich komme mit.«

»Soll ich nicht zuerst allein. . . . .«

»Nein, ich komme sofort mit dir.«

Der junge Kanadier mochte wieder eine seiner Visionen gehabt haben, die ihn hierzu bestimmte, wenn Nobody auch die Verwandlung, die dann stets mit ihm vorging, nicht bemerkt hatte.

»Gut, wie du willst! Dann wollen wir erst einen Anker auswerfen und dann die Schreibtafeln nicht vergessen.«

Der kleine Anker fand festen Halt, dann legten sie die Skaphander an, hingen an die Gürtel auch die Schiefertäfelchen, um sich unter Wasser durch Schreiben verständigen zu können.

Sie verschwanden in der Flut, sanken hinab, standen auf dem roten, von zertrümmerten Korallen gebildeten Grund.

Eigentümlich war es, daß das Wasser von oben undurchsichtig gewesen, während es hier unten einen ziemlich weiten Blick gestattete. Nobody sah ganz deutlich einen weißgefärbten Polypen, der sich wenigstens zwölf Meter von ihm entfernt befand.

Er drehte sich um und . . .

Scott befand sich an seiner Seite, und unwillkürlich berührten sich beider Hände.

Da lag ein riesiger Walfisch, wenigstens konnten sie den ungeheueren Kopf sehen und dessen Fortsetzung, in den Leib übergehend, bis sich dieser bei vielleicht zwanzig Metern für das Auge in dem undurchsichtig werdenden Wasser verlor.

Er lag halb auf der Seite — verendet!

So wenigstens hätte jeder andere Taucher denken müssen, wenn er dieses Ungeheuer erblickte, und so hätten auch unsere beiden Freunde gedacht, wenn . . . nicht jenes Vorkommnis am Kap Horn gewesen wäre!

Denn daß dieser Walfisch aus Eisen- oder Stahlplatten bestand, das konnte man kaum auch in der nächsten Nähe entdecken, besonders da er mit kleinen Muscheln und Seetang bewachsen war, wie es auch bei lebendigen Walen stets der Fall ist. Alte Exemplare tragen als zweite Haut eine ganze Pflanzen-und Tierwelt mit sich herum.

Nun hatte aber Nobody dies doch schon damals bemerkt, als er das ›Halt!‹ geschrieen, um Flederwisch am Schleudern der Harpune zu hindern. In dem sonst so bewachsenen Leibe war nämlich eine Eisenplatte frisch eingenietet gewesen, das hatte sein scharfer Blick im letzten Moment bemerkt.

War es dasselbe Rätsel des Meeres, welches sie hier vor sich hatten? Noch konnten sie es nicht behaupten. Jenes Weib damals, welches an der elektrischen Entladung eines Zitteraales gestorben, hatte ausgesagt, daß der ›Meister‹ oder der ›Herr der Erde‹ zwei Unterseeboote besäße, doch war diese Untergebene, gar keinen so hohen Rang einnehmend, natürlich durchaus nicht in sämtliche Hilfsmittel eingeweiht gewesen, über die der rätselhafte Mann verfügte, den auch Nobody immer mehr als wirklichen ›Herrn der Erde‹ anzuerkennen geneigt war.

Außerdem — nebenbei bemerkt — hatte Nobody von jenem Weibe nicht etwa erfahren, daß diese Unterseeboote das wirkliche Aussehen von Walfischen oder anderen Seetieren besäßen. Das sich in Todesschmerzen windende Weib hatte an solche nähere Erklärungen gar nicht gedacht, Nobody hatte ja auch immer fragen müssen.

Erst bei jenem Vorfall bei Kap Horn hatte Nobody diese Erkenntnis bekommen.

Wie dem aber auch sei — auch dieser Walfisch aus Eisen und Stahl war tot, verendet, das zeigte seine unnatürliche Lage auf der Seite an - oder halt, er konnte auch nur krank sein, durch Reparatur wiederherzustellen.

Dieser Unterschied, ob tot oder nur krank, war für die Taucher natürlich sehr wichtig. In letzterem Falle konnten und würden noch Menschen sich in dem Riesenleibe befinden.

Doch direkt näherte sich der Kanadier dem Kopfe, und dann durfte auch Nobody ihm so sorglos folgen.

Das ungeheure Maul, in dem ein ganzes Ruderboot Platz hatte, oder, um ein anderes Beispiel zu wählen, in dem sich eine Skatgesellschaft am Tisch hätte niederlassen können, war fest geschlossen. Daß es der mechanische Wal bei ›Lebzeiten‹ auch öffnen konnte, daran war nicht zu zweifeln.

Die gegen den Riesenschädel unverhältnismäßig kleinen Augen befanden sich an vorschriftmäßiger Stelle, sie waren aus dickem Glas. Hindurchblicken konnte man von außen nicht.

Ebenso waren die S-förmigen Spritzlöcher ganz getreulich der Natur nachgeahmt, auch gar nichts verriet die Hand des Kesselschmieds und Mechanikers.

Es ging um den Kopf herum. Da zeigte sich der erste Unterschied zwischen Natur und Kunst. Der stählerne Koloß war auf Kiel gebaut. Von der anderen Seite aus hatte man das nicht sehen können, eben weil er auf der Seite lag.

Die Taucher bewegten sich an dem Koloß entlang, und schon spähte Nobody an dem Rumpfe nach einem besonderen Erkennungszeichen, nach zweien. Da hatte er das eine auch schon gefunden. Stehen bleibend, deutete er mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle, dabei seinen Begleiter bedeutungsvoll anblickend.

Scott brachte das Fenster des Taucherhelms dicht daran; daß hier die Schicht von Muscheln und Seetang etwas verletzt war, hätte er eigentlich bemerken müssen, doch schien er nicht zu verstehen, was Nobody eigentlich meine, er hob, ohne erst die Schiefertafel zu benutzen, die Schultern und bewegte den Taucherhelm hin und her.

»Es ist derselbe, hier traf ihn die Harpune,« schrieb Nobody auf sein Täfelchen und hielt es jenem hin.

Jetzt nickte Scott, er hatte verstanden. Dann sah Nobody als untrüglichen Beweis auch noch jene frischeingenietete Platte wieder.

Mächtige Gedanken waren es, die im Weitergehen auf ihn einstürmten.

Daß er hier das Unterseeboot jenes geheimnisvollen Mannes finden würde, dessen Schicksal mit dem seinen verkettet worden, daran konnte nach allem, was durch die somnambulische Eigenschaft seines Freundes schon geschehen war, nichts Wunderbares mehr sein.

Daß er dieses selbe Unterseeboot schon vorher bei Kap Horn erblickt, auf ihm geweilt hatte, das war ein Zufall gewesen, den auch das somnambule Medium nicht vorausgeahnt.

Ein Zufall! Was ist ›Zufall‹? Ein leeres Wort, geschaffen von den Menschen, womit sie eingestehen, daß sie niemals das Wesen jenes rätselhaften Etwas ergründen werden, welches wir Gott nennen — und so oft es auch schon gesagt sein mag, so soll es hier doch immer noch einmal gesagt werden: ›Gott‹ ist ein persisches Wort und bedeutet wörtlich übersetzt ›unfaßbar‹ oder das ›Unfaßbare‹.

Da war der Riesenleib zu Ende! Aber der Schwanz, den sie schon gesehen hatten, und unter dem doch sicher die Schraube zu vermuten war, fehlte! Abgerissen hörte er auf, hier waren die Eisenplatten eingedrückt, zersplittert.

»Die Folge der Explosion,« schrieb Nobody.

Es wäre nicht nötig gewesen, es konnte ja nicht anders sein.

Wie die Explosion zustande gekommen, ob von innen oder von einer äußeren Ursache, ob hier eine Seemine gelegen, auf die der stählerne Walfisch gelaufen, das würden sie wohl nie ergründen. Sie sollten es erst später einmal berichtet bekommen.

So war von hinten das Wasser eingedrungen. Auch die Taucher drangen ein.

Eine entsetzlich verstümmelte, zerrissene Leiche war das erste, was sie erblickten. Nur aus den Fetzen von Kleidungsstücken konnten sie erkennen, daß es ein Mann gewesen war.

Der Schraubenwelle, die hinten abgebrochen war, folgend, passierten sie eine offene Tür und sahen drei weitere Leichen, im Wasser naturgemäß mehr schwebend als am Boden liegend. Nicht lange, so würden sie von den sich im Leibe ansammelnden Gasen nach der Decke zu getrieben werden. Diese hier zeigten keine Verletzungen.

Wir müssen alles summarisch zusammenfassen.

Es waren neunundzwanzig Männer im verschiedensten Alter, welche durch die Katastrophe im Innern des Unterseebootes ihren jähen Tod gefunden hatten, und zwar wohl eher durch einen furchtbaren Luftdruck, oder vielleicht auch durch giftige Gase, als durch Ertrinken in dem einströmenden Wasser.

Das ganze einunddreißig Meter lange Boot war durch wasserdicht schließende Türen in sieben Kammern eingeteilt, es hätten wohl mehrere Kammern sich mit Wasser füllen können, ohne das ganze Fahrzeug zu gefährden, jede konnte auch für sich ausgepumpt werden.

Daß zur Zeit der Katastrophe alle Türen geöffnet gewesen, war wohl ausgeschlossen. Sie zeigten Spuren einer gewaltsamen Sprengung. Das hatte eben der kolossale Luftdruck getan, der auch die Feuergarbe zum Himmel emporgeschleudert hatte.

Sonst aber zeigte sich im Innern des Bootes nicht die geringste Verwüstung, was nach physikalischen Gesetzen begreiflich war, nachdem einmal der ganze Mantel des Bootes den Druck ausgehalten hatte.

Eine eingehende Beschreibung ist gar nicht möglich. Die beiden Taucher kamen sich wie in eine ihnen völlig fremde Welt versetzt vor, wie auf einem anderen Planeten, auf dem keine Menschen wohnten, sondern eben anders gestaltete Wesen.

Wohl fand Nobody alte Bekannte wieder, so z. B. die kupfernen Zylinder mit Asbest, welche Elektrizität lieferten, eine Kammer war ganz mit einem weißen Stoffe angefüllt, den man essen konnte — da war nämlich eine der Blechkisten offen gewesen, welche jene Eiweiß- oder vielmehr Kohlenstickstoffpillen enthalten hatte, das eindringende Wasser hatte die Verbindung mit dem Sauerstoff und Wasserstoff fertig gebracht, das so entstehende Eiweiß hatte nun die ganze Kammer bis zum letzten Winkel vollgepfropft — aber sonst konnten sie nicht einmal herausfinden, wo die neunundzwanzig Männer eigentlich geschlafen hatten. Die ingeniöse Vorrichtung, wie durch einen einzigen Handgriff überall bequeme Betten zum Vorschein kamen, sollten sie erst viel später durch Zufall entdecken.

Und so war es mit allem und jedem.

Einen merkwürdigen Apparat war Nobody geneigt für ein großes Glockenspiel zu halten, wie es die musikalischen Clowns auf der Variétébühne benutzen. Aber dort liefen elektrische Drähte, ein Hahn war vorhanden, Nobody drehte ihn, und sofort begannen sich die einzelnen Glocken in Vibration zu setzen. Gewiß, ein elektrisches Glockenspiel! Den Ton konnte man durch den Taucherhelm nicht hören.

Um die innere Einrichtung kennen zu lernen, schraubte Nobody den oberen Teil einer der Metallglocken ab. Da sah er drin auf einem Tellerchen ein halb angebratenes Beefsteak liegen, das Glockenspiel verwandelte sich in die Küche! Hier wurde für jeden einzeln portionsweise gekocht und gebraten!

Einen eisernen Schrank, der in demselben Raume stand, hielt Nobody erst für die Geldkasse, er enthielt lauter solche Kassetten, freilich leer, oder jetzt doch nur mit Wasser gefüllt.

Aber durch das kochende Glockenspiel war Nobody nun schon mißtrauisch geworden. Der Geldschrank in der Küche? Der Schrank war auch gar nicht so solid gebaut, aus dünnen Eisenplatten, ohne Sicherheitsschloß, nur zu verriegeln.

Nobody drehte einen Hahn, der aber, wie alle anderen Ventile, eine ganz andere als uns bekannte Form aufwies. Es war auch wohl nur ein elektrischer Schaltapparat.

Als er die Tür wieder öffnete, waren die einzelnen Kassettenfächer plötzlich mit kristallklarem Eis gefüllt!

Doch in dem Raume, welcher die nautischen Instrumente barg, diese nur mit wenig Ausnahmen von den unsrigen verschieden, von wo aus man durch die Augen des Walfisches auch vorausspähen und das ganze Schiff dirigieren konnte, befand sich auch ein wirklicher Panzerschrank.

Die Entsicherung des Verschlusses konnte Nobody so schnell nicht finden, sein Blick wurde durch das dicke Glas doch sehr getrübt. Er hätte sich auch gehütet, ihn unter Wasser zu öffnen. Bisher hatte er noch kein einziges Papier gefunden — in diesem Panzerschrank vermutete er wohl mit Recht Wichtiges.

Leicht dagegen war es, den Schrank von der Wand loszuschrauben. Es geschah. Mit wenig Anstrengung trugen ihn die beiden Männer dorthin, wo der Anker ihres Bootes Grund gesunden hatte, um ihn später emporzuwinden.

Wir überspringen alle weiteren Untersuchungen und Entdeckungen und kommen gleich zur Hauptsache.

Diese Hauptsache, deren Anblick die beiden Freunde mächtig erregte, war ein eiserner Delphin, sechs Meter lang und anderthalb Meter hoch, welcher in dem größten Raum an der Decke befestigt war.

Die Taucher blickten sich nur an, zu schreiben brauchten sie nichts: das Hilfsboot, gleichfalls in Gestalt eines Wassertieres!!

Ein in der Zoologie bewanderter Leser dürfte hier einwenden, und das mit Recht, daß es Delphine von sechs Meter Länge gar nicht gibt, und nun gar von anderthalb Meter Durchmesser oder Höhe, das mußte ja ein unförmliches Monstrum anstatt eines sonst so schlanken Delphins sein!

Dem ist entgegenzusetzen, daß auch der Delphin ein Wal ist. Wer dieses künstliche Tier aus Eisenplatten im Wasser schwimmen sah, der mochte es ja für einen jungen Riesenwalfisch halten. Der Verfertiger hatte ihm nur die Form eines Delphins gegeben, und das mit der gewissenhaftesten Gründlichkeit und Naturtreue. Nur ein durchaus erfahrener Zoologe, der sich die Erforschung der Meeresbewohner zur Spezialität gemacht, hätte in Verlegenheit kommen können, ob er da im Wasser einen ungeheuren Delphin, oder einen jungen Riesenwal, oder eine Beluga, oder einen Braunfisch vor sich habe — für jeden Seemann war das ganz einfach ein Fisch, den er gern am Angelhaken oder an der Harpune gehabt hätte.

Man denke nur an den Unterschied zwischen einer indischen Zwergkuh und einem ausgemästeten Ochsen von Devonshire — ja, alle beide sind Rinder, da kann auch der strengste Zoologe nicht klassifizieren — aber da klassifiziert der Bauer! — und der Fleischer! — und die Tierwelt des Meeres läßt sich von den Menschen noch viel weniger Gesetze vorschreiben, von wegen wie groß man sein darf, und zu welcher Art und Gattung und Spezies man zu gehören hat.

Erwähnenswert ist noch, daß auch unter dem Schwanze keine Schraube zu sehen war. Daraus war zu schließen, daß auch der große Wal keine besessen. Wie bewegte sich das Unterseeboot sonst fort? Waren die jetzt steifen Flossen und der Schwanz etwa gar beweglich? Von Scharnieren und dergleichen war nichts zu entdecken.

Doch vor allen Dingen: wie war dieses Hilfsboot hinauszubefördern?

Nobodys Hand zitterte, als er die Untersuchung begann. Bald wendete er sich wieder ab, schien sich zu sammeln, dann griff er zur Schreibtafel, als wolle er seine Ruhe an der Handschrift prüfen, zeigte es dann seinem Freunde.

»Edward, dieses Fischboot muß unser werden, dann sind wir die Herren der Erde und des Meeres!!«

Das ›wir‹ hatte er unterstrichen, er hatte beim Schreiben auch nicht mehr gezittert, und mit solch ruhiger Hand ging er von neuem an eine Untersuchung.

Der Delphin war mit zahllosen Eisenbändern und Schrauben an den Innenwänden befestigt, dann mußte sich doch auch eine Luke . . . .

Da plötzlich, als Nobody nur zufällig einen Hebel berührt hatte, ging die ganze Decke des Walfisches in die Höhe und zugleich auch schwebte der Delphin empor, als wäre er überhaupt gar nicht befestigt gewesen. Wie sich die Bänder und Schrauben mit einmal gelöst, das hatte Nobody gar nicht unterscheiden können.

Auch die beiden Taucher schwebten empor, schwangen sich in ihr Boot. Nur Nobody ging noch einmal hinab, ein starkes Seil mitnehmend, welches er um den Panzerschrank schlang.

Dann, wieder im Boot, entledigte auch er sich des Taucherhelms, wie Scott schon getan hatte.

Die Freunde sahen dort den riesigen Delphin schwimmen, in ganz natürlicher Stellung im Wasser ruhend, und sie blickten einander an, lange Zeit keines Wortes fähig.

»In dem eisernen Walfisch haben wir nichts mehr zu suchen,« sagte Nobody endlich, »denn wollen wir es tun, so werden wir niemals fertig. Wir wollen unsere ganze Aufmerksamkeit lieber dem zuwenden, was wir mitnehmen können. Ich denke auch, in dem Delphin werden wir alles im kleinen wiederfinden. Laß uns erst den Panzerschrank emporwinden.«

Es geschah, bis zuletzt die Kraft dieser beiden Männer dazu gehörte, um ihn aus dem Wasser ins Boot zu heben.

»Einmal müssen wir doch noch hinab.«

»Gewiß! War auch das Meer ihr Element, so sollen sie doch in Mutter Erde bestattet werden. Die Mannschaft der ›Wetterhexe‹ kann dabei behilflich sein, diese Matrosen sind verschwiegen wie das Grab, welches sie den Verunglückten bereiten werden.«

»Sind an Bord Bretter?«

»Genug.«

Wer zuerst davon begonnen, ist gleichgültig. Sie hatten beide denselben Gedanken gehabt.

Wozu aber sich dieser großen Mühe unterziehen? Konnten die Leichen nicht ebensogut den Fischen zur Nahrung dienen wie in der Erde den Würmern? Erfüllte der tote Körper nicht hier wie dort die Bestimmung, welche die Natur dem aus Erde geformten Menschen nach seinem Tode nun einmal gegeben hat?

O, Mensch, du Sohn des Himmels und der Erde, der du ein totes Vögelchen findest, und du nimmst es sinnend in die Hand, und dann machst du ein kleines Loch in den Waldboden und legst es hinein — du weißt nicht, warum eigentlich du dies tust, du folgst dabei nur einem inneren Triebe — und deshalb weißt du auch nicht, wie hoch und herrlich du erhaben stehst über viele Tausende von anderen Menschen, denen eine solche innere Empfindung fremd ist, und welche vielleicht verächtlich auf dich herabblicken, weil du nur einen schlichten Arbeiterkittel trägst. Aber die Sterne, welche du am Tage nicht schauen kannst, sie haben es gesehen, und die Sterne werden es dir lohnen, nicht erst im Himmel, sondern schon auf Erden, nicht mit Gold und Ehren, sondern mit etwas weit, weit Köstlicherem!In dem etwas geöffneten Maule des Delphins wurde ein Seil befestigt, das Motorboot schleppte ihn davon.

Es läßt sich denken, was für eine Aufregung an Bord der ›Wetterhexe‹ entstand, als die beiden mit dem riesigen Fische zurückkehrten.

»Sie haben einen toten Delphin gefunden!«

»Der war nicht tot, den haben sie harpuniert,« lautete eine ganz richtige Unterscheidung; denn ein aus einem anderen Grunde verendeter Delphin hätte ganz anders im Wasser gelegen.

»Herrgott, was für ein riesiger Delphin ist das!«

»Das ist gar kein Delphin, sondern ein . . . .«

Das Wort erstarb dem Sprecher im Munde. Die vermeintliche Jagdbeute war gegen die Eisenplanken der ›Wetterhexe‹ gerannt, und es hatte einen ganz besonderen Ton gegeben.

Und im Augenblick war allen auch die Erkenntnis gekommen! Das Rätsel vom Kap Horn in verkleinerter Ausgabe!

Mit dieser Erkenntnis war aber all diesen Matrosen auch der Mund plötzlich wie zugestopft. Selbst staunende Blicke waren hier verpönt.

»Den können wir nicht verdauen, mag er auch noch so lange kochen,« sagte ein Matrose nur noch, und er hatte schon zu viel gesagt, er bekam vom ersten Bootsmann ein ›Holt dien Mul‹ zu hören.

Im Matrosenlogis mochten sie sich darüber unterhalten wie sie wollten — hier an Deck, gewissermaßen in der Oeffentlichkeit, war so etwas ausgeschlossen. Hier handelte es sich um ein Geheimnis, durch Nobodys, ihres geliebten Masters Anwesenheit doppelt geheiligt.

»Das Vieh macht den Eindruck, als ob es aus Blech wäre,« sagte Mojan.

Flederwisch flüsterte ihm etwas zu, wohl eine kurze Erzählung, Mojan klappte einmal sein Maul auf, was er als Präsidentin der Frauenrepublik Amazona wohl schwerlich getan hatte, weshalb er es nun mit Vergnügen recht gründlich nachholte, klappte seinen Rachen wieder zu, und von nun an legte er sich nur noch aufs Beobachten.

Der Panzerschrank ward an Deck gehievt, dann kam gleich der Delphin daran. Das hatte seine Schwierigkeiten besonders deswegen, weil jeder Haken oder Ring fehlte. So mußte er mit Drahtseilen sorgfältig umschlungen werden, welche Arbeit Nobody selbst leitete, und wobei ihm auch der praktischste Bootsmann noch manchen ihm unbekannten Handgriff ablauschen konnte, und dann schwebte das eiserne Ungetüm über Deck. Die große Winde der ›Wetterhexe‹ konnte noch ganz andere Lasten heben, sie hob das eigene Schiff empor.

Als vorläufigen Platz hatte Nobody das Zwischendeck bestimmt. Die betreffende Luke war groß genug, um den Fisch in etwas schräger Lage hindurchzulassen, er schwebte hinab und war bald sicher geborgen. Auch der Panzerschrank wurde dort untergebracht.

»Wie geht es den Damen?«

»Danke sehr, ganz gut, sie essen wie die Wölfe,« entgegnete die Präsidentin, die sich noch immer nicht von ihrem koketten Waffenröckchen getrennt hatte, jetzt aber ständig wie ein Schornstein qualmte.

Ob die Damen schon erfahren, wen sie als ihre Präsidentin verehrt hatten, wie sie das dann aufgefaßt, danach fragte Nobody nicht. Er hatte jetzt an anderes zu denken. Es war schon zartfühlend genug, daß er sich überhaupt nach dem Befinden der verregneten Amazonen erkundigt hatte.

»Paul, der Zutritt zu dem Raume, in dem das Ding liegt, ist verboten. Jetzt stelle mir genügend Leute zur Verfügung, wir haben neunundzwanzig Leichen zu begraben, und auch die hölzernen Särge dazu verlange ich von dir.«

Bald ging das große Motorboot ab, in ihm wiederum Nobody und Scott mit ihren Skaphandern, die Matrosen bewaffnet mit Seilen, Haken und Schaufeln, und alle zurückbleibenden Matrosen und Heizer mußten sich unter Anleitung des Schiffszimmermanns an der Herstellung von Särgen beteiligen.

Das Boot steuerte in die zweite, einem Binnensee gleichende Bucht ein.

»Da da da da da!« riefen die Matrosen mit ausgestreckten Armen. » Eine Robbe, ein Seelöwe!!«

Vorläufig erblickte man über dem Wasser nur den Kopf mit dem schnurrbärtigen Gesicht, das gerade beim Seelöwen vielmehr an das eines gutmütigen Menschen mit klugen Augen erinnert als an das eines Hundes. Wenn so eine Robbe über Wasser blickt, hat es immer etwas überaus Gutmütiges, Wunderliches, Drolliges an sich.

Das Tier musterte das ankommende Boot, reckte sich noch höher aus dem Wasser empor, jetzt drückte das treuherzige Gesicht richtiges Staunen aus, dann zeigte es sich einmal in seiner ganzen Länge von mindestens drei Metern, als Seelöwe schließlich keine allzu große Robbe, und dann schwamm es dicht Heran, wälzte sich unter behaglichem Grunzen auf den Rücken und zeigte gravitätisch seinen fetten Bauch, dabei vergnügt die Menschen anblinzelnd.

»Ach, daß wir keine Harpune hier haben,« bedauerten die Matrosen, »nicht einmal ein Gewehr!«

»Ich habe einen Revolver,« sagte einer, diesen ziehend. »Soll ich einmal?«

»Wehe!!« rief Nobody dem schon Zielenden zu. »Muß denn nur immer gemordet fein?! Dieser Löwe des Meeres, der seinen Namen ganz mit Unrecht führt, kann den Charakter des mordgierigen Menschen noch nicht kennen gelernt haben, und so wollen wir dem Tiere die gute Meinung doch lassen, die es jetzt noch von uns hat!«

Beschämt senkte der Matrose die Waffe.

Und als ob der Seelöwe diese ihm wohlgesinnten Worte vernommen hätte, so zollte er mit Grunzen und Pusten Beifall und gab zum Danke dafür die erstaunlichsten Kunststückchen seiner fabelhaften Schwimmfertigkeit zum besten, immer neben und unter dem Boote hinweg, mit Vorliebe auf dem Rücken liegend und die Menschen ebenso klug wie lustig und listig anblinzelnd.

So war es im Paradiese — und so wäre es noch heute, hätte die menschliche Geldgier nicht den fluchwürdigen Robbenschlag gezeitigt.

Gewiß, auch die Robbe ist dazu da, um dem Menschen zu dienen, mit Haut, Fleisch und Speck, einige auch mit ihren Knochen und Zähnen, aber der Robbenschläger mordete rücksichtslos alles nieder, ohne an eine Schonung zu denken, dadurch ist der Charakter der Robbe ganz verändert worden, nur solche, welche den Menschen noch nicht kennen gelernt haben, zeigen ihre ursprüngliche Natur.

Die Robbe, mag sie heißen, wie sie will, Seehund oder Seelöwe oder Walroß, ist der Hund des Meeres und wie dazu bestimmt, im Wasser der Gefährte des Menschen zu sein. Seeleute können Geschichten davon erzählen, wie Seehunde, welche — man möchte fast sagen: von der Kultur noch unbeleckt geblieben waren, Segelschiffe tagelang begleitet haben, bis sie sich endlich, weil sich das Schiff gar zu weit von ihrer Heimat entfernte, von ihren menschlichen Freunden, die sie gefüttert, mit ihnen gespielt hatten, mit einem wahrhaften Seelenschmerze verabschiedeten, deutlich in ihren schönen, treuen Augen und in ihrem ganzen Gesicht zu lesen.

Die einsamen Fischer, besonders die von den Hebriden, wissen aber noch ganz andere Geschichten von Seehunden zu erzählen. Man würde sie nicht glauben, wenn nicht ab und zu ein Fall in die Öffentlichkeit dränge, dessen Wahrheit von glaubwürdigen Zeugen bekräftigt werden kann.

Ein solcher Fall, der sich Anfang der siebziger Jahre ereignete, soll hier einmal erzählt werden. Er ist auch noch in einem anderen Sinne lehrreich.

Zwei Fischer, Vater und Sohn, auf einer der Shettlandsinseln hausend, fanden aus einer Bootsfahrt einen toten Seehund treiben, der an einer bösen Wunde zugrunde gegangen war.

Sie nahmen ihn mit, um zu Hause den Speck auszubraten.

Wie der Seehund in der warmen Hütte liegt, schon abgestreift werden soll, wird er wieder lebendig. Natürlich will der Fischer ihn noch nachträglich töten, diese reiche Beute kann er sich doch nicht entgehen lassen. Dem aber widersetzt sich die kleine Tochter des Fischers, ein schwaches, immer krankes Kind, mit aller Macht, schließlich muß man sich ihrem Willen fügen.

Die kleine Maggy pflegt den von der Lanze eines Robbenschlägers zu Tode verwundeten Seehund wie eine Mutter ihr Kind, zwischen den beiden entwickelt sich eine regelrechte Freundschaft, die auch noch andauert, wie das Tier wiederhergestellt ist. Der Seehund betrachtet die Hütte als seine Heimat, ladet seine menschliche Freundin ein, mit ihm im Wasser zu spielen, wundert sich, daß sie ihm nicht folgt, fängt den ganzen Tag Fische, die er ihr zu Füßen legt und schläft des Nachts neben ihrem Bettchen.

Das ist ja alles nichts Neues. Nichts leichter, als einen Seehund zum Fischfang abzurichten, das tut jeder, der einmal zahm ist, von ganz allein, wie der Fischotter, sonst ein ganz bösartiges Raubtier.

Hier wurde die Sache nur einmal populär. Eine vornehme Gesellschaft von Damen und Herren war nach der einsamen Fischerinsel gekommen, sie hatten den Seehund gesehen, der die ganze Familie mit Nahrung versorgte, der jede Tür aufklinken konnte, andere Kunststückchen ausführte, wie er mit dem kleinen Mädchen spielte, die Freundschaft zwischen den beiden — so kam die Geschichte von dem dankbaren Seehunde in alle Zeitungen.

Das wollte sich so ein Impresario oder Entrepreneur oder Schausteller, der auf sein Risiko Künstler engagiert, zunutze machen — Mr. Ritchie, noch heute Direktor des Londoner Aquariums, das aber mehr Variété denn wissenschaftliches Institut ist.

Er fährt hin und macht das Geschäft, kauft den Seehund. Am liebsten hätte er auch gleich die kleine Maggy ›gekauft‹, aber doch noch besser ist es, daß sie gerade auf Besuch fort ist; das kranke Kind hätte wohl Schwierigkeiten gemacht, während man ihr so sagen kann, daß der Seehund sie eben verlassen hat, und der alte Fischer kann dem Klange des Goldes nicht widerstehen.

Der Seehund wird an Bord genommen. Der Dampfer ist nicht weit gekommen, da entspringt das Tier seinem Behälter, schnellt über die Bordwand und schwimmt zurück. Mr. Ritchie dreht um und holt sich sein Eigentum wieder ab.

Diesmal kommt er bis an die Südwestspitze von England. Da ist der Seehund zum zweiten Male verschwunden. Na, nun ist das Vieh eben weg, es war eine verfehlte Spekulation, Mr. Ritchie hat ein paar Goldstücke verloren.

Da, nach einigen Monaten, hört Mr. Ritchie zufällig, daß der Seehund dort oben im Norden nach wie vor für seine kleine Freundin Fische fängt!

Das Tier hatte sich von Kap Cornwall bis nach jener einsamen, zweihundert Meilen entfernten Felseninsel zurückgefunden!!

Na, eine Rührung kannte der Entrepreneur nicht. Geschäft ist Geschäft, und dieses mußte ein außerordentliches werden, denn der gewiefte Engländer sorgte doch dafür, daß diese rührende Geschichte wiederum gleich in alle Zeitungen kam.

Also er reiste nochmals hin, um sich sein Eigentum zurückzuholen, und sein Entzücken war erst recht groß, als sich die kleine Maggy mit Einwilligung der Eltern bereiterklärte, selbst mit ihrem Liebling nach London zu gehen.

Selten hat wohl Mr. Ritchie so ein Geschäft gemacht wie damals. Wer den Seal nicht gesehen hatte, wie er frei in der Themse Fische fing und sie seiner kleinen Freundin zu Füßen legte, wie er apportierte und andere Kunststückchen ausführte, der konnte nicht mehr mitsprechen.

Aber die schwächliche Maggy wurde immer kränker, die Sehnsucht nach ihrer einsamen Felsenklippe verzehrte sie. Sie mußte zurück. Sie befand sich schon in einem so lethargischen Zustande, daß sie gar nicht mehr an ihren Seal dachte, und daß der sie nicht auf dem Wasserwege begleitete, dafür sorgte Mr. Ritchie durch ein vergittertes Bassin.

Die kleine Maggy erholte sich in der heimatlichen Luft wieder, da stellte sich auch die Sehnsucht nach ihrem treuen Seal wieder ein — und sie brauchte auch gar nicht lange zu warten, da war er schon wieder da.

Er war dem Bassin entwischt und hatte zum zweiten Male die zweihundert Meilen zurückgelegt, in der ganz richtigen Erwartung, seine kleine Freundin, die ihn verlassen, in der alten Fischerhütte wiederzufinden.

Jetzt ließ Mr. Ritchie den Seehund fahren. Er hatte ihm auch schon genug eingebracht.

Nun kommt der zweite Teil von der Geschichte.

Die kleine Maggy ging ihrem Ende entgegen.

Die kluge Frau wurde geholt.

Und die kluge Frau erkannte sofort die Ursache des Leidens.

»Dem Kinde hat es ein böser Blick angetan. Und das kann nur der Seal getan haben. So vernünftig kann ja überhaupt gar kein Tier blicken, das ist ein böser Zauberer, wenn nicht der Teufel selbst, und so eine Freundschaft zwischen Mensch und Tier ist überhaupt gotteslästerlich. Der Seal ist an allem Schuld, er hat euer Kind verhext. Töten dürft ihr ihn nicht, aber fort muß er. Dann wird Maggy auch gleich wieder gesund.«

Das Fortschaffen hatte seine Schwierigkeit. Der Seehund fand sich ja immer wieder zurück. Doch man wußte Rat. Ein Kapitän, der nach Halifax fuhr, nahm ihn mir und versprach auf Handschlag, ihn erst auf den Fischbänken von Neufundland auszusetzen.

Und so geschah es. Die kleine Maggy nahm den Abschied von ihrem befloßten Freunde seltsamerweise nicht tragisch.

»Dort ist ja deine Heimat, da findest du deine Gefährten wieder, mit denen du spielen kannst — lebe wohl, mein Seal.«

Noch ein Abschiedskuß, und fort ging es.

Ahnte das Kind etwas, daß es immer so still vor sich hinlächelte?

Doch von Amerika nach Schottland ist es etwas weiter als von Kap Cornwall nach den Shettlandsinseln!

Acht Wochen vergehen. Die Fischersleute sitzen beim Mittagstisch. Da legt die kleine Maggy, die sich recht gut erholt hatte, ihren Löffel hin.

»Der Seal ist wieder da.«

Und da wird die Tür aufgeklinkt, und unter vergnügtem Grunzen watschelt der Seehund herein, fettstrotzender denn je. Eher hätte er auch gar nicht wieder dasein können.

Aber die kluge Frau mußte doch wohl recht haben.

Seitdem das Teufelsvieh wieder da war, ging es auch mit der Gesundheit der kleinen Maggy wieder schnell bergab.

Doch die kluge Frau war wirklich sehr klug.

»Der Seal muß fort! Töten dürft ihr ihn nicht. Jetzt weiß ich ein untrügliches Mittel, wie er nicht wiederkommen kann. Stecht ihm die Augen aus. Dann braucht ihr ihn gar nicht so weit fortzuschaffen, das blinde Tier kann sich nimmermehr zurückfinden — und eure Tochter ist vom Teufel befreit und wird genesen.«

So sprach die kluge Frau. Und es geschah. Die kleine Maggy wurde einmal fortgebracht, und dann bohrten sie in die großen, schönen, treuen Augen, die sie so verwundert anblickten, glühende Eisen.

Der Seehund soll sich nicht gewehrt, nicht gestöhnt haben. Sie brachten ihn hinaus, so weit sie sich in ihrem Boote wagen durften, und setzten ihn dort aus. Nein, das blinde Tier konnte sich unmöglich zurückfinden. Außerdem mußte es, da es doch nicht mehr dem Fischfang nachgehen konnte, ja bald verhungern.

Wochen vergingen. Es hatte nichts geholfen. Die kleine Maggy wurde kränker und kränker, sie verzehrte sich selbst, so wie der geblendete Seehund sein eigenes Fett schon aufgezehrt haben mußte.

»Wo ist der Seal?«

»Der hat uns nun endlich doch verlassen.«

»Das ist ja gut.«

Und in einer Sturmnacht umstanden die Fischersleute das Bettchen des sterbenden Kindes. Alles, alles hatte nichts geholfen.

Da richtete sich das abgezehrte Kind noch einmal auf.

»Horcht — der Seal ist wieder da.«

Und die Tür ward aufgestoßen, und herein humpelte mit seiner letzte» Kraft der blinde Seehund, nur noch ein mit einer faltigen Haut bedecktes Skelett, und er legte sich auf seinen gewohnten Platz neben das Bettchen, um mit seiner kleinen Freundin zusammen zu sterben.

Diese Geschichte ist buchstäblich wahr.

Kann man vom klügsten und treuesten Neufundländer mehr verlangen?

Mit der veredelnden Zucht des Hundes, des Abkömmlings des wilden Wolfes, hat sich der Mensch seit Jahrtausenden beschäftigt.

Robben werden erst in neuester Zeit abgerichtet, und die dem freien Meere entrissenen Tiere leisten doch wirklich schon Erstaunliches genug.

Deshalb klingt die Nachricht, welche jüngst durch die Zeitungen ging, durchaus nicht wie eine Fabel, daß man sich in Amerika allen Ernstes damit beschäftigt, dressierte Seehunde zum Dienst in der Marine zu verwenden, um feindliche Seeminen aufzusuchen, zwischen Schiffen einen Depeschendienst zu vermitteln usw.

Man braucht ja einem Seehunde und jeder anderen Robbe nur ins Gesicht und in das große Auge zu blicken, um zu erkennen, was für ein gescheites Tier das ist.

 

—————

 

Nobody und Scott begaben sich nochmals unter Wasser, mit verwunderten Blicken von dem Seelöwen betrachtet, der in ihre dichteste Nähe kam.

Wäre nicht das ganze Gesicht ein so überaus gutmütiges gewesen und das Benehmen ein so harmloses, hätte man nicht die Natur des Tieres gekannt, die dichte Nähe des Ungetüms wäre unheimlich gewesen, hätte zur abwehrenden Waffe greifen lassen.

Doch nicht einmal dem Robbenschläger gegenüber setzt sich der Seelöwe zur Wehr, mit klagendem, mit anklagendem Blick und mit schmerzlichem Stöhnen läßt er sich abschlachten, darin gleicht er nicht dem Walroß, sondern dem Seehund, und nur wenn er seine Jungen verteidigt, verwandelt er sich in einen wirklichen Löwen, der fürchterliche Bisse versetzen kann, und dann ist schon mancher dem wütenden Seetiere zum Opfer gefallen, hat keine Zeit mehr gehabt, darüber zu staunen, mit welch ungeahnter Geschwindigkeit sich der unförmliche Leib mit den Flossen auch auf dem Lande bewegen kann.

Nobody half mit, die Leichen hinauszutragen, es Scott überlassend, sie anzubinden, daß sie emporgezogen werden konnten. Er selbst kehrte nochmals ins Innere des Wrackes zurück, um zu prüfen, ob nicht doch noch etwas des Mitnehmens wert sei.

Er entschied sich besonders für die beiden großen Kupferzylinder, welche allein das elektrische Licht und alle Kraft lieferten.

Auf der Argonauteninsel hatte er gesehen, und Pieter hatte es ihm versichert, daß jahraus jahrein nichts anderes nötig sei, als ab und zu etwas Wasser zuzugießen, womöglich Regenwasser, um den Asbest immer feucht zu halten. Dann versage die Elektrizitätsquelle nie, niemals.

Nun hatte aber Nobody doch solch eine kleine Batterie, die er dem Mephistopheles abgenommen, zu Hause, alle möglichen Versuche waren mit ihr vorgenommen worden, den Asbest zu befeuchten, das war das erste gewesen, und doch hatte der Batterie kein einziger Funken entlockt werden können.

Jetzt war diese große Batterie hier noch in Ordnung. Beim Drehen von Hebeln flammte hier und dort elektrisches Licht auf oder sämtliche Lampen gleichzeitig, er konnte andere mechanische Einrichtungen in Betrieb setzen — nur die vermeintliche Schraubenwelle wollte sich nicht drehen. Da sie abgebrochen war, konnte ja der ganze Mechanismus versagen, dann war der Dirigierapparat auch gar zu kompliziert, so ohne weiteres fand man sich da nicht zurecht, und außerdem begann Nobody schon zu zweifeln, daß dies überhaupt eine Welle sei, welche eine Schraube gedreht habe.

Auch der Delphin besaß ja keine Schraube. Dann war es aber noch ein ungelöstes Rätsel, wie das Fahrzeug fortgetrieben wurde. Vielleicht mittels der Flossen und des Schwanzes, wie ja auch bei den Tieren, deren Bau nachgeahmt worden; aber Nobody konnte bei diesen Flossen hier wie bei dem Schwänze des Delphins nicht die geringste Beweglichkeit konstatieren. Alles wie aus einem Guß; harte, fest zusammengenietete Stahlplatten.

Zunächst schraubte er also die Kupferzylinder los. Da sah er neben sich den Seelöwen schweben, ihm mit neugierigen Augen bei der Arbeit zuschauend.

Wie? Auch dieses Tier war in das Innere des Wracks gedrungen, seinen Weg hinten durch die sehr enge Bruchstelle nehmend? Wohl war auch hier jetzt sein Element — immerhin, Nobody wunderte sich, daß der Seelöwe, der trotz aller Harmlosigkeit doch sehr vorsichtig ist, sich zwischen solch enge Wände begeben hatte.

Es war etwas Unnatürliches, wenn nicht Unheimliches dabei, wie ihm die riesige Robbe so zuschaute.

Nobody überwand schnell alle Scheu, aufmerksam betrachtete er das Seesäugetier. Solch eine Gelegenheit hat wohl noch nie ein Forscher gehabt.

Wie die speckige Haut glänzte! Auch Robben werden viel von Ungeziefer geplagt, von Läusen, so groß wie ein Fingernagel, besonders auch von einer Art von Blutegeln, welche dem Meere angehören.

So hatte Nobody wenigstens gelesen. Hier bemerkte er nichts davon, das Tier machte einen äußerst reinlichen Eindruck.

Und wie klug das große, schöne Auge blickte! Und nun dieses ernste, sogar finstere und dabei doch so humoristische Gesicht mit dem Schnauzbart! Die Robbe hat nach dem Affen von allen Tieren das menschenähnlichste Gesicht, ja vielleicht noch mehr als der Menschenaffe, mehr noch als der junge Gorilla.

Das ist schon ein Beweis ihrer Intelligenz. Je mehr die Physiognomie eines Tieres der des Menschen ähnelt, desto höher ist es geistig entwickelt, und da brauchen wir nicht etwa nur bei den Vierfüßlern stehen zu bleiben.

Affe — Papagei — Frosch — Heuschrecke.

Man betrachte nur eine Heuschrecke richtig, wie sehr ihr Kopf dem eines Papageis ähnelt, und der Papagei ist der Affe unter den Vögeln, und die Heuschrecke ist das höchstentwickelte Insekt, welches sogar schon künstliche Töne zu erzeugen weiß.

Nobody riskierte es, zur Berührung die Hand auszustrecken.

Doch anfassen lassen wollte sich das freie Tier nicht. Nur eine kleine Bewegung der zu Flossen verkümmerten Vorderfüße, und blitzschnell schoß es zurück, dann wieder schweben bleibend, wobei jetzt aus den Nasenlöchern Luftblasen emporquollen.

Jedes Seesäugetier muß seine Luft an der Oberfläche des Meeres einatmen. Daß es Walfische bis zu dreiviertel Stunden unter Wasser aushalten können, ist erwiesen. Die Robben müssen ihre Lungen weit öfters füllen. Länger als fünf Minuten kann wohl keine Robbenart mit dem in der Lunge aufgestapelten Luftvorrat auskommen.

Der Zeitpunkt der Erschöpfung mußte wohl nahe sein, der Seelöwe kehrte um und verschwand nach hinten, ganz genau den Ausgang wissend.

Nobody bugsierte die Zylinder hinaus. Die Leichen waren schon sämtlich nach oben befördert worden, die Zylinder folgten nach, auch die beiden Taucher, und da unterdessen auch schon die Gräber hergerichtet worden und die Särge angekommen waren, fand das Massenbegräbnis sofort statt.

In Decken gewickelt, wurden die Leichen in die Särge gelegt und in dem gemeinsamen Grabe versenkt.

»Auch diese uns unbekannten Männer waren Seeleute, sie sind Opfer ihres erwählten Berufs geworden, Gott nehme ihre Seelen in Gnaden auf.«

Mehr sagte Nobody nicht. Die Matrosen nahmen die Mützen ab und drückten das Gesicht hinein.

Trotzdem war die Handlung feierlich genug, gerade durch diese schweigsame Einfachheit. Nur der Seelöwe kam störend dazwischen. Er hatte das Wasser verlassen, rutschte schwerfällig immer näher herbei, um neugierig zuzuschauen, wie diese zweibeinigen Wesen ihre toten Brüder begruben.

Einerseits konnte das Benehmen des Tieres in Gottes freier Natur, wie es sich dem Begräbnis näherte, daran teilnehmen wollte, den ganzen Eindruck ja nur erhöhen. Wenn nur dieses dummkluge Gesicht mit dem Schnauzbart nicht gewesen wäre, und wie es sich nun gar auf den Flossen aufrichtete und vor

Staunen richtig das Maul aufsperrte — einige Matrosen konnten sich eines Kicherns nicht erwehren.

In diesem Augenblicke aber durchzuckte Nobodys Kopf zum ersten Male der fragende Gedanke: Könnte das nicht ein abgerichteter Seehund sein, zu dem Unterseeboote gehörend, es immer begleitend?

Als wieder Bewegung in die stille Menschenmasse kam, ergriff der Seelöwe schleunigst die Flucht, rutschte mit einer Schnelligkeit dem Ufer zu, die man dem unförmlichen Tiere nimmermehr zugetraut hätte, von der nur der Robbenschläger oft genug zu seinem Schaden erfahren muß, und verschwand in den hochaufspritzenden Fluten.

Die Boote fuhren nach der ›Wetterhexe‹ zurück. Nobody begab sich sofort ins Zwischendeck und . . . ward nicht mehr gesehen!

Es wurde Mittag, es wurde Abend — Nobody verlangte kein Essen, kam nicht zum Vorschein, er verharrte in dem langen Raum des Zwischendecks, in dem der eiserne Delphin wie auch der Panzerschrank untergebracht waren, und zu dem er den Zutritt verboten hatte.

Die Nacht brach an, und Nobody tauchte noch nicht wieder auf. Wenn sich der wachehabende Matrose weit über die Bordwand lehnte, konnte er sehen, wie die Bollaugen, welche zu dem betreffenden Raume gehörten, erleuchtet waren, und jetzt, wenn man das Ohr gegen das Deck preßte, hörte man auch ein Hämmern und Feilen.

»Aber er muß doch wenigstens etwas essen!«

»Ach, Nobody braucht so wenig zu essen wie zu schlafen, das ist eben Nobody!«

Am Morgen des anderen Tages tauchte er aus der Luke endlich wieder auf. Man sah ihm nicht an, daß er seit länger denn vierundzwanzig Stunden nicht gegessen und geschlafen habe, im Gegenteil, er schien lebensfrischer denn je.

»Nun?« begrüßte ihn Flederwisch.

»Ich habe die sieben Siegel des Geheimnisses gelöst, dem Arion steht der Delphin zur Verfügung, er ist besiegt, allerdings nicht durch die Macht des Gesanges, sondern durch den Hammer des Mechanikers und durch die Feile der menschlichen Geisteskraft. Ich will sofort eine Probefahrt machen, zunächst allein. Du wirst dann später in alles eingeweiht. Laß den Delphin wieder an Deck winden und überliefere ihn seinem Element.«

»Aber du mußt doch erst etwas essen.«

»Ich habe bereits gespeist.«

»Was denn?«

»Suppe à la reine, Schnitzel à la Nelson, Karpfen polnisch, getrüffelten Schweinskopf, Hasenbraten mit Hautgout, Truthahn mit Sauerkraut in Champagner — eine Platte verschiedener Käse, aux confitures.«

Mit vergnügtem Händereiben hatte es Nobody hergezählt.

»Woher willst du denn das haben?«

»Das hatte ich alles in meiner Hosentasche.«

»Oder ist das kleine Unterseeboot so ausgezeichnet verproviantiert?«

»Vorwärts, bringe den Delphin ins Wasser! Du wirst schon alles noch erfahren, werde dich auch im Bauche meines Fisches bewirten.«

Es geschah. Das Anlegen der Schlingen zum Heben des Ungeheuers leitete Nobody noch selbst, instruierte den Bootsmann, wie er, sobald der Delphin im Wasser läge, die Drahtseile wieder lösen solle, dann war er nicht mehr zu sehen.

Die Matrosen machten sich unter Leitung des Bootsmanns, der bei so etwas mehr zu sagen hat als der Steuermann, er ist eben der Mann der Praxis, bei dem es ein ›unmöglich‹ nicht geben darf, an die Arbeit.

Beim Passieren der Luke stellte sich ein Hindernis entgegen, ein Seil hatte sich verschlungen, und in Anbetracht dessen, was hier auf dem Spiele stand, wollte der Bootsmann nicht alle Verantwortung auf sich nehmen.

»Wo ist der Master?« fragte der Bootsmann, sich vergebens umblickend.

»Der ist in die Kajüte gegangen,« sagte ein Matrose.

»Hole ihn.«

Der Matrose ging, aber noch ehe Nobody erschien, war schon Kapitän Flederwisch zur Stelle und hatte sofort den gordischen Knoten gelöst, zerhauen mit der Schärfe seines praktischen Geistes.

Der Delphin schwebte frei über das Deck, wurde außenbords geschwungen und senkte sich wieder hinab, bis er im Wasser lag.

»Wo ist denn Nobody?« fragte jetzt auch Flederwisch.

Er erhielt keine Antwort, der Bootsmann stellte seine Leute an, gemäß der Instruktion die Seile zu lösen. Der Delphin war frei.

»Ja, wo ist denn aber nun No. . .

Das Wort erstarb dem Frager, der auf den halb aus dem Wasser sehenden Delphin geblickt hatte, im Munde, und von demselben staunenden Schreck wurden alle anderen befallen.

Plötzlich machte der dreieckige Schwanz, den man für völlig starr gehalten hatte, schlagende Bewegungen, schon die erste hatte genügt, um den eisernen Fisch fortschießen zu lassen, die Flossen halfen mit, und da war der Delphin auch schon untergetaucht, um nicht wieder zum Vorschein zu kommen. Wie ein Pfeil hatte man ihn zuletzt in schräger Richtung ins Wasser hinabschießen sehen.

Die Bestürzung der Zuschauer läßt sich denken. Sie waren einfach starr vor Staunen, vor Schreck. Der eiserne Delphin hatte, sobald er das Wasser berührte, Leben bekommen! Doch nein, das war ja überhaupt gar kein künstlicher Eisenbau gewesen, sondern das war ein richtiger, lebendiger Delphin! Diese Seeleute kannten doch ganz genau jede Bewegung des Delphins, der so gern die Schiffe begleitet.

Ja, aber — er war dennoch von Eisen gewesen, sie hatten ihn doch hier an Deck gehabt, hatten ihn berührt! Wie war das zugegangen? Hexerei! Halt, ganz einfach — sobald der lebendige Delphin aus Fleisch und Blut sein feuchtes Element verließ, erstarrte er zu Eisen . . . .

Das heißt, das war eben nur so ein Gedanke, der durch den Kopf zuckte. Eine Erklärung muß der Mensch doch für alles haben. Sonst glaubte an solch ein Wunder auch der abergläubischste Matrose nicht, sie waren im Augenblick eben nur ganz von Sinnen.

Jedenfalls brach es nun, als der lähmende Schreck überwunden war, sofort los:

»Master, Master, der Delphin ist weg!! — Er ist von ganz allein fortgeschwommen!! — Nobody, Alfred, zum Teufel, wo steckst du denn nur?!« heulte auch Flederwisch.

Da trat Scott, die Hände in den Rocktaschen, ganz kaltblütig aus der Kajüte.

»Haben Sie Nobody nicht gesehen?« wurde er von allen Seiten angeschrien.

»Nein.«

»Er war doch bei dir in der Kajüte!!«

»Nein.«

»Der Delphin ist abgesegelt, ganz allein!!«

»So?« entgegnete der Kanadier mit unerschütterlichem Gleichmut.

»Und mit dem Schwanze hat er gewackelt!« mußte ein Matrose noch hinzusetzen.

»Der Delphin?«

»Ja, wo ist denn nur Alfred?!«

»Der wird wohl schon drin stecken und das Fahrzeug dirigieren.«

»Nein, nein, ich habe ihn vorhin nach der Kajüte gehen. . . . .«

»Da da da da da!!!« schrien einige Matrosen mit ausgestreckten Armen.

Dort in weiter Ferne schoß es wie ein Pfeil durchs Wasser, der Delphin, jetzt ein scharfer Bogen, mehr ein Haken, wie nur ein Hase ihn schlagen kann, oder wie ein verfolgter Delphin, der, obgleich ein Säugetier, jeden Fisch an Schwimmfertigkeit übertrifft, und jetzt tauchte er unter, jetzt kam er wieder emporgeschossen, mit vollem Leibe über das Wasser schnellend, meterhoch, was bei solcher Körpergröße ebenfalls nur der Delphin fertig bringt, und nun auf die ›Wetterhexe‹ losgejagt, fast mit Gedankenschnelle, denn das Auge konnte ihm nicht folgen, und die Matrosen schrien laut auf vor Schreck, das mußte einen furchtbaren Zusammenstoß geben, und jetzt hatte der Kopf die eisernen Planken der ›Wetterhexe‹ schon berührt — da eine eigentümliche Bewegung des Schwanzes und der Flossen, und im Augenblick lag der Delphin wie festgenagelt — eine andere Flossenbewegung, er hatte beigedreht, und da sprang auf dem aus dem Wasser sehenden Rücken eine Klappe auf, Nobodys Kopf kam zum Vorschein.

»Komm herab, Edward!«

Also der Matrose, der behauptete, Nobody sei nach der Kajüte gegangen, hatte sich eben geirrt. Oder Nobody konnte es ja auch getan haben, war unbemerkt zurückgekommen, war ebenso ungesehen, während die Matrosen die Seile um den Delphin schlangen, durch eine Klappe in das Innere gekrochen. Vielleicht aber war diese Unauffälligkeit gar nicht so ohne Absicht gewesen. Vielleicht hatte Nobody als Hexenmeister dem verehrten Publikum eben eine Ueberraschung bereiten wollen, und das war ihm ja auch gründlich gelungen.

Scott schwang sich an einem Tau hinab, die Luke schloß sich über ihm, und er befand sich in einer anderen Welt.

Der erste Eindruck, den er von dieser neuen Welt erhielt, war der, daß sie sehr, sehr klein war, nicht für Menschen von dieser Erde berechnet, denn mußte sich schon Nobody bücken, wenn er auf den Füßen stehen wollte, und zwar sehr tief bücken, so die kanadische Edeltanne erst recht. Die Höhe des Delphins betrug ja nur wenig über anderthalb Meter.

»Setze dich.«

Der bezeichnete Stuhl bestand aus einem ausgeschweiften Sitz, der auf einem eisernen Stock ruhte, neben Scott saß Nobody auf einem ebensolchen Stockschemel und vor den beiden befand sich ein Apparat, ein ganzes System von schier zahllosen Hebeln und Griffen, aber insofern nicht zahllos, als jeder der Griffe auf schwarzem Grunde eine weißleuchtende Nummer trug.

Im übrigen erblickte Scott rund um sich herum ein unentwirrbares System von ebensolchen numerierten Griffen und Hebeln und Ventilen und Drähten und Röhren und Gott weiß was, so daß auch die kaltblütige Ueberlegung des Kanadiers vollständig in Verwirrung geraten mußte, und wenn er sich im Augenblick über etwas wunderte, so war es nur darüber, woher in diesem geschlossenen Eisenkasten das helle Tageslicht kam. Sogar Sonnenstrahlen drangen herein, und er wußte nicht einmal auf welche Weise.

Wir wissen, daß Nobody, wenn er sich allein befand oder zusammen mit einem Freunde, vor dem er keine Geheimnisse kannte, sich so gab, wie es ihm zurzeit seine Gefühle geboten, dieses ›auch ein fühlender Mensch sein‹ war ihm sogar manchmal Bedürfnis, und jetzt befand er sich in einer außerordentlichen Aufregung.

»Hast du den Delphin schwimmen und manövrieren sehen?« stieß er, förmlich nach Atem ringend, hervor. »Ja-«

»Edward, Edward, dieser Delphin macht mich zum Herrn aller Meere, zum Herrn der Erde!!«

Und vergebens nach Fassung ringend, setzte er in noch stürmischerer Weise hinzu:

»O, was für ein Mensch muß das gewesen sein, der dies alles ersonnen und ausgeführt hat — nein, das war kein Mensch, sondern selbst ein Gott!!«

Und dann womöglich noch mehr außer sich:

»Gott, du einziger Gott, der du keine anderen Götter neben dir duldest, gib mir Bescheidenheit, führe mich nicht in Versuchung, daß ich diese meine Macht nicht mißbrauche!!!«

»Wenn du an deiner eigenen Kraft zweifelst, Alfred, so nimm einen Hammer und schlage dieses Fahrzeug in Trümmer, und es ist nichts weiter dabei, du hast nur das unvollkommene Werk eines menschlichen Stümpers vernichtet, der nicht einmal imstande ist, einen einzigen Schmetterlingsflügel nachzuahmen.«

Eiskalt waren diese Worte neben Nobody gesprochen worden, sogar mit einem Tone der Verachtung, und Nobody blickte auf, in das große, klare und doch so schwermütige Auge des Kanadiers, und von dort aus ging ein Strahl bis in sein eigenes Herz, und plötzlich war es vorbei mit seiner Aufregung, er hatte verstanden, und er ergriff die Hand des Freundes, um sie zu drücken.

»Ich danke dir, Edward. Du hast ein großes Wort ausgesprochen!«

Einer Pause bedurfte er doch noch, um sich sammeln zu können.

»Hast du dich denn so schnell in alle Hebel hineinfinden können?« fragte dann Scott, als er sah, daß Nobody so weit war.

»Ja. Doch nicht durch eigene Geisteskraft. Diese beschränkte sich nur darauf, den Panzerschrank zu öffnen, was ihr genug zu schaffen gemacht hat — aber richtig, meine Hoffnung hatte mich nicht betrogen — in dem Panzerschrank fand ich eine vollständige Anleitung, wie der Delphin zu bedienen ist, jeder einzelne der mehr als dreihundert Handgriffe ist genau angegeben, jede Situation ist erwogen.«

»Mehr als dreihundert Handgriffe?«

»Ach, Edward, wenn du erst wüßtest, was mit diesem Unterseeboot alles zu machen ist — vorhin habe ich ja nur ausprobiert, wie man ihn vorwärts, rückwärts, tief und hoch gehen läßt und ihn in einem Augenblick wie festnageln kann — das habe ich nun auch schon heraus — hier und hier und hier sind die Griffe dazu — aber was sonst da noch alles für Geheimnisse drinstecken — Edward, ich komme mir vor wie ein Kind, das ein Spielzeug. . . . . .au, Himmelsakra!!!«

Der mit leuchtenden Augen und jubelndem Munde sprechende Nobody war aufgesprungen, und wie es einem Kinde oftmals passiert, öfters als einem Erwachsenen — er hatte sich mit dem Kopfe an der Decke gleich eine Brausche geholt.

»Recht so!« lachte er. »Uebermut muß eins auf den Kopf bekommen. Nein, aber wirklich — ich weiß gar nicht, wo ich mit einer Erklärung anfangen soll.«

In dieser Hinsicht konnte Scott ihm zu Hilfe kommen.

»Ich sah vorhin, wie du mit ungeheurer Schnelligkeit auf die ›Wetterhexe‹ losschossest, auch ich glaubte den Delphin schon zersplittern zu sehen, sein Kopf muß die Schiffsplanken wirklich schon berührt haben — und in demselben Augenblick lag er harmlos da, wirklich wie festgenagelt. Wie ist das möglich, den fliegenden Pfeil so schnell zu bremsen — und mehr noch, den letzten Zeitpunkt so abzupassen und einzuhalten?«

»Ja, das ist nur das eine der tausend Geheimnisse. Hier vor uns siehst du doch einen Spiegel. Was erblickst du darin?«

»Offen gestanden — eigentlich gar nichts. Nun ja, das Meer und die Horizontlinie, welche es mit dem Himmel bildet.«

»Drehen wir die Spiegel etwas.«

Es war ein ganzes Spiegelsystem, und jetzt erblickte Scott in dem Hauptspiegel das Deck der ›Wetterhexe‹, wie die Matrosen darauf hin und her liefen, einige standen an der Bordwand und sahen herab, Scott fühlte förmlich ihren Blick auf sich ruhen.

»Eine Art von Camera obscura,« meinte er dann.

»Ja, aber was für eine Art! Schon mehr als obscur! Edward, tu nicht so geringschätzend, es beleidigt mich etwas.«

»Wie werden die Lichtstrahlen hierherbefördert?«

»Durch die Glotzaugen des Delphins, die er am Kopfe hat.«

»Ja, aber auf welche Weise?«

»Das kann ich dir ganz genau sagen: das weiß ich selbst nicht. Vorläufig verstehe ich nur die Handhabung des Apparates, und so ist es bei mir mit allem und jedem, ich kann es nach der Vorschrift des Buches bedienen, doch das Wesen der ganzen Sache, das muß ich erst noch ergründen, und ich kann nur hoffen, daß mich da mein Scharfsinn nicht wieder so im Stiche läßt wie z. B. bei der Tarnkappe.«

»Das zeigt mir aber noch nicht, wie du es machst, den Delphin an einem bestimmten Punkte so plötzlich zum Stillstand zu bringen.«

»Das mache ich ganz einfach folgendermaßen: »Ich drehe den Spiegel, lasse als Beispiel darin das Korallenriff erscheinen. Jetzt stelle ich diesen Hebel hier so ein, daß er genau aus diesen Punkt des Korallenriffs weist, und ebenso genau wird das Boot in Wirklichkeit sich auf diesen Punkt zubewegen, mit beliebiger Schnelligkeit. So würde es aber auch genau an diesem Punkte des Korallenriffs zerschmettern, selbstverständlich. Um dies zu verhüten, stelle ich hier diese kleine Linse so ein, daß ihr Brennpunkt genau auf den betreffenden Punkt des Korallenriffs fällt, und sobald die Schnauze des Delphins diesen Punkt in Wirklichkeit berührt, oder ihn erst berühren will, schaltet sich selbsttätig eine Bremse ein — eine Bremse mit einer so furchtbaren rückwirkenden Kraft, daß ich noch gar keine Ahnung habe, wie das eigentlich zustande kommen kann.«

Jetzt freilich machte Scott doch ein erstauntes Gesicht.

»Wie ist denn das nur möglich, daß der kleine Lichtstrahl, der durch die Linse wiederum doch nur ein wesenloses Lichtbild trifft, solch eine mechanische Kraft erzeugen kann?!«

»Ja, Edward, da fragst du mich zu viel. Dieser Mann versteht eben optische Strahlen in mechanische Kraft umzuwandeln — das ist das ganze Geheimnis, weiter nichts. Nun soll ihm das aber erst einmal jemand nachmachen. Wir fangen jetzt erst an, uns mit der Wirkung von Lichtstrahlen zu beschäftigen. Dazu kann ja auch die Photographie gerechnet werden. Aber die neue Entdeckung von den feste Körper durchleuchtenden, uns bisher ganz unbekannten Lichtstrahlen, die jetzt alle Welt aufregt, das dürfte dieser rätselhafte Mann als das kleine Einmaleins bereits hinter sich haben, der ist uns eben um ein paar hundert Jahre voraus.«

»Hast du es denn schon ausprobiert, ob das auch so funktioniert?«

»Gewiß doch, du hast es ja selbst gesehen. Da visierte ich im Spiegel die ›Wetterhexe‹ und stellte danach die Linse ein, daß die Bremse im Augenblicke der Berührung in Tätigkeit trat.«

»Und das riskiertest du so ohne weiteres?!«

»O nein! So wagemutig bin ich denn doch nicht. Ich war vorhin schon dort hinter der Insel, mein erstes Experiment machte ich an einer treibenden Planke, es gelang tadellos — nach und nach wurde ich allerdings kühner — zuletzt rannte ich schon in voller Karriere gegen ein Korallenriff. Als ich vorhin hier anlegte, war von einer Kühnheit gar keine Rede mehr. Der Delphin stoppt im Moment im vollsten Lauf.«

»Ja, wird man denn da aber nicht plötzlich mit furchtbarer Kraft vorwärtsgeschleudert?«

»Das hatte ich auch befürchtet. Gleich beim ersten Versuch, als ich gegen die Holzplanke losfuhr, stemmte ich mich nicht schlecht auf meinem Schemelchen fest. Eben diese meine Vorsicht wäre mir bald zum Verhängnis geworden. Im Augenblick des Stillstandes kippt der Schemel nach hinten über, und zwar je mehr, je schneller man gefahren ist, genau dem Verhältnisse entsprechend, und wenn man sich willig fügt, so hat man fast eine angenehme Empfindung dabei, etwa, als wenn einem eine ›sie‹ an ihren festen Busen drückt — nur daß hier die hintere Seite des menschlichen Körpers als Druckpunkt in Betracht kommt.«

Der ernste Kanadier mußte lächeln.

»Wie wird der Delphin fortbewegt?«

»Wie sein natürliches Vorbild, durch Schwanz und Flossen, und hier ist die Klaviatur, die jede Bewegung beherrscht. — Edward, du hast doch unrecht, jenen Mann einen Stümper zu nennen, weil er nicht einmal einen Schmetterlingsflügel herstellen kann. Ja, göttliches Leben vermochte er diesem Eisenfisch nicht einzuhauchen, aber . . . . der menschliche Geist, den die Natur erst geschaffen hat, weiß die Natur auch zu besiegen. Wie du weißt, sind Schwanz und Flossen aus starrem Erz, unbeweglich mit dem Ganzen verbunden. Ich drehe hier diesen Hebel, ein elektrischer Strom geht durch die Teile, welche in Gebrauch genommen werden sollen, und das starre Erz wird plötzlich schmiegsam wie — wie — Papier, Schwanz und Flossen bewegen sich, ohne Charniere oder sonst etwas zu besitzen. Mehr kann ich nicht sagen.«

Auch Scott sagte nichts. Er bekam allerdings Sachen zu hören und zu sehen, von denen er sich bisher nichts hatte träumen lassen.

»Dieser Mann,« fuhr Nobody fort, »scheint mir eben die ganze Mechanik auf anderen Grundlagen aufzubauen. Wozu wir bisher Mechanik benutzten, um gewisse Resultate zu erzielen, dazu bedient er sich der Optik und erreicht dadurch noch ganz andere Resultate. Der Unterschied zwischen Malerei und Photographie wäre ein unvollkommenes Beispiel für meine Ansicht, das greift auf das Gebiet der idealen Kunst hinüber. Ich kann dir ein besseres Beispiel geben.«

Nobody drückte einen der numerierten Knöpfe, und augenblicklich herrschte in dem engen Raume die schwärzeste Finsternis.

»Wie würde jeder Techniker das Problem lösen, in diesen finsteren Raum das Tageslicht einzulassen?«

»Nun, er müßte eben Oeffnungen schaffen.«

»Ja, er müßte die undurchsichtige Erzwand an gewissen Stellen auf mechanische Weise durchbrechen. Der Erbauer dieses Bootes aber hat das Problem auf optische Weise gelöst, er schickt durch die Erzwand einen elektrischen Strom und . . .«

Im Moment herrschte in dem Raum wieder Tageshelle.

»Ich weiß nicht, ob es Eisen ist — ich nenne es lieber Erz. Ich weiß nicht, ob es ein elektrischer Strom ist. Ich kenne nur das Resultat. Die Erzwand kann für die Lichtstrahlen durchlässig gemacht werden. Das ist aber nur das erste Stadium der Lichtdurchlässigkeit. Jetzt kann die Erzwand mit Milchglas verglichen werden. Schalte ich hier den Strom ein, so tritt das zweite Stadium der Lichtdurchlässigkeit ein. . . . .«

Scott glaubte sich plötzlich in einem Glaskasten zu befinden. Die starren Wände waren vollständig durchsichtig geworden.

»Doch nur von innen, nicht von außen,« erklärte Nobody weiter. »Ich habe mich bereits davon überzeugt, daß auch in diesem Zustande die Platten von außen undurchsichtig bleiben, man sieht nach wie vor den schwarzgrauen Delphin. — Edward, du hast vorhin ein großes Wort ausgesprochen, der Mensch bleibt immer ein Mensch, aber diesen hier einen Stümper zu nennen, das solltest du ihm abbitten.«

»Ich bitte ihm ab. Mich interessieren hauptsächlich die Luftverhältnisse. Wie hat er die gelöst?«

»Das Mitnehmen von komprimierter Luft hat dieser Mann hinter sich. Auch in dieser Hinsicht hat er durch seine Kunst die organischen Funktionen eines Delphins, der als Säugetier doch immer den mitgenommenen Luftvorrat erneuern muß, übertroffen. Du siehst überall an den Wänden eine rollenförmige Polsterung entlanglaufen. In dem Katalog wird es der Kohlensäureschwamm genannt. Es saugt nämlich die ausgeatmete Kohlensäure ein, leitet sie dort hinten in den Apparat, wo sie in Kohlenstoff und Sauerstoff zerlegt wird, letzterer strömt sofort wieder der atmosphärischen Luft in diesem Raume zu, ersterer wird aufgespeichert oder kann nach Belieben sofort zur Herstellung von jenen Pillen verwendet werden, die mit Wasser zusammen Eiweiß geben, dazu verbindet sich der Kohlenstoff im Augenblick des Ausscheidens mit dem Stickstoff der Luft, und dies alles geschieht selbsttätig, nur unter Einwirkung eines elektrischen Stromes. — Edward, das Perpetuum mobile, es ist doch kein leerer Wahn, hier ist das Problem gelöst!!«

Wieder wurde Nobody von einer gelinden Aufregung ergriffen.

»Alle weiteren Einrichtungen,« fuhr er dann fort, »wirst du ja im Laufe unserer Fahrten kennen lernen. Du begleitest mich doch?«

»Wohin willst du?«

»Erst beantworte meine Frage: wirst du mich begleiten?«

»Wenn es das Schicksal nicht anders bestimmt, ja,« war die etwas ausweichende Antwort, die aber für Nobody genügte.

Er klappte vor seinem Sitz eine Tischplatte herab und breitete darauf eine Karte aus, die ganze Erde in Mercators Projektion darstellend.

Weshalb zitterten seine Hände dabei so?

Scott sah auf der Karte eine Unmenge von großen und kleinen Punkten in verschiedenen Farben, manchmal mitten im Meere, manchmal mitten im Lande liegend, z. B. mitten in Nordamerika, Afrika und Asien. Die meisten aber lagen dicht an oder in der Nähe der Küste. Sonst waren darauf nur die größeren Städte angegeben, nur zur Orientierung, wie auch die politische Einteilung fehlte. Sehr sorgfältig verzeichnet dagegen waren die Flußläufe und Gebirgszüge, und die einzelnen farbigen Punkte waren durch verschieden markierte Linien miteinander verbunden, oft durch Zahlen unterbrochen.

»Was bedeuten die auffallenden Punkte?«

Mit Gewalt bemeisterte Nobody seine Erregung.

»Das sind die einzelnen Stationen, wohin dieses Unterseeboot hier überall dringen kann. Die gestrichelten Linien bezeichnen den Kurs, den das Boot von Station zu Station nimmt, die punktierten Linien geben die unterirdischen Wasserwege an. Hier in Aegypten siehst du z. B. auch den unterirdischen Fluß mit all seinen Spaltungen, den wir befuhren, auf dem wir nicht in die Wüste Sahara, sondern nach Abessinien kamen.«

»Ja, aber hier geht eine punktierte Linie auch wirklich quer durch die Sahara, sich auch nach Norden und Süden abzweigend.«

»Mensch, und das sagst du so gleichgültig?! Das ist es ja eben!!! Ich habe hier eine Karte von unterirdischen Wasserwegen, deren Existenz noch viel märchenhafter erscheint als alles, alles, was uns Anok von den unterirdischen Reisen seines Snorri Sturluson erzählt hat. Sieh doch hier nur Asien an! Von der chinesischen Küste aus läuft quer durch Zentralasten, durch die Mongolei und die Wüste Gobi eine unterirdische Wasserader, von diesem Unterseeboote befahrbar, außerdem sich nach allen Richtungen verzweigend; ganz Asien, überhaupt alle Erdteile müssen mit solchen unterirdischen Wasserkanälen durchzogen sein, und wir haben gar kein Recht, daran zu zweifeln! Hätten wir es geglaubt, wenn uns jemand gesagt, wir könnten von der Küste des Roten Meeres aus auf einem unterirdischen Flusse, der unter Aegypten hinläuft, sogar noch unter dem Nil hinweg, nach Abessinien gelangen? Nein, wir hätten ihn verlacht. Ein Zufall nur ließ uns diesen Wasserweg finden, dazu befanden wir uns noch immer in dem ungeheuren Irrtum, wir führen nach Westen anstatt nach Süden. Und hier ist dieser nach Abessinien führende Flußlauf genau verzeichnet, entsinne dich nur dieser starken Krümmung, die er hier macht, hier ist die Stromschnelle angegeben, und hier diese kleinen Ringe, die sollen doch ganz offenbar die nach oben führenden Schächte andeuten — — zweifelst du nun noch, Edward, daß auch alle diese in Europa, Afrika, Asien, Amerika und Australien hier verzeichneten unterirdischen Wasserläufe in Wirklichkeit existieren?«

»Mein Gott, mein Gott, das ganze Bild der Erde ändert sich vor meinen Augen,« murmelte der Kanadier, und es war eine Bestätigung, daß er nicht daran zweifle.

»Nicht so sehr braucht es sich zu ändern,« erwiderte Nobody. »O, wenn wir Menschen doch nur nicht immer zweifeln und spotten wollten, sobald wir etwas nicht gleich mit unseren fünf Sinnen wahrnehmen können! Seit uralten Zeiten geht unter den Beduinen der Sahara die Sage, daß unter der vertrockneten Sandwüste Wassergeister leben und wirken, d. H. nämlich mit anderen Worten, daß die Sahara mit unterirdischen Wasserläufen durchzogen ist. Jahrhundertelang ist das als eine Fabel verlacht worden —— heute bohren die französischen Ingenieure überall artesische Brunnen! Nicht oft genug kann diese Tatsache hervorgehoben werden, als Mahnung und Warnung für unser aufgeklärtes Jahrhundert, das an nichts mehr glauben will, als was es mit den Fäusten packen kann!«

»Was bedeuten nun all diese einzelnen schwarzen und gelben und grünen und blauen und roten Punkte und Ringe?«

»Ja, Edward, das weiß ich selbst noch nicht. Das sind eben Stationen oder sonst irgendwie wichtige Punkte. Was die blauen Ringe in Aegypten und Abessinien zu bedeuten haben, das haben wir in Erfahrung gebracht — Schächte die nach der Erdoberfläche führen — hier aber sind wieder schwarze und rote und grüne Ringe—ich weiß nicht, was sie bedeuten. Und was nun erst diese so scharf hervorgehobenen Kleckse und Ringe mitten im Meere?«

»Ist zu der Karte keine Erklärung vorhanden?«

»Nein. Nicht in dem Panzerschranke. Aber anderswo werde ich sie finden!«

»Wo?«

»In dem Buche, welches die Einrichtung des Delphins erklärt — ich will es den Katalog nennen — ist eine Notiz, daß sich ein Kommentar zu dem Situationsplan — so heißt diese Karte nämlich — im Bauche des Walfisches befindet, in einem zweiten, näher bezeichneten Schrank; es ist auch angegeben, wie dieser zu öffnen ist. Aber weißt du, Edward, was ich möchte?«

»Nun?«

»Diesen Kommentar, der uns gleich in alles einweiht, gar nicht finden! O, Edward, hier in diesem Delphin um die Erde fahren, in den Wasserläufen unter der Erde hinweg, uns wohl nach dem Plane richtend, aber sonst nicht schon vorher wissend, was wir an den angegebenen Punkten finden werden. Erst alles entdecken, Ueberraschung nach Ueberraschung erleben, ein Geheimnis nach dem anderen durch eigene Kraft lösend — o, Edward, das wäre so etwas für mich!!«

Mit Begeisterung hatte Nobody es gerufen, wäre bald wieder aufgesprungen, um sich eine neue Brausche zu holen.

»Das kannst du ja haben. Laß doch den Kommentar, suche das Wrack doch einfach gar nicht mehr auf.«

»Nein, Edward, das wäre Leichtsinn. Oder das wäre — wäre — es geht gegen mein Gewissen.

Ein gütiger Gott hat mir einen sehr leichten Sinn gegeben, aber leichtsinnig ist etwas ganz anderes. Nein, Edward, wenn der Kommentar nun einmal da ist, wird er auch benutzt. Wir fahren sofort hin. Schauen wir erst einmal um uns.«

Die stählernen Platten wurden durchsichtig. Auf der einen Seite zeigten sich die Schiffsplanken der ›Wetterhexe‹, auf der anderen sah man die Insel mit ihren beiden Vulkanen — und da plätscherte im Wasser der Seelöwe, dicht neben dem eisernen Delphin!

»So ein Bursche!« sagte Nobody fröhlich. »Ich hätte Lust, ihn zu fangen und als unseren Wasserhund abzurichten, der uns immer begleitet.«

»Sollte das nicht schon der Fall sein?« meinte Scott nachdenklich.

»Hast du auch schon denselben Gedanken gefaßt? Ich nämlich auch. Ja, ich glaube sogar, der Seelöwe hat im Innern des eisernen Walfisches einen trockenen Lagerplatz gehabt. Es war gar zu auffällig, wie er sich durch den schmalen Spalt gleich ins Innere des Wracks wagte.«

»Man möchte fast glauben, er könnte auch von draußen durch die Planken blicken.«

»Nein, das kann er nicht. Dieses begreifliche Gefühl, gesehen zu werden, hatte ich anfangs auch immer unter der Tarnkappe. Nein, er glotzt nur den Delphin als einen alten Bekannten an. In dieses enge Fahrzeug können wir das drei Meter lange Tier freilich nicht aufnehmen, und dem schnellen Delphin vermag keine Robbe zu folgen.«

Es war, als ob der Seelöwe diese Worte gehört hätte, und als wolle er diese Ansicht über seine Schnelligkeit Lügen strafen.

Ein mittelgroßer Fisch schoß vorüber, mit einer Schnelligkeit, die wohl von keinem Wassertiere übertroffen werden konnte — aber noch schneller war die Robbe, wie ein Blitz hinter ihm her, hatte den Fisch im Maule, und mit einigen schnappenden Bewegungen war er verschlungen.

»Fabelhaft! Trotzdem, ich bleibe bei meiner Ansicht. Bei solchen kleinen Verhältnissen täuscht man sich zu leicht. Außerdem war dies kein Schwimmen, sondern ein Vorstoßen, ein Schnellen, eine konzentrierte Kraftleistung. Bei einer Fahrt von 35 Knoten kann er uns nicht folgen, nicht bei 20.«

»Wieviel?« rief der Sportsmann mit ungläubigem Staunen.

»Bis zu 35 Knoten in der Stunde kann dieses Unterseeboot machen. Ich habe vorhin schon einmal diesen Gang angeschlagen. Es wurde mir selbst ganz unheimlich dabei. Das mich umgebende Wasser verwandelte sich in Milch. Der Mensch versuche die Götter nicht — Abfahrt!«

Nur eine gleichzeitige Drehung zweier Handgriffe, der eiserne Fisch bewegte den sonst so starren Schwanz und die Flossen, und im Nu war er frei von der ›Wetterhexe‹.

Dabei war nicht einmal nötig, daß die Bordwand durchsichtig blieb. Die geringste Bewegung des Bootes konnte man auch noch in anderer Weise kontrollieren. Vor dem Steuernden befand sich ein kleines Modell des Delphins, welches jede Bewegung mitmachte oder sie vielmehr dem Steuernden gegenüber markierte; dieses Modell erschien in dem großen Spiegel, welcher auch bei undurchsichtiger Bordwand die ganze Umgebung wiedergab, und diese doppelte Camera obscura gestattete die denkbar sicherste Leitung des Schiffes.

In gemäßigter Fahrt ging es der gebirgigen Insel zu. Der Seelöwe folgte dem Delphin nicht, er blieb neben der ›Wetterhexe‹, wahrscheinlich auf über Bord fallende Bissen wartend.

Um dies beobachten zu können, brauchte sich Nobody nicht umzublicken. Das alles zeigte ihm ja noch der Spiegel, auch den über Wasser schwimmenden Kopf des Tieres. Als es untertauchte, war es freilich auch im Spiegel verschwunden, auf diese Entfernung hin war das Wasser zu undurchsichtig.

»Das sagst du!« entgegnete Nobody auf diese Bemerkung seines Freundes hin. »Da hast du den Seelöwen wieder, kannst ihn auch unter Wasser sehen.«

Ein Lichtschein ging rings von dem Boote aus, er durchleuchtete das Meer auf weite, weite Entfernung hin, das Wasser vollständig durchsichtig machend, und obgleich man sich schon wenigstens hundert Meter von der ›Wetterhexe‹ entfernt befand, war deren Kiel noch deutlich zu sehen, ebenso die hinabgetauchte Robbe.

»Alfred, das kann unmöglich ein natürliches Licht sein, welches das Wasser so weit durchdringt und erleuchtet!« rief Scott sofort.

»Nein. Wenigstens kein uns bekanntes Licht, wollen wir uns vorsichtiger ausdrücken. Es sind andere Strahlen als die der Sonne.«

Die beiden gebildeten und auf dem Meere zu Hause seienden Männer hatten sofort das Richtige erkannt. Das Wasser absorbiert nämlich die Lichtstrahlen außerordentlich stark. Der blendendste elektrische Scheinwerfer, direkt ins Meer gerichtet, klärt äußerst wenig auf. Wir können das ja bei jedem Nebelwetter beobachten, ja, an jeder Wolke, welche die Sonnenstrahlen, das intensivste Licht, welches wir kennen, zurückhält, den Tag sogar zur Nacht werden lassen kann.

Nun aber etwas anderes. Diese Erfindung, welche unsere beiden Freunde damals als ein Phänomen anstaunten, ist heute bereits für die Öffentlichkeit gemacht worden, von einem Landsmann Marconis, wie sich die Italiener in dieser Hinsicht jetzt überhaupt recht ins Zeug legen.

Es ist eine besondere Lampe, deren Blendstrahl, aber auch wieder besonderer Art, bei Tage wie bei Nacht das Meer durchleuchtet, weil das Wasser diese Art von Strahlen eben nicht absorbiert. Die englische Regierung läßt die ersten, immer günstig ausfallenden Versuche beobachten, um die Erfindung zu kaufen. Verwirklicht sich alles auch im Großen, so dürfte das eine Revolution im ganzen Seewesen hervorrufen, und nicht zum wenigsten für friedliche Zwecke, zum Segen der Menschheit — dann können nämlich neue Fischbänke ausgesucht und die ungewissen Fischwanderungen verfolgt werden.

»Dort ist noch solch ein Schemel.«

»Das Boot ist sogar zur Aufnahme von vier Personen bestimmt. Ich werde der ›Wetterhexe‹ den Nasenkönig und Mister Jajaneenee entführen, es sind die beiden intelligentesten und zuverlässigsten Burschen.«

»Das dürfte aber eng hier drin zugehen.«

»O, ob nun vier oder nur einer — aufrecht stehen kann man ja sowieso nicht,« meinte Nobody leichthin in seiner Weise. »Ich sitze oder liege überhaupt viel lieber, da tun einem die Bebebebeene nicht so weh. Nun gib acht und laß dir erklären, wie ich den Delphin nach unten dirigiere.«

Durch Veränderung seines Sitzes hätte Scott nicht bemerken können, wie der Delphin mit gesenktem Kopfe nach unten fuhr, der Stockschemel blieb immer aufrecht in der Balance. Doch es war nicht nötig, daß der Delphin wirklich nach unten schwamm, er konnte auch wagerecht sinken, wie Nobody gleich zeigte, die Handgriffe dem Freunde immer erklärend.

»Nur frage mich niemals nach dem Wie. Ich kenne nur das Resultat meiner Handgriffe, nicht das Wesen der Erscheinung. Reservoire, die sich füllen und dann beim Heben wieder entleeren, kommen nicht in Betracht, das kann ich sagen, sonst aber auch weiter nichts.«

Obgleich die Bordwände auf Durchsichtigkeit gestellt waren, wurde es immer dunkler, bis einige Glühbirnen aufflammten, deren Licht aber das Wasser außen fast gar nicht durchdrang.

»Achtzig Meter,« las Scott an dem Manometer ab, »fünfundachtzig — neunzig —— hundert — und zehn — und — zwanzig. . . . . .höre auf, Alfred, höre auf, übertreibe den Druck nicht! Hunderteinundzwanzig — zweiundzwanzig . . . Alfred . . .!«

». . . . . .dreiundzwanzig,« ergänzte Nobody,»und weiter geht es auch nicht.«

Eine leichte Erschütterung zeigte an, daß der Delphin auf dem Grund lag.

»Einhundertdreiundzwanzig Meter!« flüsterte Scott. »So tief ist noch kein lebendiger Mensch auf den Grund des Meeres hinabgedrungen! Mein Gott, das entspricht ja einem Drucke von 12 Kilogramm auf den Quadratzentimeter, der auf uns lastet!!«

»Ganz genau 12,3 Kilogramm, nur daß er nicht auf uns lastet, sondern auf jedem Quadratzentimeter der uns umgebenden Eisenplatten. Na, was ist denn da weiter dabei? Das ist noch gar nichts, das ist erst Kinderspielerei! Dieser Delphin kann unter Garantie seiner Unverletzlichkeit bis auf 5000 Meter hinabsinken!«

»Unmöglich!!«

»So steht's wenigstens in dem aufklärenden Buche. Ich selbst möchte keine Garantie übernehmen, daß da nicht irgend etwas platzt oder vielmehr eingedrückt wird. Das kommt mir doch etwas unglaublich vor. Fünfhundert Kilo auf den Quadratzentimeter, das sind fünf Millionen Kilo oder hunderttausend Zentner auf den Quadratmeter — Himmelbombenelement, so einen Druck hält ja nicht einmal eine Kanone von Moses Meier und Kompanie aus! Na, da wollen wir uns einmal umschauen, wie es hier unten aussieht.«

Der Delphin sandte jene erleuchtenden Strahlen aus, immer weiter und weiter verbreitete sich der Lichtkreis, bis die Umgebung des Fahrzeuges in einem Halbmesser von etwa fünfzig Metern tageshell erleuchtet war; das Wasser war durchsichtig wie atmosphärische Luft.

»Das genügt. Der Lichtkreis kann noch bedeutend erweitert werden, aber ich will es nicht übertreiben, damit wächst in dem Apparat auch eine elektrische Spannung, sie ist schon groß genug, und ich kenne die Verhältnisse noch nicht.«

Es war hier unten auch nichts Interessantes zu sehen. Die Tiefe war schon eine zu große. Den Grund, aus zerbröckelten Korallen bestehend, bedeckten einige Schwamm- und Polypenarten, wohl seltene Exemplare, aber aus dieser Tiefe schon mit Fangseilen heraufgeholt und untersucht, und ebensowenig zeigten die vorüberschwimmenden Fische besondere Formen oder sonstige Eigentümlichkeiten. Einige von ihnen kamen auch noch in den höchsten Schichten des Meeres vor.

»Da — was ist das?!«

Auch Nobody hatte es bereits erspäht. Seitwärts von dem Delphin lag auf dem Korallenboden ein menschliches Skelett, die Knochen wohl durcheinander geworfen, aber noch immer vollständig erkennbar, und dort, wo sich einst der Brustkasten gewölbt hatte, lag ein platter, goldglänzender Haufen.

»Da ist jemand von einer großen Goldplatte totgedrückt worden — oder nein, das macht mir den Eindruck eines zusammengedrückten Panzers — oder — ich glaube sogar schon Ringe unterscheiden zu können — ein Kettenhemd. Wir wollen näher hin.«

Nobody drehte verschiedene Hebel, mehrmals — machte ein verdutztes Gesicht. Der Delphin rührte sich nicht von der Stelle.

»Du, Edward, was sagtest du dazu, wenn wir jetzt nicht wieder in die Höhe könnten? Das wäre eine nette Geschichte!«

Er hantierte weiter, ohne Erfolg. Der Delphin wollte sich nicht rühren.

Aber das schien nicht Nobodys Laune zu verderben, er plauderte während seiner erfolglosen Manipulationen in heiterem Tone weiter.

»Da fällt mir übrigens ein, daß es schon zu meiner Kinderzeit solch ein physikalisches oder richtiger physisches Perpetuum mobile gab. Eine zugeschmolzene Glaskugel, halb mit Wasser gefüllt, darin eine Schnecke und eine Wasserpflanze. Die Schnecke frißt die wachsende Pflanze und atmet Kohlensäure aus, welche die Pflanze braucht, die wiederum den der Schnecke nötigen Sauerstoff liefert, dazu zersetzt sie auch das Wasser, aber alles kehrt zurück zur ersten Form, also eine Welt im Kleinen. Man versuchte es mit immer kleineren Schneckchen und Pflänzchen, bis man sich eine kleine Welt an die Uhrkette hängen konnte. Theoretisch ist das ja auch möglich. Mit der Praxis freilich hat's seine Schwierigkeit, wenigstens wenn die Spielerei von Dauer sein soll. Da müssen die Verhältnisse sehr genau abgepaßt werden. Wächst die Pflanze mehr, als die Schnecke fressen kann, so stirbt diese an Platzmangel: hat sie nicht genug zu fressen, so stirbt sie vor Hunger; und ist die Schnecke tot, dann ist die kleine Welt eben entvölkert. Bei meiner Glaskugel war es gerade umgekehrt. Meine Schnecke war eine Dame, die erst vor kurzem in den Stand der Ehe getreten war. Eines Morgens hatte ich in meiner Glaskugel ein paar Dutzend kleiner Schneckchen.

Da mußte ich die kleine Welt aufknacken.— — Ja, was ich sagen wollte — wenn wir nicht wieder nach oben können, dann können wir hier in dieser Glaskugel einhundertdreiundzwanzig Meter unterm Meeresspiegel Schneckens spielen. Schade nur, daß Mr. Cerberus Mojan nicht dabei . . . . jetzt habe ich es kapiert, hier ist es ja!«

Unter Nobodys Hand schwebte der Delphin etwas empor und zeigte einmal, wie er sich durch Schwanz- und Flossenschläge auch direkt seitlich bewegen konnte, bis er sich dicht neben dem Skelett wieder niederließ.

Nobody hatte recht gesehen. Es war ein aus lauter goldenen Ringen bestehender Panzer, ziemlich lang, ein sogenanntes Kettenhemd.

»Der erste Fund, den wir in diesem Unterseeboote auf dem Meeresgrunde machen! Hoffentlich machen wir noch mehr. Gold ist es, sonst hätte es sich nicht im Wasser so blank gehalten. Aber massives Gold kann es schwerlich sein, das wäre dann eine Last, die kein Riese tragen kann, und das scheint mir ein normaler Mensch gewesen zu sein.«

»Können wir das Kettenhemd nicht auf irgendeine Weise mitnehmen?«

»Nichts leichter als das. Na, Edward, dann wäre der Erbauer dieses Fahrzeuges wirklich ein Stümper gewesen, wenn er nicht für so eine Vorrichtung gesorgt hätte. Paß auf, wie das gemacht wird!«

Unten vom Bauche des Delphins kam es wie eine vielfingrige Zange zum Vorschein, und die Gelenkfinger, nach dem Kettenhemd dirigiert, griffen wirklich zu, hoben das goldene Gewand empor.

Rippen und andere Knochen fielen heraus, im Wasser langsam herabschwebend, schneller senkte sich ein kleinerer Gegenstand, von dem ein brillantes Funkeln ausgegangen war.

»Da — was war das?«

»Ich sah es, sehe es noch. Dort zwischen dem Schulterknochen und dem Brustbein liegt es. Es ist eine Platte, von Gold, aber das, was so geblitzt hat, wohl Diamanten, liegt jetzt noch unten. Warte, ich will erst das Kettenhemd in Sicherheit bringen.«

Das Armgestenge mit der Hand reckte sich empor, immer höher, bis das gleißende Gewand sicher auf dem sanft gewölbten Rücken des Delphins lag, um dann so mit nach oben genommen zu werden.

»Man kann jeden Gegenstand auch schon unter Wasser ins Boot bringen, aber mit dieser Einrichtung, bei der es viele Ventile zu öffnen und zu schließen gibt, weiß ich noch nicht Bescheid, das will ich lieber erst einmal an der Wasseroberfläche ohne besonderen Druck ausprobieren.«

Die eherne Hand kehrte zurück und faßte mit einer Geschicklichkeit, wie nur menschliche Finger es fertigbringen konnten, auch die goldene Platte. Jetzt erst, als sie höher gehoben wurde, bemerkte man, daß sie an einer ziemlich dicken, goldenen Kette befestigt war, welche nun ebenfalls mitgenommen wurde.

»Siehst du sonst noch etwas Goldenes oder Blitzendes, einen Ring, einen Schwertknauf oder dergleichen?«

Nein, es war nichts Besonderes zu bemerken. Alles andere, womit der Mann einst bekleidet gewesen, und was er sonst bei sich gehabt, war schon oxydiert, vom Wasser zerfressen, verschwunden. Nur Edelmetall und Edelgestein widerstehen dem Zahne der Zeit.

Die eherne Hand legte die Goldplatte noch einmal hin, und geradezu unheimlich sah es aus, wie sie, unter Nobodys Fingern von einer Art Klaviatur dirigiert, jetzt begann, die einzelnen Knochen zu fassen und wegzuräumen. Es zeigte sich nichts Glänzendes, und nun wirbelte auch der Korallenschlamm zu sehr auf, welcher von jenem Lichte nicht mehr durchdrungen wurde.

So nahm die Hand schnell die goldene Kette mit dem Anhängsel wieder auf, und im nächsten Augenblick stieg der Delphin in wagerechter Lage kerzengerade empor, langsam, und Nobody verlangsamte die Bewegung immer mehr, je näher er der Wasseroberfläche kam.

»Wir müssen uns erst orientieren, ob kein Schiff in der Nähe ist. Der Delphin mit dem goldenen Rückenschmuck dürfte doch Aufsehen erregen.«

Doch die Camera obscura zeigte kein Segel und keinen Schornstein im weiteren Umkreise. Nobody stieg durch die Luke auf den Rücken des Delphins, hob das Kettenhemd und den Schmuck auf, welch letzteren er während des Aufstiegs ebenfalls dort hatte niederlegen lassen, und kehrte zurück.

»Halt! Bevor ich an eine Untersuchung gehe, überhaupt das Zeug nur ansehe, will ich erst die geographische Lage des Ortes bestimmen, wo wir es gefunden haben, falls wir noch einmal darüber Ausweis zu geben haben. Deshalb auch ließ ich den Delphin so schnurgerade aufsteigen, was sonst nicht nötig gewesen wäre.«

Diese Berechnung konnte gleich hier unten geschehen, die Sonne und die Horizontlinie, welche, nebenbei bemerkt, auch bei der aufgewühltesten See für das Auge immer eine völlig gerade Linie ist, war ja durch die auf Durchsichtigkeit gestellte Bordwand zu sehen.

»Fertig und gebucht! Was haben wir da nun gefunden?«

Zum Tragen des Kettenhemdes, das sogar aus einer doppelten Ringlage bestand und bis über den Unterleib ging, auch die Arme bis an die Handgelenke bedeckte, gehörte wohl eine bedeutende Körperkraft, wollte der Betreffende nicht dastehen wie ein Müller mit dem Mehlsack auf dem Rücken, aber massives Gold war es nicht, diese Last hätte dann kein Mensch tragen können.

»Eisen oder Kupfer oder sonst ein leichtes Metall. Feuervergoldung, eine ausgezeichnete Arbeit! O, Edward, was für ein Anblick muß das früher gewesen sein, derartige Kerls, die solch ein Gewicht als Hemd trugen, goldgepanzert, auf dem Haupte den Drachenhelm mit geschlossenem Visier, mit dem zweihändigen Schlachtschwert. . . . .«

Nobody nahm die goldene Kette mit dem Anhängsel zur Hand. Das war massives Gold. Und nun die Platte!

Kreisförmig mit Ausschnitten, zeigte sie in erhabener Prägung einen Tiger, der auf eine sich um einen Baumstamm windende, ihm entgegenzüngelnde Schlange sprang, alles überreich mit großen und kleinen Diamanten besetzt, die ganze Einfassung ein einziger Ring von erbsengroßen Steinen reinsten Wassers, in der Zeichnung selbst herrschten farbige vor, wie z. B. das Fell des Tigers auf diese Weise gemustert war, schwarz und gelb, während zum Laub des Baumes und zum Untergrund grüne Diamanten verwendet worden waren.

»Indisch. Mehr noch als der Tiger und die Pythonschlange läßt der deutlich erkennbare Brotbaum keinen Zweifel zu. Und da ist ja auch die den Indiern heilige Lotosblume. Ein Kunstwerk allerersten Ranges. Das ist unter Brüdern. . . . .ein Fürstentum wert. Wie kommt der Indier im goldenen Kettenhemd hierher? Wer war er? Vor wieviel Jahrhunderten hat er gelebt? Nur an dieses Wappen kann ich mich halten. Da muß ich mich an meinen Heraldiker wenden. Ich fürchte nur, er kann mir wieder einmal keine Auskunft geben. Edward, sagt dir nicht eine Ahnung etwas?«

»Nein. Aber einen Zuschauer haben wir.«

Der Seelöwe war es, der sich wieder eingestellt hatte. Mit seinem mürrisch-gutmütigen Gesicht blickte er durch die Bordwand. So hatte es wenigstens den Anschein.

»Sehen kann er uns nicht, die Bordwand ist nur von innen, nicht von außen durchsichtig.«

»Alfred, bist du dich dessen auch sicher?«

»Gewiß. Ich war ja soeben oben. Da sah ich unter mir nichts anderes als die grauschwarzen Platten.«

»Könnte sich das nicht ändern, wenn der Beschauer selbst sich unter Wasser befindet?«

»Ausgeschlossen. Die Robbe müßte denn ein ganz anders konstruiertes Auge besitzen als der Mensch, und das ist doch wohl nicht der Fall. Der Beweis ist ja vorhanden, daß die Bordwand für das menschliche oder tierische Auge von draußen undurchsichtig ist.«

»Welcher Beweis?«

»Ein indirekter, aber deutlich genug. Beobachte den Schatten, den die Robbe gegen die Bordwand wirft. Dort zeichnet er sich haarscharf ab. Aber hier drinnen? Keine Spur von einem Schatten. Die für uns so wasserhellen Erzplatten, durchsichtiger als Glas, lassen den schwarzen Schatten nicht hindurch.«

Der Kanadier mußte dieses Phänomen bestätigen, und es gehörte seine seltsame Natur dazu, um bei dieser Entdeckung nicht in das größte Staunen zu geraten.

»Nein, Edward, der Seelöwe freut sich nur, seinen alten Bekannten wiedergefunden zu haben, er beschnüffelt den Delphin, seine Augen sind zufällig auf uns gerichtet, und du unterliegst demselben Gefühl, welches auch ich, wie ich schon sagte, zuerst immer unter der Tarnkappe hatte. Wenn jemand nach meiner Richtung blickte, hätte ich schwören mögen, daß er mich sehen könnte. Ob uns der Seelöwe wohl folgt?«

Den Hebel langsam anstellend, ging die Fahrt weiter. Jawohl, der Seelöwe folgte, und obgleich das Boot acht Knoten machte, in der Stunde zwei deutsche Meilen, konnte das Tier noch spielend darunter wegtauchen, es überholen, auch einem vorüberschwimmenden Fische nachschießen, um ihn zu verschlingen; im nächsten Augenblick war der Seelöwe wieder dicht neben dem Boot, alles ohne jede Anstrengung, die Ruderbewegungen der Flossen und des Schwanzes waren kaum merklich.

»Es ist doch erstaunlich, was so eine Robbe im Schwimmen leisten kann! Na, warte, eine Grenze muß dir doch gesetzt sein.«

Schneller und schneller ging es vorwärts. Als der Registrierapparat zwölf Knoten anzeigte, hatte der Seelöwe doch schon Schwierigkeit, zu folgen. Er blieb ständig etwas zurück, und wenn er das Boot wieder einholte, so war das kein schnelleres Schwimmen mehr, sondern ein plötzliches Vorwärtsschnellen durch eine hastige Schwanzbewegung, was naturgemäß immer schwächer werden mußte, weil das eben nur eine extreme Hilfsbewegung war, um einmal für einen Augenblick den schnellsten Fisch erreichen zu können.

Bei sechzehn Knoten kam das Tier nicht mehr mit, bei zwanzig Knoten verlor man es schnell aus den Augen.

»Ja, mein armer Bursche, ich kann dir nicht helfen. Deinetwegen können wir nicht, wenn wir unsere unterseeische und unterirdische Weltreise antreten, immer nur acht Knoten fahren. Na, wir werden schon eine Unterkunft für dich finden, daß wir uns immer einmal wiedersehen.«

Mit langsamer Fahrt ging es in die Bucht der Vulkaninsel hinein. Zum ersten Male warfen die Freunde sehr naheliegende Fragen auf.

Was für eine Explosion war das gewesen, welche das große Unterseeboot vernichtet hatte? Weshalb überhaupt war es hierher nach dieser Insel gekommen? Lag die Vermutung nicht sehr nahe, um so mehr, da der ›Herr der Erde‹, der Mephistopheles, noch unter den Lebenden weilte, daß man von der Frauenrepublik gewußt hatte, und man wollte sich hier bei dieser günstigen Gelegenheit einige bevorzugte Exemplare des weiblichen Geschlechtes aussuchen, um sie in Eis oder sonstwie konserviert der ›Galerie schöner Frauenleiber‹ einzuverleiben?

Nobody hatte diese Fragen berührt, weil er gehofft, Scott könne sie vielleicht in einem seiner unbewußten Zustände beantworten. Direkt auffordern, sich in einen solchen zu versetzen — vorausgesetzt, daß das möglich war — wollte er ihn nicht, und da es nicht freiwillig geschah, Scott mit ganz klarer Vernunft das Hin und Wider erwog, ließ Nobody diese Fragen schnell wieder fallen, sie hatten ja doch gar keinen Zweck. Wenn hier nicht ein Zufall oder ein offenes Geständnis kam, würde das für sie wohl ewig ein Rätsel bleiben.

Sachgemäß aber konnte die Frage erledigt werden, was nun mit dem Wrack anzufangen sei. Ob man es heben wolle, um eine Reparatur zu versuchen? Da sei es gut, vorher mit den Damen in Verbindung zu treten, um sich ihr Eigentumsrecht auf die Insel übertragen zu lassen . . .

Diese Erwägungen wurden dadurch unterbrochen, daß man sich an Ort und Stelle befand. Die Orientierung nach den Spitzen der beiden Vulkane genügte jetzt.

Nobody spähte aufmerksam durch den durchsichtigen Boden zu seinen Füßen hinab.

»Hm. Man sollte meinen, daß man jetzt das Wrack deutlich auf dem Grunde sehen können müsse, das Wasser ist doch klar genug.«

»Ich kann die Konturen unterscheiden,« sagte Scott.

»Ich auch, aber — eben nicht so deutlich, wie ich glaubte. Nun, wir werden ja gleich sehen.«

Der Delphin senkte sich hinab, seine Lichtstrahlen verbreiteten unter Wasser Tageshelle.

»Sapristi, das ganze Ding ist aus dem Leim gegangen!!!«

So war es. Wohl lag der Walfisch noch da, aber eingedrückt, zusammengefallen, ein flacher Schutthaufen.

»Wie ist denn das nur möglich?!« rief Scott.

Wieder wurde Nobody, der sich jetzt nicht zu beherrschen brauchte, von einer Aufregung befallen.

»Weiß der Teufel, ich nicht! Mir geht jetzt aber auch alles verkehrt!«

»Das sieht nicht danach aus, als ob diese Zerstörung von einer zweiten Explosion herrühre. Alle Platten liegen so, als ob nur die Verbindung gelöst worden wäre.«

»Ja, wie bei solch einem Vexierwürfel, der aus lauter einzelnen Stückchen besteht. Nur ein einziges braucht man herauszuziehen — gleich fällt alles zusammen. Edward, wir müssen in den Skaphander. Den Kasten mit dem Kommentar wollen wir trotz alledem suchen. Falls du ihn zuerst erblicken solltest — dort in der Nähe des Kopfes, im Halse des Walfisches, auf Steuerbordseite befindet sich ein Regal, mit zwanzig eisernen Kästchen, jedes so groß wie ungefähr dieses hier, jedes ist mit einem Buchstaben gekennzeichnet, von A bis U — auf den Buchstaben X kommt es mir an, dieser Kasten enthält den Kommentar zu dem Situationsplane.«

»Und die anderen?«

»Weiß ich nicht. Wir könnten uns gleich unter Wasser hinausbegeben, doch wir wollen es lieber von oben machen, es geht vielleicht sogar noch schneller, wir sind ja gleich wieder oben.«

Der Delphin stieg empor.

»Hast du denn die Skaphander mitgenommen?«

Ohne eine Antwort zu geben, kroch Nobody gebückt einige Schritte vor und entnahm einer Art von Verschlag zwei Taucherhelme, von denen die Gummikostüme herabhingen, sowie zwei Ranzen mit Luftbomben.

»Das sind aber doch. . . . .oder ja. . . . .nein, das sind doch andere, wenn sie den unsrigen auch sehr ähnlich sehen!!« rief Scott.

»Sie gehören zur Ausrüstung des Delphins, vier Stück,« entgegnete Nobody. »Hier ist wieder einmal die merkwürdige Tatsache bewiesen, daß dieselben Erfindungen gleichzeitig an verschiedenen Orten der Erde gemacht werden, ganz unabhängig voneinander. Das ist der Geist, auch Genius genannt, der manchmal über die Erde weht, und wer seine flüsternde Stimme vernimmt, der kann ihn auch fassen, der Gedanke verwandelt sich zur Tat, und der Gedanke ist eines Ursprunges. So ist es gekommen, daß im Jahre 1840 Jakobi in Petersburg und Spencer in London gleichzeitig die Kunst der Galvanoplastik erfanden, ohne voneinander und von ihrem Experimente in stiller Studierstube die geringste Ahnung zu haben.«

Während dieser Worte hatte Nobody die beiden Taucherkostüme handbereit hingelegt.

»So ist es auch hier,« setzte er noch hinzu. »Die Erfindung des Skaphanders ist ja eigentlich nicht von mir, ich habe ihn nur zum Unterseetauchen so weit vervollkommnet — und nun entdecke ich hier, daß mir das alles schon ein anderer vornewegerfunden hat. Alles genau so wie bei meinem Apparat. Nur das Kostüm ist viel praktischer. Das ist ein Teufelszeug von einem gummiartigen Stoff, scheinbar für ein kleines Kind berechnet, aber auch passend für den längsten Kerl, so dehnbar ist der Stoff. Das Buch enthält ebenfalls eine Beschreibung, alles stimmt genau überein, wir können uns ihm ruhig anvertrauen.«

Sie legten die Taucherkostüme an und ließen sich vom Rücken des Delphins hinabgleiten.

Wir wollen diese Durchsuchung der Wracktrümmer nach den betreffenden Kästen nur kurz beschreiben, um schnell zur Hauptsache zu kommen.

Eine Ursache des Zusammenfallens des ganzen Walfisches konnte Nobody nicht entdecken. Aus dem Leime gegangen — das war hierfür der einzige zutreffende Ausdruck.

Sie brauchten nur vorn einige der Platten wegzuräumen, was unter Wasser ohne Anstrengung geschah, so hatten sie schnell die mit Buchstaben gekennzeichneten Kästen gefunden. Nobody nahm den mit X markierten und wenige andere mit, ebenso Scott.

Als sie den Rückweg nach der Oberfläche antraten, hatte sich der Seelöwe wieder eingestellt, die ihm nun schon bekannten Gestalten mit Freuden begrüßend, das durch sein spielendes Schwimmen wie auch im Gesicht ausdrückend.

Sie gingen nicht erst in den engen Raum hinab, die Untersuchung der Kisten fand gleich auf dem Rücken des Delphins statt, wozu sie nur die Taucherhelme abschraubten.

Jeder Kasten zeigte vorn einen Knopf, Nobody drückte darauf, sofort sprang der Deckel auf — der Kasten war leer! Und Nobody hatte den ersten Versuch bei dem betreffenden mit einem X bezeichneten gemacht!

»Vielleicht befindet sich der Kommentar in einem anderen Kasten,« meinte Scott.

Eine Schatulle nach der anderen ward geöffnet, jede enthielt etwas, aber nur Seekarten, und zwar käufliche — der Kommentar zu einem Situationsplane, doch offenbar ein Buch, war nicht dabei, und er wurde auch nicht in den anderen Kästen gefunden, welche sie durch mehrmaliges Tauchen heraufbeförderten.

Daß Nobody sonst noch zwischen den Planken suchte, hatte gar keinen Zweck. Herausgefallen aus dem Kasten konnte das Buch nicht sein, sonst hätte der Deckel offenstehen müssen.

»Na, dann eben nicht! Und recht so, ich hatte es mir ja gewünscht. Jetzt lassen wir alles liegen, wie es liegt. Nun machen wir noch eine kleine Probefahrt, dann beraten wir, welcher Station wir uns zuerst zuwenden.«

Sie begaben sich wieder in das Innere des Delphins hinab. Scott war zuerst die wenigen Sprossen hinabgeklettert, dicht hinter ihm Nobody.

»Edward!«

Es hatte so eigentümlich geklungen, daß sich der junge Kanadier hastig umwendete — und noch eigentümlicher war plötzlich das Aussehen Nobodys, wie er so dastand, mit großen Augen sich wie scheu umblickend, dann den Freund ansehend.

»Was hast du denn, Alfred?!«

»Ich ich ich ich——hier ist ein fremder Mensch gewesen.«

»Ein fremder Mensch?!«

»Ja. Ich ich ich ich —— hier ist jemand Fremdes drin oder drin gewesen. Das das das — ich rieche es — nein, ich fühle es — — in so etwas mache ich dir Konkurrenz, da bin ich sensitiv wie ein hysterisches Frauenzimmer — pardon, das meinte ich nicht — aber — aber — mir liegt etwas auf der Lunge — hier ist ein fremder Mensch gewesen!«

Kurz und gut, Nobody war ganz verstört. Doch nur in seiner Ausdrucksweise, nicht in seinen Handlungen. Er begann sofort den Raum zu untersuchen, und wie fest er seiner Ueberzeugung war, das zeigte die Gründlichkeit, mit der er dies tat.

Ja, es sah sogar unheimlich aus, wie er dabei immer mit den Händen ins Leere tastete, als wolle er ein unsichtbares Phantom greifen.

»Ach, Alfred, du irrst dich!«

Nobody schien auch zu dieser Ansicht gekommen zu sein. Er roch an dem Taucherkostüm aus Gummi, das er noch trug.

»Hm. Sollte ich mich durch diesen fremden Geruch beeinflussen lassen? Aber es ist mir doch gerade — ich weiß nicht . . . . . . ach, Unsinn!!«

Mit einer energischen Kopfbewegung hatte er einen ihm unangenehmen Gedanken abgeschüttelt, den er als einen irrigen erkannte, sprach mit keinem Wort mehr davon, entledigte sich wie Scott des Kostüms, schloß die Luke, beide setzten sich auf ihre Plätze vor den Dirigierapparat.

»Nun will ich dich näher einweihen, wie man die verschiedenen Schnelligkeiten einstellt. Beobachte zuerst den Registrierapparat. Was gibt er jetzt an?«

»Der Zeiger steht auf Null.«

»Und jetzt?«

»Auf ein halb.«

Langsam, ganz langsam setzte sich der Delphin in Bewegung, behielt diese Fahrt bei, bis man in die langgestreckte Bucht kam. Der Seelöwe immer voraus, durch Spielen seinen großen Freund von Eisen gleichsam einladend, ihm doch schneller zu folgen.

»Ich steigere nach und nach die Geschwindigkeit. Lies immer laut ab. Ich will dich dann nämlich auf etwas aufmerksam machen, wodurch sonst leicht ein Irrtum geschehen kann. Nun?«

»Ein Knoten — anderthalb — zwei — drei — vier — fünf — sechs — sieben — acht . . . . .«

»Na, weiter,« ermunterte Nobody, der immer den Hebel rückte, als Scott eine Pause machte.

»Der Zeiger steht auf acht.«

»Er muß doch schon auf zehn stehen!«

»Auf acht.«

Nobody blickte auf den Registrierapparat — es stimmte, der Zeiger wies auf acht.

»Hm, der Registrierapparat scheint nicht zuverlässig zu sein.«

»Oder die Geschwindigkeit steigert sich nicht.«

»Das wäre ja noch schöner!«

Der Unterschied zwischen acht und zehn Knoten Schnelligkeit war mit dem Auge nicht wahrzunehmen. Nobody drehte den Hebel — zwölf — fünfzehn — zwanzig — fünfunddreißig Knoten.

Die Schnelligkeit nahm nicht zu. Mit Leichtigkeit schwamm der Seelöwe neben seinem eisernen Freund, tauchte unter ihm weg, lud ihn zum Spielen ein, schnappte auch einmal einen mundbereiten Fisch.

Langsamer konnte Nobody das Boot gehen lassen — doch über eine Schnelligkeit von acht Knoten brachte er es nicht mehr hinaus, er konnte probieren und untersuchen, wie er wollte, er fand den Fehler nicht.

Da sah Scott, wie Nobody so starr nach der spielenden Robbe blickte, derselbe starre Blick traf ihn selbst, er irrte suchend in dem engen Raume umher, und Scott wußte genau, was für Gedanken jetzt hinter dieser hohen Stirn arbeiteten — aber als Nobody die fest zusammengepreßten Lippen öffnete, waren es ganz andere Worte.

»Der erste Defekt,« sagte er ganz ruhig, sogar gleichgültig. »Hoffentlich werde ich ihn bald beseitigen können. Wir wollen gleich nach der ›Wetterhexe‹ zurück.«

 

—————

 

 

III.
Des Meeres und der Seele Rätsel.

 

Nobody war nur nach der ›Wetterhexe‹ zurückgekehrt, um sein und des Freundes Gepäck abzuholen und die beiden Matrosen mitzunehmen, wozu er natürlich erst Kapitän Flederwisch sprechen, sogar dessen Erlaubnis haben mußte.

Höchstens auf den Nasenkönig hätte Nobody Anspruch erheben können. Denn, wie schon im Anfang gesagt, als Flederwisch und ›Wetterhexe‹ in unserer Erzählung auftauchten, hatte Nobody diesen Matrosen, dem eine gütige Natur als ausgleichenden Ersatz für seine Mißgestalt einen aufgeweckten Sinn und ein goldenes Herz gegeben, in dem auch beim trübsten Schicksalswetter einiger Sonnenschein herrschte, schon von früherher gekannt, hatte ihn für seine eigene Person an Bord der ›Wetterhexe‹ genommen.

Flederwisch befand sich in seiner eleganten Kabine und . . . . machte sich schön. Waschen, kämmen, bürsten, striegeln, wichsen — das sind triviale Ausdrücke. Schönmachen sagt alles.

Und wenn man an Bord seines Schiffes einundachtzig Damen als Gäste hat, von denen neunundneunzig vier Fünftel Prozent jung und hübsch sind — das fehlende ein Fünftel Prozent war eine bebrillte Klapperschlange und hieß Miß Field — die meisten sogar sehr hübsch, einige sogar wunderhübsch oder einfach bezaubernd — Teufel, soll man sich da nicht schön machen! — Besonders, wenn man manchmal vergißt, daß man zu Hause schon Frau und Kinder hat.

»Nun, bist du zurück von deiner Probefahrt?« fragte Flederwisch, der eben seinen Kinnbart schön machte.

»Wie du siehst.«

»Nun, klappte alles?«

»Nein, eben nicht. Ein Mechanismus versagt, ich kann den Delphin nicht mehr schneller als acht Knoten laufen lassen.«

»Aha!!« rief mit einem wahrhaft schadenfrohen Vergnügen Flederwisch, die Schönmacherei jetzt auf den Schnurrbart erstreckend. »Siehst du, das habe ich mir gleich gedacht, daß das Ding nischt taugt. So etwas kommt bei meiner ›Wetterhexe‹ nun freilich nicht vor. Ich hab's mir überhaupt überlegt — ich will dein Ding gar nicht sehen, mir genügt mein Schiff, das kenne ich, und damit will ich zufrieden sein — nee, ich will dein Ding lieber gar nicht sehen.«

Wenn Flederwisch immer so dachte, dann war er ein glücklicher Charakter. Nun — immer glücklich war er ja sowieso — dann hatten die sieben Weisen noch einen Kollegen bekommen.

Und Nobody war mit dieser entsagungsvollen Weisheit seines Freundes sogar sehr zufrieden, das ersparte ihm viel Zeit und viele Worte.

»Nee, weißt du,« fuhr Flederwisch fort, jetzt das Schönmachen der Kopfhaare vornehmend, »behalte nur ruhig dein Ding, und ich. . . . .«

». . . und du behältst dein Ding, jawohl,« fiel ihm Nobody ergänzend ins Wort. »Zwischen unseren Dingern ist nur ein großer Unterschied. Mein Ding gehört wirklich mir, denn mein Ding ist verlorenes Seegut und gehört rechtmäßig dem Finder — dein Ding aber ist eigentlich mein Ding, du hast mir die ›Wetterhexe‹ ja noch gar nicht bezahlt.«

Nobody wußte, daß er dies sagen durfte, ohne seinen Freund zu kränken, übrigens war es ja auch die Wahrheit, doch Flederwisch war viel zu genial veranlagt, um an solche Kleinigkeiten zu denken, und was diese Bemerkung anbetraf, daß er die ›Wetterhexe‹ noch gar nicht bezahlt habe, allerdings nur aus Vergeßlichkeit, das zeigten seine nächsten Worte:

»Du, Alfred, du kannst mir mal meine Krawatte binden, du hast das so fein raus. Gib ihr so einen eleganten Schwung, du weißt schon.«

Nobody tat ihm die Gefälligkeit, und während er den langen Schlips band, brachte er sein Ansinnen vor, Jochen Puttfarken und Anok mitzunehmen.

Diesmal ging's dem langen Flederwisch etwas nahe. Aber ebenso selbstverständlich, wie Nobody nicht befehlen konnte, sondern seine Worte in die Form eines Anliegens kleiden mußte, ebenso selbstverständlich hatte Flederwisch auch nichts dagegen einzuwenden.

»Nimm sie mit — aber, Alfred, nicht wahr, du behandelst sie gut und läßt sie nicht hungern? So, ich danke dir, ich bin mit dir zufrieden, die Krawatte sitzt sehr gut — der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.«

»Der Mohr hat seine Arbeit getan, heißt es,« korrigierte Nobody.

»Nanu! Oder wenn nicht Schuldigkeit, dann Pflicht.«

»Wetten, daß es Arbeit heißt? Mein Ding gegen dein Ding.«

Aber Flederwisch war von der Zitatensicherheit seines Freundes doch zu sehr überzeugt, um auf eine Wette einzugehen.«

Man kann nämlich mit Sicherheit annehmen, daß die Worte des Mohren in Schillers ›Fiesko‹, die letzten im 4. Auftritt 3. Akt, unter hundertmal neunundneunzigmal falsch zitiert werden. Es ist auch merkwürdig genug, warum Schiller hier kein Versmaß eingehalten hat.

»Na, dann hast du Neger eben deine Arbeit getan — mach', daß du hinauskommst, herunter von meinem Schiff!!«

Nobody hätte wirklich gleich gehen können. Diese Männer waren schon so an das Abschiednehmen gewöhnt, eigentlich stets für immer, daß sie manchmal den Abschiedsgruß vergaßen. Dementsprechend war aber auch manchmal das Wiedersehen, besonders, wenn es unerwartet kam, wie schon früher öfters geschildert wurde.

Nobody hatte noch den Türgriff in der Hand.

»Wohin bringst du die Damen?«

»Wohl nach New-York, wenn die Damen nicht anders wünschen — vorausgesetzt, daß sich achtzig Weiber über ein Reiseziel einig werden können. Sonst geht's nolens volens nach New-York.«

»Es sind einundachtzig,« mußte der manchmal pedantische Detektiv verbessern.

»Achtzig. Die eine ist kein Weib, sondern eine bebrillte Klapperschlange oder eine klappernde Brillenschlange. Pfui Spinne är!«

»Flederwisch, ehe ich gehe, möchte ich dich noch auf etwas aufmerksam machen.«

»Worauf?«

»Daß dein eigentlicher Name Paul Müller ist und nicht etwa Ibrahim Pascha.«

»Was willst du damit sagen?« fragte Flederwisch mißtrauisch.

»Daß du kein Türke, sondern ein Christ bist.«

»Was willst du damit sagen?«

»Und ein Christ darf nur eine Frau haben.«

»Ja, Alfred, was willst du eigentlich damit sagen?« wiederholte Flederwisch immer wieder mit unschuldigem Gesicht. »Was sollen diese mir ganz unverständlichen Bemerkungen? Worauf spielst du an?«

»Na, nun höre bald auf! Die eine Frau, die jeder Christ nur haben darf, hast du bereits.«

»Du meinst doch nicht etwa, daß ich schon verhei. . . . . .«

Flederwisch blickte auf seine gespreizte rechte Hand, die von keinem goldenen Fingerreif geschmückt wurde, machte ein höchst erstauntes Gesicht — aber noch erstaunter wurde dieses, als er dann, Nobody anblickend, in dis Westentasche griff.

»Alle Wetter — ja — richtig — ich habe ja schon eine Frau! — Hier in der Westentasche! Alfred, ich bin dir sehr dankbar, daß du mich noch rechtzeitig daran erinnert hast.«

Nobody hätte gehen können, ging aber immer noch nicht.

»Es ist nämlich mein Ernst — du kennst doch das alte Lied: Und wer nicht liebt, Wein, Weib und Gesang. . . . .«

»Der bleibt ein Narr sein Leben lang,« viel Flederwisch gleich mit Bruststimme ein.

» . . . nein, der behält seine Haare und lebt recht lang. Dein Haar beginnt sich nämlich schon ganz bedenklich zu lichten.«

»Mein Haar?« lächelte Flederwisch und fuhr über seinen adonischen Lockenkopf. »Alfred, du leidest an Gesichtshalluzinationen.«

»Blicke nur mal in den Spiegel, was für einen Heiligenschein du schon bekommst.«

»Heiligenschein!« wiederholte Flederwisch mit siegesbewußtem Lächeln, sich aber doch dem Spiegel zuwendend. »Wo denn?«

»Na, vorn auf der Nase natürlich nicht. Ich will meinen Taschenspiegel hinter dich halten, dann kannst du deinen Hinterschädel sehen.«

Nobody hatte schon seinen zusammenklappbaren Taschenspiegel hervorgezogen, auch so ein eigentümliches Instrument, mit dem der Detektiv und Verwandlungskünstler immer versehen war, hielt ihn hinter Flederwisch — und zum Tode erschrocken starrte dieser in den großen Wandspiegel, in dem er nun auch seinen Hinterkopf sehen konnte.

Denn eine mächtige Glatze, bis in den Nacken gehend, war es, die ihm da entgegenleuchtete, und dieser Kopf gehörte ihm selbst an, daran war kein Zweifel, sah er doch auch seinen Anzug, und waren es doch auch seine Hände, die jetzt schnell nach der Glatze tasteten.

Es braucht wohl nicht erst bemerkt zu werden, daß Flederwisch dennoch sein Hinterhaupt reichbelockt fühlte. Der unvergleichliche Taschenspieler hatte es auf irgendeine Weife fertiggebracht, ihm ein falsches Spiegelbild vorzugaukeln, vielleicht nur durch Anwendung seiner reflektierten Handfläche — die Hauptsache aber war, daß sich Flederwisch eben hatte verblüffen lassen, sonst wäre er doch nicht so hastig mit den Händen nach der vermeintlichen Glatze gefahren, und Nobody brach in ein schallendes Gelächter aus.

»Alfred, solche dumme Witze verbitte ich mir,« wandte sich Flederwisch gekränkt an ihn, »meinetwegen mache mit mir, was du willst, mich kann nichts schrecken, praktiziere in mein Bett eine Klapperschlange, oder eine Brillenschlange, oder meinetwegen beide zugleich, wenn's nur keine bebrillte Klapperschlange oder klappernde Brillenschlange ist — aber meine unwiderstehliche Mannesschönheit darfst du nicht beleidigen, das bitt' ich mir aus.« —

Niemand wird behaupten wollen, daß diese beiden Menschen, die sich wirklich gegenseitig als Freunde ans Herz gewachsen waren, von Traurigkeit geplagt wurden, wenn sie voneinander Abschied nahmen, vielleicht für immer. Nun wolle man sich z. B. des unvermuteten Wiedersehens der beiden Freunde nach langjähriger Trennung in Batavia erinnern.

Cerberus Mojan schlief. Den weckte Nobody gar nicht erst, um sich von ihm zu verabschieden. Da war ein gesunder Schlaf wirklich mehr wert, der ist einfach unbezahlbar — besonders wenn man dabei so schnarchen kann.

Helle Jubelrufe erklangen, als Jochen und Anok erfuhren, daß sie ihren Kleidersack packen sollten, aber nur das Allernotwendigste hinein, um den geliebten ›Master‹ im Delphin zu begleiten.

Und der Abschied der beiden Matrosen von ihren Kameraden war nicht viel anders. Es waren eben Seeleute, die gewohnt sind, monatelang, jahrelang zusammen im Mannschaftslogis das denkbar engste Freundschaftsleben zu führen, in Not und Tod zusammengeschweißt, von einer einzigen Faust hängt auf der Rahe das Leben der ganzen Crew ab — aber ob es wohl oft vorkommt, daß sich nach der Abmusterung zwei solche Matrosen die Hand zum Abschied reichen? Meistenteils verlieren sie sich . . . im Suff! Und das ist zur Gewohnheit geworden. Das liegt in der Großzügigkeit ihres ganzen Lebens, ihres Berufs.

»Na, da mach's gut, Anok.«

»Ja ja, nee nee.«

»Un schriev mi mal, Jochen. An de Waterkant Fockmast Stürbordsiet fiefte Etaaahsch, da bin ick tu Hus.«

Dann schwamm der Delphin davon. Flederwisch blickte ihm nach.

»Was ist denn das für ein Ding?« erklang da erstaunt eine helle Stimme hinter ihm.

Wie sich Flederwisch umwandte, und zwar wie zum Tode erschrocken, stand vor ihm eine der Amazonen, ein junges, sehr hübsches Mädchen, die erste, die sich erholt und das Zwischendeck verlassen hatte, und sofort war sie sich bewußt gewesen, ein Weib zwischen Männern zu sein, sie hatte sich gewaschen und nach Möglichkeit frisiert, und wie sie eine Decke eng um sich geschlungen hatte, wie das Käppi auf dem Ohre saß, war es eine ganz reizende Erscheinung.

»Was ist denn das für ein Ding?« fragte sie mit erstaunten Augen.

Jetzt fing die auch schon zu ›dingern‹ an!

Und da geschah etwas ganz Seltsames. Kapitän Flederwisch, dieser sonst so vollendete Kavalier, der sich mit einem Dutzend eleganter, espritvoller Damen unterhalten konnte und dabei kraft seines Geistes und kraft seiner Weltgewandtheit sofort die Situation beherrschte — dieser selbe Flederwisch war dem jungen Mädchen gegenüber die Verlegenheit selbst, er verlor seine Fassung auch vollständig!

Daran war die Macht der Gewohnheit schuld. Er war durchaus nicht gewöhnt, an Bord seines Schiffes ein weibliches Wesen zu sehen. Das wußte ja auch Nobody, er machte nur Scherz, wenn er seinen Freund mit solchen Beziehungen aufzog. In dieser Hinsicht hielt Flederwisch sein geliebtes Schiff rein — wie er sich nämlich selbst ausdrückte.

Schon als er hinter sich nur eine weibliche Stimme gehört, war ihm der Todesschreck durch alle Glieder gegangen. Und nun stand er wie ein begossener Pudel da. Eine junge Dame an Bord seines Torpedojägers! Wie war das möglich? Wurden denn die schwarzen Eisenplanken vor Scham nicht gleich rot?

Er wollte sich aufraffen, wollte in seiner Weise witzig plaudern, aber es mißlang kläglich.

»Das — das — das, meine Gnädige, ist so ein Ding, was immer im Wasser schwimmt. Sozusagen ein Fisch, jawohl, ein Fisch, das heißt eigentlich kein Fisch, sondern so ein Fisch, welcher keine Eier legt, sondern gleich lebendige Junge zur Welt bringt und sie auch selber stillt — gerade wie wir Menschen — nur daß er dabei im Wasser schwimmt — das ist aber auch der einzige Unterschied zwischen einem Delphin und einem Menschen — die Anwesenden natürlich immer ausgenommen . . .«

Der an seiner Halsbinde würgende Flederwisch war sich unklar bewußt, was für fürchterlich dummes Zeug er da zusammenredete, wollte es wieder gutmachen und faselte sich dadurch nur immer mehr hinein.

Zu seinem Glück stand die junge Dame, erst einer Katastrophe entgangen, noch selbst so unter dem Banne der ihr gänzlich fremden Umgebung, daß ihr sein Gequatsche gar nicht auffiel. Oder vielleicht wurde so an Bord jedes Schiffes gesprochen. Das war Seemannslatein.

»Ein Delphin?! So ein großes Tier! Ich hatte gar nicht geglaubt, daß ein Delphin so groß wird.«

»O, es gibt noch viel größere!« beeilte sich Flederwisch zu versichern. »Aber es gibt auch kleinere Delphine. Es gibt ganz große und ganz kleine. Es gibt mittlere. Es gibt — es gibt — alle Sorten. Ganz, wie Sie wünschen. Gnädige. . . . .«

»Auch der Delphin ist ein Walfisch, nicht wahr?«

»Nicht immer. Je nachdem. So zum Beispiel braucht nicht jeder Walfisch ein Delphin zu sein. Das kommt ganz auf Ihren Wunsch an, meine Gnädige, Sie brauchen nur zu bestimmen. . . . .«

Heiliger Klabautermann, stöhnte Flederwisch innerlich, was ist denn nur mit mir los?! Und das ist erst eine einzige von den achtzig!!

»Ist es wahr, daß der Walfisch nicht einmal einen Hering verschlucken kann?«

»Nicht immer. Je nachdem. Es kommt ganz darauf an, wie groß der Hering ist — einen neugeborenen Hering z.B. kann der Walfisch mit Leichtigkeit verschlucken — natürlich darf der neugeborene Hering noch nicht seine volle Größe erreicht haben — und dann immer vorausgesetzt, daß der Walfisch überhaupt größer ist als der Hering . . .«

Ein eiskaltes Entsetzen über sich selbst, dann gab es in der Maschinerie des Herzens einen Ruck, und mit einem Male hatte Flederwisch seine vollkommene Fassung wieder.

»Ich beglückwünsche gnädiges Fräulein zu . . .«

Es sollte eben nicht sein. Alle himmlischen und irdischen Mächte hatten sich gegen den Helden, der schaukelnden Deckplanken und des glatten Salonparketts verschworen, um ihm eine eklatante Niederlage zu bereiten, an der er sein ganzes Leben zehren konnte.

Das gnädige Fräulein bekam plötzlich ganz große Augen, diese starrten mit dem Ausdruck des Entsetzens auf seine Brust.

»Was — was — kriecht Ihnen denn da für ein langer Wurm aus dem Halse—iiiiiiiihhhh!«

Und mit einem gellenden Zetergeschrei rannte das gnädige Fräulein davon.

Flederwisch hatte bereits gemerkt, daß auf seiner Brust etwas nicht in Ordnung war, irgend etwas Unheimliches passierte, er hatte von unten her so einen weißen Schimmer im Auge, und wie er hinblickte, sah er einen langen, weißen Wurm herabhängen, der mit rapider Schnelligkeit immer mehr wuchs — Flederwisch griff mit der einen Hand zu, wie weiland der kleine Herkules, um die ihm von Juno geschickte Schlange zu ersticken, und er hatte in der einen Hand eine lange Nudel — aber der Wurm wuchs immer lustig weiter aus der Brust heraus — Flederwisch griff mit der anderen Hand zu und hatte auch in dieser Hand eine lange Nudel — und dann schlenkerte er die beiden Bandwürmer von sich und riß seinen Schlips ab — und seine Ahnung hatte ihn nicht betrogen — der Schlipsknoten enthielt eine kleine Patronenhülse, und aus dieser kroch noch immer der unsterbliche Wurm hervor — eine Nudelfabrik im Kleinen — ein Werk des Teufels — und diesmal hieß der Teufel ›Nobody‹!

Was für eine Bewandtnis hatte es mit dieser verhexten Patronenhülse? Nun, es handelte sich wohl um eine jener Eiweißpillen, deren Ausdehnungsvermögen Mr. Cerberus Mojan einmal in seinem eigenen Magen ausprobiert hatte — in eine dünne, lange Patronenhülse gesteckt, deren anderer Hohlraum mit Wasser gefüllt war, die beiden Substanzen zunächst durch eine Scheidewand getrennt, die sich erst mit der Zeit im Wasser auflöste — vielleicht hatte Nobody diesen Scherzartikel zu einem anderen Zwecke präpariert und ihn schon in der Tasche gehabt — er hatte ihn in des eitlen Flederwischs Schlips praktiziert.

Wie Flederwisch seine verlorene Ehre wiederherstellte, das war seine Sache.

 

—————

 

Wir hatten einen ganz besonderen Grund, diese humoristischen Unterhaltungen und Szenen zu schildern, die sich an Bord der ›Wetterhexe‹ kurz vor der Abfahrt des Delphins abspielten.

Eigentlich nämlich hätte Nobody äußerst niedergeschlagen sein müssen, und das um so mehr, als er schon im voraus ganz bestimmt wußte, daß er den Fehler, den das Unterseeboot plötzlich im Mechanismus zeigte, nicht finden und beseitigen könne.

Und das Unterseeboot, welches fünfunddreißig Knoten zu machen imstande war und die höchste Schnelligkeit nur noch auf acht Knoten brachte, war für ihn so gut wie wertlos.

Denn wenn sich jemand nach seinen eigenen Angaben eine Villa bauen läßt, und der Architekt verbaut sie, dann ist die Villa für den Betreffenden wertlos. Oder wenn sich jemand eine Repetieruhr kauft, und die Uhr repetiert nicht, so ist sie, mag sie sonst auch ein noch so vorzüglicher Chronometer sein, für den Besitzer gleichfalls wertlos.

In dieser Lage befand sich Nobody. Der Delphin, der nicht einmal den vierten Teil der Schnelligkeit mehr entwickelte, die er haben sollte, die Nobody auch schon benutzt hatte, mußte für ihn allen Wert verloren haben.

Das heißt, so wäre folgerichtig zu schließen.

Nun aber bestimmt den Wert oder die Wertlosigkeit eines jeden Dinges nicht dieses selbst, sondern das macht der Mensch aus seinem Innern heraus.

Bilde dir ein, der Baumeister habe deine Pläne noch übertroffen, und du wirst von der verbauten Villa entzückt sein. Bilde dir ein, das Gebimmele nicht mehr vertragen zu können, und die verknackste Repetieruhr wird für dich noch an Wert gewinnen.

»Bilde dir ein,« sagte der göttlich weise Philosoph Thomas Carlyle mit seinem teuflischen Hohn, »du verdientest gehangen zu werden (was wahrscheinlich auch der Fall ist), und du wirst es dir zur Ehre anrechnen, erschossen zu werden, und glücklich wirst du dich preisen, wenn du zum Leben begnadigter Lump nur eine Hundehütte und ein Stück Brot hast.«

Was Nobody sich einbildete, wissen wir nicht. Einbildungskraft hatte dieser Detektiv trotz aller seiner praktischen Nüchternheit genug. Jedenfalls hatte er sich mit dem sicheren Bewußtsein, seine kaputte Repetieruhr niemals wieder reparieren zu können, zur eigenen Zufriedenheit abgefunden, sonst hätte er doch nicht solch einen Abschied genommen. Und das muß man auch können, und wer es nicht kann, der ist ein unglücklicher Schwächling.

Noch eine halbe Stunde beschäftigte sich Nobody mit dem Suchen nach dem Fehler, dann gab er es auf.

»Na, dann fahren wir eben nur noch mit acht Knoten. Wenn das nur jeder Dampfer könnte! Vielleicht auch kommt mir ein Zufall zu Hilfe. Oder, Edward. . . . .«

Aber der Kanadier wollte den von der Seite auf ihn gerichteten Blick mit der stummen Frage nicht verstehen, er beteuerte gar nicht erst, daß ihm keine hellsehende Ahnung etwas sage, er wußte eben nichts, so wenig wie der Seelöwe, welcher lustig spielend neben seinem eisernen Freunde schwamm.

Sinnend ruhte Nobodys Blick auf dem Tiere.

»Er will uns nicht verlassen. Durch das Versagen des Mechanismus haben wir einen treuen Freund als Begleiter gewonnen.«

»Aber einmal muß er doch Zurückbleiben,« sagte Scott. »Selbst wenn er uns den ganzen Tag lang folgen kann, so bedarf er doch des Schlafes, und für seinen eisernen Freund gibt es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht. Das arme Tier!«

»Nun, ich wäre gar nicht so abgeneigt,« meinte Nobody, immer noch seinen Blick durch die glasartige Bordwand hindurch so träumerisch auf den spielenden Seelöwen geheftet, »wegen dieses Tieres während der Nacht zu stoppen, auch sonst Ruhepausen zu machen.«

»Wie, das würdest du tun?!« rief der sonst über alles Staunen, über Schreck und Freude erhabene Kanadier mit freudiger Ueberraschung, und daß er über solch eine Kleinigkeit seinen Gleichmut verlieren konnte, das gereichte seinem Charakter zur höchsten Ehre.

»Ja. Das mit dem Seelöwen ist doch nicht eine so einfache Geschichte.«

»Was willst du damit sagen?«

»Nun, ich zweifle nicht mehr, daß dieser Seelöwe direkt zu dem großen Unterseeboote gehört hat, auch im Innern seinen Platz hatte.«

»Das ist ganz sicher.«

»So hat auch er zu der Besatzung gehört, und er ist das einzige Wesen, welches der Katastrophe entronnen ist. Jetzt will er mit uns Freundschaft machen, als Besitzer des ihm vertrauten Delphins betrachtet er uns als seine Herren.«

»Ja, wenn das sonst so kluge Tier nur sprechen könnte!«

»Erzählen kann der einzige Ueberlebende uns eben nichts. Aber sollte die Mannschaft dieses eisernen Walfisches den Seelöwen nur deshalb bei sich gehabt haben, um ihn zu füttern und sich an seinem Schwimmen zu ergötzen? Bedenke, Edward, wir haben es mit dem Herrn der Erde zu tun, und wir haben schon gesehen, wie er sogar einen Eisbären zu zähmen verstanden hat.«

»Du meinst, der Seelöwe ist zu irgend etwas abgerichtet?«

»Das glaube ich bestimmt.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Das möchte ich eben erfahren. Bisher hat er ja noch gar keine Gelegenheit gehabt, uns seine Dienste anzubieten. Ich bin fest entschlossen, wegen dieses Tieres manchmal den Delphin stoppen zu lassen, dem Seelöwen immer Gelegenheit zu geben, uns folgen zu können, und selbst wenn ich noch fünfunddreißig Knoten fahren könnte, und wenn mir Gefahr drohte, ich würde diese Schnelligkeit nicht benutzen, wenn ich dadurch das Tier als Begleiter verlieren sollte.«

Wieder war es, als ob die draußen schwimmende Robbe diese Zusicherung gehört habe, so schwamm sie jetzt heran und stieß mit dem Kopfe gegen die Bordwand, und wieder hatte besonders Scott das bestimmte Gefühl, als könne sie durch die Bordwand blicken.

Und Nobody? Mischte sich jetzt nicht seinem sinnenden Blicke, mit dem er den Seelöwen betrachtete, offenes Mißtrauen bei?

Und auch Scott hatte seine eigenen Gedanken. Doch die beiden Freunde sprachen sich hierüber nicht aus, was auch keinen Zweck gehabt hätte.

»Du hast noch immer gar kein Ziel angegeben, Alfred.«

Ohne vorläufig ein Wort zu sagen, breitete Nobody auf dem herabgeklappten Tische wieder den farbigen Situationsplan aus.

»Nur bei oberflächlicher Betrachtung erscheint es,« nahm er dann das Wort, »als ob die Karte außer den auch uns bekannten geographischen Kennzeichen nur verschiedenfarbige Punkte und Kreise enthalte. Diese herrschen eben vor, sie fesseln das Auge am meisten. Es sind aber auch noch viele andere Zeichen eingetragen.«

»Jawohl, hier z.B. sind kleine Kreuze.«

»Kreuze überall, man muß nur richtig hinsehen, besonders hier in Amerika wimmelt es von solch kleinen Kreuzen. . . . . .«

»Und hier sind Häkchen.«

»Und hier Fragezeichen, hier doppelte Kreuze, hier kleine Vierecke, und so kommt noch eine ganze Masse Zeichen in Betracht.«

»Was mögen die zu bedeuten haben?«

»Da uns der Kommentar fehlt, müssen wir selbst alles nach und nach herausfinden, und das dürfte eine ungeheuer langwierige Arbeit werden. Diese Karte ist mit einer staunenswerten Sorgfalt ausgeführt worden. Betrachte dir nur allein diese Rechtecke genauer. . . . . .«

»Sie sind durchaus nicht alle gleich, ganz abgesehen von den verschiedenen Farben.«

»Es kommen in Betracht Quadrate, lange Rechtecke und Parallelogramme. Diese drei Formen sind teils mit vollen Strichen eingezeichnet, teils punktiert, teils strichpunktiert. Alle diese Verschiedenheiten wiederholen sich in Schwarz, in Rot, in Blau, in Grün und in Hellgelb. Weißt du, wieviel Varietäten das ergibt?«

»Drei mal drei mal fünf, macht fünfundvierzig.«

»Ja. Allein mit den Rechtecken werden fünfundvierzig verschiedene Andeutungen gemacht. Und dasselbe wiederholt sich bei den Kreuzen, bei den Häkchen und bei den anderen Zeichen.«

»Mein Gott, wie soll man denn da fertig werden, festzustellen, was das bedeutet!«

»Das geht vielleicht schneller, als du denkst. Wir haben ein gewichtiges Hilfsmittel an der Hand.«

»Welches?«

»Den unter Aegypten hin nach Abessinien führenden Flußlauf, den wir schon kennen. Auf diesem Wege siehst du zwar nicht alle, aber doch schon sehr viele jener Zeichen, welche auf der Karte überhaupt vorkommen. Betrachte hier die kleinen, schwarzen, runden Häkchen. Kannst du diese irgendwie mit unserer unterirdischen Fahrt in Verbindung bringen?«

»Wenn ich die Entfernung richtig taxiere, so beschrieb dort der Flußlauf viele Krümmungen.«

»Ganz richtig. Jedes einzelne Häkchen gibt jede einzelne Krümmung an, man weiß auch immer, wie sich die Krümmung biegt, ob nach links oder nach rechts. Und zwar waren das runde Ecken — auch die Häkchen sind rund. Hier ist ein großer Haken mit scharfer Ecke — dort war auch in Wirklichkeit solch eine große, scharfe Ecke. Hier wieder, jetzt aber geht es rechts herum. Warum nun ist der eine Haken rot, der andere blau? Ich entsinne mich bestimmt, daß an jener Ecke das Wasser sehr heftig strömte, an dieser hier ganz ruhig floß. Weshalb ist der blaue Haken nur punktiert gezeichnet? Ich weiß bestimmt, daß diese Ecke zwar sehr scharf, aber doch zerrissen war.«

»In der Tat, da haben wir eine gute Handhabe, die Einzelheiten ohne Gefahr kennen zu lernen.«

»Du sagst es: ohne Gefahr; denn ich vermute, daß die Kreuze wohl wie üblich gefährliche Stellen andeuten, und solcher Kreuze und ganzer Gruppen von Kreuzen gibt es ja auf der Karte genug. Nun müssen wir nach und nach herausfinden, was für verschiedene Gefahren das sind, welche hier verschiedenartig ausgedrückt werden.«

»Aber erlaube, Alfred — hier auf diesem unterirdischen Wasserwege, den wir befahren haben, sind doch auch schon genug Kreuze aller Art, und wir haben eigentlich doch keine einzige Gefahr entdecken können.«

»Halt, Edward, urteile nicht zu voreilig! Du dürftest dich in einem großen Irrtum befinden. Daß alle Festlande der Erde von mehr unterirdischen Wasserläufen durchzogen werden, als wir uns bisher haben träumen lassen, das glaube ich. Darauf kommt man auch schon durch nüchterne Betrachtung. Es ist durch Zahlen bewiesen, daß auf die Erde viel, viel mehr Wasser in Gestalt von Regen herabfällt, als in Flüssen dem Meere wieder zugeführt wird und durch Verdunstung zu den Wolken zurückkehrt. Wo bleibt das fehlende Wasser? Eine Beharrung gibt es in der Natur nicht, es muß ein ewiger Kreislauf sein, das Wasser muß sich doch überhaupt wieder ersetzen. Es sickert einfach tiefer in die Erde und fließt unterirdisch dem Meere zu, dessen Verdunstung ergänzend. So muß es also zahllose solcher unterirdischer Ströme geben. Nun nimm ferner die Meeresströmungen an. Ueberall stoßen sie gegen die Küsten, mit einer Wucht, von der wir uns kaum eine Vorstellung machen können; in der irländischen Bucht sollte der Theorie nach die Höhe der Flut nur drei Meter betragen, und bis zu zwölf Metern steigt sie empor, so groß ist der Druck des nachschiebenden Wassers, und in der Tiefe nimmt diese Gewalt nur immer noch zu. Viele Tropfen höhlen einen Stein. Nun aber erst solche Meeresströmungen! Sie waschen und waschen und haben seit ungezählten Jahrtausenden an den Küsten gewaschen. . .«

» . . . und so sind alle Festlande der Erde mit unterirdischen Wasserläufen durchzogen,« ergänzte Scott den Erklärer. »Ja, jetzt verstehe ich, was du meinst.«

»Ah, du scheinst wirklich zu verstehen! Und weshalb können wir sie nicht benutzen?«

»Weil diese Tunnels vollkommen mit Wasser ausgefüllt sind, besonders wenn es sich um solche von Meeresströmungen erzeugte handelt, und auch die unterirdischen Süßwasserflüsse dürfte man nur mit einem perfekten Unterwasserfahrzeuge befahren können, wie es ein solches noch nicht gibt.«

»Das ist es! Der unter Aegypten wegführende Strom kann nur eine Ausnahme bilden. Aber auch er wird früher sein Flußbett, richtiger den gewaschenen Tunnel, vollständig ausgefüllt haben, vergleichbar mit einem Wasserrohr mit nur enger Ausflußmündung. So war es zu jener Zeit, als die Brunnen der Libyschen Wüste noch Wasser hatten und Berenice noch bestehen konnte. Irgendein Naturereignis oder vielleicht auch Menschenhand hat die enge Mündung des unterirdischen Flusses erweitert, da ist das Wasser gesunken, so entstand ein wirklicher Fluß, der auch auf seiner Oberfläche befahren werden kann, nur unter der Erde.

»Nun betrachte diese Karte. Es ist undenkbar, daß alle diese Aufzeichnungen, welche die ganze Erde umfassen, von einem einzigen Menschen gemacht worden sind. Und selbst wenn es viele Mitarbeiter gewesen sind, so haben doch viele Menschenleben dazu gehört, um solch ein Riesenwerk zu vollenden. Und damals, als der ägyptische Unterstrom untersucht wurde, ist das noch eine volle Wasserröhre gewesen, deshalb sind hier auch dieselben Merkmale eingetragen, wie sie überall auf der Karte zu finden sind.«

»Mit einem Wort, Alfred: Du willst diesen unterirdischen Strom, den wir schon kennen, nochmals befahren?«

»Ja, aber diesmal nicht auf, sondern unter'm Wasser. So können wir dort die Bedeutung der meisten Zeichen konstatieren und daraus rückbezüglich auf alle anderen unterirdischen Wasserläufe schließen.«

»Also zunächst gehen wir nach dem Roten Meere.«

»Und dringen wieder in der Fowl-Bai in jene Mündung ein, deren Vermauerung wir zerstört haben.«

»So habe ich nur noch eine Frage.«

»Und?«

»Du willst alle die angegebenen unterirdischen Wasserläufe erforschen?«

»Alle wohl nicht, nicht zum zehnten Teile reicht ein Menschenleben aus. Aber die Jahre, die mir noch beschieden sind, werde ich allerdings der Untersuchung dieser Wasserläufe widmen.«

»So willst du deinen Detektivberuf ganz aufgeben?«

Nobody machte plötzlich ganz große Augen.

»Was willst du damit sagen?« meinte er, obgleich Scotts Frage doch deutlich genug gewesen war.

»Nun, wenn du dich der Erforschung dieser Wasserläufe widmen willst, so hast du doch keine Zeit, anderen Beschäftigungen nachzugehen.«

Nobody faltete die vor ihm liegende Karte in einer Weise zusammen, die darauf schließen ließ, daß jetzt etwas kommen würde, wovon jedes Wort erwogen war, und so erklang es denn auch feierlich:

»Edward! Meine Devise, die ich als englischer Ritter erhielt, lautet: Ich helfe den Schwachen. Es war ein Zufall, daß ich gerade Wappen und Schild dieses erloschenen Adelsgeschlechtes erhielt — denn ich habe diese Devise nicht etwa selbst gewählt. Aber es gibt keine andere, die für mich besser paßte. Das ist keine Selbstüberschätzung, wenn ich dies sage — ich sage es mit selbstbewußter Bescheidenheit: Ich helfe den Schwachen! Und ich bin Detektiv. Und ich bin mir bewußt, daß mich Gott selbst zum Detektiv bestimmt hat, und ein Frevel von mir wäre es, die mir angeborenen Talente unverwertet zu lassen. Und von jeher habe ich den Menschen mit fühlendem Herzen höher eingeschätzt als den Forscher mit dem scharfsinnigsten Kopfe, der aber seine Erkenntnisse für sich selbst behält. Das ist auch fast die einzige Schranke, aber auch eine unübersteigbare, die mich von jenem rätselhaften Manne trennt; sonst würde ich ihm gern die Hand zur Freundschaft bieten, während ich ihn so als einen Feind der Menschheit betrachten muß. Höre, Edward, — du vernimmst keinen Schwur, sondern nur das Wort eines Mannes: wo ich während dieser Forschungsexpedition mich auch befinden mag, ob über oder klaftertief unter der Erde, und wenn ich auch dicht vor der Entdeckung des wichtigsten Geheimnisses stehe, welches alle meine Fasern in Spannung gesetzt hat, und mein Ohr wird von dem Hilferufe eines schwachen Menschen erreicht, oder es handelt sich darum, ein rätselhaftes Verbrechen aufzuklären oder die Menschheit von einem Bösewicht zu befreien, und ich leiste diesem Hilferufe nicht augenblicklich Folge, dann . . . . habe ich dieses mein Wort gebrochen, dann bin ich ein ehrloser Wicht!!«

Mit Feierlichkeit hatte Nobody es gesprochen.

Nur drei Menschen waren es, welche diese Worte gehört hatten. Aber solche Worte können keine irdischen Schranken halten, sie fluteten aus dem engen Raume hinaus in das Weltall und erzählten allen Kreaturen und allen Schöpfungen des Himmels und der Erde ein herrliches Gedicht von Treue und von Pflichtbewußtsein und von Manneswort.

Ja, auch der Seelöwe schien es gehört zu haben, so bewundernd blickten seine klugen Augen auf den Mann, der so gesprochen hatte, obgleich er ihn doch gar nicht sehen konnte, und der eine Hebelmaschinerie bedienende Jochen Puttfarken schneuzte sich seinen Elefantenrüssel, und Anok seufzte aus dem tiefsten Herzen, in einer Weise, wie man es noch nie von ihm gehört hatte:

»Ja ja, nee nee.«

Scott aber nahm die Hand des Freundes und drückte sie schweigend.

Erst nach einer längeren Pause ergriff er wieder das Wort.

»Dann, Alfred, möchte ich dich bitten, die abermalige Fahrt nach Aegypten und Abessinien vorläufig aufzugeben.«

Nobody ahnte schon, was nun kommen würde, und er mußte sehr überrascht sein, daß der Freund erst jetzt davon anfing. Doch äußerlich merkte man ihm nichts von dieser Ueberraschung an.

»Aus welchem Grunde? Diese Frage gestattest du wohl.«

»Dich erwartet ein Auftrag in Australien.«

»Du hast eine Vision gehabt?«

»Ja.«

»Wann?«

»In dem Augenblicke, als ich auf der ›Wetterhexe‹ meinen Koffer packte, um mich in den Delphin zu begeben, hatte ich sie. Vor meinen geistigen Augen schwebte wieder eine geographische Ortsbestimmung, mit dem bestimmten Gefühl, daß du dort gebraucht wirst, daß es dein Schicksal ist, dich dorthinzubegeben. Ich habe mich auf der Karte noch gar nicht näher orientiert. So weit ich diese im Kopfe habe, kann nur der südöstliche Teil von Australien in Betracht kommen.«

Nobody hatte sich also nicht geirrt. Australien lag von hier aus westlich, und schon eine halbe Stunde lang hatte der Hellseher den Delphin nach Osten fahren lassen, um erst jetzt mit seiner Vision herauszukommen.

Doch es gab einen Grund für diese Verzögerung: Scott hatte eben erst hören wollen, ob Nobody auch noch geneigt sei, wegen einer ganz unbekannten Sache gleich seinen Plan zu ändern, er hatte deshalb ja auch eine direkte Frage gestellt.

Und Nobody antwortete nicht mit Worten, sondern durch eine Tat — er drehte den Steuerhebel ganz herum, der Delphin beschrieb einen engen Halbkreis und fuhr den Weg zurück, den er gekommen war.

Erst dann hatte er auch Worte.

»Du leitetest deine Rede mit einer Bitte ein. Ich habe dir schon wiederholt gesagt, daß du das nicht nötig hast, du hast nur zu befehlen.«

»Wir werden doch noch einmal nach Abessinien kommen,« entgegnete Scott ausweichend.

»Das hoffe ich auch.«

»Zunächst aber wirst du wirklich sehr nötig in Australien gebraucht.«

»Ich bin ja schon auf dem Wege nach dort. Wie lautete die geographische Ortsbestimmung?«

»37 Grad 26 Minuten 4 Sekunden südliche Breite; 150 Grad östliche Länge von Greenwich,« entgegnete Scott ohne Zögern.

»Und die Minuten und Sekunden der Längengrade?«

»Es ist dies das erstemal gewesen, daß vor meinen geistigen Augen nur eine volle Gradzahl aufgetaucht ist. Alles andere fehlte.«

»So haben wir es also direkt auf dem 150. östlichen Längegrad zu suchen. Desto besser. Ja, das wird das südöstliche Australien sein. Befragen wir die Spezialkarte.«

Nobody hatte sie schon ausgebreitet, und zwar war es eine derjenigen Karten, welche er dem eisernen Walfisch entnommen und dem Delphin einverleibt hatte. Erwähnt wurde schon, daß die Schatullen nur jene Land- und Seekarten enthalten hatten, wie man sie überall zu kaufen bekommt, und auch handschriftliche Nachtragungen fehlten auf ihnen, welche die Handelskapitäne überhaupt auf den vorschriftsmäßigen Karten gar nicht machen dürfen.

»Richtig, Neusüdwales, nördlich von Sydney, westlich hinter den Blauen Bergen, und speziell in Betracht kommen dürfte das Plateau oder das Tal von Karrikarri.«

»Dort wirst du gebraucht.«

»Als Mensch oder als Detektiv?« fragte Nobody bedeutungsvoll, und Scott mußte wissen, was er hiermit meinte.

Nobody konnte seine Doppelnatur gar nicht besser charakterisieren als durch dieses »Mensch oder Detektiv.« Einmal der Mann mit dem so empfindsamen, überaus weichen Kinderherzen, das ebenso leicht lachen wie weinen konnte — und dann wieder der eiserne Detektiv, der rücksichtslos bis zur barbarischen Grausamkeit sein konnte.

»Alfred, ich weiß es nicht.«

»Sagt dir nicht eine Ahnung etwas Weiteres?«

»Absolut nichts.«

»Desto besser, dann gibt's wieder eine Ueberraschung, wie ich sie liebe. Immer lustig ins Blaue hinein — das nennt man auf Abenteuer ausgehen!«

»Wie kommen wir an Land?«

»Der dieser Gegend nächste Hafen ist Port Hunter, dem angegebenen Plateau direkt östlich gegenüberliegend, nur 80 englische Meilen davon entfernt.«

»Aber wir haben mit dem Delphin zu rechnen, mit dem wir doch nicht so ohne weiteres in einen Hafen einlaufen wollen.«

»Natürlich nicht. Unser Fahrzeug soll der Welt gegenüber ein lebendiger Delphin bleiben. Besehen wir uns noch einmal die Unterseekarte, vielleicht ist ein Kurs angegeben, der uns nach jener Küste führt.«

Eine große Ueberraschung sollte ihnen bereitet werden. Eine der zahllosen Linien, welche auch das Meer durchkreuzten, lief von Tahiti aus, dem Treffpunkt vieler Linien, gerade auf die Südküste Australiens zu und endete direkt in der Hunterbai, in welcher Port Hunter liegt. Aber hiermit noch nicht genug, die Linie, jetzt gestrichelt, ging auch noch in das Festland hinein, sich dann verzweigend, sich über oder vielmehr unter ganz Australien erstreckend.

»Sapristi, das paßt ja vortrefflich! Das ist doch natürlich auch so ein unterirdischer Strom. Und er führt gerade unter dem Karrikarriplateau hinweg, das wir besuchen wollen! Und da ist auch wieder so ein Ring. Paß auf, Edward, da können wir gleich mit dem Dephin hinfahren, und der Ring ist ein Schacht, durch den wir an die Erdoberfläche emporklettern, und wir sind an Ort und Stelle!«

Scott konnte alles nur bestätigen, hatte aber noch zweifelnde Gedanken.

»Ja, das sieht hier auf der Karte sehr deutlich aus, wie die Wasserlinie in vollem Strich gegen die Küste stößt und sich dann in eine gestrichelte verwandelt, dort geht es also in die Erde hinein, aber dürften wir die Tunnelöffnung so leicht finden? Hier bedeutet jeder Zirkelstich gleich eine Strecke von einigen Meilen, und die wollen erst abgesucht sein.«

«Na, stehst du denn hier nicht an dem Endpunkte nach der Küste die beiden langen Zahlenreihen eingetragen?«

»Die sehe ich wohl.«

»Lies sie vor.«

»15348183 und 3727027.«

»Und du weißt nicht, was das bedeutet?«

»Nein, was denn? Doch nicht eine geographische Ortsbestimmung?«

»Natürlich! Das heißt: 153 Grad 43 Minuten 18 Komma 3 Sekunden östliche Länge; 37 Grad 27 Minuten 2 Komma 7 Sekunden südliche Breite. Die fangen mit der Längenbestimmung zuerst an. Und genauer kann es ja nach menschlicher Berechnung gar nicht angegeben werden, das ist schon eine astronomische Berechnung, da kommen bloß noch 30 Meter in Betracht die an der Küste nach dem Loche abgesucht werden müssen.«

Nobody schien selbst nicht zu wissen, was für eine glänzende Probe seines Scharfsinnes er soeben geliefert hatte, da er das so einfach auffaßte.

Ja jetzt freilich war es ganz einfach! Aber zuvor, wenn man nur die beiden Zahlenreihen erblickte, sie in Worten aussprach, mit Millionen beginnend, wie Scott auch getan?

Der junge Kanadier war nicht auf den Kopf gefallen, er war ein astronomisch gebildeter Seemann, wenn auch kein professioneller, gerade er hatte doch immer mit solchen geographischen Ortsbestimmungen zu tun — sollte er aber darauf gekommen sein, daß es sich hier um so etwas handelte? Auch die Null sich gleich richtig zu deuten, das war gar nicht so einfach, da mußte man schon, um auch nach der Erkenntnis keinen Irrtum zu begehen, die Längen- und Breitengrade auf der Karte sehr genau betrachten.

»Du hast recht, Alfred. Hiermit wäre diese Frage gelöst. Du meinst, dieser Ring bedeutet einen nach der Erdoberfläche führenden Schacht?«

»Sicher. Gerade wie in Abessinien.«

»Dort sind aber die Ringe, die sich tatsächlich als Schächte erwiesen haben, mit blauer Farbe eingetragen, hier sind sie rot.«

»Das ist eben eine andere Art von Schächten.«

»Kurz vor unserem Ziele, dem Plateau, geht die gestrichelte Linie in eine strichpunktierte über. Was mag das zu bedeuten haben?«

»Edward, da mutest du meinem Scharfsinn zu viel zu. Ich bin nur ein Mensch, und daß ich wirklich nur ein irdischer Mensch bin, daran erinnert mich jetzt mein Magen in fühlbarer und hörbarer Weise zugleich. Anok, du kannst den Tauchhebel aus den Fingern lassen, jetzt gibt's nichts zu tauchen — ich will dich in die höhere oder vielmehr in die niedrigere Kochkunst einweihen, in die Kochkunst en miniature. Für was hälst du das Ding da?«

Nobody deutete auf eine schwarze Kugel von etwa 20 Zentimetern Durchmesser, die seitwärts am Boden befestigt war.

»Das ist eine Kegelkugel,« war die prompte Antwort.

»Hier wird nicht gekegelt, sondern gekocht. Trotzdem sollst du von nun an nicht den Titel Küchenchef führen, sondern Kegeljunge. Das ist unser Kochherd, sogar unsere ganze Küche.«

»Ja ja, nee nee—— nönöööhh!?«

Und doch war es so. Hier mußte mit dem Raume außerordentlich gegeizt werden, und wie vier Menschen in dem engen Kasten leben konnten, sogar ganz bequem, das sollte nur einmal an dem Kochherde gezeigt werden, in Gestalt einer kleinen Kegelkugel.

Es war eben dieselbe Einrichtung, wie Nobody sie als vermeintliches Glockenspiel in dem Walfisch gesehen hatte, hier nur eine einzige solche Glocke. Es konnte durch elektrische Heizkraft nur immer ein Gericht auf einmal gekocht werden, und eigentlich genügt das ja auch, man braucht nicht jeden Tag Table d'hote zu speisen, und was die Quantität anbelangt, so kann man sich außerordentlich irren.

Diese kleine Kugel konnte, wie Nobody dann ausmaß, genau acht Liter aufnehmen oder, in ungefährer Umrechnung, achtzehn Pfund Fleisch, wenn es fest zusammengepreßt wurde, und diese Portion genügt wohl, um vier vom Heißhunger geplagte Menschen zu befriedigen.

Ein kleines Schränkchen an der Bordwand war die Speisekammer für den täglichen Bedarf. Eine Büchse enthielt jene Kohlenstickstoffpillen — sie hatten den latinisierten Namen Carbonitrat bekommen — und dann war noch eine Menge Glasröhrchen vorhanden, alle mit verschiedenfarbigem Pulver gefüllt, jedes eine Aufschrift tragend, welche verriet, daß dies Gewürze waren.

Nobody hatte sich ja schon in dem Delphin genau umgesehen, als dieser noch im Zwischendeck der ›Wetterhexe‹ gelegen, und dann war er ja auch schon auf der Argonauteninsel bei Pieter Nielsen in die Kochschule gegangen.

Er schraubte die obere Hälfte der Kugel ab und füllte die untere aus dem elektrisch betriebenen Destillierapparat mit Wasser, warf zwei Pillen hinein, etwas Gewürz aus einer bestimmten Glasröhre dazu, schraubte die Kugel wieder darauf und stellte den elektrischen Strom an.

In der Kugel zischte es. Das war nicht die Folge der Hitze, sondern jetzt vollzog sich die chemische Verbindung. Nur wenige Minuten, und das dampfende Gericht, die Kugel vollkommen füllend, konnte auf die vier Teller verteilt werden.

»Labskausch!« sagten die Matrosen einstimmig mit qualmendem Munde.

Ihr Geschmack irrte sich auch nicht viel. Das Gewürz sollte eine Rinderkartoffelpastete Herstellen, und Labskausch heißt an Bord das Gericht, welches jeden Abend aus den Fleischüberresten, mit Kartoffeln zusammengestampft, hergestellt wird.

Nobody sorgte gleich noch für Proviantvorrat, diesmal warf er vier Pillen in das Wasser der wieder gereinigten Kugel, gab mehr Hitze, konnte sich auch jederzeit von dem Fortschreiten des Bratens überzeugen — und dann war ein zwölfpfündiges Weißbrot fertig, mit so brauner und knuspriger Rinde, wie es nur aus einem alten, soliden Ziegelsteinofen mit Reisigfeuerung kommen kann, nur daß es Kugelgestalt hatte.

So mußte Nobody seine Gefährten nach und nach in alles einweihen, und er selbst hatte noch genug zu lernen.

»Dampfer hinter uns!« meldete Jochen, der jetzt die ganze Steuerung zu bedienen hatte und daher auch den Spiegel beobachtete.

Der aufkommende Dampfer, mit zwei Schornsteinen, fuhr bedeutend schneller als das Unterseeboot.

Kein echter Seemann, den es nicht mit Ingrimm erfüllt, wenn sein Schiff von einem anderen gleicher Klasse überholt wird. Ein Frachtkasten kann es natürlich nicht mit einem Schnelldampfer aufnehmen, eine Brigg nicht mit einem ›Vollrigem‹, aber bei gleichem Bau, gleicher Takelage mit gleicher Segelanzahl oder bei gleichen Pferdekräften — die Schiffsliste führt das ja genau an — gibt es jedesmal ein Wettfahren und auf einer Seite stets einen Beschämten, und von dieser undefinierbaren Scham wird auch der Passagier befallen, der zu seiner Reise den schnellsten Dampfer zu benutzen glaubt.

Und hier nun handelte es sich um ein Unterseeboot, von welchem die Welt noch gar nichts wußte, ausgestattet mit noch ganz unbekannten Erfindungen, welches den schnellsten Fisch überholen konnte — d.h., eigentlich hätte überholen können — und nun mußte es sich von solch einem ganz gemeinen Schnell- und Salondampfer ausstechen lassen!

»Hol's der Geier!« brach bei Nobody einmal der Aerger hervor. »Das geht gegen meine Natur. Warum mußte der Mechanismus nur versagen? Warum bin ich so ein Schwachkopf, daß ich den Fehler nicht finden kann? Alle guten Geister, oder du, Samiel, hilf, daß ich die alte Schnelligkeit wiederherstellen kann!«

Nobody machte sich wirklich an den Hebeln zu schaffen, probierte auf gut Glück herum — aber weder ein guter noch ein böser Geist wollte helfen.

»Was die wohl sagen werden, wenn die den Delphin schwimmen sehen?« meinte ein Matrose, und diese Bemerkung wußte Nobody gleich wieder zu seinem Vorteil auszunützen. Freilich glich es sehr der Geschichte von den hochhängenden Trauben, die dem Fuchs zu sauer schienen. Aber der Fuchs ist auch der weise Philosoph unter den Tieren.

»Jawohl, ich hätte den Dampfer sowieso erwartet, um zu beobachten, was für einen Eindruck der künstliche Delphin macht,« sagte also der menschliche Fuchs und ließ das Fahrzeug stoppen.

Mit einer Schnelligkeit von wenigstens sechzehn Knoten kam der Dampfer herauf. Bald erkannte man die vielen Menschen an Deck, wie sie schon auf den großen Fisch deuteten.

»Die müssen denken, der Delphin schläft, und wenn dort nur einige sportlustige Passagiere an Bord sind, so wird der Kapitän zur Jagd ein Boot aussetzen lassen, wenn kein Walfischboot, dann irgendeinen Backtrog. Da — da . . . .«

Richtig, da wurde auch wirklich schon ein Boot ausgeschwungen, kein schlanker Walracer, aber auch kein Backtrog, sondern eine große Jolle, die nun allerdings von keinem fliehenden Walfisch lange nachgezogen worden wäre, sie wäre schon durch den Druck, den das Wasser an dem halbabgerundeten Vorderteil fand, in Trümmer gegangen. Doch zur Jagd auf einen sechs Meter langen Delphin genügte sie.

Der Dampfer hielt sich seitwärts, immer mehr verlangsamte er seine Fahrt, das vollbemannte Boot wurde herabgelassen, schon stand der Harpunier mit der Lanze auf der vordersten Ducht. Unter den Passagieren herrschte die größte Aufregung.

»Na, die sind nicht auf Walfischjagd geeicht,« meinte Nobody in seiner Weise. »Der Harpunier kommt mir eher wie ein reicher Schneidermeister vor, der faßt die Lanze ja gerade an, als wollte er ein Stück Zeug mit der Elle abmessen.«

»Uns kann die Sache ja nicht gefährlich werden, wenn nur der menschenfreundliche Seelöwe sich nicht in seiner Harmlosigkeit . . . .«

»Deckung!!!« schrie Jochen plötzlich und warf sich der Länge nach an den Boden des Fahrzeugs hin, so wie es auf Kriegsschiffen einexerziert wird, wenn auf dem feindlichen Fahrzeug eine runde Rauchwolke aufsteigt, die kommende Granate ankündigend.

Und solch eine Rauchwolke war dort drüben aufgestiegen, gefolgt von einem dumpfen Donnerschlag.

»Die Hunde schießen auf den schlafenden Delphin mit Kanonen!!«

Nobody hatte es nicht rufen, sondern nur denken können.

Da sah man vom Schiffe her schon einen schwarzen Streifen durch die Luft gesaust kommen — jawohl, man steht jede Granate, auch eine kleine, ganz deutlich fliegen, wie ein Komet hinten mit einem Schwanz, der natürlich nur eine Täuschung ist, und ebenso natürlich gibt es auch kein Ausweichen — ein gellender Schrei, wenn nicht mit dem Munde ausgestoßen, so im Herzen wiederklingend, dessen Schlag ausgesetzt hatte — und dann ein donnernder Schlag, der Delphin sprang hoch empor, legte sich auf die Seite, als wolle er das Unterste nach oben wenden, richtete sich wieder auf, und . . . sank!

»Habt ihr gemerkt, wie ausgezeichnet unsre Sitze federn?« fragte Nobody. »Sonst wären wir alle vier vom Stühlchen gefallen.«

Ganz ruhig hatte Nobody es in dem sinkenden Delphin gesagt.

Wohl nur der über alles Irdische erhabene Kanadier besaß Kaltblütigkeit genug, um im Augenblick zu erkennen, was hier eigentlich passiert war.

Wohl hatte das Geschoß den Delphin getroffen — aber Schaden hatte es nicht angerichtet, kein Wasser drang ein, das Fahrzeug sank unter Nobodys Hand, die einen Hebel gedreht hatte!

Die beiden Matrosen hatten nur einen einzigen Gedanken: jetzt kommt der Tod! Jochen Puttfarken ließ Elefantenrüssel und Elefantenohren hängen, Anok saß auf seinem Stühlchen wie ein Sünder beim letzten Gericht, ob das nun ein himmlisches oder ein irdisches ist.

»Na da adjüs, Anok, jetzt versaufen wir wie die Ratzen,« murmelte der Nasenkönig.

»Ja ja, nee nee.«

»Wenn wir die Wahl haben, so wollen wir das nee nee gelten lassen,« sagte Nobody.

Er neigte sich seitwärts und legte die Hand gegen die Bordwand.

»Hier schlug die Granate auf, ich sah es ganz deutlich. Und nicht den leisesten Eindruck hat sie aus dem Metall hervorgebracht.«

»Alfred, was für ein wunderbares Metall ist, das?« flüsterte Scott.

»Ein Metall, dem keine Granate etwas anhaben kann — mehr weiß ich nicht zu sagen. Na, Jochen, Anok, wir sind noch keine versoffenen Ratzen. Ich lasse den Delphin mit Absicht sinken, die sollen glauben, daß sie ihn tödlich getroffen haben. Nein, schießen die nach dem schlafenden Fische mit Kanonenkugeln!!«

»Aber warum denn nur?« fragte Scott. »Sie wollten doch den Delphin harpunieren?«

»Wohl nur das tote Tier mit der Harpune anspießen, um so doch wenigstens eine Ahnung von einer Walfischjagd zu bekommen. Daß sie an den schlafenden Delphin in der Jolle unter dem Rudergeklapper nicht nahe genug herankamen, mochten sie sich denken können. Na, es werden Engländer sein — ich habe einen Engländer gesehen, der nach Rebhühnern mit für Elefanten bestimmte Explosivkugeln schoß. Jedenfalls haben wir hierbei wiederum eine sehr wichtige Erfahrung gemacht: die Platten dieses Fahrzeuges spotten jeder Granate. Dann aber könnt ihr Mt auch gleich noch etwas anderes beobachten. Fällt euch nicht etwas auf?«

Das Manometer zeigte eine Tiefe von acht Metern an, als Nobody das sinkende Boot zum Stillstand brachte, und so blieb es schweben. Der treue Seelöwe hielt sich dicht an des eisernen Freundes Seite.

»Die Granate hat ihm den augenblicklichen Tod gebracht, und jeder tote Fisch treibt wieder nach oben, hier an dieser Stelle muß er wieder zum Vorschein kommen.«

Ganz deutlich hatte es eine Stimme gesagt, ein Stimmengewirr folgte.

»Wie kommt es, daß wir die so deutlich sprechen hören? Die Bordwände sind doch ziemlich dick, dazu sind wir so tief unter Wasser!«

»Ich habe vorhin auch gehört, wie die auf dem Dampfer jubelten, daß der Delphin getroffen sei.«

»Die Bordwände wirken wie Membranen,« erklärte Nobody, »sie pflanzen die Schallwellen fort, auch unter Wasser. Natürlich hat es wie alles seine Grenzen.«

»Auch was wir innen sprechen, kann man draußen hören?«

»Nein, die Membrane pflanzt den Schall nur nach innen fort.«

Jetzt wurde das Boot über ihnen sichtbar, mit den Männern besetzt, Matrosen und Passagieren, welche erwartungsvoll nach dem Wiederauftauchen des vermeintlich zu Tode getroffenen Delphins ausspähten.

»Ja, wartet nur. Ha, wenn die wüßten! Nein, schießen die Kerls auf einen Delphin mit Kanonenkugeln!! Ich hätte Lust, eurem Boote den Leib aufzuschlitzen, oder euch durch schnelles Aufsteigen des Delphins herauszuschleudern. Nur die Anwesenheit der Haifische hält mich davon ab: denn die wären doch schnell zur Stelle, wenn ihr im Wasser schwimmt. Nun, so sei eure getäuschte Hoffnung die einzige Strafe.«

Nobody ließ den Delphin noch weiter sinken, bis er in einer Tiefe von etwa achtzig Metern auf den Grund zu liegen kam.

Das ausstrahlende Licht wurde angestellt, und da sahen sie das Geschoß liegen, ehemals wohl eine Spitzkugel von fünfzehn Zentimeter Kaliber, jetzt mehr eine Platte, so war sie durch die Gewalt des Aufschlagens zusammengepreßt worden.

Was für ein Metall war das, welches einer konischen Geschützkugel Widerstand bot, daß sie auch nicht den geringsten Eindruck darauf hervorbrachte?

Wenn nicht ein Eingeweihter eine Erklärung gab, so würde ihnen das wohl immer ein Rätsel bleiben, eine technische Untersuchung würde wohl ebenso resultatlos sein wie bei dem unsichtbar machenden Gewebe und dem selbstleuchtenden Ringe. Es war das Geheimnis des Höllenfürsten.

In diesem Augenblicke aber sollte ihnen ein vielleicht noch größeres Rätsel auffallen.

»Der Seelöwe befindet sich noch immer bei uns!!«

Mochten es die beiden Matrosen nicht merkwürdig finden, daß auch das Seesäugetier mit in diese Tiefe hinabgetaucht war, sich neben dem Delphin wie immer aufhielt — für die beiden Männer war hiermit ein unlösbares Rätsel verbunden, nämlich wie dieses aus Zellengewebe bestehende Tier solch einen kolossalen Wasserdruck aushalten konnte.

Wie tief ein Walfisch tauchen kann, darüber hat jeder einzelne Walfischjäger, dem dies zu wissen manchmal von Wichtigkeit ist, seine eigene Ansicht, und das schwankt zwischen hundert und tausend und noch mehr Metern, bietet also nicht den geringsten Halt für eine der Wahrheit entsprechende Tatsache, es sind nur aus der Luft gegriffene Vermutungen.

Wie tief der Walfisch tauchen kann, dafür hat man bisher nur einen einzigen Beweis bekommen, aber einen ganz unsicheren, mit Zahlen gar nicht auszudrücken, die ganze Geschichte geht eben über den menschlichen Verstand hinaus, wie noch später erzählt werden soll.

Mit dem Tauchvermögen der Robben hat sich überhaupt noch niemand beschäftigt. Hier drang eine bis auf 80 Meter hinab. Das entspricht einem Drucke von 8 Kilogramm auf den Quadratzentimeter. Für einen hierin nicht bewanderten Leser werden diese Zahlen wenig sagen. Für den Physiker ist es schon ein ungeheuerlicher Druck. Man denke vier vierstöckige Häuser übereinandergesetzt. Ein spanischer Taucher, durch einen besonders starken Helm geschützt, kam bis auf 50 Meter hinab. Als man ihn wieder heraufzog, war er tot, der Metallhelm plattdrückt, der ganze Körper zermalmt.

Und dieser Seelöwe fühlte sich bei 80 Meter Tiefe noch ganz behaglich, wollte noch immer mit seinem großen Freund spielen, lud ihn ein, doch mit ihm weiterzuschwimmen.

»Alle menschliche Theorie ist eben nur ein Hirngespinst,« sagte Nobody, »und was wir auch ausklügeln, die Natur läßt sich keine Gesetze vorschreiben, von uns wenigstens nicht. Dieser Seelöwe ist wieder einmal ein Beweis dafür. Aber ein Säugetier ist er doch, er muß an der Oberfläche des Meeres atmen, muß ab und zu emporsteigen, und dabei könnte er uns verlieren, was ich auf keinen Fall geschehen lassen will.«

»Wollen wir nicht einmal probieren, wie lange er hier unten aushalten kann?«

»Das können wir.«

Schon nach drei Minuten empfand der Seelöwe offenbares Bedürfnis nach neuer Luft, er stieg empor, der Delphin folgte ihm, man fand das Tier schnaubend und pustend an der Oberfläche.

Die Fahrt wurde fortgesetzt, doch schon wegen jenes Dampfers, der sich noch in der Nähe befand, immer etwas unter Wasser. Auch der Seelöwe hielt sich immer darunter, nur ab und zu, aber ohne im Schwimmen Einhalt zu tun, nach oben steigend und dann auch nur seine Nasenlöcher etwas zum Wasser heraussteckend, daß vom Kopfe gar nichts zu sehen war.

Es wurde wegen des Kurses gesprochen.

Man befand sich 700 deutsche oder 2800 englische Meilen, welche Knoten entsprechen, von der Ostküste Australiens entfernt. Bei acht Knoten Fahrt hätte der Delphin vierzehn Tage gebraucht. Aber der Seelöwe kam in Betracht.

»Ich bin fest entschlossen,« wiederholte Nobody, »das treue Tier unter keinen Umständen im Stich zu lassen. Wir machen die nötigen Ruhepausen, die das Tier braucht, und deren Länge wir mit der Zeit kennen lernen werden, und wenn wir auch die doppelte Fahrzeit brauchen, vier Wochen anstatt nur zwei. Wir haben an der Einrichtung des Unterseebootes auch noch genug zu studieren.«

»Auf diesem Kurse nach der Hunterbai sind drei Stationen eingetragen,« sagte Scott, der die Karte geprüft hatte.

Nobody überzeugte sich davon. Die erste Eintragung bestand in einem roten Fragezeichen; die zweite war ein blaues, punktiertes Fragezeichen, umgeben von gestrichelten schwarzen Kreuzen; die dritte stellte in vollen Linien ein Parallelogramm dar.

Ferner standen neben jedem dieser Merkmale untereinander jedesmal drei Zahlenreihen, die beiden letzten stets sehr lang.

»Das sind die geographischen Ortsangaben, mit den Längengraden beginnend,« erklärte Nobody. »Und die oberste Zahl, stets viel kleiner, niemals mehr als vier Stellen? Das dürften Tiefenangaben sein.«

»Und die Fragezeichen?«

»Ein Fragezeichen bedeutet gewöhnlich eine offene Frage. Uebrigens werden wir das ja gleich erfahren, wir müssen diesem ersten roten Fragezeichen ganz nahe sein.«

»Du willst es untersuchen?«

»Sicher will ich wissen, weshalb dort ein Fragezeichen gemacht worden ist.«

Auch der gewissenhafteste Leser wird wohl nicht der Meinung sein, daß Nobody hierdurch, wenn er während der Fahrt nach einem bestimmten Ziele, wo man ihn brauchte, einmal unterbrach, um etwas zu untersuchen, deshalb wortbrüchig wurde. Solche Untersuchungen waren zugleich auch Prüfungen des Unterseeboots, das war er sogar der Sicherheit der Menschenleben schuldig, die sich ihm anvertraut hatten. Außerdem war ihm ja hier gar kein Hilferuf ins Ohr gedrungen, das war ja, wie Nobody schon gesagt, eine Fahrt ins Blaue hinein, nur angeregt durch eine Ahnung des Hellsehers.

Dies nur für Leser mit kritischem Gewissen. Scott dachte an etwas ganz anderes, was ihm Sorge machte.

»In was für einem Längenmaß mögen die Tiefenbestimmungen gemacht sein?«

»Sicher kommen nur Meter in Betracht.«

»Gleich hier neben dem ersten Fragezeichen steht die Zahl 1474.«

»Nun, und?«

»Solche Tiefen kann man heutzutage messen: bis zu 12000 Meter ist man schon gekommen, allerdings nicht mit der Logleine, da trägt keine Leine mehr ihr eigenes Gewicht, da benutzt man andere Methoden —— du willst doch nicht etwa mit dem Delphin in diese Tiefe von 1474 Meter dringen?«

»Sicher will ich es probieren.«

»Alfred!«

»Hier bei dem zweiten Fragezeichen sind sogar 4246 Meter angegeben, und auch das Warum dieses zweiten Fragezeichens werde ich zu ergründen versuchen.«

»Unmöglich!

»Du vergißt wohl, daß der Dephin darauf geeicht ist, bis auf 6000 Meter hinabzutauchen. Das sagt nämlich schon der vierteilige Manometer. Die oberste Uhr gibt die Tausender an, geht bis 6000, aber schon bei der 5000 ist ein roter strich — bis hierher und nicht weiter!«

»Bedenke doch nur diesen ungeheueren Druck! Von so etwas können wir uns ja gar keine Vorstellung machen!«

»Darüber, Edward, haben wir uns doch schon ausgesprochen, du hast schon meine Meinung gehört. Ja, auch mir kommt es unglaublich vor, daß solch ein Hohlraum, schließlich doch nur aus Metallplatten von Menschenhänden zusammengenagelt, eine Wasserlast von nur 1000 Metern Höhe auf sich ruhen lassen könnte. Und doch! Ich habe die Robbe in einer Tiefe von nur 80 Metern gesehen, und das hat die Unfehlbarkeit meiner Ansichten schon bedeutend umgestimmt. Ich habe ja auch nur von probieren und versuchen gesprochen. Es wird versucht! So ganz plötzlich kann der Kasten doch nicht zusammengequetscht werden, da müssen erst drohende Anzeichen eintreten, da muß es erst in den Fugen knacken, und dann können wir jederzeit schnellstens wieder emporsteigen, den furchtbaren Druck Meter um Meter verringern. — Wo befinden wir uns jetzt?«

Die Berechnung ergab, daß sie nur noch zwei Stunden von dem durch das rote Fragezeichen angedeuteten Punkte entfernt waren.

Während dieser zwei Stunden sollten sie noch verschiedenes andere beobachten können.

Zum ersten Male erblickten sie größere Fische, eine ganze Schar von Delphinen, und kaum hatten diese ihren einsamen Kameraden bemerkt, als sie schnell auf ihn zuschwammen, entweder, um ihn in ihre Mitte zu nehmen, oder aber, wahrscheinlich um den Einsiedler als Feind anzugreifen. Denn alle Herdentiere hassen den einstigen Kameraden, der sich aus der Gesellschaft abgesondert hat, verfolgen ihn —— und dasselbe tun auch alle diejenigen Menschen, welche gleichfalls zu den Herdentieren zu zählen sind.

Nun aber geschah etwas Seltsames.

Immer schneller waren die Delphine herbeigeschwommen, es war ganz offenbar, daß sie sich mit Wut auf den Einsiedler stürzen wollten — da mit einem Male kehrten sie sämtlich um, traten einen fluchtähnlichen Rückzug an — verschwunden waren sie.

Doch was ist da Merkwürdiges dabei?

»Sie haben erkannt, daß es nur ein eisernes Ebenbild ist, das hat ihnen Schrecken eingeflößt,« gab Scott eine ganz einfache Erklärung.

»Der Fisch ist und bleibt ein dummes Tier, und davon macht auch der Wal und der Delphin keine Ausnahme, obgleich diese nicht zu den Fischen gehören. Sollten die wirklich erkannt haben, daß es kein richtiger Delphin ist, was nicht einmal wir Menschen unterscheiden können?«

»Das kann ich nicht, wohl aber kann ich dir einen Gegenbeweis geben. Der Haifisch greift keinen Delphin, keinen größeren Fisch an, er kann ihm mit seinem unten befindlichen Maule nicht beikommen. Und gerade in diesem Gewässer gibt es kein Fahrzeug, das nicht von Haifischen umschwärmt würde, wie es auch die ›Wetterhexe‹ wurde. Wo bleiben die nun bei uns?«

Nobody hatte recht. Durch diesen Gegenbeweis wurde das Zurückweichen der Delphine vor dem eisernen Kameraden zu einem Rätsel.

Und als sollte Nobody in seinem Rechte noch bestärkt werden, so näherten sich gerade jetzt dem Delphin einige Haie, oder vielmehr nicht dem Delphin, sondern dem eisernen Fahrzeuge, wahrscheinlich in der Absicht, um es wie gewöhnlich zu begleiten, aber auch sie stoben plötzlich entsetzt von dannen.

»Aufgepaßt, Jochen, den Logapparat im Auge behalten!« sagte Nobody nach einer neuen geographischen Berechnung der Ortslage. »Noch ein Knoten und fünfzig Yards, dann läßt du die Bremse wirken!«

Nach fünf Minuten geschah dies, Nobody machte noch eine genaue Berechnung nach Zehntelsekunden, dirigierte den Delphin noch etwas weiter, dann befand er sich auf dem Terrain von ca. dreißigmal fünfundzwanzig Metern, welches durch jene Angabe, die neben dem roten Fragezeichen stand, bezeichnet wurde.

Der Delphin sank, tiefer und immer tiefer.

»Der Seelöwe begleitet uns wieder!«

Wie ein Stein sank auch das fettgepolsterte Tier neben dem Delphin — und auch das war wiederum ein Rätsel: denn der Seelöwe schwamm nicht etwa hinab, sondern er ließ sich richtig sinken. Wie konnte das bei diesem Fettgewicht geschehen? In ihre Geheimnisse läßt sich die Natur nicht blicken, der Mensch ist ja selbst ein lebendiges Rätsel; wissen unsere Anatomen doch heutzutage noch nicht, wozu der Mensch eigentlich die Milz hat. Absolut unbekannt!

»Jetzt dreht er um!«

Ja, eine gewisse Grenze konnte das Tier doch nicht überschreiten, dann mußte es die letzte Luft in seinen Lungen zum Rückweg benutzen, und die Berechnung hierzu gab ihm sein Instinkt.

Einhundertvierzig Meter Tiefe zeigte das Manometer an, als der Seelöwe schweben blieb, einen traurigen Blick noch nach dem tiefer sinkenden seelenlosen Freund, und dann sah man ihn blitzschnell wieder nach oben schießen.

»Also bis zu einhundertvierzig Metern kann die Robbe oder doch ein Seelöwe tauchen, wieder etwas gelernt,« sagte Nobody. »Aber wir wollen mit dieser Erkenntnis lieber nicht die Welt beglücken, besonders die Herren von der Zoologie würden uns ja doch der Lüge bezichtigen oder uns als Narren auslachen.«

Nobody sollte bald noch viel mehr Grund bekommen, diese seine Beobachtungen, die er mit dem Seelöwen machte, für sich zu behalten. Das Tier sollte immer mysteriöser werden.

Tiefer sank der Delphin.

»Tausend Meter,« las Scott flüsternd von dem Manometer ab.

Er brauchte nicht so zu flüstern. Es lag gar kein Grund dazu vor. Mochte auch ein noch so ungeheurer Druck auf dem Fahrzeug lasten, hier drin war davon nichts zu bemerken, und auch ein warnendes Knacken in alle Fugen wollte sich nicht bemerkbar machen, selbst später nicht.

Der Delphin strahlte sein Licht aus, das Wasser weithin durchleuchtend. Eine Region wurde passiert, in der jegliches Lebewesen fehlte, und dann wurden von dem Lichte Fische angezogen, denen sämtlich die Augen mangelten, und dennoch mußten sie einen für Licht empfindlichen Sinn haben.

Nobody schaltete einmal das Licht aus, ließ aber die Bordwand durchsichtig, und da gewahrte man, daß alle diese Fische ein eigenes Licht ausstrahlten, nicht gerade sehr hell, aber doch heller als der bei Nacht phosphoreszierende Hai.

Und immer mehr nahmen die Fische an Größe zu, und immer mehr näherte sich ihre Kopfform der Gestalt eines Hammers, wie das bei den uns bekannten Fischen nur bei einem der Fall ist, der eben den Namen Hammerfisch führt.

»Da — da — die Seeschlange!« flüsterte Jochen.

Der Matrose hatte natürlich Grund zum scheuen Flüstern.

Eine feurige Linie kam in Schlangenbewegungen heran, vorn ebenfalls einen hammerförmigen Kopf tragend, sie wendete sich, jetzt konnte man das Ungeheuer in seiner ganzen Länge erkennen — wenigstens sechzig Meter lang, die Windungen noch nicht einmal mitgerechnet, und dabei nicht stärker als ein Handgelenk.

Es konnte ebensogut ein aalförmiger Fisch oder ein riesenhafter Wurm wie eine Schlange sein, deutlich waren auch Flossen zu erkennen.

In der Nähe des Delphins krümmte es sich zusammen und schoß blitzschnell davon, um in der Finsternis zu verschwinden.

Die Insassen des Delphins hatten etwas zu schauen bekommen, was sonst niemals ein menschliches Auge sehen wird, der Mensch müßte denn erst die Möglichkeit haben, in solche Tiefen zu dringen. Denn das Umgekehrte, diese in den tiefsten Tiefen des Meeres lebenden Tiere sollen zu uns heraufkommen, das ist zu viel verlangt. Ihr Körperbau ist für diesen Druck konstruiert; je höher sie kommen, desto mehr würden sie sich aufblähen, zuletzt platzen, was schon bei einigen Fischen des Bodensees passiert, wenn sie einmal an die Tiefgrundangel beißen. Nun aber diese Tiefbewohner des Meeres heraufholen? Was man in den Tiefseeschleppnetzen heraufholt, das ist alles nur kleines Getier, und schon diese zerreißen beständig das Schleppseil des Netzes, oder vielmehr dies zerreißt durch sein eigenes Gewicht. Da ist also wohl schwerlich daran zu denken, jemals einen größeren Fisch heraufzuholen, der dort unten zu Hause ist.

»1450,« las Scott von dem Manometer ab, »51—52 . . .«

»Und dort ist der Grund,« sagte Nobody, der den Delphin wieder durchleuchtend gemacht hatte.

Unter sich zu ihren Füßen erblickten sie den Meeresgrund, ganz flach, wie überall hier mit zerbröckelten Korallen bedeckt, einer Wüste gleichend, nur rosafarben.

»Die rote Farbe stimmt,« sagte Nobody, »aber wo ist das Fragezeichen?«

»Dort,« entgegnete Scott, die Hand seitwärts ausstreckend, und die beiden Matrosen stießen einen Ruf des Erstaunens aus.

Von einem Punkte des roten Grundes ging ein rotes Licht aus, so feurig, daß die Umgebung dagegen verblaßte, und auch noch andere Strahlen mischten sich dem roten Lichte bei, blaue und grüne und gelbe —ein brillantes Farbenspiel.

Allerdings wurden die Strahlen von dem dunklen Wasser stark absorbiert, so kam es, daß die Insassen des Delphins den leuchtenden Punkt erst jetzt erblickten, zuletzt hatten sie auch nur immer direkt unter sich gesehen und das rätselhafte Feuer war noch ein gutes Stück seitlich entfernt — jetzt aber brach das in allen Farben spielende Feuermeer immer mächtiger hervor.

»Das muß ein riesiger Diamant sein!«

»Der selbstleuchtende Stein, der sich in meinem Ringe befindet,« ergänzte Nobody und lenkte den noch immer sinkenden Delphin, ehe er den Boden berührte, dorthin.

Dicht neben ihnen ging das bunte Strahlenmeer vom Grunde aus, und doch konnten sie kaum die Quelle erkennen. Nobody, der lange die Augen geschlossen hatte und dann schnell hinblickte, glaubte ein erbsengroßes Steinchen zu unterscheiden, das zwischen den Korallentrümmern lag, und zwar wohl auf einer Platte, die sich aber auch schon mit Korallenteilchen bedeckt hatte.

Und der Zweck dieser selbstleuchtenden Substanz? Sie diente gewissermaßen als Leuchtfeuer. Denn dicht daneben öffnete sich im Boden ein meterbreiter Spalt, dessen Anfang und Ende man sehen konnte, höchstens zehn Meter lang.

Wie kam dieser Spalt in den sonst so ebenen Boden?

»Das hat sich auch sein Entdecker gefragt,« erklärte Nobody, »er hat die Untersuchung für spätere Zeit aufgeschoben, einstweilen nur eine Ortsbestimmung gemacht und ein Fragezeichen hingesetzt. Die Ortsbestimmung kann aber nur an der Wasseroberfläche vorgenommen werden, beim Hinabsinken kann eine Strömung das Taucherboot wegtreiben, und der Spalt ist gar schwer wiederzufinden, er hebt sich ja nicht im geringsten von dem Grunde ab, auch wir hätten ihn gar nicht gesehen — so hat unser Vorgänger an der Spalte ein Leuchtfeuer hinterlassen.«

»Können wir nicht ausmessen, wie tief noch der Spalt in das Erdinnere eindringt?« fragte Scott.

Wenn irgendein Mensch Interesse haben konnte, das zu wissen, so war es Nobody; denn der schwärmte bekanntlich für alles, was nur irgendeine Aehnlichkeit mit einem Loche hatte. Aber solch eine Möglichkeit gab es nicht, es sei denn, man begab sich wieder zur Wasseroberfläche hinauf und befestigte an der eisernen Hand eine zusammengerollte Logleine, die dann hinabgelassen werden konnte.

Aber mit so etwas wollte sich Nobody nicht aufhalten. In das Loch konnte er selbst doch nicht kriechen — und damit verlor es für ihn auch das Interesse.

Er ließ den Delphin noch einmal darüber schweben und sandte den intensivsten Lichtstrahl hinein. Ein Grund war nicht zu sehen, die Spalte verengte sich auch nicht.

»Die geht am Ende gar bis zum Mittelpunkt der Erde,« meinte ein Matrose.

»Und kommt auf der anderen Seite der Erde wieder heraus,« ergänzte Nobody. »Nun, wir wissen jetzt, daß ein Fragezeichen wirklich eine offene Frage bedeutet. Also weiter.«

»Wollen wir das leuchtende Ding nicht mitnehmen?«

»Nein, das leuchtende Ding bleibt liegen. Anok, laß den Delphin wieder steigen.«

»Sollten wir die Fahrt nicht einmal dicht über dem Meeresboden fortsetzen?« fragte Scott, der also seine Ansicht über die Druckfestigkeit dieses Unterseebootes, das nicht einmal in einer einzigen Fuge knacken wollte, gründlich geändert hatte.

»Du vergißt wohl den treuen Seelöwen, der unser oben wartet?«

»Wirklich, daran hatte ich gar nicht gedacht! So undankbar ist der Mensch — du ausgenommen.«

In einer Viertelstunde war der Delphin wieder an der Wasseroberfläche. Die 1500 Meter wollten doch zurückgelegt sein.

Nicht der Seelöwe, sondern eine schmerzliche Ueberraschung wartete ihrer oben — nämlich die Abwesenheit des ersteren. Der Seelöwe war nicht mehr zu erblicken.

Nobody wartete lange Zeit, fuhr hin und her und Bogen — vergebens, der Seelöwe war verschwunden.

»Hätte ich das gewußt, ich hätte lieber auf die Untersuchung des Fragezeichens verzichtet, anstatt unseren Freund zu verlieren,« bedauerte Nobody. »Aber wir konnten auch ahnen, daß sich das treue und kluge Tier von der Stelle entfernen würde, da wir hinabtauchten. Nun, so können wir jetzt mit ununterbrochener Kraft fahren.«

Am anderen Tage mußte man jede Hoffnung aufgeben, den Seelöwen jemals wiederzufinden, denn man war vierundzwanzig Stunden gefahren, das hätte das Tier doch nicht ausgehalten.

Auch waren es andere Gedanken, welche die Männer beschäftigten. Man näherte sich der Stelle, welche mit einem punktierten Fragezeichen markiert war, umgeben von schwarzen Kreuzen, mit einer Tiefenangabe von 4246 Metern.

»Wir haben damit zu rechnen, daß die Kreuze, wie üblich, Gefahren andeuten sollen. Also Vorsicht bei aller Kühnheit!«

Hinab ging es in die unbekannte Tiefe. 2000 Meter — 2500 . . . . der eiserne Delphin wollte noch immer in keiner einzigen Fuge knacken.

»2510 — 20 — 30 — 40,« las Scott laut ab vom Manometer, »50 — 60 — 70 . . . .«

»Wir gehn doch in den Keller hinunter, und mir wird's so warm,« flüsterte Jochen seinem Kameraden zu.

»Ja ja, nee nee, 's ist wirklich so.«

Nobody hatte die geflüsterte Bemerkung gehört, und so wußte er, daß auch noch andere die Zunahme der Wärme verspürten, die er erst nur für eine Folge seiner inneren Erregung gehalten hatte. Von jetzt an beobachtete er auch das Thermometer.

»3000 — und 10 — 20 — 30 . . . . .«

Aller 20 Sekunden mußte Scott eine Zahl sagen, das kontrollierte Nobody auf der Uhr, und das stimmte nicht mehr.

»Wie schnell sinken wir?«

»Immer noch einen halben Meter in der Sekunde,« entgegnete Anok, der den betreffenden Hebel bediente.

»Den Zusatz ›in der Sekunde‹ darfst du nie machen. Wir brauchen zu 10 Metern jetzt 28 Sekunden.«

»Wie kommt das?« fragte Scott.

»Wir müssen uns in einer von unten nach oben gehenden Strömung befinden.«

»Merkst du nicht, Alfred, daß es recht warm wird?«

»Ja, es ist eine warme Strömung.«

Wir überspringen die nächste Viertelstunde.

Bei 4000 Metern zeigte das Thermometer 26 Grad Celsius, die Bordwände fühlten sich heiß an.

»Alfred, übertreib nur die Sache nicht,« warnte Scott; »aus dem Meeresgrunde bricht ein kochend heißer Strom hervor.«

Noch 246 Meter ging es hinab, dann war die Hitze nicht mehr auszuhalten, und vom heftigen Strom getrieben schoß das erleichterte Boot nach oben.

Sie waren also genau 4246 Meter hinabgegangen, wie es auf der Karte angegeben, und sie hatten noch keinen Grund erblicken können. Tiefer waren auch die ersten Entdecker der heißen Quelle auf dem Meeresboden nicht gedrungen, auch sie waren von der unerträglichen Hitze zur Umkehr gezwungen worden, die letzte Tiefe hatten sie eingetragen und ein Fragezeichen hinzugesetzt.

Und was sollten die schwarzen Kreuze bedeuten? Nun, diese Gegend war gefährlich genug. Gesetzt den Fall, der Delphin fuhr einmal auf dem Meeresgrunde hin — wie Scott gestern gewollt hatte — und der Delphin geriet plötzlich mit voller Fahrt in den heißen Strom, der vertikal aus dem Meeresgrund hervorbrach, sicher nicht nur eine kleine Quelle, sondern ein breiter Strom, so konnten die Insassen im Augenblick gekocht oder vielmehr gedämpft sein.

Besonders für Scott aber lag hier noch ein ganz anderes Rätsel vor als dieser unterirdische Heißwasserstrom, der schließlich nicht einmal eine allzu seltene Naturerscheinung ist, man kennt noch mehrere Stellen, wo auf dem Meeresgrunde heiße Quellen hervorbrechen, freilich nicht von solcher Mächtigkeit, von der Tiefe gar nicht zu sprechen.

»Es ist mir nur unerklärlich,« meinte der Kanadier kopfschüttelnd, »wie dieser von Platten umgebene Hohlraum einen Wasserdruck von mehr als 4000 Metern aushalten kann.«

»Nicht unerklärlicher als die elektrische Batterie und noch manches andere, als fast alles, was wir hier um uns erblicken und benutzen,« setzte Nobody hinzu. —

Einige Stunden des nächsten Tages wurden dazu geopfert, um die Vorrichtung zu probieren, durch welche man das Boot im Taucherkostüm auch unter Wasser verlassen und wieder hineingelangen konnte.

Der Beschreibung nach war diese Vorrichtung einfach genug. Der Taucher legte sich in einen an der Bordwand befindlichen Kasten und öffnete von innen eine Tür, welche direkt ins Meer führte. Ebenso gelangte er wieder zurück, nur daß der Kasten dann erst ausgepumpt werden mußte, was aber in einer Minute geschah.

Diese Exerzitien fanden auf einer Stelle statt, an welcher die Logleine eine Tiefe von nicht ganz vierzig Metern zeigte. Tiefer konnte der Taucher ja auch nicht in diesem Kostüm gehen, und es gehörte schon eine starke Körperkonstitution dazu, um solch einen Wasserdruck ohne Unpäßlichkeiten aushalten zu können, die mit Nasenbluten anfangen und mit Herzschlag aufhören.

»Einen Tauchapparat, in dem ein einzelner Mann noch tiefer dringen kann, sich darin frei bewegend, hat der Herr der Erde doch noch nicht erfunden,« meinte Scott.

»Na, sage das nicht,« entgegnete Nobody, der seinen Mephistopheles, obgleich er ihn als Feind betrachtete, durchaus nicht herabsetzen lassen wollte. »Wir haben vorläufig nichts weiter als das Wrack des Walfischs gesehen und besitzen nur dieses Hilfsbeiboot. Unsere Kenntnisse sind noch sehr gering, und ich habe doch auch schon Namen von noch anderen Unterseebooten gehört, so z. B. den Namen ›Luzifer‹ dessen Besatzung Gott Nemo erfrieren und verhungern ließ, und wer weiß, was für Hilfsmittel die noch besitzen, um das Meer zu erforschen und von seinem Grunde ungesäte Ernte zu halten.«

Doch vorläufig mußte man sich im Skaphander mit der Erreichung einer Tiefe von höchstens vierzig Metern begnügen.

Einer nach dem anderen machte die Probe durch, den Delphin zu verlassen und wieder hineinzugelangen, in verschiedenen Tiefen, es gab manchen Handgriff zu lernen, andere Exerzitien wurden vorgenommen, Scott, Anok und Jochen mußten schnell hintereinander sich hinausbegeben, es wurde angenommen, daß sich einer der Taucher in Lebensgefahr befand, schließlich gesellte sich auch noch Nobody hinzu, so daß sich alle vier im Wasser befanden.

Dabei war nicht etwa nötig, daß der letzte Mann das Boot oben durch die Luke verließ, oder daß der Delphin mit offener Luke an der Wasserfläche schwimmen blieb, wegen der Rückkehr des ersten Mannes.

Dieser kroch einfach in den Kasten zurück und konnte von innen das Pumpwerk durch einen Hebel in Bewegung setzen.

Doch der erste Versuch war zur Vorsicht an der Wasseroberfläche gemacht worden, der letzte fand auf dem Meeresgrunde statt.

Hierbei, als sich alle vier Männer im Wasser befanden, näherte sich ihnen einmal ein großer Haifisch. Wieder war es dasselbe. Nur bis auf eine gewisse Distanz kam er heran, dann wandte er sich unter allen Zeichen des Erschreckens blitzschnell um und schoß davon.

Merkwürdig! Weshalb floh er? Der Hai fürchtet sich sonst durchaus nicht vor einem Taucher, der Glockenhelm und der lange Schlauch, der hier also fehlte, irritiert ihn nicht, um einmal eine Hand wegzuschnappen, wenn der Taucher sie für den so ungünstig gelegenen Rachen des Hais nur einmal mundgerecht hält.

Das heißt, der Hai hatte nur davonschießen wollen. Weit kam er nicht. Ein anderer schoß noch schneller.

Nobody hatte eine eigentümlich gestaltete Pistole vom Gürtel gerissen, ein weißer Streifen von Luftblasen glitt durch das Wasser, dem Haifisch nach, erreichte ihn, das Ungetüm zuckte zusammen — und trieb als Leiche nach oben, um nach kurzer Zeit wieder zu sinken und dann erst nach einigen Tagen, wenn sich im Leibe die Gase ansammelten, abermals nach oben zu kommen.

Wir wissen bereits, daß die ›Udlindschis‹ Luftpistolen und Luftgewehre besaßen. Nobody hatte solche schon auf dem abessinischen Plateauberge vorgefunden und einige mitgenommen, mehr noch zurückgelassen, in den Händen der Abessinier.

Doch es war ganz ausgeschlossen, daß diese Gebrauch von diesen Waffen machen konnten. Bei der Bedienung war ein Geheimnis, dessen Enträtselung manch genialem Waffentechniker zu schaffen gemacht hätte. Nobody selbst hatte lange Zeit dazu gebraucht, und dann hätte er dieses Geheimnis niemals der Oeffentlichkeit preisgegeben. Es war besser, die Menschheit erfuhr niemals etwas von dieser furchtbaren Waffe, die mit Elektrizität geladene Glaskugeln schoß, und war die Menschheit so weit, sie benutzen zu können, dann würde dieselbe Erfindung schon noch von anderer Seite gemacht werden. Nur von dem Manne, der sich selbst Mephistopheles und den Fürsten der Hölle genannt hatte, sollte die Welt sie nicht erhalten. Selbst in der größten Lebensgefahr hatte Nobody niemals Gebrauch von dieser Waffe gemacht, das ging gegen sein Gewissen; deshalb trug er gar keine bei sich, die mitgenommenen Waffen ruhten unter Schloß und Riegel in seinem Hause.

Es ist wohl selbstverständlich, daß diese Waffen in hinreichender Anzahl für vier Personen auch auf dem Delphin vorgefunden wurden, ebenso genügende Munition. Aber das Wesen der kleinen Glaskugeln war für Nobody noch immer ein vollkommenes Rätsel, er konnte nur ahnen, daß sie mit Elektrizität von furchtbarer Spannung geladen seien, jedem lebenden Geschöpf den augenblicklichen Tod bringend.

Weitere Untersuchungen waren, wie hundert andere, erst noch anzustellen. —

Eine halbe Stunde hatten sich die vier Männer zusammen im Wasser befunden, als sie wieder in den Delphin zurückkehrten.

Zuerst benutzte Nobody den Sicherheitskasten, dann folgte Scott, und als sich dieser im Innern befand und den Taucherhelm abschraubte, fiel ihm gleich das Gesicht seines Freundes auf.

»Was hast du, Alfred? Es ist doch nichts passiert?«

»Erst lass' die beiden anderen herein, dann will ich dir eine Mitteilung machen.«

Als aber Jochen und Anok sich ebenfalls wieder im Delphin befanden, schien Nobody seinen Entschluß, eine Mitteilung zu machen, zu bereuen.

»Nun?« fragte Scott.

»Ach, nichts,« entgegnete Nobody, dabei aber irrten seine scharfen Augen in auffallender Weise in dem engen Raum umher.,

»Du siehst geradeso aus wie damals, als du behauptetest. . .«

»Unsinn, ich behaupte niemals etwas, was ich nicht beweisen kann.«

Mit diesen Worten setzte sich Nobody vor das Hebelsystem und brachte den Delphin in Gang.

Mit einem Male sprang er heftig auf, aber jetzt ohne noch mit dem Kopfe gegen die Decke zu rennen.

»Edward!!«

»Was gibt es?«

»Bemerkst du nichts?«

»Wir fahren ja mit einem Male recht schnell?« meinte Jochen, was sein Freund durch seine stereotype Redensart bestätigte.

»Wahrhaftig!« rief jetzt auch Scott.

»Und das ist keine Täuschung — da — betrachte den Geschwindigkeitsmesser — er weist auf zwanzig Knoten — und so weit habe ich den Hebel gestellt — der Apparat funktioniert wieder!!«

Nobody, von dem immer wieder bemerkt werden muß, daß er sich bei Gelegenheit gern gehen ließ, wie es ihm seine innere Natur gebot, war außer sich. Scott schien es nicht bemerken zu wollen.

»Hm, merkwürdig!« brummte er in seiner phlegmatischen Weise. »Da hat sich eben der Fehler von selbst wieder beseitigt.«

»Merkwürdig? Merkwürdig?« wiederholte Nobody heftig. »Und ich sage dir: ich habe beim Betreten des Delphins gewußt, daß wieder etwas passiert war — ich habe gefühlt, das während unserer Abwesenheit wiederum ein fremder Mensch in unserem Fahrzeug gewesen ist!!!«

Mit einer Überzeugungskraft hatte Nobody es gerufen, die gar keinen Zweifel aufkommen ließ, und es läßt sich denken, was für einen Eindruck das auf die drei anderen machte, besonders auf die beiden Matrosen.

»Ein fremder Mensch?« flüsterten sie, und jetzt blickten auch sie sich mit scheuen Augen in dem engen Raume um.

»Ein fremdes Wesen — ich fühle es — ich weiß es — ich . . . .«

Nobody brach ab, und plötzlich wich seine Aufregung einer eisernen Ruhe.

»Die Luke stand ja allerdings offen, als wir uns alle vier im Wasser befanden,« meinte Scott in seiner phlegmatischen Weise.

»Ja.«

»Aber wer soll denn nur . . . .«

»Halt's Maul,« wurde der sprechende Matrose angeschnauzt, während Scott doch wenigstens noch ein ›Ja‹ zu hören bekommen hatte.

Also es sollte hierüber gar nicht mehr gesprochen werden, was hiermit zur Genüge angedeutet worden war.

Nobody setzte sich an den Steuerapparat, lenkte den Delphin um und fuhr dieselbe Strecke zurück, von Scott eine geographische Berechnung machen lassend. Da auch vorhin eine solche gemacht worden, als der Delphin stillgelegen, konnte er genau auf dieselbe Stelle dirigiert werden.

Als seine Lage stimmte, kleidete sich Nobody nochmals in das Taucherkostüm und verschwand im Wasser. Erst nach einer halben Stunde kam er wieder, entledigte sich seines Kostüms, setzte sich schweigend an den Steuerapparat.

»Hast du auf dem Meeresboden nach Spuren gesucht?« durste Scott fragen.

»Ja.«

»Etwas gefunden?«

»Nichts.«

Hiermit war diese Angelegenheit ein für alle Mal erledigt.

Der Apparat aber, der die Geschwindigkeiten einstellte, funktionierte wieder tadellos, das war eine Tatsache, er versagte nie wieder, und die anderen drei erfuhren einmal, was es heißt, mit einer Schnelligkeit von fünfunddreißig Knoten oder neun deutschen Meilen durch das Wasser zu fahren. Auf dem Wasser war das fast gar nicht möglich, der Delphin sprang manchmal von ganz allein heraus, stellte sich aus den Kopf und auf die peitschende Schwanzspitze, die volle Kraft wurde nur unter Wasser ausgenutzt, und hier verwandelte er das klare Wasser ringsum in weiße Milch.

Diese Geschwindigkeit konnte nicht beibehalten werden. Die diente nur zum Entrinnen aus einer Gefahr und war selbst gefährlich. Man hatte dabei ja gar keinen freien Blick.

Der Hebel wurde auf eine Geschwindigkeit von zwanzig Knoten eingestellt, welche damals noch von keinem Schnelldampfer erreicht ward, nur vom Torpedoboot, und bei dieser Fahrt brauchte man nur noch vier Tage bis zum festgesetzten Ziele.

Es war am anderen Tage in der Mittagsstunde. Dreißig Stunden lang war der Delphin schon so gerast.

Scott und Jochen gingen Wache, oder richtiger saßen Wache, Nobody und Anok schliefen.

Da ward Nobody aus dem festesten Schlafe durch die Empfindung gerissen, daß der Delphin plötzlich stand. Er mußte mit Macht gebremst worden sein.

Mit klaren Augen aufblickend, sah er in das Gesicht des Kanadiers, der eben die Hand ausgestreckt hatte, um den Schläfer an der Schulter zu rütteln, und . . . . . . dieses Gesicht war ganz verstört, wie Nobody es bei diesem Manne niemals für möglich gehalten hätte.

Mit gleichen Füßen sprang Nobody auf.

»Um Gottes willen, was ist denn geschehen?!«

»Jochen ist weg.«

»Weg?! Was soll das heißen?«

»Er ist verschwunden, ist nicht mehr hier.«

»Nicht möglich! Oder der Unglückliche hat sich doch nicht etwa auf die Plattform begeben?«

Noch ehe Nobody den Verschluß der nach oben führenden Luke untersuchte, verwarf er diesen Gedanken von selbst schon wieder.

Jochen Puttfarken, dieser Seemann von krummen Kindesbeinen an, würde sich, um frische Luft zu schöpfen, auf den Rücken des Delphins wagen, über den sich ununterbrochen das schäumende Wasser ergoß, bei zwanzig Knoten Fahrt! Ganz undenkbar.

Außerdem waren die sämtlichen Schrauben des Lukendeckels von innen angezogen.

»War der Lukendeckel offen?« fragte Nobody doch noch.

»Nein. So wie jetzt. Du denkst doch nicht etwa, Jochen hätte sich nach oben begeben?«

Scott war also ganz derselben Meinung.

Da war schon eher denkbar, daß sich Zwergnase aus Narrheit irgendwo versteckt hielt, Platz genug fand er ja überall.

»Jochen, Nasenkönig, Zwergnase, he!!!«

Keine Antwort. Das war ja auch nur so ein Einfall gewesen, daß sich der Matrose versteckt haben könnte.

Jetzt wurde Nobodys Gesicht nicht minder verstört als das seines Freundes.

»Da gibt es nur noch eine Möglichkeit.«

»Daß man auf irgendeine Weise aus dem Boote herausgelangen kann.«

»Ja. Steht davon nichts in dem Erklärungsbuche?«

»Nein. Hast du nichts davon bemerkt?«

»Nein.«

Nobody wollte an eine Untersuchung des Bootes gehen, gab es aber sofort wieder auf. Jetzt handelte es sich nicht darum, zu erklären, wie der Verschwundene hinausgelangt war, sondern wie man ihn wieder hereinbrachte.

»Wann ist es denn geschehen?«

Ja, wenn Scott das hätte angeben können!

Die Tatsachen waren folgende: Um acht Uhr übernahmen Scott und Jochen die vierstündige Wache. Der Matrose war der eigentliche Lenker des Bootes, er saß hinter dem Hebelsystem und beobachtete zugleich den Spiegel. Scott war zurzeit der Kapitän, nur dazu da, um im Falle der Not helfend einzuspringen. Sein Platz war weiter vorn im Fahrzeug, er drehte dem Steuernden den Rücken, hier hatte er die ganzen vier Stunden jene Karte studiert.

Um neun Uhr war es gewesen, als Jochen einen Dampfer gemeldet hatte. Scott nahm davon Notiz und vertiefte sich wieder in seine Karte.

»Und mehr kann ich nicht sagen. Ich habe niemals hinter mich geblickt. Jochen saß doch natürlich am Apparat, hatte mir nichts zu melden. Dreiviertel zwölf mußtet ihr geweckt werden. Die darauf eingestellte Uhr gab dazu das Glockensignal. Da fiel mir auf, daß Anok, dessen Lager sich vor mir befindet, von Jochen nicht geweckt wurde, wie es seine Pflicht gewesen, es sei denn, er hätte mir gemeldet, daß er vom Steuerapparat nicht abkommen könne. Jetzt drehte ich mich um — Jochen war nicht mehr da.«

Nobody hatte seine vollkommene Ruhe wiedergewonnen. Während Scotts Angaben hatte er bereits eine geographische Berechnung gemacht und dann das Boot gedreht, ließ es mit halber Kraft zurückfahren.

»Haft du gehört, daß Jochen seinen Platz einmal verlassen hat?«

»Nein. Bei dem Geräusch, welches die Reibung des Wassers erzeugt, wäre das auch schwer zu hören, wenn sich nicht jemand besonders laut macht.«

»Auch keinen Schrei, kein Schnappen oder dergleichen?«

»Gar nichts.«

»Wie lange hast du nach ihm gerufen und gesucht, ehe du den Delphin stopptest und mich wecktest?«

»Als ich dich weckte, war es zehn Minuten vor zwölf. Also fünf Minuten.«

»Und wann meldete Jochen den Dampfer?«

»Zwei Minuten nach neun. Dort steht es notiert.«

»Hm, so könnte er im schlimmsten Falle schon zwei Stunden achtundvierzig Minuten im Wasser liegen, das entspräche bei zwanzig Knoten Fahrt sechsundfünfzig Meilen, die wir ihn eventuell schon hinter uns haben.«

»Ja ja, nee nee, das stimmt ganz genau,« bestätigte Anok mit weinerlicher Stimme.

Nobody, der gerade in den schwierigsten Fällen so überaus korrekt, sogar pedantisch sein konnte, hatte wohl nur zu sich selbst gesprochen. Er erwachte aus seinem Sinnen, wandte sich an den Freund.

»Edward! Ich lasse den Delphin bereits zurückgehen, um Jochen zu suchen. Das ist selbstverständlich. Was getan werden kann, wird eben getan. Aber . . . . Edward . . .«

»Natürlich bin ich bereit, mich in Clairvoyance zu versetzen,« kam Scott dem zuletzt Zögernden zu Hilfe. »Gilt es doch, unseren braven Freund zu retten, und bei der Sympathie, die ich für den wackeren Jungen empfinde, wie die Sache überhaupt liegt, wird das Hellsehen sofort eintreten.«

Sofort begab sich der Kanadier nach dem entfernten Schemel, den anderen den Rücken drehend, und so blieb er mit gesenktem Kopfe sitzen, wahrscheinlich die Augen geschlossen.

Einige Minuten vergingen — ewige Minuten der gespanntesten Erwartung für die Beobachter, besonders für Nobody, welcher wußte, was sein Freund jetzt zu tun beabsichtigte.

»Du mußt das Boot einmal halten lassen,« erklang es dann von dem Schemel her, »das Stampfen und Zittern irritiert mich.«

Es geschah. Gänzlich bewegungslos lag der eiserne Fisch auf der glatten Wasserfläche.

Wieder vergingen einige Minuten. Dann stand Scott auf, er sah bleich und niedergeschlagen aus.

»Seltsam,« murmelte er, »ob ich nicht disponiert bin oder was es sonst ist — es will gar nichts kommen.«

»Versuche es noch einmal.«

»Es hat wirklich keinen Zweck, Alfred. Ich habe für Jochen solch eine große Sympathie, ich weiß ihn in furchtbarer Lebensgefahr, aber. . . der Schleier will sich vor meinen Augen durchaus nicht lüften. Daraus kann man höchstens schließen, daß mein unbewußtes Ich bestimmt weiß, wie ihm keine Gefahr droht.«

»Das wäre allerdings sehr gut, aber es läßt uns doch in schrecklichem Zweifel. Den schwimmenden Mann haben doch sofort die Haifische aufgespürt. Hast du nicht die Kristallkugel bei dir?«

»Ja.«

»Willst du nicht mit der einmal probieren?«

»Gewiß.«

Scott entnahm einem Futteral die Kristallkugel, stellte sie auf die Tischplatte, setzte sich davor und blickte mit starren Augen in das geschliffene Glas. Weitere Vorbereitungen waren nicht nötig.

»Auch wieder nichts,« murmelte er nach einer Weile.

»Dann ist er doch nicht etwa schon tot?!« flüsterte Nobody.

»Das bezweifle ich. Du weißt, daß ich in diesem Falle den Betreffenden in einem Sarge liegen sehen würde, wenn das in Wirklichkeit auch gar nicht der Fall zu sein braucht. Das ist eben eine Ideenverbindung zwischen Sarg und Tod.«

»Oder zeigt sich der schwarze Vorhang, wie bei mir damals, mit dem sich das Schicksal verhüllen will?«

»Auch nicht. Ich sehe gar nichts, der Kristall bleibt durchsichtig. Eigentlich fühle ich mich recht gut disponiert dazu, mein Herz drängt sich mit allen Fasern danach, den Verunglückten zu schauen, ich kann meine Gedanken vortrefflich auf ihn konzentrieren — es will nichts erscheinen.«

Durch Nobodys Kopf zuckte ein Gedanke: hatte der junge Mann seine Sehergabe, die ihn so unglücklich machte, vielleicht schon verloren? Durch Nobody und während der Enträtselung des Geheimnisses, das mit jenem Mephistopheles zusammenhing, sollte er ja von seinem Somnambulismus geheilt werden. So hatte ihm eine bestimmte Ahnung in Gestalt seines Doppelgängers, die ihn noch nie belogen, versichert.

Wenn dies der Fall, so war dies ja recht schön, aber gerade jetzt hätte man das Hellsehen des Kanadiers recht gut gebrauchen können. Außerdem wollte Nobody nicht glauben, daß sich diese heilende Umwandlung so stillschweigend vollzogen hätte. Seiner Ansicht nach mußte da irgendeine seelische Katastrophe eintreten, welche gleich den ganzen Mann umwandelte, und hiervon war bei Scott nichts zu bemerken, er war in letzter Zeit einsamer und niedergeschlagener denn je gewesen.

Aber auch noch ein anderer Gedanke war durch Nobodys Kopf gezuckt. Wie kam es nur, daß er noch gar nicht daran gedacht hatte?

»Edward, bist du empfänglich für Hypnose?«

»Ich weiß es nicht.«

»Hast du dich noch nicht hypnotisieren lassen?«

»Noch niemals.«

»Soll ich dich einmal hypnotisieren?«

»Gewiß, warum nicht! Du meinst, daß du mir in der Hypnose befehlen kannst, hellsehend zu werden?«

»Es kommt auf einen Versuch an.«

»So mache ihn.«

Scott mußte sich bequem hinsetzen, mit dem Rücken gegen die Bordwand gelehnt, Nobody wandte verschiedene Methoden an, um ihn in hypnotischen Schlaf zu versetzen — ohne Erfolg.

Es war zu erwarten gewesen. Mochten diese Augen noch so träumerisch sein, sie gehörten dennoch einem höchst energischen Manne an, der sich nicht so leicht einem fremden Willen beugte.

Nobody zog aus seiner inneren Westentasche eine Phiole hervor.

»Nun bleibt nur noch dieses innere Mittel, dem auch du nicht widerstehen wirst. Darf ich es bei dir anwenden?«

»Warum nicht?«

»Es ist vollkommen unschädlich, es hinterläßt nicht die geringste. . . . .«

»Das weiß ich, denn hätte es eine schädliche Wirkung, so würdest du, Alfred, es auch nicht bei deinem schlimmsten Feinde anwenden.«

Wieder einmal war über Nobodys Charakter ein glänzendes Zeugnis ausgestellt worden, und zwar aus einem Munde, der keine Schmeichelei kannte.

Nur wenige Tropfen mit einem Löffelchen eingeflößt, und Scott verdrehte die Augen nach oben. Er war hypnotisiert.

»Hörst du mich sprechen, Edward?«

»Ja.«

»Wo befindet sich Jochen?«

»Ich — weiß — es — nicht.«

»Weißt du, daß er aus dem Innern des Delphins verschwunden ist?«

«Ja.«

»Wo befindet er sich zurzeit?«

»Woher — soll ich — das wissen?«

Nobody war nicht im geringsten überrascht über diese Unkenntnis.

Er raffte all seine Willenskraft zusammen. Jetzt kam es darauf an!

»Edward, ich befehle dir, mir zu gehorchen!!«

»Ich — gehorche,« röchelte der Hypnotisierte.

»Ich befehle dir, hellsehend zu werden! Werde hellsehend!!!«

Da ging mit dem jungen Kanadier eine fürchterliche Verwandlung vor sich. Von selbst drehten sich seine Augen in ihre natürliche Lage zurück, aber nur, um einen noch unnatürlicheren Anblick zu gewähren, das waren die starren, gläsernen Augen eines soeben Verstorbenen, und so hatte auch das ganze, sonst so gesunde Antlitz eine blaßgelbe Leichenfarbe angenommen, und nun noch dazu die Züge plötzlich ganz eingefallen, wie verwest. . . . .

Es läßt sich gar nicht beschreiben. Jedenfalls war der Anblick ein derartig schrecklicher, daß sich Anoks Haar vor Entsetzen sträubte, und Nobodys bemächtigte sich der furchtbare Gedanke, daß er seinen Freund getötet hätte.

»Edward!!«

Ein Zucken verriet, daß noch Leben in der Leiche war, und mit Gewalt raffte sich Nobody empor, er hatte wieder den Zweck vor Augen.

»Du siehst den über Bord gefallenen Jochen, ich befehle es dir!!«

»Ich — sehe — ihn,« kam es röchelnd wie aus einer Totengruft heraus.

Gelobt sei Gott! Wieder einmal bewies die Hypnotik ihre segensreiche Macht, die sie in vernünftigen Händen haben kann.

»Was siehst du?«

»Er ringt —- verzweifelt — mit den Wellen.«

»Er wird nur schwimmen — die See ist doch ganz ruhig«

»Die See ist — aufgewühlt — von Haifischen — die ihn umringen.«

»Wo?!« stieß Nobody in furchtbarer Aufregung hervor, und schon hatte er den Hebel gedreht, der dem Delphin eine Schnelligkeit von 35 Knoten verlieh, schon verwandelte sich das Wasser in weißen Schaum. »Kannst du nicht eine geographische Angabe machen?«

»32 Grad 14 Minuten 24 Komma 8 Sekunden südliche Breite: 161 Grad 6 Minuten 37 Komma 1 Sekunden östliche Länge,« lautete die prompte Antwort, wobei noch bemerkt werden mag, daß dem Hellseher bei solchen Gelegenheiten, wenn es sich um eine Gegend handelte, diese ihm immer wie mit Längen- und Breitengraden überzogen vorkam. Bei einem astronomisch gebildeten Seemanne ist das begreiflich.

»Dort schwimmt Jochen?« vergewisserte sich Nobody nochmals.

»Ja.«

Nach Nobodys ungefährer Berechnung, die dann noch genau erfolgen mußte, befand man sich von diesem Punkte gegen 30 Seemeilen entfernt. Und von hungrigen Haifischen umringt! Da war die höchste Eile geboten, wollte man den Unglücklichen noch retten.

Doch der Delphin war ja schon in voller Fahrt, beschleunigt konnte sie nicht mehr werden, und den genauen Kurs konnte man dann noch bestimmen.

Und wiederum zuckte ein Gedanke durch Nobodys Kopf.

»Edward, liebst du Agathe noch?«

«Ja?«

»Suchst du sie, um dich wieder mit ihr zu vereinen?«

»Ja.«

»So befehle ich dir: Werde hellsehend und schaue sie!!!«

Warum nahmen die starren Augen da plötzlich solch einen entsetzten Ausdruck wie das ganze Leichengesicht an?

Jetzt war das Eisen glühend, jetzt mußte es geschmiedet werden!

»Was siehst du, Edward?«

Lange kam keine Antwort, nur ein Röcheln und Stöhnen, und dann war die Antwort eine ganz andere als auf die gestellte Frage.

»27 Grad 9 Minuten 12 Sekunden südliche Breite; 133 Grad 36 Minuten 16 Sekunden östliche Länge,« erklang es röchelnd, ein Schauer ging durch den ganzen Körper, und mit einem Male verdrehten sich die stieren Augen von selbst wieder in die Höhe, aber auch die Augenlider senkten sich, was eigentlich bei dem Hypnotisierten ohne Erlaubnis gar nicht geschehen durfte, und gleichzeitig kehrte auch die gesunde Gesichtsfarbe zurück.

Tief und gleichmäßig atmend, lehnte Scott gegen die Bordwand. Der Zustand der Hypnose war von selbst in einen natürlichen Schlaf übergegangen — ein Fall, der Nobody noch gar nicht vorgekommen war, der ihm besonders unmöglich dünkte, wenn er die Hypnose durch dieses innerliche Mittel erzeugt hatte.

Hier war es Tatsache, daran war kein Zweifel. Zugleich aber war sich Nobody auch bewußt, daß er bei dem somnambul veranlagten Medium durch das Mittel einen Zustand erzeugt hatte, der noch weit, weit über den hypnotischen Schlaf hinausging — einen Zustand der Seele, für den der Mensch noch keinen Namen hat, und der ihm wohl auch ewig ein Rätsel bleiben wird, noch viel mehr als die so bekannte Erscheinung des Schlafes und des Traumes.

»Edward!«

Er zuckte zusammen, blickte mit schlaftrunkenen Augen auf, rieb sie sich, und dann wurden die Augen klar, wie Nobody sie zuvor noch nie geschaut hatte.

»Ah, richtig, du hattest mich hypnotisiert! Nun? Gelang es? Hast du etwas erfahren können?«

Nobody hatte das Gefühl, als sei die große Umwandlung der Seele bei dem Freunde jetzt eingetreten, doch er hatte keine Zeit, sich weiter damit zu beschäftigen.

Der Ort war bekannt, wo Jochen mit Wellen und Haifischen kämpfte, und dieser war 30 Seemeilen entfernt — das überwog jetzt alles andere, es mußte gehandelt werden!

Mit Sturmeseile setzte der Delphin seine Rückfahrt fort, alle fünf Minuten mit einem Ruck stehen bleibend, damit man Umschau halten konnte, was sonst besonders wegen des schäumenden Wassers gar nicht möglich war, wobei dann auch jedesmal der eine schnell eine geographische Berechnung machte.

Kam eine Unterhaltung zustande, so wurden nur die Gewohnheiten der Haifische erwogen, Fälle angeführt, wo Schwimmer von den Hyänen des Meeres umringt gewesen waren.

»Ich habe auch einmal eine ganze Stunde zwischen Haifischen gelegen, jaja, nee nee,« trug Anok mit das Seine bei. »Nur egal tüchtig mit Händen und Beinen zappeln, dann tun sie einem nischt, aber wenn man . . . dort ist er, dort ist er,« unterbrach er sich schreiend, »er kommt gleich auf einem Haifisch angeritten, ja ja, nee nee!!!«

Wenn Nobody und Scott auch laut hätten aufjubeln mögen, so mußten sie sich doch fragen, ob sie ihren Augen trauen durften.

Ja ja, nee nee, dort kam der Nasenkönig wirklich angeritten — nur nicht auf einem Haifisch, sondern . . . auf einem Seelöwen!

Und es war keine optische Täuschung, es blieb dabei! Jochen Puttfarken, dessen Säbelbeine zum Reiten wie geschaffen waren, saß rittlings auf dem Rücken des Seelöwen, machte ein noch pfiffigeres Gesicht als dieser und wackelte mit den Elefantenohren.

Schnell hatte die Robbe den eisernen Freund erreicht.

»Hüh Hot brrrrr,« hörte man Jochen sagen, er gab seinem Reittier mit der Hand einen Klatsch, voltigierte wie ein Kunstreiter auf seine Füße und vom Rücken des Seelöwen auf den des Delphins.

Nobody öffnete die Luke, Jochen befand sich wieder im Innern, nur die Füße bis zu den Knien waren noch naß, die oberen Kleider schon wieder getrocknet.

Er erzählte, während der Delphin wieder die Richtung nach Westen einschlug, nur langsamer, daß ihm die Robbe folgen konnte.

Kurz nach jener Meldung war es gewesen, also kurz nach neun Uhr, als der Steuernde einmal seinen Platz verlassen hatte und nach hinten gegangen war. Der Bleistift hinterm Ohr war ihm entfallen und ganz nach der Seite gerollt, in einer Spalte verschwunden, und um ihn wiederzubekommen, hatte sich Jochen der Länge nach hinlegen, den Körper fest gegen die Wand drücken müssen.

Was nun geschehen, konnte er nicht erzählen. Plötzlich war er hinausgeschleudert worden und hatte im Wasser gelegen, und als ihm das nun zum Bewußtsein gekommen, war der Delphin schon weit, weit entfernt gewesen.

Nicht lange hatte es gedauert, so war er von Haifischen umringt gewesen. Noch aber wagten die an sich so feigen Tiere den rüstigen Schwimmer nicht anzugreifen. Und dann plötzlich war unter ihm der Seelöwe aufgetaucht, hatte ihn gleich beim Auftauchen rittlings auf den Rücken genommen, und mit einem Male waren alle Haifische davongestoben. Und der Seelöwe war mit seinem Reiter fortgeschwommen, nach Westen zu — bis jetzt.

Das war alles, was Jochen zu erzählen vermochte. Vor allen Dingen konnte er absolut keine Angaben über die einzelnen Zeiten und Zeitlängen machen. Das zeigte sich schon dadurch, daß er meinte, es seien sechs bis acht Stunden vergangen, seitdem er auf so rätselhafte Weise ins Wasser geschleudert worden, während es in Wirklichkeit doch nur drei Stunden gewesen waren. Und so hatte sich in seiner Todesnot alles in die Länge gezogen. Man schwimme nur einmal eine Viertelstunde, wie lang die einem wird!

»Wie schnell ist der Seelöwe mit dir geschwommen?«

»Master, das kann ich, bei Gott, nicht sagen! Mir war es immer ganz dumm im Kopfe. Erst als ich den Delphin kommen sah, wurde es mir etwas klarer darin, da fühlte ich mich wieder als lebendiger Mensch.«

»Alfred,« nahm da Scott das Wort, »findest du denn hierbei nicht ein großes Rätsel?*

»Was für ein Rätsel?« war die zerstreute Gegenfrage.

»Nun, wir sind doch dreißig Stunden lang Tag und Nacht mit einer Geschwindigkeit von zwanzig Knoten gefahren, der Seelöwe hat schon gezeigt, daß er da nicht mitkommen kann, und nun war er mit einem Male wieder so dicht hinter uns her, daß er den schwimmenden Jochen aufnehmen konnte, und nach meiner Meinung ist das fast sofort geschehen, Jochen ist gar nicht so lange geschwommen. Wie ist das nun zu erklären?«

Nobody antwortete nicht, er warf dem Freunde nur einen Blick zu, und dieser schien zu sagen: Was verlangst du von mir solch eine Erklärung? Bin ich denn allwissend? Bin ich nicht auch nur ein Mensch?

Und auch fernerhin ging Nobody gar nicht weiter darauf ein. Er ließ sich von Jochen den Platz zeigen, wohin er sich gelegt hatte, und da erwies sich, daß sich in dem Delphin eine Einrichtung befand, von welcher in dem erklärenden Buche nichts angegeben war; wahrscheinlich war sie erst später angefertigt worden.

Am Boden nahe der Bordwand befand sich eine Platte, und ein Druck auf einen Knopf genügte, um sie mit ungeheurer Federkraft emporzuschnellen, wobei zugleich eine Platte der Bordwand hinausgedrückt wurde, doch alles in demselben Augenblicke zurückspringend, mit einer Schnelligkeit, daß dabei auch kein einziger Tropfen Wasser eindringen konnte.

Diese Vorrichtung diente dazu, um unliebsame Gegenstände auch unter der Wasseroberfläche aus dem Boote herausbefördern zu können.

Was der unglückliche Jochen aus Versehen getan, wiederholte Nobody jetzt mit Absicht. Er legte sich auf die Platte, drückte den Knopf — wie durch Zauberei befand er sich plötzlich draußen im Wasser, erst etwas unter der Oberfläche, tauchte auf und schwamm.

Da aber kam auch schon der Seelöwe, der bisher wieder neben dem Delphin gespielt, angeschossen, tauchte unter und zwang den Schwimmenden förmlich, ihn zum Reittier anzunehmen.

Nobody klopfte ihm das sich so weich anfühlende Fell, der Seelöwe duldete auch, daß ihm die Hand am Maul tastete, und Nobody verspürte den heißen Atem.

»Es ist ein Tier,« sagte er, als er sich wieder im Innern des Delphins befand.

»Was soll es denn auch sonst sein?« meinte Jochen erstaunt. »Etwa so ein Fahrzeug aus Eisen wie hier der Delphin? Ich habe doch lange genug seinen Speck zwischen meinen Beinen gefühlt, und sogar während ich auf seinem Rücken saß, hat er noch jeden vorbeischwimmenden Fisch weggeschnappt und gleich verschlungen.«

Es war eine recht törichte Aeußerung, die Nobody getan hatte.

Noch an demselben Tage tauchte der Delphin einige hundert Meter hinab, um die Bedeutung des schwarzen Parallelogrammes zu ergründen.

Es war das Wrack eines Segelschiffs, welches dort aus dem Meeresboden lag, noch in allen Fugen festhaltend.

»Wieder etwas gelernt,« sagte Nobody. »Ein schwarzes Parallelogramm bedeutet ein gesunkenes Schiff. Die vollen Linien sollen wohl andeuten, daß es sonst noch ziemlich wohlerhalten ist, vielleicht auch noch des Hebens wert. Dann dürften gestrichelte Linien sagen, daß das Wrack schon aus den Fugen gegangen ist, und punktierte Linien, wie solche Parallelogramme besonders häufig an den Küsten eingetragen sind, dürften nur noch auf einen Schutthaufen schließen lassen.«

»Und wenn die Parallelogramme in anderen Farben angegeben sind?«

»Diese Bedeutung müssen wir erst noch ergründen.«

Eine Möglichkeit, ins Innere zu dringen, gab es nicht. In dieser Tiefe konnten die Skaphander nicht mehr benutzt werden.

»Glaubst du, Alfred, daß auch der Entdecker dieses Wracks und der Verfertiger der Karte es nicht untersucht hat?«

»Ich glaube vielmehr, daß er es getan hat. Sonst hätte er das Wrack wohl durch ein Fragezeichen markiert.«

»Dann muß er einen besonderen Apparat dazu besitzen.«

»Hoffentlich werden auch wir noch in den Besitz desselben kommen. Doch wir wollen uns nicht länger aufhalten, mich treibt es nach Australien.«

Als sie sich wieder an der Oberfläche befanden, war der Seelöwe abermals verschwunden. Sie warteten etwas — er kam nicht wieder, und Nobody stellte den Hebel auf zwanzig Knoten Fahrt.

Und dann stand er hinten und blickte mit verschränkten Armen sinnend auf das Meer hinaus, und wie drohend waren seine Augenbrauen zusammengerückt.

»Auch dieses Geheimnis werde ich noch lösen,« murmelte er, »denn ein Geheimnis ist mit diesem Seelöwen verbunden.«

Dann wandte er sich mit schneller Bewegung an den Kanadier.

»Du, Edward — ich will einmal annehmen, der Mephistopheles hätte einem Unterseeboote auch das Aussehen eines Seelöwen gegeben — möglich wäre es doch — möchtest du ein paar Wochen so auf dem Bauche liegen?«

»Na, ich danke!!« lachte Scott aus vollem Halse.

Erstaunt blickten die Freunde auf den schwermütigen Mann, der plötzlich so herzlich lachen konnte. Was war denn mit dem los?

Auch Nobody warf einen Blick auf ihn — aber er sagte nichts.

 

—————

 

IV.
Mordendes Gold.

 

»Des vorsätzlichen Mordes für schuldig befunden!« lautete der Spruch der Jury.

Die Geschworenen zogen sich zurück, und dann verkündeten sie das Urteil:

»Tod durch den Strang!«

Ein höhnisches Gelächter erscholl in dem mit Menschen vollgepfropften Saale. Der des Mordes Angeklagte und soeben zum Tode Verurteilte hatte es ausgestoßen, ein struppiger, wüster Gesell.

Die Richter mußten ihm dankbar sein, er hatte ihnen die Sache sehr leicht gemacht, aber die Bevölkerung von Port Hunter hätte diesen Schuft, dessen Herzensroheit keine Grenzen kannte, so gern gelyncht.

Der Fall war einfach genug. Eines Abends war in eine Schenke ein zerlumpter Kerl getreten, hatte mit den Gästen einen Streit vom Zaune gebrochen und war dafür von dem resoluten Dick Ham, einem Werftarbeiter, verprügelt und hinausgeworfen worden.

Dick Ham verließ die Kneipe eher als seine Kameraden. Kaum war er auf die finstere Straße getreten, so hörte man seine Hilferufe. Die Hinauseilenden sahen ihn auf dem Boden liegen, der Kerl trampelte auf ihm herum. Er hatte Dick draußen aufgelauert, mit Messerstichen traktiert und ließ an dem blutend auf dem Boden Liegenden nun auch noch auf diese bestialische Weise seine Wut aus.

Nur zwei Konstabler verhinderten, daß der feige Schuft nicht auf der Stelle totgeprügelt wurde. Da aber Dick Ham gleich darauf an den Messerstichen starb, war der Mord fertig.

»Hahaha! Ihr werdet euch hüten, mich zu hängen!«

So hatte er gelacht, als sich die Zellentür hinter ihm schloß, und diese Worte lachte er höhnisch auch den Richtern entgegen.

Er war geständig, prahlte sogar noch mit seiner Tat.

»Wer mich anrührt, den steche ich wie einen tollen Hund nieder, so habe ich's immer gehalten!«

So machte er gleich noch andere Geständisse.

»Wißt ihr, wer ich bin?« triumphierte er. »Ich bin Ned Rossel, schon unzählige Male vorbestraft, weil ich den Beleidiger meiner Ehre niedergestochen habe, und ich bin auch schon einmal wegen Mordes zum Tode verurteilt worden, aber man hat mich nicht lange halten können, dazu ist der Ned zu schlau, hahaha!«

»Wo sind Sie schon einmal zum Tode verurteilt worden?«

Zuerst wollte der Angeklagte nicht recht mit der Sprache heraus, dann sagte er es: in Sydney, vor zwei Jahren — und mäßigte seine ›Renommisterei‹ gleich dahin, daß er nur zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden wäre.

»Aber länger als ein Jahr haben sie den Ned nicht halten können, dann ist er ausgebrochen. Jawohl, fragt nur in Sydney an, ob's nicht so ist. Und ihr wärt die Rechten, um mich hängen zu können. Hahaha!!«

Eine Verzögerung des Falles trat nur dadurch ein, daß man erst in Sydney Erkundigungen einziehen mußte.

Jawohl, die Angaben stimmten. Die Renommisterei des Unholdes lag nur darin, daß er nicht schon unzählige Male, sondern bloß viermal schwer vorbestraft worden war, immer wegen gefährlicher Körperverletzung, zum letzten Male zu zehn Jahren Zwangsarbeit im Steinbruch, weil sein Opfer den Verletzungen erlegen war; doch hatte nicht mit Gewißheit konstatiert werden können, ob diese auch die Todesursache gewesen seien.

Nur ein Jahr hatte Ned Rossel, der als Held des Rowdytums bewundert werden wollte, im Steinbruch gearbeitet, dann war er mit einigen Sträflingen ausgebrochen, hatte trotz aller Anstrengungen der weißen und schwarzen Buschpolizei nicht wieder eingefangen werden können.

Dachte der nun, er könne nochmals entschlüpfen, bevor der Nachrichter das Urteil an ihm vollstreckt hatte? Der sollte sich wundern! Die Freunde des gemordeten Dick Ham gingen des Nachts freiwillig Wache vor dem Untersuchungsgefängnis.

»Tod durch den Strang!«

»Hahahahaha!«

»Führt den Verurteilten ab.«

»Hahahaha! Was gilt die Wette, daß ihr mich doch nicht hängt?«

»Konstabler, führt den Verurteilten ab!«

»Ihr habt in eurer dichten Nähe ein reiches Goldfeld, vielleicht das reichste in Australien, und ich allein weiß es zu finden!« schrie der von den Konstablern Gepackte.

O je, wollte der Verurteilte durch solch ein Märchen sein schon verwirktes Leben retten? Und trotzdem, die beiden Konstabler zögerten plötzlich.

»Führt den Verurteilten ab!« mußten sie zum dritten Male aufgefordert werden.

»Ich will euch die Beweise geben!« erklang es nochmals von der Tür her, und dann war er draußen.

Und der Richter machte eine Bewegung, als hätte er ihn so gern wieder hereingeholt.

»Beweise? Hat er nicht Beweise gesagt?« wandte er sich mit hochgezogenen Augenbrauen an seine Umgebung.

»Er will uns Beweise geben, daß sich in unserer dichten Nähe ein reiches Goldfeld befindet,« wurde ihm von allen Seiten mit denselben hochgezogenen Brauen bestätigt.

—————

Ned Rossel hatte sein Publikum gekannt.

Gold hat eben einen ganz besonderen Klang, nicht nur das Metall, sondern schon das Wort allein.

Und was hat man denn in Australien zu suchen, wenn nicht Gold? Das galt besonders damals, als die Schafzucht mit ihrer reichen Weltproduktion noch gar nicht in Frage kam.

Port Hunter war einst eine Rivalin von Sydney. Aber in der Nähe von Sydney fand man Gold, bei Port Hunter nichts, und so wurde Sydney eine Millionenstadt und Port Hunter mit seinem noch viel besseren Hafen blieb das elende Nest.

Auch an Port Hunter gehen wie bei Sydney die Blauen Berge vorüber, und wenn man bisher noch kein Gold gefunden hatte, so war doch die Möglichkeit vorhanden, daß es noch geschah, und weshalb sollte der entsprungene Sträfling, der sich doch sicher in den Bergen versteckt gehalten hatte, nicht ein Goldlager entdeckt haben?

Er durfte nicht eher gehangen werden, als bis man ihn gehört hatte. Er wollte ja Beweise bringen. Das war man dem Gedeihen der Stadt, ganz Australien und auch dem fernen Mutterlande England schuldig.

So kam es, daß schon eine Stunde später die Zelle des Delinquenten von einigen Bürgern betreten wurde, auserwählt von den Aeltesten der Stadt.

Der Gerichtssaal hatte sich gleich in eine Ratssitzung verwandelt. Auch einige Richter und Geschworene waren da, jetzt aber nichts weiter als Geschäftsleute, so traten sie auch vor den Mörder hin, den sie soeben zum Tode verurteilt hatten, höflich, ein gewinnbringendes Geschäft erhoffend, und das wußte der Todeskandidat, und daß er an die Wand gekettet war, nahm ihm nichts von seiner Würde.

Im übrigen wolle man bedenken, daß wir uns jetzt in Australien befinden, wo es noch urwüchsiger zugeht als im Hinterwalde von Nordamerika, selbst wenn eine Stadt, wie Port Hunter, an der Küste liegt.

»Mister Rossel — ehem — Sie hatten die Güte — ehem — Sie haben wirklich ein Goldfeld entdeckt?«

Herablassend nickte der Todeskandidat, daß die Ketten klirrten.

»In der Nähe von Port Hunter?«

»Ja.«

»Sehr nahe?«

»Ja.«

»In den Blauen Bergen?«

»Das verrate ich nicht.«

»Gewiß in den Bergen!«

»Ich sage nichts.«

»Unter welchen Bedingungen werden Sie uns Ihre Entdeckung mitteilen?« fragte der Dummkopf von einem Wortführer auch noch.

Doch eine Einleitung mußte die Verhandlung ja haben.

Und glaubt der Leser etwa, hierauf erwiderte der Todeskandidat: unter der Bedingung, daß ihr mir das Leben schenkt, mich laufen laßt?

O nein, an solche Kleinigkeiten dachte der zum Tode Verurteilte gar nicht! Sondern der hatte seinen Entschluß bereits reiflich erwogen, und seine Bedingung lautete:

»Fünfzigtausend Pfund Sterling bar und zehn Prozent vom Gewinn.«

»Das läßt sich hören! Sonst nichts weiter?«

Bescheiden wurde unter Kettenklirren abgelehnt.

»Sie sprachen von Beweisen.«

»Kann ich geben.«

»Bitte, Sir.«

»Sie werden den blutigen Rill kennen.«

»Der am Snakescreek das Store hat?«

»Denselben.«

»Kennen wir.«

»Bei diesem kehrte ich ein, ehe ich mich nach Port Hunter begab, und verkaufte ihm zwei Unzen Goldkörner für sechs Pfund Sterling.«

»Woher hatten Sie das Gold?«

»Von dort, wo es noch haufenweise liegt. Gehen Sie zum blutigen Rill und lassen Sie sich die Goldkörner zeigen.«

»Und das soll ein Beweis sein, daß Sie ein Goldfeld entdeckt haben?« erklang es etwas verächtlich.

»Gewiß. Ich verkaufte doch nur eine kleine Probe. Der blutige Rill ist doch nicht der Mann, der mit Millionen um sich werfen kann. Dem Halsabschneider hätte ich mich auch gar nicht anvertraut. Ich wollte doch nur erst etwas Geld in die Tasche bekommen.«

»Ah, Sie hatten noch mehr Gold bei sich?« erklang es jetzt schon wieder weit höflicher.

»Gegen achtzig Pfund. Mehr kann ein Mensch doch auch nicht tragen, der vor Hunger zusammenzubrechen droht.«

»Wo ist dieses Gold?«

»Vergraben.«

»Wo?«

»Dort, wo ich es vergraben habe, ehe ich mit zwei Unzen dann zum blutigen Rill ging, um mir erst einmal das nötige Kleingeld zu verschaffen.«

Jetzt kam man der Angelegenheit näher, welche doch die Hauptsache sein mußte.

»Wir können Sie natürlich nur vom Tode zu lebenslänglicher Zwangsarbeit begnadigen.«

»Natürlich, das weiß ich,« entgegnete Ned ohne Zögern.

Also so schlau war er auch, um zu wissen, daß der Mörder nun nicht gleich vollständige Amnestie verlangen konnte. So weit geht die Macht des Goldes nicht einmal in Australien.

»Wenn Sie vom Tode begnadigt sind, werden Sie uns das vergrabene Gold zeigen?«

»Yes

»Dann werden Sie uns nach dem Goldfelde führen?«

»Yes

»Auf Wiedersehen, mein Herr, es hat uns sehr geehrt.« —

Schnell wurden die ersten Untersuchungen eingeleitet.

Die kontrollierbaren Angaben stimmten. Der blutige Rill hatte an den Grenzen der Zivilisation eine Kneipe. An demselben Tage, da der Mord geschehen, hatte ihm ein aus den Bergen kommender Mann zwei Unzen Goldkörner verkauft. Der blutige Rill las keine Zeitung, und wenn er von dem Morde gehört, so war er doch nicht auf den Gedanken gekommen, daß der Mörder sein Gast gewesen sei.

Jetzt stimmte seine Beschreibung. Sonst konnte er nur noch angeben, daß der Mann verhungert wie ein Wolf gewesen war, vor Hunger schon ganz entkräftet.

Einige Versuche wurden ja gemacht, den Platz zu finden, wo jener das Gold vergraben haben könnte: man suchte in der Nähe von Rills Blockhütte nach Spuren, doch lange hielt man sich damit nicht auf.

Unterdessen war der Todeskandidat, der in seiner Zelle ein Schlaraffenleben führte, schon angehalten worden, ein Gnadengesuch einzureichen; es wurde von allen einflußreichen Bürgern befürwortet, und acht Tage später wurde dem Mörder verkündet, daß ihm das Leben geschenkt sei.

Gesetzt aber den Fall, er hatte gelogen mit seinem Goldfeld, konnte nicht einmal die achtzig Pfund minus zwei Unzen zeigen, dann starb er eines hundertfachen Todes, d.h., dann wurde der Begnadigte in der Strafanstalt langsam zu Tode geprügelt.

Allerdings wurde es dem Manne nicht so gesagt, aber das konnte er sich doch selbst denken.

Gefesselt wurde Ned Rossel von einigen bewaffneten Männern in die Mitte genommen. Rills Blockhütte war das Ziel, und nach einer Erfrischung ging es weiter, in ein Gummiwäldchen, bis Rossel unter einem Baume, der sich durch nichts von den anderen Bäumen unterschied, stehen blieb und auf den Boden deutete.

»Hier liegt's, grabt nach.«

Wahrhaftig! Ein starker Lederbeutel wurde ausgegraben, der nicht nur achtzig, sogar zweiundachtzig Pfund erbsengroßer Körner des gediegensten Goldes enthielt.

In der Zelle wurde die Geschäftsverhandlung weitergeführt, und jetzt wurde diese ganz intim.

Der Verbrecher hatte in Sydney Frau und Kinder, und wenn er einen Goldfundort nachwies, welcher jährlich eine Ausbeute von nur tausend Pfund Gold versprach, noch innerhalb des Distriktes Port Hunter gelegen, so erhielt diese seine Familie bare 50000 Pfund Sterling ausgezahlt, welche reiche Bürger von Port Hunter bereits gezeichnet hatten, und außerdem noch zehn Prozent vom Gewinn.

Denn für den lebenslänglichen Zuchthäusler hatten die Million und die Tantieme doch keinen Zweck mehr. Der war schon zufrieden, hundert Fünfhundertnoten und etwas Kleingeld noch extra in die Tasche zu bekommen.

Und nun wurde die Verhandlung ganz, ganz intim; drei Männer schwuren in der Zelle dem Verbrecher, wenn er die Expedition an die Goldquelle geführt habe, ihm eine Gelegenheit zur Flucht zu verschaffen, eine schnelle Verfolgung zu verhindern.

Mit verächtlichem Grinsen hatte Ned Rossel diesen Schwur angenommen. Er war selbst Mann genug, seine Freiheit wiederzuerlangen. Wenn er nur erst der Ketten ledig war. Denn ungefesselt würde er die Expedition anführen, das hatte er sich ausbedungen.

Freilich, das durfte er nicht glauben, schon unterwegs entspringen zu können, diese Männer etwa an der Nase herumzuführen. Wehe, wenn er das gewagt hätte! So dumm, an so etwas zu glauben, war Ned Rossel auch gar nicht.

Aber wenn er sie an ein Goldfeld gebracht hatte, wenn das Goldfieber erst mit aller Macht ausbrach — ach, wie leicht würde es ihm dann werden, spurlos zu verschwinden!

»So, alles in Ordnung! Nun könnt Ihr uns nach dem Goldfeld führen.«

»Ist die Expedition schon gebildet?«

»Die Hälfte der männlichen Bevölkerung von Port Hunter ist bereit, schon in der nächsten Stunde aufzubrechen, auch gegen hundert Weiber sind schon mit Hacke und Schaufel bewaffnet.«

»Vor allen Dingen hat sich jeder mit Proviant für acht Tage zu versehen, nur für den Hinmarsch,« grinste Ned.

»Was?!« erklang es im Tone der furchtbarsten Entrüstung. »Nur für den Hinmarsch nach dem Goldfeld?«

»Jawohl, nur für den Hinmarsch.«

»Und da wagst du Hund zu sagen, das Goldfeld liege noch innerhalb des Distriktes von Port Hunter?!«

»Gewiß. Wenn ihr nur erst erfahrt, wo das Goldfeld liegt!«

»Bitte um Entschuldigung, Sir. Nun, wo liegt es denn?«

»In Karrikarri.«

»Was, Ihr wißt einen Weg nach Karrikarri?« wurde im Tone des höchsten Staunens gerufen, dem sich auch etwas Zweifel beimischte.

»Ich weiß einen Weg. Aber gebt euch keine Mühe, oder sucht wie ihr wollt — ihr findet ihn nicht. Und was für ein Weg das nun ist!«

 

—————

 

Wir müssen einen kurzen Rückblick auf die Geschichte Australiens werfen.

Im Anfänge des 17. Jahrhunderts von Holländern entdeckt, wurde das Festland von Australien während zweier Jahrhunderte von keinem europäischen Fuß mit Absicht betreten. Nirgends fand eine Kolonisation statt.

Erst im Jahre 1787 beschloß England, an der von Cook entdeckten Botanybai, an welcher das jetzige Sydney als die Hauptstadt Australiens liegt, eine Straf- und Verbrecherkolonie anzulegen und ließ dem Entschlüsse alsbald die Tat folgen.

Die kleine, unter militärischer Bewachung stehende Kolonie gedieh, auch moralisch, indem die bösen Elemente an ihren eigenen Lastern zugrunde gingen, das Gute bleibt immer bestehen, ehrenwerte Kolonisten gingen freiwillig hinüber.

Nur Jahre des furchtbarsten Wassermangels drohten das Leben der Kolonie manchmal zu ersticken, so besonders das Jahr 1803. Tiere und Menschen verschmachteten.

Dabei wußte man ganz bestimmt, daß jenseits der Blue Mountains, deren Gipfel man schon von Sydney aus deutlich sehen kann, reichbewässerte Triften liegen mußten. Denn sobald die Dürre eintrat, wanderten jedesmal alle Vögel dem Westen zu, um, wenn an der Küste wieder Regen fiel, frisch und wohlgenährt über die Berge zurückzukehren.

Darf man glauben, daß da Versuche gemacht wurden, diese nahen Berge zu überschreiten? Die ungeheuerlichsten Anstrengungen wurden sogar gemacht!

Vergebens. Die blauen Berge sind längst nicht so hoch wie unsere Alpen; aber ihre Struktur ist eine ganz andere. Wie Hannibal die Kriegselefanten über die Alpen gebracht hat, das ist ein Kinderspiel gegen das Unterfangen eines einzelnen Menschen, der die Blauen Berge überschreiten will.

Im Jahre 1813 erreichte die Dürre ihren Höhepunkt.

Da unternahmen drei Männer nochmals den Versuch, die Blauen Berge zu überschreiten, und der Versuch gelang, und sie fanden jenseits der wasserscheidenden Berge denn auch wirklich reiche Triften, die in ewigem Grün prangten.

Columbus hat der Welt einen neuen Erdteil geschenkt, deshalb kennt jedes Kind seinen Namen.

Diese drei Männer haben der Welt gleichfalls einen neuen Erdteil geschenkt. Denn von Australien kommt doch nur Neusüdwales in Betracht, von hier aus nur kann ganz Australien aufgeschlossen werden, und Neusüdwales hat man nur diesen drei Arbeitern zu verdanken, welche damals die Blauen Berge überstiegen.

Columbus war ein Edelmann und wurde von einer Königin unterstützt. Diese drei Männer waren Arbeiter und stützten sich nur auf ihren Bergstock.

Columbus wollte das Gold und die Edelsteine Indiens auf dem leichteren Wasserwege herbeischaffen. Diese drei Arbeiter wanderten los, weil sie die Qualen der dürstenden Menschen und Tiere nicht mehr mit ansehen konnten.

Wer kennt die Namen dieser drei braven Männer? Sie heißen Wentworth, Blaxland und Lawson. Man muß aber die Quellen kennen und lange suchen, ehe man ihre Namen findet. Auf einem Denkmal stehen sie nicht.

Dafür aber brauchten diese drei Männer auch niemals Ketten zu tragen, brauchten nicht Schimpf und Hohn über sich ergehen zu lassen, sie wurden nicht der Unterschlagung und Gott weiß wessen angeklagt.

Und trotzdem haben sie der Menschheit nicht nur Wasser geschenkt, sondern ihrem englischen Vaterlande noch ganz andere Reichtümer als Columbus seinem adoptierten Spanien, und bei ihnen war auch noch ein ganz anderer Segen. Das macht: sie waren nicht darauf ausgegangen!

Wo sind sie denn geblieben, die goldenen Schiffsladungen und Fässer voll Edelsteine, die Columbus und seine Nachfolger nach Spanien brachten? Das arme Spanien hatte im kubanischen Kriege ja nicht einmal ordentliche Kanonen — Kanonen, welche die von der Firma Moses, Meier und Kompanie gelieferten an Güte wenig übertrafen.

Aber England hat etwas von Neusüdwales gehabt und hat es noch heute!

In Bathurst, wie man den neuentdeckten Distrikt, vorzüglich zur Schafzucht geeignet, nach dem damaligen Gouverneur nannte, wurde der erste Goldfund Australiens gemacht.

Schon seit Jahren hatte sich ein Schafhirt zum Ausruhen immer auf einen Stein gesetzt, welcher einsam mitten auf einer Weide lag.

Eines Tages hört er unter sich ein Rascheln, er denkt an eine Schlange, zum ersten Male fällt es dem Manne ein, den Quarzstein umzuwälzen, die Schwere fällt ihm wohl auf: aber er denkt sich noch nichts dabei — und wie er den Stein umgerollt hat, schimmert ihm gediegenes Gold entgegen, eingeschlossen von einem Quarzmantel, nur auf der einen Seite zu Tage tretend.

334 Pfund 4 Unzen wurden dann herausgeklopft.

Hatte der arme Hirt schon seit Jahren täglich auf einem steinernen Geldsack mit dreimalhundertundvierunddreißigtausend Mark gesessen!

Dieser Fund zeichnet das Wesen, wie das Gold in Australien überhaupt gefunden wird — immer gerade da, wo es niemand vermutet — für uns aber ist dies alles noch nach einer anderen Seite hin bemerkenswert.

Zahllos sind die Versuche gewesen, die Blauen Berge zu überschreiten, welche in so handgreiflicher Nähe der Küste lagen und ein wasserreiches Gebiet für die Menschheit absperren.

Diese zahllosen Versuche sind doch natürlich nicht nur von einem einzigen Punkte aus gemacht worden, gerade sogar von Port Hunter aus, in welchem sich jagd- und sportliebende Kolonisten, im Gegensatz zu den in Sydney zwangsweise angesiedelten Verbrechern also freie Männer, sogar am allermeisten, und man wird wohl auch oft genug versucht haben, das ganze Gebirge zu umgehen, was aber ebenfalls aus irgendeinem Grunde unmöglich sein muß.

Als Nobody den Kurs des Delphins nach Australien lenkte, waren ihm all diese Verhältnisse noch nicht so genau bekannt, und ein Spezialbuch über Australien befand sich an Bord des Unterseebootes nicht.

Auf der Karte war der Teil der Blauen Berge, den Scott mit einer geographischen Gradbestimmung angegeben, weiß eingetragen, und darauf stand das Wort ›Karrikarri‹.

So befand sich Nobody in dem begreiflichen Irrtum, es handelte sich um ein bekanntes Gebiet, und im Gegensatz zu den gestrichelten Gebirgszügen — was aber auch nur Phantasie ist, die Blauen Berge sind eben noch gar nicht erforscht — müsse der weiße Fleck ein Plateau oder ein ausgedehntes Tal bedeuten.

Hier in Port Hunter wurde Nobody eines Besseren belehrt, und deshalb eben hatte er ja mit Scott den Delphin verlassen und sich erst einmal an Land begeben, um zuvor nähere Erkundigungen einzuziehen über die Gegend, welche er auf unterirdischem Wasserwege erreichen sollte, wo nach des Hellsehenden Voraussage seiner irgendeine Aufgabe wartete, entweder für den Detektiv oder für den Menschen Nobody.

Und nun, als die beiden das in außergewöhnlicher Aufregung sich befindende Städtchen betraten, schlug ihnen überall das Wort ›Karrikarri‹ entgegen!

Schnell hatten sie sich orientiert. Sie erfuhren von dem Geständnis des begnadigten Mörders.

Da aber wußte Nobody auch sofort, daß diesmal die Hellseherei seines Freundes nicht, wie in der letzten Zeit fast immer, mit der Verfolgung der ›Udldinschis‹ und deren Geheimnisse zu tun gehabt hatte. Allerdings konnte er auf deren Spur auch bei dieser Angelegenheit noch immer stoßen; aber nach dem rätselhaften ›Karrikarri‹ wäre Nobody nun doch sowieso gegangen.

Ein glücklicher Zufall war nur, daß auch nach dieser Gegend ein unterirdischer Wasserweg führte, so daß man mit dem Delphin viel bequemer hingelangen konnte.

Doch war noch sehr die Frage, ob Nobody den Delphin benutzen würde. Er war eher entschlossen, sich lieber der Goldsucher-Expedition auf dem mühseligen Wege über das Gebirge anzuschließen.

Die beiden Freunde trennten sich. Scott sollte weiter forschen und beobachten, wie sich die Expedition bildete, deren Entstehen bereits im Gange war, denn überall sah man Männer mit Waffen, Schaufeln, Hacken und geschnürten Paketen laufen, während sich Nobody zu seinem Vertrauensmann begab, wie er einen solchen auch hier wie in jedem anderen Städtchen der Welt besaß.

Für solche Posten bevorzugte Nobody Redakteure mehr noch als amtliche Polizisten, aus leichtbegreiflichen Gründen. Eine Zeitung ist gewöhnlich ein noch ganz anderes Hörorgan als die Polizei.

Wenn irgendwo in der Welt, im Hinterwalde Amerikas oder in einer Hafenstadt Chinas eine leere Redaktionsstelle zu besetzen war, oder wenn es angebracht war, eine neue Zeitung zu gründen — und in Nordamerika gibt es ja nicht einmal drei zusammenstehende Blockhütten ohne Kneipe, Hotel genannt, und ohne Zeitung, das ganze nennt sich dann ›town‹ und nicht viel anders ist es in Australien — so sorgte Nobody stets dafür, daß die Stelle einer seiner Hilfsdetektivs bekam, der sich nach Ruhe sehnte oder sich überhaupt für so etwas eignete, und Detektiv und Reporter sind ja sehr verwandte Berufe, oder er machte einen gleich selbständig, was sich außerdem stets rentierte.

So hatte er vor einigen Jahren auch Mr. Jonas als den Herausgeber des ›Port Hunters Spektator‹ selbständig gemacht, und Mr. Jonas hatte ihm schon nach einem Jahre das geliehene Kapital mit Zinsen zurückzahlen können, er stand nur noch insofern in Diensten des Champion-Detektivs, als er ihn ab und zu über alles Wichtige orientierte, was in Australien passierte, wofür er extra honoriert wurde.

Mr. Jonas hatte am Setzkasten gestanden, mit eigener Hand seine Zeitung zusammenbauend, gleich aus dem Kopfe heraus, soweit seine eigenen Geisteserzeugnisse in Betracht kamen.

Mit steifer Höflichkeit hatte er den Besuch empfangen, bis sich diese vor Nobody in bewundernde Dankbarkeit verwandelte.

»Sie wissen, was hier geschehen ist?«

»Etwas, das Nähere möchte ich von Ihnen erfahren.«

»Ich, habe schon gestern ein Telegramm von zweihundert Worten an Sie abgeschickt. Schade, hätte ich gewußt, daß Sie. . . . .«

»Setzen Sie Kosten und Honorar auf, ich werde es sofort begleichen.«

Am Setzkasten erzählte Mr. Jonas, schilderte die Einzelheiten, die Fortsetzung fand vor einer Wandkarte statt, welche Neusüdwales darstellte.

»Nein, dieses ganze Gebiet hier ist noch unerforscht.«

»Woher stammen die Namen?«

»Von den Eingeborenen, die hier einst gehaust haben. Diese haben sich entweder vor den Weißen ins Innere zurückgezogen oder sind am Branntwein bis zum letzten Mann ausgestorben.« -

»Was bedeutet das: Karrikarri?«

»Karri ist sowohl Tod, als Luft, als Nebel, als noch manches andere, was man nicht greifen kann. Sie wissen doch, wie arm die Sprache der Australneger an Ausdrücken ist.«

»Jawohl, sie können ja auch nur bis drei zählen, dann müssen sie immer wiederholen, während wir hochgebildeten Europäer zehn verschiedene Zahlen haben, die wir dann aneinanderreihen müssen.«

»So ist es. Der Australneger verdoppelt überhaupt gern. Jedenfalls zeigt das Wort Karrikarri, daß auch den Ureinwohnern dieses Gebiet unbekannt war. Karrikarri — Luft, Tod, Oede, Nichts, eben gänzlich unbekannt.«

»Glauben Sie, daß jener Ned Rossel dort wirklich Gold gefunden hat?«

»Ja, wer soll das jetzt schon wissen? Die Erfahrung wird es ja lehren,« meinte der Redakteur achselzuckend.

»Glauben Sie, daß der Verbrecher wirklich einen Weg nach diesem unerforschten Distrikt kennt?«

»Warum nicht? Er hat sich während des einen Jahres doch sicher in den Bergen versteckt gehalten,

da mag er durch Zufall oder durch . . . . . . . da,« unterbrach sich Mr. Jonas, versteckt zum Fenster hinausdeutend, »den sollte man um Rat fragen, ehe man die Expedition antritt, das ist der beste Kenner der Verhältnisse und der Berge in der ganzen Umgebung. Wenn es sich um Gold handelt, wird er freilich nichts damit zu tun haben wollen.«

Ueber die Straße war die hochgewachsene, hagere Gestalt eines alten Mannes gegangen, ganz in weißgraue Felle gehüllt, wohl Känguruhfelle, über der Schulter eine lange Büchse.

Mehr hatte Nobody nicht sehen können.

»Wer war das?«

»Old Cangaroo. So genannt, weil er von der Känguruhjagd lebt. Ja, der kann auch etwas vom Golde erzählen.«

»Wieso?«

»Sein eigentlicher Name ist Tobias Smith. Er ist wohl der älteste Ansiedler von Port Hunter, ist hier geboren worden. Er hatte am Abhange der Berge eine kleine Farm, verstand sie zu bewirtschaften, ein fleißiger, ruhiger, intelligenter Mann, dessen einzige Liebhaberei die Jagd auf die Felsenkänguruhs war, dabei ein in seiner Zufriedenheit glücklicher Mann, umringt von blühenden Söhnen und Töchtern.

»Da eines Tages wird auf der Känguruh-Farm beim Graben eines Brunnens Gold gefunden. Ich sage Ihnen — als hätte der Teufel sein Ei in diese glückliche Familie gelegt! Sie werden dergleichen Sachen schon oft genug erlebt haben, ich bin ja nicht dabeigewesen, kenne es nur vom Hörensagen, mir ist das auch etwas ganz Neues — schauderhaft!«

»Nun, inwiefern denn?«

»Na, die bekamen alle mit einem Male den Größenwahn. So ein zufälliger Goldfund muß doch einen Charakter total ändern. Die Kinder waren als fleißige Menschen erzogen worden, waren es auch wirklich. Mit einem Male wurde der eine Sohn ein Spieler, der andere wurde aus Habsucht gar zum Totschläger, die eine Tochter wälzte sich hier in Port Hunter jeden Tag betrunken in der Gosse, und die zweite wurde in Sydney eine Dirne. Und die Mutter beging noch in ihren alten Tagen Selbstmord. Nämlich als die Goldader erschöpft war, was gar nicht lange dauerte. So soll es hier immer sein. Man findet wohl ab und zu Gold, aber nur so portionsweise in Körnern zusammenliegend, gerade als wäre eine Kanone mit gehacktem Gold in die Erde hineingeschossen worden. Darum heißen diese Lagerstätten hierzulande auch Canondiggins und das daraus gewonnene Gold Kanonengold.«

»Und der Alte?«

»Der machte nicht mit. Der blieb nüchtern. Aber all sein Warnen und Ermahnen war vergebens. Als die Goldader erschöpft war, war es auch mit der ganzen Familie aus. Innerhalb eines Jahres war alles tot, verdorben und gestorben. Nur der Alte hat es überlebt.«

»Armer, unglücklicher Mann! Wie lange ist das schon her?«

»Lassen Sie mich rechnen — achtzehn Jahre.«

»Bewirtschaftet er seine Farm noch?«

»O nein. Der eine Sohn, der Spieler, hatte Schulden hinterlassen, deswegen verkaufte der Alte seine Farm und bezahlte die Schulden des Sohnes bis zum letzten Pfennig.«

»Das ist hochehrenwert.«

»Die kleine Summe, die noch übrigblieb, vermachte er dem Armenfond unserer Stadt. Er selbst behielt nichts weiter als sein Gewehr, so ging er einsam in die Berge.«

»Ein hochedler Charakter. Und wovon lebt er jetzt?«

»Nun, eben von der Känguruhjagd. Das Felsenkänguruh will aber erst geschossen sein! Probieren Sie's nur einmal — — ich meine nicht Sie, Sir, ich meine überhaupt nur so — ich bin auch drin in den Bergen gewesen, mein Führer hat mir ganze Rudel der weißgrauen Tiere gezeigt — aber, weiß Gott, ich habe kein einziges gesehen, obgleich ich Augen wie ein Luchs habe. Erst dann an den Spuren merkte ich, daß mein Führer mir nicht nur etwas vorgeflunkert hatte. Die Tiere heben sich von den weißgrauen Steinen nicht im geringsten ab. Und nun erst sie schießen!«

»Und erbeutet denn der alte Mann so viel, daß er sich davon ernähren kann?«

»Ja, der! Aller Vierteljahre kommt er einmal für kurze Zeit aus den Bergen heraus, und jedesmal bringt er Dutzende der schönsten Känguruhfelle mit, schon fein gegerbt.«

»Er verkauft sie hier?«

»Früher hat er es getan. Jetzt fährt er jedesmal nach Sydney, wo er die Felle weit besser verkaufen kann. Hier findet er doch nur Zwischenhändler, die hundert Prozent daran verdienen wollen, und bis nach Sydney ist es ja nur eine kleine Tagesfahrt. Nun aber kommt das Allerbeste: Seine fünfzig Pfund Sterling erhält er stets für die Felle. Davon kauft er sich nichts weiter als die nötige Munition, bestreitet die Reise, und alles andere Geld überweist er jedesmal einer wohltätigen Anstalt, gewöhnlich einem Witwen- oder Waisenhaus. In diesen achtzehn Jahren soll er so schon mindestens viertausend Pfund eingezahlt haben, das Ergebnis seiner Jagdbeute. Für die Armen alles, für sich selbst so gut wie gar nichts — das ist sein Wahlspruch.«

»Bei Gott,« rief Nobody enthusiastisch, »diesen seltenen Mann muß ich näher kennen lernen, das ist einmal ein Nimrod, der . . . . .«

Ein leichter Schritt näherte sich der Tür, nur durch die leise Erschütterung bemerkbar, und in die Redaktionsstube herein trat die hochgewachsene, in graue Felle gekleidete Gestalt des alten Mannes, über dessen Unglück und Großherzigkeit hier soeben gesprochen worden war.

Vor allen Dingen interessierte sich Nobody für das hagere, faltenreiche, verwetterte Gesicht, in welchem der unvergleichliche Menschenkenner sofort unvereinbare Charaktereigenschaften erkannte.

Weltverachtung paarte sich mit Edelmut. Das war vereinbar, ebenso wie eine unbeugsame Willenskraft, ausgedrückt durch die scharfe Adlernase und die trotz des Alters noch flammenden Augen. Nicht hierzu passen aber wollte der Ausdruck von Gewinnsucht, wenn nicht von Geiz, der für Nobody mit absoluter Deutlichkeit in diesen hageren Zügen, und besonders auch in den Augen ausgeprägt war.

Dieser noch rüstige und wetterfeste Greis setzte all seine Willenskraft nur dafür ein, um Schätze zusammenzuscharren! Wie war dies nun mit seiner edlen Freigebigkeit zu vereinen?

Nobody konnte das Rätsel lösen. Er war schon einmal solch einem Gesicht begegnet. Allerdings ganz anders aussehend, aber doch dieselben so entgegengesetzten Charaktereigenschaften deutlich ausprägend.

Mr. Sad O'Bloom, ein amerikanischer Multimillionär, der schmutzigste Geizhals, den die Welt je gesehen, vor Geiz wirklich schmutzig, denn er sparte sogar die Seife, aller fünf Jahre kaufte er sich einen alten Anzug beim Trödler, während er in seinem Büdchen Millionengeschäfte abschloß. Und seine Brüder und Schwestern ließ er hungern.

Nobody erlebte noch den Tod dieses Mannes, die Eröffnung seines Testamentes. Da kam die große Ueberraschung.

Alles für Witwen, Waisen und hilflose Krüppel! Legate für arme Studenten und Kaufleute! Ganze Universitäten und Volksbibliotheken! Großartige Stiftungen!

Genial war auch die ganze Abfassung des Testamentes. Wie dieser Mann an jede Kleinigkeit gedacht hatte! Alles auf Felsen fundiert, da war an nichts zu rütteln, nichts mißzudeuten.

»Meine Brüder und Schwestern,« hieß es zuletzt, »haben besser gelebt als ich, sie waren immer gesund und kräftig, aber sie haben stets auf ihren reichen Bruder gehofft und ihre Kraft mit Verwünschungen auf seinen Geiz erschöpft. Es gab ärmere denn sie, diese standen meinem Herzen näher, für diese habe ich gearbeitet und gespart.«

Man mag hierüber denken, wie man will — es ist heroisch! Ja, das sind in unserem Zeitalter die modernen Heroen!

Auch an den einst so viel geschmähten Cecil Rhodes mag man hierbei denken, der in seinem Testament doch auch die deutschen Studenten so edelmütig bedacht hat. —

Der Alte ließ sein langes Gewehr von der Schulter gleiten und stützte sich darauf.

»Sind Sie Mister Jonas, der Herausgeber des ›Port Hunters Spektator‹?« begann er ohne Umschweife, den anderen gar nicht beachtend.

»Der bin ich.«

»Mich kennen Sie wohl.«

»Ja, Mister Smith, ich kenne Sie, und es freut mich sehr, Sie in meinem. . . . .«

»Wann erscheint die nächste Nummer des ›Spektators‹?« wurden die Komplimente des Zeitungsmenschen schroff unterbrochen.

»Heute abend.«

»Kann noch etwas aufgenommen werden?«

»Gewiß, noch vier Spalten stehen zur Verfügung.«

»Sind Sie gewillt, etwas von mir aufzunehmen?«

»Aber mit tausend Freuden! Haben Sie das Manuskript hier?«

»Nichts Schriftliches. Ich will Ihnen etwas mitteilen, und Sie werden es veröffentlichen, daß jeder es lesen kann?«

»Aber natürlich, natürlich!« rief der Redakteur immer begeisterter.

»Es ist eine Warnung, die ich den verblendeten Menschen zu verkünden habe, und ich wähle den Weg der Zeitung, weil sich mit den vor Goldgier wahnsinnig gewordenen Männern jetzt doch nicht sprechen läßt, sie sind taub geworden, und dann hat man den Beweis gedruckt in der Hand, daß ich die Wahrheit gesprochen habe.«

»Gewiß, gewiß, die Veröffentlichung in der Zeitung ist immer das beste Mittel, sich Gehör zu verschaffen,« beeilte sich der Redakteur zu versichern und hatte schon Bleistift und Papier in der Hand.

»Es handelt sich um das Karrikarrigebiet,« fuhr jener fort.

»Das dachte ich mir, das dachte ich mir!«

Famos, heute abend konnte die vierfache Anzahl der Nummern, die auf der Straße verkauft wurden, herauskommen!

»Wer dieses Gebiet betritt, der muß des Todes gewärtig sein!!«

Ueberrascht blickte Mr. Jonas auf, und Nobody bewunderte die Augen des Alten, wie diese noch so lodern konnten, als er hochausgerichtet diese Worte mit unheilvoller Stimme gerufen hatte.

»Weshalb des Todes gewärtig?« fragte der Redakteur.

»Sie wissen doch, wie hier die Ansammlungen von Goldkörnern zu erklären sind, wie man sie ab und zu findet.«

»Nun, das mag Waschgold sein, da sind einstmals goldführende Bäche geflossen, sie haben die Goldkörner hier und da abgesetzt. . . . . .«

»Mitnichten! Viel eher hat die Volkssage recht, welche von Kanonengold spricht. Aus Kanonen wird es natürlich nicht in die Erde geschossen.«

»Natürlich nicht. Wie gelangt es sonst in die Erde?«

»Alles Gold ist in die Erde gefallen.«

Der Redakteur wußte, es mit einem Manne zu tun zu haben, der in seiner Kindheit nicht einmal eine Schule besucht hatte. Trotzdem war ihm eine gewisse Bildung nicht abzusprechen.

Seine Ansicht über das Vorkommen des Goldes aus der Erde ist ein uralter Volksaberglaube, besonders in England verbreitet, und dieser Aberglaube dürfte bei den Diamanten zur Tatsache werden. Viele neuere Forscher treten für die Ansicht ein, daß die Diamanten, Kohlenstoff in einem Aggregatzustand, den wir künstlich bisher nur in mikroskopisch winzigen Teilchen herstellen können, bei dem Zusammenstoß von anderen Planeten in feuerflüssigem Zustande auf unsere Erde gefallen sind.

Aber bei Gold kann das nicht zutreffen, das ist ein unserer Erde angehörender Urstoff. Immerhin, es lassen sich Parallelen ziehen.

»Und,« fuhr der Jäger mit erhobener Stimme fort, »im Karrikarrigebiet trifft das noch heute zu, dort fällt das Gold wie Hagel noch heute vom Himmel herab, fast jeden Tag.«

»Woher wissen Sie das?« fragte der Redakteur, ein Lächeln unterdrückend.

»Das sagt schon das Wort Karrikarri.«

»Karri bedeutet doch eigentlich Luft, allerdings auch Tod, und Karrikarri ist nur eine Verdoppelung.«

»Nur eine Verdoppelung? Glauben Sie, die faulen und wortkargen Australneger nehmen sich die Mühe, ein Wort zweimal auszusprechen, wenn sie es nicht nötig haben? Sie sprechen es ja auch ganz falsch aus. Die Sprache der Australneger ist nicht so armselig, wie die überklugen Gelehrten immer annehmen, sie ist äußerst modulationsfähig, es ist eine Klangsprache. Karrikarriehhh wird es ausgesprochen, und das heißt nichts anderes als mordendes Gold.«

Schon durch das Wort ›modulationsfähig‹, hatte der einstige Squatter und jetzige Känguruhjäger den Beweis geliefert, daß er eine Bildung besaß, die man nicht bei solch einem Manne vermutet hätte.

Und nun solche Ansichten, daß das Gold vom Himmel falle? Sicherlich ein Autodidakt, ein Mann, der seine Bildung nur aus Büchern hat, die ihm ohne Auswahl in die Hände kommen. Das gab die Erklärung hierfür.

Mit desto größerem Interesse aber betrachtete Nobody ihn nur.

»Ich habe noch mit zwei der jetzt verschwundenen Mussons, wie sich die hier hausenden Eingeborenen nannten, gesprochen, und sie haben mir die Bedeutung des Wortes Karrikarri erklärt — mordendes Gold — und danach ist jenes Gebiet benannt worden.«

»Das ist eine unter diesen Mussons verbreitete Sage gewesen.«

»Mitnichten! Diese beiden Mussons waren selbst in jenem Gebiete gewesen, sie berichteten nur, was sie gesehen hatten.«

»Nun, was hatten sie gesehen?«

»Wie ab und zu vom heiteren Himmel ein Platzregen von Goldkörnern herabgesaust kam, und es waren ihrer drei — den dritten ließen die Fliehenden als Toten zurück, der Goldregen hatte ihn erschlagen.«

»So erzählten Ihnen die beiden Australneger?«

»Mister Smith, ich halte Sie für einen aufgeklärten Mann — das können Sie wirklich glauben?«

»Alle diese Australneger lügen doch wie — wie . . . . . . wie eben nur Australneger lügen können.«

Wie gedruckt wollte der Zeitungsmensch lieber doch nicht sagen.

»Ich muß es glauben, ich bin gezwungen dazu.«

»Weswegen?«

»Weil ich mich selbst von der Wahrheit überzeugt habe.«

»Wie?« rief der Redakteur, jetzt allerdings mit der höchsten Ueberraschung. »Sie selbst sind . . .«

»Ich selbst bin im Karrikarrigebiet gewesen! Denn auch ich wollte dieses Märchen nicht glauben, der letzte der Mussons führte mich hin.«

»Und was sahen Sie?«

»Den Beweis der Wahrheit. Als wir nach mühseliger Wanderung das ebene Tal, ringsherum von himmelhohen Bergen eingeschlossen, betraten, prasselte plötzlich ein goldener Regen um uns herab, und allerdings wie aus einer Kanone geschossen, denn die einzelnen Körner bohrten sich tief, tief in die Erde hinein. Das machte die Höhe, von der sie herabkamen. Nur in den klaren Gewässern waren die Goldkörner auf dem Grunde zu sehen. Das Wasser mag die Gewalt des Sturzes sehr abschwächen, und dann werden sie doch wieder herausgewaschen.

»Ich ließ mich nicht abschrecken, ich drang weiter vor, und mein treuer Freund hielt sich neben mir. Da hagelte es abermals Goldkörner hernieder vom blauen Himmel, wobei ich bemerkte, daß sich der Goldregen nicht etwa über das ganze Tal erstreckt, sondern es sind nur kleine Schauer, und ganz offenbar zieht der aufrecht stehende Mensch das Gold an wie den Blitz, was mir auch schon die Mussons gesagt hatten.

»Und ein dritter Goldhagel sauste herab, und da stürzte mein schwarzer Freund wie vom Blitz getroffen nieder, siebartig durchlöchert, und ich selbst war von einem Goldkorn brennendheiß am Arm gestreift worden.«

Der Känguruhjäger streifte seinen Pelzärmel bis zum Ellenbogen zurück. Nobody sah auf dem sehnigen Unterarm eine lange und tiefe Narbe.

»Da floh ich, von Entsetzen gepackt, davon. Mein Begleiter war tot.«

»Merkwürdig, höchst merkwürdig!« sagte der Redakteur, nur um etwas zu sagen.

Er glaubte diese Geschichte so wenig wie unser Nobody.

»Sie glauben es nicht?« fragte der Jäger denn auch direkt.

»Nein,« entgegnete Nobody, jetzt das Wort nehmend, ganz offen.

»Weshalb zweifeln Sie an den Worten eines alten Mannes? Was für einen Grund hätte ich, Ihnen solch eine Lüge zu erzählen?«

»Einfach den Grund, daß Sie nicht wollen, daß dieses Goldfeld ausgebeutet werde. Es ist Ihnen unlieb, daß nun noch ein anderer das Goldfeld entdeckt hat und nun, um sein Leben zu retten, sein Geheimnis der Oeffentlichkeit preisgibt.«

»Sie scheinen ein Fremder zu sein, und wenn Sie mich kennten. . . . .«

»Bitte, ich kenne Sie und schätze Sie hoch. Trotzdem muß ich meine Ansicht beibehalten. Sie haben einen ganz besonderen Grund, das Gold zu hassen, und Sie sind Menschenfreund genug, um nicht zu wollen, daß auch andere Menschen dadurch unglücklich werden; denn Tatsache ist, daß solch gefundenes Gold bisher nur immer Unglück in die Welt gebracht hat, der hervorgerufene Segen ist damit gar nicht zu vergleichen. Deshalb haben Sie dieses Märchen ersonnen — um vor dem Besuche des Karrikarrigebietes abzuschrecken.«

Da hob der Alte die rechte Hand empor, und feierlich erklang es:

»Ich schwöre bei Gott dem Allmächtigen, daß ich die Wahrheit gesprochen habe!«

Nobody blickte den alten Mann an — und da wußte er nicht mehr, was er dazu sagen sollte. Dann war hier ein wundersames Naturphänomen zu enträtseln, von welchem man bisher noch nirgends auch nur etwas gehört hatte — daß es Goldkörner vom Himmel regne!

»Glauben Sie mir jetzt?«

»Ja, Ihrem Schwure muß ich glauben. Dann aber nur noch eins: hat jener Ned Rossel wirklich einen Weg nach dem Karrikarrigebiet gefunden?«

»Ich kann nicht daran zweifeln; denn wie er das Tal in seiner furchtbaren Oede beschrieben hat, wie er bereits getan, die himmelhohe Umgebung, die durchkreuzenden Bäche, besonders den letzten Kletterweg — danach muß er unbedingt dort gewesen sein, das mitgebrachte Gold stammt wirklich von dort.«

»Wie kommt es denn da, daß Ned Rossel gar nichts von einem Goldregen zu erzählen weiß?«

»Kennen Sie denn die Erzählung seiner Abenteuer genau, wie er sie zuletzt gegeben hat?« fragte der Alte entgegen.

»Ich glaube, ja.«

»Wie lange hat er sich in dem Tale aufgehalten?«

»Nur einen Tag, nicht einmal — nicht länger, als seine Taschen und seinen ledernen Proviantsack mit Gold zu füllen; denn schon wurde er vom Hunger gequält, und in diesem Tale gab es absolut nichts Eßbares; so trat er unverzüglich den Rückweg an, um sich besser zu verproviantieren, unterwegs seinen Hunger fast nur mit Wurzeln stillen könnend.«

»Und ich habe doch auch gar nicht gesagt, daß es dort beständig Gold regne. Während des kurzen Aufenthaltes Rossels im Tale ist es eben einmal ausgeblieben. Ja, ich habe sogar unter der Hand erforscht, daß Rossel in dem Tale geweilt hat, als der Himmel mit einer schweren Wolke bedeckt war, was dort, wo sonst ein ewig blauer Himmel lacht, äußerst selten ist. Auf diese Weise ist Rossel eben von dem mordenden Golde, das sonst von jedem Menschen wie der Blitz vom Blitzableiter angezogen wird, verschont geblieben, er hat das Wunder gar nicht zu sehen bekommen.«

»Da kann ich Ihnen allerdings nicht mehr widersprechen.«

»Und auch ich möchte mein letztes Wort sprechen,« sagte der Alte, nahm die Büchse unter den Arm und hob wie warnend die Hand, und so erklang es denn auch: »Es ist die Wahrheit! Wer jenes Tal betritt, der wird vom Himmel herab von dem mordenden Gold getroffen! Entgeht er ihm das erstemal durch einen Zufall, so wird er das zweitemal erschlagen werden! Ich habe gesprochen — sorgen Sie für die Veröffentlichung dieser meiner Warnung!«

Ohne Gruß schritt der Alte hinaus. Die Zurückgebliebenen blickten sich an. Der Redakteur hob lächelnd die Schultern — Nobody unterließ jede Aeußerung seiner Ansicht.

 

—————

 

Die beiden Freunde trafen wieder zusammen. Nobody teilte dem Kanadier das Gehörte mit.

»Da gibt es für dich diesmal ein Geheimnis der Natur zu lösen,« sagte Scott.

»Du hältst so etwas für möglich? Daß es Gold vom Himmel regnet?«

»Begreifen kann ich es nicht, aber ich halte gar nichts für unmöglich. Auch die vom Himmel herabgefallenen Meteorsteine galten einmal für eine Unmöglichkeit.«

Da hatte Scott allerdings recht. Bis zum Anfänge des neunzehnten Jahrhunderts wurden alle Vorkommnisse von Meteoriten von den Gelehrten ins Reich der Fabel verwiesen, trotz der glaubwürdigsten Zeugen, und wenn solch einem Zweifler ein Meteorstein sozusagen auch auf die Nase fiel — er leugnete es ab. Weil es eben nicht möglich sei, daß ein Stein vom wesenlosen Himmel herabfallen könne.

»Nun, wir werden ja sehen. Jedenfalls hat sich deine prophetische Gabe wieder einmal glänzend bestätigt. Daß nun von hier aus gerade auch eine Expedition von Goldsuchern aufbricht, das ist nur ein Zufall, wird aber doch eng mit meiner Mission Zusammenhängen. Ein direkter Zufall ist es nur, daß wir schon hier davon gehört haben.«

»Was ist Zufall, Alfred?«

»Schon gut. Ich kenne deine Ansicht, ich bin ja auch ganz derselben, aber irgendein Wort muß der Mensch doch für jenes undefinierbare Etwas gebrauchen. Und was hast du zu erfahren bekommen?«

»Nichts weiter, als daß die Expedition morgen in aller Frühe aufbrechen wird.«

»Wieviel Mann?«

»Zu zählen ist das nicht. Eine Anmeldung oder so etwas gibt es doch nicht. Port Hunter hat achthundertzweiundsiebzig männliche Erwachsene, und es ist sicher anzunehmen, daß die Hälfte davon sich der Expedition anschließt. Dann kommt auch noch die Bevölkerung der Umgegend in Betracht.«

»Oho, das wird eine sehr stattliche Karawane!«

»Es fehlt schon an Lebensmitteln, um sich für mindestens zwei Wochen zu verproviantieren.«

»Für zwei ganze Wochen?«

»Ja, denn Rossel hat eine Woche gebraucht, um von dort hierherzugelangen, und unterwegs gibt es nichts.«

»Auch kein Wasser?«

»Doch, Wasser sei genügend vorhanden, behauptet Rossel.«

»Will er noch nicht aussagen, auf welche Weise er den so versteckten Kletterweg gefunden hat?«

»Er bleibt bei seiner ersten Behauptung, ein Australneger habe ihn ihm gezeigt.«

»Hm, mir kommt das Ganze sehr. . . na, wir werden ja sehen. Nun müssen die Leute aber doch auch dort Proviant haben.

»Natürlich, jeder nimmt eben so viel mit, wie er tragen kann, und je mehr er tragen kann, desto länger kann er dort aushalten und desto mehr Gold zusammenscharren.«

»Na, das wird einen schönen Mord und Totschlag geben! Dann wird dort bald ein Zwieback mehr Wert haben als ein Menschenleben.«

»Ja, bis die Händler kommen,« ergänzte Scott, »welche das Gold leichter zu verdienen wissen, als es erst mühselig aus der Erde zu hacken.«

»Man soll es ja auflesen können.«

»Dann brauchen sich diese Händler nicht einmal erst zu bücken.«

»Wer leitet die Expedition?«

»Der Sheriff von Port Hunter. Mac Orlan heißt er. Der Sheriff kann die Expedition auch nur leiten, denn die Seele des Ganzen ist doch der vom Tode zum Leben begnadigte Rossel, und der untersteht dem Sheriff. Dieser ist ein sehr besonnener Mann, aber ändern kann er auch nichts.«

»Was ändern?«

»Er warnt, daß die Karawane zu groß wird vor allen Dingen sollen sich keine schwächlichen Personen anschließen; denn eine Rücksicht gebe es bei so etwas nicht. Wer liegen bleibt, bleibt liegen. Natürlich warnt er ganz vergebens. Ich habe einen Mann mit einem noch nicht ausgeheilten Beinbruch gesehen, wie er sein Bündel schnürte.«

»Sollte er, da er doch über den Verbrecher zu bestimmen hat, nicht so schnell wie möglich abmarschieren?«

»Daß er dies nicht tut, zeigt eben seine Besonnenheit und seine edle Absicht. Und einen Zweck hätte es ja doch nicht. Würde er gleich jetzt schnell abmarschieren, so würden sich ihm dennoch alle anschließen, auch diejenigen, die noch gar keinen Proviant haben, und dann würde das Unglück nur um so schrecklicher. So hat er einen Termin festgesetzt: morgen früh um vier wird abmarschiert! Wer dann mitkommt, tut es auf eigene Verantwortung. Mit Gewalt kann natürlich niemand zurückgehalten werden.«

»Nun, Edward, mein Plan ist folgender: Erst warten wir hier noch ab, was für einen Erfolg jene Veröffentlichung in der Zeitung haben wird. Natürlich gar keinen. Aber ansehen möchte ich es mir doch. Dann begeben wir uns in den Delphin und machen nach Karrikarri erst einmal die unterirdische Reise. Wenn alles klappt, können wir in einem Tage dort sein, widmen uns einen Tag lang der Untersuchung des Terrains — hoffentlich werden wir dabei nicht mit Goldkörnern erschossen — und dann bringt mich der Delphin wieder zurück. Unterdessen ist die Karawane drei Tage, vielleicht auch nur zwei Tage schon unterwegs. Jetzt mache auch ich mich auf den Landweg. Geheim ist der Weg dann ja nicht mehr, ich kann den Spuren folgen, noch manch anderer, der erst nachträglich davon gehört hat, wird dasselbe tun.«

»Weshalb willst du dies tun?«

»Ich will eben dabeisein, wenn die Karawane das Goldfeld erreicht. Das könnte ich ja — wahrscheinlich und hoffentlich wenigstens — auch von dort aus beobachten, aber . . . . ich möchte eben diesen geheimen Felsenweg kennen lernen, wobei ich doch gleich etwas von den Blauen Bergen und überhaupt von Australien zu sehen bekomme. Die Karawane werde ich bald genug eingeholt haben. Ich weiß aus Erfahrung, wie langsam solche große Karawanen vorwärts kommen.«

»Und wir?« fragte Scott nach dieser Erklärung.

»Du merkst dir ganz genau das Fahrwasser, und sobald du mich hier abgesetzt hast, machst du mit dem Delphin abermals den unterirdischen Weg zurück, um mich dort zu erwarten.«

 

—————

 

»Karrikarri! — Mordendes Gold! — Auch Old Cangaroo ist schon dort gewesen! — Karrikarri! — Mordendes Gold!«

So schrien zwei Stunden später die Zeitungsjungen, und die noch druckfeuchten Bogen gingen wie die warmen Semmeln zur Zeit der Hungersnot ab.

Der Herausgeber des ›Port Hunters Spektator‹ erhielt von dem neuentdeckten Goldfelde die erste Ausbeute, nur indirekt, dafür aber auch gleich in klingender Münze — und Mr. Jonas hatte sie verdient, denn er hatte in seinem Artikel, die Warnung des alten Känguruhjägers wiedergebend, die glänzendsten Blüten eines englischen Reporterstils treiben lassen.

Und der Erfolg? Hohngelächter!

Und wenn jetzt der alte Känguruhjäger in Gestalt des Erzengels Michael erschienen wäre und hätte seine warnende Stimme erhoben — nicht ein einziger hätte deswegen sein Bündel wieder ausgepackt.

Gold, Gold, Gold!!!

Der alte Känguruhjäger hatte sogar sehr klug gehandelt, seine warnende Stimme in Druckerschwärze zu verwandeln, auch nachträglich nicht noch einmal öffentlich zu sprechen, sondern überhaupt unsichtbar zu bleiben — denn wahrscheinlich wäre der Erzengel Michael verhauen worden — nämlich, weil er schon seit vielen Jahren wußte, daß sich so ein reiches Goldfeld im Distrikt Port Hunter befand, und dies verschwiegen hatte.

Der Abend brach an, als die beiden Freunde den Schauplatz aufgeregter Szenen verließen und dem eigentlichen Hafen zustrebten. Nobody machte einen armen Fischer dadurch glücklich, daß er ihm ein kleines, altes, aber noch brauchbares Boot ohne Handeln für 3 Pfund Sterling abkaufte.

»Geht Ihr denn nicht mit nach Karrikarri?«

»Nein, Herr, meine Frau ist krank, und ich habe für fünf Kinder zu sorgen, und wenn der liebe Gott will, daß die einen reichen Vater bekommen sollen, dann werde ich's auch ohne Karrikarri.«

»Also drei Pfund soll das Boot kosten? Hier, nehmt.«

»Das sind fünf Sovereigns, Herr, das sind zwei zu viel.«

»Euer Sprüchlein, das Ihr mir gegeben habt, habe ich damit nicht zu teuer bezahlt. Good bye.«

Das Boot stieß ab.

»Man ändert sich doch mit dem Alter,« sagte nach einer Weile der am Steuer sitzende Nobody nachdenklich. »Früher wäre ich imstande gewesen, dem Manne gleich die ganze Mütze mit Goldstücken zu füllen. Aber es hat keinen Zweck. Gewöhnlich stiftet man keinen Segen mit so etwas. Ja, man wird immer vernünftiger. — Und doch, es war schön! Wenn ich so des Abends durch die armen Straßen ging — am Weihnachtsabend regelmäßig — und ich warf als heiliger Christengel die Kellerfenster der Armut mit Gold- und Silberstücken ein! Was geht es mich an, wenn das vom Himmel gefallene Gold in Schnaps umgesetzt wird? Im Augenblick des heimlichen Gebens genießt das Herz die höchste Glückseligkeit, deren der Mensch hienieden fähig ist. Schade, daß man immer vernünftiger wird!«

So sprach Nobody. Aber wir werden noch manche Gelegenheit haben, zu beweisen, daß er hierin durchaus nicht ›vernünftiger‹ geworden war.

Sie steuerten bei ruhiger See die Küste entlang, im Scheine der Sterne aufmerksam die Gipfel der nahen Berge betrachtend.

»Hier ist es,« sagte Nobody, »es braucht ja nur ungefähr zu sein. Die Gelegenheit ist günstig, kein anderes Fahrzeug zu sehen, und beobachtet uns jemand von der Küste her, so wird er Zeuge eines Unglücks oder eines Doppelselbstmordes zweier Fremden, über die niemand zu weinen braucht.«

»Von der Küste aus kann das Boot gar nicht gesehen werden.«

»Desto besser.«

Scott zog die Ruder ein. Nobody beugte sich über den Bootsrand, steckte zwei Finger in den Mund und stieß einen trillernden Pfiff aus.

Da leuchtete es tief unten im Meere auf, nur einen Moment.

»Das Signal ist gehört worden. Ha, wenn jetzt jemand unser Treiben beobachtet! Märchen werden zur Wirklichkeit.«

Nicht lange währte es, so kräuselte sich die glatte Flut, ein dunkler, runder Gegenstand tauchte auf, näherte sich dem Boot, dieses kam ihm entgegen, und die haarige Faust, die sich auf den Bootsrand legte, konnte nur dem isländischen Matrosen angehören.

Die andere Hand hob ein Paket in die Höhe, es wurde in Empfang genommen, die wasserdichte Hülle abgelöst, und eine Minute später befanden sich Nobody und Scott ebenfalls im Skaphanderkostüm.

»Wollen wir das Boot treiben lassen?« fragte Scott, ehe er den Helm aufschraubte.

»Nein, besser ist, wir versenken es. Dann wird hoffentlich auch nicht das Herz jenes Fischers durch unser Verschwinden beschwert.«

Der Stöpsel wurde aus dem Boden gezogen, und mit dem Boote zugleich sanken die Taucher hinab.

Auf dem Grunde wies ihnen ein umflortes Licht, von oben gar nicht zu sehen, den rechten Weg, der Sicherheitskasten wurde benutzt, und die drei Taucher befanden sich im Innern des Delphins.

Wir wollen uns nicht zu sehr auf Details einlassen. Es sei nur erwähnt, daß die beiden Freunde bei der Ausschiffung kein Boot benutzt hatten — ein solches besaßen sie ja gar nicht — sondern im Taucherkostüm direkt an Land gegangen waren, sich eine einsame Stelle aussuchend, begleitet von einem Matrosen, der die Skaphander wieder mit zurücknahm, und daß dies alles unauffällig vonstatten ging, das war für einen Nobody doch eine Kleinigkeit.

Der Delphin hob sich etwas vom Meeresgrund und setzte sich langsam in Fahrt. Dann strahlte er von seinem Kopfe ein Blendlicht aus, welches bei achtzehn Meter Wassertiefe in glatter Felswand ein rundes Loch von sechs Metern Durchmesser zeigte.

Ausgesucht hatte man die Mündung dieses unterirdischen Wasserlaufs bereits gehabt, eingedrungen war man noch nicht.

»Nun vorwärts mit Mut und Zuversicht! Tut eure Pflicht, behalte jeder seinen Apparat im Auge und seinen Hebel in der Hand, das andere überlaßt dem Lenker aller Dinge.«

Der Delphin drang ein in den geheimnisvollen, vollständig mit Wasser gefüllten Tunnel, noch achtzehn Meter unter dem Meeresspiegel liegend. Im hellsten Lichte strahlend, beleuchtete er graue Kalkwände.

Mehr ist über diese ganze Fahrt, welche vierzehn Stunden währte, auch nicht zu sagen.

Wie Nobody sein Ziel fand? Nach Sternen konnte er sich natürlich nicht orientieren. Aber andere Merkmale gab es genug, unverrückbare, alle aufs sorgfältigste in die Karte eingetragen, und dann waren Meßapparate vorhanden, welche die draußen herrschende Strömung und alles andere angaben, so daß man immer wußte, wo man sich befand.

»Roter Porphyr!«

»Fahrt 8 Komma 26!«

»Strömung 1 Komma 9!«

»Stimmt!« pflichtete Nobody bei, eine schnelle Berechnung machend und nach dem Chronometer blickend.

Am anderen Tage früh gegen acht Uhr zeigte sich über ihnen eine helle, kreisrunde Oeffnung. Das Boot hielt darunter.

»Das ist der Schacht!«

»Der erste, noch nicht der unsrige. Warum nun ist der hier schwarz eingetragen?«

Es ließ sich nichts weiter konstatieren, als daß es keine Möglichkeit zu geben schien, diesen Schacht zu erklimmen. Da hier unten ein ziemlich starker Druck herrschte, derselbe Druck, welcher die artesischen Brunnen in die Höhe treibt, stieg das Wasser in dem Schacht noch ziemlich hoch hinauf. Doch er setzte sich auch ohne Wasser noch weit nach oben fort.

Man hielt sich mit keiner weiteren Untersuchung auf.

Zwei Stunden später tauchte ein zweiter heller Schacht über ihnen auf, und eine Erregung bemächtigte sich aller. Das war der gesuchte, welcher direkt in das Karrikarrigebiet hineinführte! Denn es sollte der zweite Schacht sein, und die Berechnung stimmte auch.

»Und hier unten liegen auch Goldkörner, ja ja, nee nee.«

Wirklich war der Grund hier unten mit Goldkörnern bedeckt, wie man durch den durchsichtigen Boden des Fahrzeugs beobachten konnte, nicht in dicker Lage, sondern nur vereinzelt, und zwar nur direkt unter der Schachtmündung, sonst nirgends.

»Das ist auffallend! Das sieht wirklich gerade aus, als wären die hierhereingeregnet.«

»Weshalb aber gerade vom Himmel herabgeregnet? Sie können doch auch von Menschenhand in den Schacht geworfen sein.«

Sie wandten ihre Aufmerksamkeit dem Schachte selbst zu.

Hier war eine Vorrichtung angebracht, um ihn zu erklimmen. Stufen waren eingehauen, nur an einer Seite; da der Schacht aber noch nicht einmal einen Meter Durchmesser hatte, so genügte das, man konnte sich mit den Händen gegen die andere Wand stemmen, zum Ausruhen auch mit dem ganzen Körper. Allerdings war es mehr ein für einen Schornsteinfeger berechneter Weg, aber ein Gemsjäger hätte ihn noch sehr bequem gefunden.

Zuerst mußte es durchs Wasser gehen, wenigstens zehn Meter noch, und es waren immer noch fünfzig bis sechszig Meter, ehe der Schacht die Erdoberfläche erreichte.

»Trotzdem liegt dieses Gebiet außerordentlich tief,« sagte Nobody. »Das muß ja eine kolossale Senkung sein, die hier die Blauen Berge aufweisen.«

Eine Besprechung war nicht mehr nötig. Jochen und Anok blieben zurück, einen besonders ausgeprägten Forschergeist besaßen die beiden Matrosen auch nicht, was für den Menschen manchmal sehr gut ist — Nobody und Scott, versehen mit allem, was sie zu brauchen gedachten, kleideten sich in die Skaphander und gingen ins Wasser.

Im Wasser selbst brauchten sie die Stufen noch nicht zu benutzen, sie ließen sich emportreiben. An der Oberfläche kam es darauf an, sich des Taucherkostümes zu entledigen, womöglich ohne dabei die darunter getragenen Kleider zu durchnässen, was den beiden gewandten Turnern, indem sie sich gegen die Wände stemmten, ohne Schwierigkeit gelang.

Daß sie die Oberfläche der Erde nicht im Taucherkostüm betreten wollten, das war alles schon ausgemacht gewesen, auch hätte nur der Gummianzug in Betracht kommen können, die Bleisohlen waren außerordentlich schwer, an eine Mitnahme des Glockenhelms war auch nicht zu denken, und der dünne Gummistoff wiederum konnte an scharfen Kanten sehr leicht verletzt werden, wodurch dann das ganze Taucherkostüm unter Wasser unbrauchbar gewesen wäre.

Doch wie gesagt, das alles war schon zur Genüge besprochen worden, sie handelten sofort. An Bord des Delphins waren Gummibeutel gewesen, sie wurden aufgeblasen und die Bleisohlen und alles andere daran befestigt, so daß es oben schwimmen blieb, und ganz offenbar waren die Gummibeutel nur für solche Zwecke bestimmt, auch die ursprünglichen Besitzer des Delphins hatten es immer genau so gehalten; denn die Schnüre und Schnallen und Haken paßten immer genau zusammen.

Die Klettertour nach dem Stückchen blauen Himmel begann. Zehn Minuten später steckte Nobody den Kopf zu dem Schachte hinaus.

»Was siehst du, Alfred?« fragte Scott unter ihm.

»Ein weites Feld, mit großen und kleinen Steinen übersät, und das Ganze eingeschlossen von steilanstrebenden Felswänden.«

»Kommen schon Goldkörner geregnet?«

Scherzhaft hatte es geklungen. Der junge Kanadier konnte scherzen! Er hatte sich in letzter Zeit überhaupt recht geändert. Doch davon später!

»Vorläufig noch nicht. Mein Kopf ist noch nicht hoch genug, um auf das Gold eine Anziehungskraft auszuüben.«

»Dann vorwärts, hinaus! Mir tun die Knie und der Rücken weh.«

Nobody kletterte hinauf, Scott folgte.

Die Gegend ist nicht anders zu beschreiben, als Nobody es schon getan hatte. Ein weites Feld, mit großen und kleinen Steinen übersät, alle eine runde Form zeigend, also keine Bruchstücke.

Bemerkenswert ist noch, daß der Boden sonst aus feinem, weißem Sande bestand, in dem die runden Steine bis zur Hälfte gebettet lagen.

Eine Vegetation ließ dieser Sand nicht aufkommen, kein Grashälmchen.

»Mir scheint, hier hat es mehr Steine denn Gold geregnet.«

»Ja, es erinnert sehr an die im südlichen Frankreich gelegene Ebene Plaine de la Crau, wo der Sage nach Jupiter dem Herkules im Kampfe gegen die Riesen einen Steinregen zu Hilfe schickte.«

»Dort handelt es sich um Geschiebe aus der Gletscherzeit, und nicht viel anders ist es hier. Dieses Tal ist ganz einfach einmal mit Wasser ausgefüllt gewesen, von den Bergen haben sich Sturzbäche hinein ergossen, daher der feine Sand und die runden Steine. Die Bäche mögen nun auch Gold mitgeführt haben, und ich glaube schon, daß in dem Sande auch . . . . da, da ist das rote Zeug ja schon.«

Nobody hatte mit der Fußspitze in dem Sande gewühlt, glänzende Körner von Erbsengröße zeigten sich. Keiner der beiden bückte sich auch nur.

»Ja, so sind die Goldkörner hierhereingekommen. Gold ist noch niemals vom Himmel gefallen und wird auch niemals . . . . alle Wetter!!«

Um die beiden herum hatte es geprasselt, gleichzeitig ein gelbes Leuchten und Blitzen in der Luft, der feine Sand war wie gepeitscht worden, wirbelte auf, und gleichzeitig hatte Nobody auch deutlich einige Goldkörner auf einen Stein aufschlagen sehen.

Zu einer weiteren Untersuchung sollte Nobody nicht kommen, zu keinem weiteren Gedanken, der sich mit diesem Phänomen des Goldregens beschäftigte.

»Alfred!« stöhnte es neben ihm.

Zum Tode erschrocken blickte Nobody auf seinen Freund, und er sah ein weißes Antlitz, sah die hohe Gestalt schwanken.

»Um Gottes willen, Edward, was ist dir?«

»Ich bin getroffen — worden . . . .«

Da wieder solch ein Leuchten und Prasseln, Nobody fühlte einen brennenden Schmerz an seiner Wade, er achtete nicht darauf, fing seinen stürzenden Freund auf, hob ihn mit Riesenkraft wie ein Kind empor und rannte mit ihm der nahen Felswand zu, wo einige überhängende Steine eine Art Höhle bildeten, wenigstens einen Schutz vor dem mordenden Goldhagel gewährten.

Hier ließ er den bewußtlosen Scott zu Boden gleiten. Aus seiner linken Schulter quoll oben ein Bächlein Blut hervor, im Stoffe der Jacke zeigte sich ein zentimetergroßes Loch, der Rand wie versengt, und das mochte auch tatsächlich der Fall sein.

Noch während Nobody ihm die Jacke abriß und das Hemd gleich mit dem Messer aufschlitzte, kam Scott wieder zu sich.

»Ist es schlimm?« fragte er ganz ruhig. »Es traf mich an der Schulter.«

»Ich weiß noch nicht. Bist du noch sonstwo getroffen worden?«

»Ich merke nichts.«

»Keinen anderen Schmerz?«

»Nein.«

»Kannst du den Arm bewegen?«

Scott hob und senkte den linken Arm, ohne besonderen Schmerz zu fühlen.

»Dann ist es noch gut abgegangen. Nur eine Fleischwunde, der Kanal ist von einem Brandring umgeben.«

»Es war mir auch, als ob mir ein glühender Bolzen ins Fleisch gebohrt würde. Nun, desto besser wird die Wunde heilen.«

»Aber das Geschoß steckt noch drin, es muß heraus.«

»Schneide los!«

Nobody zog sein ärztliches Besteck. Mit einer fabelhaft leichten und sicheren Hand hatte er das goldene Geschoß schnell herausgeholt.

Scott, der bei der schmerzhaften Operation mit keiner Wimper gezuckt hatte, nahm und betrachtete es, während Nobody die Wunde mit Wasser, das er einer aus der Felswand hervorbrechenden Quelle entnahm, wusch und mit einigen Stichen zuheftete.

Es war eine etwas abgeplattete Kugel, der Schwere nach aus gediegenem Gold.

»Du blutest am Bein, Alfred.«

Zum ersten Male untersuchte Nobody seine eigene Wunde. Das Hosenbein war ihm an der Wade ganz aufgerissen worden, und auch hier wieder die verbrannten Ränder.

»Bah, ein ganz gelinder Streifschuß, gar nicht der Rede wert. Ein Glück ist es nur, daß das Himmelsgeschoß etwas von der Seite gekommen ist, senkrecht herab hätte es mir die Hacke zerschmettern können. Da, es hört schon auf zu bluten. Die Wunde ist wie ausgebrannt, desto besser, dann heilt sie ohne Eiterung. Und wie geht dir's, Edward?«

»Ich fühle keine Schwäche mehr. Der Ohnmachtsanfall vorhin, als mich das glühendheiße Geschoß traf, ist wohl verzeihlich.«

»Ja, Edward, was sagst du nun zu alledem?«

»Die Enträtselung dieses Geheimnisses wird dir besser gelingen als mir.«

»Ich bin ein Detektiv, welcher menschliche Verbrechen aufklärt und die Uebeltäter der Justiz ausliefert, aber mit Wundern der Natur befasse ich mich nicht, da reicht mein Verstand nicht aus.«

»Schweige, Alfred! Du bist nicht wegen deiner Verdienste als Detektiv zum Ehrendoktor der Universität Oxford ernannt worden,« spielte Scott auf die Vorkommnisse auf der Magnetinsel an, und er hätte noch manch anderes Beispiel heranziehen können, wie dieser Detektiv auch in solchen Sachen schon seinen Scharfsinn bewiesen hatte.

»Legen wir uns aufs Beobachten.«

Das Resultat einer langen Beobachtung war ein ganz negatives. Kein neuer Goldregen prasselte hernieder, gar nichts wollte sich ereignen.

So mußte man sich auf das Beschauen der näheren Umgebung beschränken.

Die aus dem Felsen hervorspringende Quelle bildete einen Bach, welcher eine Strecke lang hinfloß und dann in einer Bodenspalte verschwand, und hier im Wasser nun konnte man besser als in dem feinen Sande die Spuren von früherem Goldregen sehen.

Den Grund des Baches bildete, wie es gewöhnlich ist, weil der feine Sand immer weggewaschen wird, gröberes Material, und zwischen den Kieselsteinen blitzten überall kleinere und größere runde Goldkörner. Aber größere als das Geschoß, von dem Scott in die Schulter getroffen, gab es wohl nicht; dagegen hatte sich an einigen Stellen, wo sich das Wasser staute, ganz feiner Goldstaub angesammelt.

Solche Bäche durchquerten noch mehrere das Tal, einige sah man in der Ferne auch hoch herab von den steilen Felsen stürzen. Wohl alle verschwanden in Bodenspalten oder seitwärts in Löchern.

»Das im Wasser befindliche ist Waschgold,« sagte Scott. »Daher immer die runde Form, wenn nicht direkt eine Kugel. Die großen sind seinerzeit mit aus dem Quarzfelsen gerissen worden, als sich die Quellen mit Gewalt durchbrachen, das ist prähistorisch, während die Quellen noch jetzt Goldstaub ablagern können.«

Nobody hatte mit den Händen in dem Sande gewühlt und brachte überall aus einiger Tiefe große und kleine, kugelförmige Goldkörner zum Vorschein. Hier hatte der Goldgräber leichte Arbeit.

»Alles Waschgold. Das ganze Tal hat einst unter Wasser gestanden,« sagte Scott, das Gold mit ganz anderen Augen als ein Goldsucher betrachtend.

»Aber daß das Gold vorhin aus der Luft gekommen ist, das wirst du doch nicht bezweifeln,« meinte Nobody.

»Das habe ich an meinem eigenen Körper gefühlt.«

»Und auch dieses Geschoß ist kugelrund, nur etwas platt.«

»Mir ist es unerklärlich!«

»Und dürfte es wohl jedem Menschen sein. Vorläufig weiß ich nur eins.«

»Was denn?«

»Himmel, hast du keine Flinte, das darf man jetzt nicht mehr sagen. Sogar mit Mitrailleusen schießt er!«

Der junge Kanadier lachte in einer Weise, wie man es früher bei ihm für unmöglich gehalten, und wie man es von ihm in den letzten Tagen öfters gehört hatte. Auch seine schmerzhafte Verwundung, die bald ein Fieber erzeugen würde, hinderte ihn nicht daran, sich über den trockenen Humor seines Freundes zu freuen.

Dann wurde er wieder ernst. Der junge Mann hatte nun einmal etwas von einer Forschernatur an sich.

»Woher mag das herabfallende Gold so brennend heiß sein?«

»Allein durch die Reibung an der Luft. Gold ist zwanzigmal schwerer als Wasser, und die wachsende Geschwindigkeit des Falles nimmt noch in einem ganz anderen Verhältnisse zu. Da muß wohl Hitze entstehen; und kann einen schon ein haselnußgroßes Hagelkorn auszahlen, um wieviel mehr eine Goldkugel von dieser Größe. Da muß sie ja wie ein von Pulvergasen getriebenes Geschoß wirken, sie braucht gar nicht aus so großer Höhe herabzufallen. — Aber, Edward, nimm mir's nicht übel, was für einen Zweck haben all diese wissenschaftlichen Erwägungen? Karrikarri, mordendes Gold — verflucht noch einmal, der alte Känguruhjäger hat wirklich nicht geflunkert!«

»Durch solche kraftvolle Bestätigungen wird die Aufklärung des Phänomens auch nicht herbeigeführt,« meinte Scott.

»Nein, da hast nun wieder du recht. Hier muß gehandelt werden.«

Nobody war aufgestanden.

»Was willst du tun?«

»Konstatieren, wie weit der menschliche Körper den Goldhagel anzieht.«

»Du willst hinaus?«

»Natürlich, das muß riskiert werden!«

»Alfred, sieh dich vor . . . . «

Die Warnung kam zu spät, Nobody hatte die schützenden Felsen schon verlassen — sprang aber nach einigen Schritten auch schon wieder zurück, denn abermals war ein Goldregen niedergeprasselt.

»Donnerwetter, mit dem Himmel ist doch nicht zu spaßen!«

»Du bist doch nicht verwundet worden?« rief Scott.

»Nein, und das eine habe ich hierbei wenigstens konstatieren können, daß der Himmel zwar scharf schießt, aber auch daneben schießen kann. Ich habe ganz deutlich bemerkt, daß das Regenfeld, vielleicht vier Quadratmeter im Umfang, sich wenigstens einen Meter von mir entfernt befand, weiter näherte sich mir keins der fallenden Goldkörner.«

»Auch der Blitz wird zwar von einem hohen Gegenstand angezogen, schlägt aber oftmals daneben.«

»Das stimmt. Ja, aber . . . wenn nicht mein Räderwerk in Ordnung und gut geschmiert wäre — hier könnte mir wirklich der Verstand stehen bleiben. So was hat's doch in der Weltgeschichte noch gar nicht gegeben!«

Kopfschüttelnd betrachtete Nobody den wolkenlosen Himmel.

»Du hast doch jetzt besser beobachten können, Edward. Hast du eine begleitende Detonation oder sonst etwas gehört?«

»Nein, nur das Prasseln.«

»Hm. Man braucht ja nicht gerade alles dem blauen Himmel in die Schuhe zu schieben. Vielleicht ist es ein Geist, der uns hier mit Goldklumpen bombardiert.«

»Oder ein Mensch. Die Felswand ist nahe genug, um uns von dort oben herab zu bewerfen.«

»Ich meinte auch einen menschlichen Geist. An die anderen Geister glaube ich ein für allemal nicht mehr. Ich denke dabei lebhaft an das gespenstische Steinwerfen auf Java. Kennst du den Fall?«

»Ich habe die Geschichte von dir gelesen.«

»Ja, aber hier — welcher Mensch schmeißt denn gleich so mit ungemünzten Dukaten um sich? — Nein, das geht wirklich auf keine Kuhhaut!«

Noch einmal musterte Nobody aufmerksam den Himmel und die Felsenkämme, soweit er sie von hier aus erblicken konnte.

»Ich habe Lust, schnell einmal durch das ganze Tal zu rennen!«

»Alfred, sei nicht wagehalsig. Auch du bist ein sterblicher Mensch!«

Nobody sah ein, daß es keinen Zweck hatte, auf diese Weise sein Leben aufs Spiel zu setzen. Daß der aufrechtstehende Mensch den Goldhagel an sich zog, auf sich lenkte, war nun erwiesene Tatsache.

»Zur weiteren Untersuchung bedürfen wir eines Schutzmittels.«

»Eines Schildes.«

»Ja. Ich weiß unten im Boote eine geeignete Platte. Es ist ein Tisch, welcher wohl loszuschrauben geht. Die werde ich holen.«

»Dazu mußt du aber erst nach dem Brunnenschächte laufen.«

»Ja, das hilft nun alles nichts. Es ist ja keine dreißig Schritt von hier.«

»Du kannst auch noch getroffen werden, während du hinabsteigst.«

»Na, Edward, nun höre einmal auf! Ich habe mich schon mehrmals einem ganz anderen Kugelregen ausgesetzt. Aber wie ist es nun mit dir? Du müßtest hier einstweilen allein liegen bleiben.«

Die Aengstlichkeit beruhte also ganz auf Gegenseitigkeit, einer bangte für den anderen, und das ist eine sehr edle Furcht.

Aber Scott wies mit derselben lachenden Entrüstung den Verdacht zurück, er könne sich fürchten, hier oben allein zu bleiben.

»Dann auf glückliches Wiedersehen. Ich mache so schnell wie möglich. . . . .«

Und schon jagte Nobody wie ein Windhund über das Plateau.

Richtig, da prasselte abermals ein Goldhagel herab.

»Danebengeschossen!!« triumphierte Nobody, im Laufen die Hand nach dem Himmel schwenkend, und auch Scott hatte ganz deutlich an dem Aufstieben des Sandes, selbst an den goldenen Strichen, die in die Luft gezeichnet wurden, sehen können, daß die Goldkörner weit hinter jenem aufgeschlagen waren, nur noch seine Spuren treffend.

Dann war Nobody in dem Schachte verschwunden.

Und Scott wurde von einem neuen, erschreckenden Gedanken erfüllt.

Wie nun, wenn der Goldhagel jetzt als Ziel die Schachtmündung wählte? In dieser nahm der Kletternde eine mehr horizontale Lage ein, ein Korn des mordenden Goldes mußte ihn unbedingt treffen.

Aber der goldene Hagel wiederholte sich nicht wieder. Und hiermit war der Beweis geliefert, daß es in diesem Tale der Himmel nicht eigentlich auf den Menschen als diesen abgesehen hatte, sondern daß eben nur der aufrecht stehende Mensch die Goldkörner auf sich zog.

Dann konnte sich Scott seinen grübelnden Gedanken hingeben. Sie drohten ihm den Verstand zu verwirren. Besser, er entschlug sich aller Theorien und kühlte lieber seine Wunde.

Da kam Nobody schon wieder. Er hatte den Weg hin und zurück oder nieder und auf mit einer Schnelligkeit gemacht, wie eben nur Nobody es fertig brachte.

Als Scott ihn erblickte, befand er sich schon auf der Hälfte des Weges nach der Höhle, jetzt nahm er sich Zeit, und abermals entlud sich der goldene Regen über ihn, gleich zweimal hintereinander. Aber wirkungslos prallten die Goldkörner von einer meterbreiten und noch längeren Platte ab, welche Nobody über sich hielt. In der anderen Hand trug er zwei lange Stäbe.

»Laßt's regnen, was es regnen mag, laßt ihm nur seinen Lauf; denn wenn's genug geregnet hat, hört's schon von selber auf!« deklamierte er vergnügt unter seinem Schild.

»Solch einen Regen läßt man sich übrigens gefallen,« setzte er noch hinzu, bückte sich, hob ein Stück Gold aus und erreichte im Promenierschritt das steinerne Schutzdach.

»Die Tischplatte ist wie geschaffen zum Regenschirm,« meinte er, »hat unten gleich einen richtigen Handgriff. Und nun besieh dir diese beiden Goldstückchen, die ich vor meinen Füßen aufhob.«

Beide waren rund, aber vollständig platt. Also mehr kreisrunde Scheiben.

»Die eine sprang von meinem Schilde ab, die andere sah ich ganz deutlich von einem Steine abspringen.«

»Was willst du damit sagen, Alfred? Du sprichst das so bedeutungsvoll aus.«

»Daß die Goldkörner plattgeschlagen werden, ist selbstverständlich. Aber auch das Gold, welches vom Himmel fällt, ist sogenanntes Waschgold, ist erst von fließendem Wasser rund geschliffen worden.«

Wirklich, das gab zu denken, was Nobody hiermit konstatiert hatte! Plattgeschlagene Körner von unregelmäßiger, an den Seiten gezackter Struktur wären viel eher zu erwarten gewesen.

Doch vorläufig hatte es ja gar keinen Zweck, daß der menschliche Verstand hierüber nachgrübelte! Goldkörner, welche vom blauen Himmel herabfielen — ein unlösbares Rätsel!

»Was für zwei Stangen sind das?«

»Die eiserne, oder was für ein Metall es sonst ist, ist eine Hebelstange, die ich losschrauben konnte, ohne daß sie der stilliegende Delphin in seinen Eingeweiden vermißt, und diese hölzerne Stange ist ein technisches Instrument, welches man im gewöhnlichen Leben Besenstiel nennt. Auch das Unterseeboot kann trotz aller Vollkommenheit einen trivialen Besen nicht vermissen.«

»Weshalb hast du sie mitgebracht?«

»Um sie draußen im Freien aufzupflanzen. Um zu prüfen, ob nicht nur ein aufrecht stehender Mensch, sondern auch eine Stange von Holz oder Metall den Goldhagel anzieht.«

So hatte Nobody an alles gedacht. Er ging sofort an eine Untersuchung.

Als er hinaustrat, den Schild über den Kopf haltend, prasselte auf diesen gleich wieder ein goldener Hagel. Nobody kümmerte sich nicht darum, er entfernte sich und pflanzte an verschiedenen Stellen die beiden Stangen auf.

Wir wollen es kurz zusammenfassen. Eine Stunde wanderte Nobody in dem Tale hin und her, meist an den Felswänden entlang. Während dieser einen Stunde wurde er oder vielmehr sein Schild noch zweimal von einem goldenen Hagel getroffen, also jetzt machte dieser sehr lange Zwischenpausen.

Die beiden Stangen hingegen, welche unterdessen von Scott beobachtet wurden, hatten keine Goldkörner angelockt.

Nobody hatte noch längst nicht das ganze, sehr ausgedehnte Tal abgeschritten, als er hastig zurückkam.

»Edward, mir ist soeben etwas eingefallen,« sagte er ebenso hastig. »Mein Gewissen ist erwacht.«

»Dein Gewissen?«

»Ja. Daß du hier liegst, und daß ich hier herumlaufe, hat gar keinen Zweck. So schnell können wir das Rätsel doch nicht ergründen, das wird langer Zeit bedürfen, und unterdessen rückt eine Karawane von Hunderten von Menschen heran. Glaubst du, daß auch sie, wenn sie dieses Tal erreichen, mit einem goldenen Regen beglückt werden?«

»Ich zweifele nicht daran.«

»Und es ist Karrikarri, mordendes Gold, und diese ahnungslosen Männer haben keinen solchen Regenschirm bei sich.«

»Ich verstehe dich. Du willst zurück und der Karawane nacheilen.«

»Ja.«

»Glaubst du, daß die Goldsucher deiner Warnung Gehör schenken werden?«

»Nein. Sie werden mich ebenso als Narren verlachen wie den alten Känguruhjäger. Trotzdem, mein Gewissen fordert dringend von mir, daß ich der Karawane nacheile und tue, was ich kann, um sie zurückzuhalten, in deren dichten Reihen der goldene Tod eine schreckliche Ernte halten würde. Kann ich sie nicht zurückhalten, laufen sie in den Tod — nevermind. Aber was ich tun kann, muß ich tun, sonst läßt mir mein Gewissen keine ruhige Nacht mehr.«

»Ich verstehe dich vollkommen. Also brechen wir auf.«

Nobody warf zunächst die beiden Stangen in den Schacht hinab, dann nahm er Scott mit unter seinen Schild und deckte so dessen Abstieg, und das war auch sehr nötig: denn nochmals öffneten sich des Himmels goldene Schleusen, um jetzt einen wahren Platzregen von Goldkörnern auf die beiden herabzusenden. Hierdurch wurde die vorige Annahme, nur der aufrechtstehende Mensch zöge den Goldhagel an, hinfällig. Glücklicherweise war die Platte groß genug, um alle beide zu beschirmen, und im Schacht selbst befanden sie sich ja übereinander.

»Nun sind wir schon im Schacht, und wir ziehen den Goldhagel doch noch an,« meinte Scott, dessen Wunde ihn wenig am Klettern hinderte.

»Ja, der Himmel scheint sich noch weniger an Gesetze binden zu lassen als man sonst schon von der Natur gewöhnt ist.«

Endlich hörte der Hagel auf. Dennoch wurde die Vorsicht gebraucht, daß einer einige Stufen höher immer den Schild hielt, während der andere weiter unten sein Skaphanderkostüm anlegte.

Dann tauchten beide ins Wasser, der Delphin trat sofort den Rückweg an.

 

—————

 

Nobody fand in dem Städtchen fast nur noch Frauen, kleine Kinder, altersschwache Greise und solche Kranke vor, die dem Tode nahe waren oder sich sonst nicht mehr auf den Beinen halten konnten.

Gestern war sogar die ganze Schuljugend männlichen Geschlechts nach den Goldfeldern von Karrikarri aufgebrochen, nicht etwa heimlich bei Nacht und Nebel, sondern nach einer vorausgegangenen öffentlichen Versammlung auf dem Marktplatz, wobei besonders ein zehnjähriger Schlingel glänzende Beredsamkeit entwickelt hatte, darauf hinweisend, daß es die erste Pflicht eines jeden Menschen sei, schon in der Jugend für sein Alter zu sorgen.

Und kein Konstabler war mehr dagewesen, die Versammlung kraft des Gesetzes aufzulösen, und die Bengels hatten auch einen triftigen Grund, nicht mehr in die Schule zu gehen; denn der Küster war Goldsucher geworden und hatte die Schlüssel mitgenommen, und die sämtlichen Lehrer hatten gleichfalls ihr Amt niedergelegt.

Als Nobody seinen Agenten noch einmal aufsuchen wollte, fand er die Redaktionsstube geschlossen. Auch Mr. Jonas hatte dem goldenen Drange nicht widerstehen können. Was sollte er auch hier? Jetzt kaufte niemand mehr Zeitungen; nur Nachrichten aus dem Goldgebiet wurden erwartet, und so war er selbst dorthin aufgebrochen.

Nobody hatte wohl daran getan, sich aus dem Unterseeboot reichlich mit jenem Proviante zu versehen, den man in der Westentasche bei sich tragen konnte. Die Goldsucher hatten alles Eßbare mitgenommen, die Jungen noch Mutters geheimen Reservefond geplündert, bis zur Ankunft des nächsten Dampfers standen die Zurückgebliebenen fast vor einer Hungersnot.

Unverzüglich machte sich Nobody auf den Weg, der erst durch eine angebaute Gegend führte, wo demnächst auf den Feldern das reife Korn unbenutzt aus den Hülsen fallen würde, bis das fruchtbare Land in eine Sandwüste überging, die sich bis an den Fuß der Blauen Berge erstreckte.

Der Flugsand hatte schon nicht mehr den tiefausgetretenen Weg verwischen können, innerhalb von drei Tagen ausgetreten, noch weniger die anderen Spuren, welche gegen tausend Menschen zurückgelassen hatten: leere und zerbrochene Flaschen in Unmenge, Wagenladungen voll Papier; schon hatte man sich der Kleidungsstücke entledigt, ein Kommis war gleich im Zylinder mitgelaufen, jetzt lag dieser neben einem eisenbeschlagenen Arbeiterstiefel, der gedrückt haben mochte, und das mußte eine recht elegante Dame gewesen sein, die solch einen Unterrock verloren oder abgestreift hatte.

Nobody fand nichts lächerlich. Tausend Menschen! Ihm begann zu grauen, er beschleunigte noch seinen schon angeschlagenen Eilschritt.

Und dort lag schon ein Mann mit gebrochenen Augen, einen häßlichen Messerstich in der Brust! Und dort ein anderer mit von einer Revolverkugel zerschmetterter Stirn!

Wo war der Richter? Der wollte Gold auflesen.

Und dort lag ein dritter Mann, noch lebend, mit einem gebrochenen Fuße hatte er sich nur noch ein Stückchen zurückschleppen können, dann war er liegen geblieben im heißen Sand, und da fing der Jammer schon an: er wimmerte um einen Schluck Wasser.

Nobody setzte ihm seine gefüllte Korbflasche an die verschmachtenden Lippen und nahm sie nicht eher wieder ab, als bis sie leer war.

So, nun war er fertig, mit sich und mit allen anderen Menschen. Nun konnte er nicht mehr helfen, und nun würde er steinernen Herzens an den Unglücklichsten vorübergehen können, jetzt hörte sein Ohr nichts mehr, sein Auge sah nichts; denn es hatte keinen Zweck mehr. Und so geschah es. Nobody war blind und taub geworden. Nur die Spuren sah er noch, denen er zu folgen hatte.

»Bin doch begierig, wie der Weg aussieht, der aus der Wüste in die Berge führt, bisher gänzlich unbekannt, und nun mit einem Male soll er von tausend Menschen benutzt werden.«

Da, was war das? Trompetengeschmetter, ein fröhlicher Marsch, heiterer Gesang, begleitet von Tamburingerassel!

»Hallelujah!!«

Ein Trupp der Heilsarmee, die auch in Port Hunter ihre Niederlassung hatte, Männer und Frauen in ihren Uniformen. Sie trugen Bahren zwischen sich, kamen schon von ihrem dritten Ausflug zurück. Allen konnten sie nicht helfen. Sie taten, was sie konnten. Sie lasen Edleres auf denn Gold.

Ja, verspottet nur! Das ist geistreich und dabei billig genug.

O, Mensch, du Sohn des Himmels und der Erde, was für eine Bestie bist du doch! Studiere alle Wissenschaften, lerne alle Geheimnisse der Natur kennen, verstehe auf den Grund der größten Erzeugnisse der Kunst und Literatur zu gehen — nimm täglich drei aromatische Bäder, poliere täglich stundenlang deine Fingernägel — und du hast der Liebe nicht, jener echten, wahren Liebe, dann bist und bleibst du eine Bestie!

Komme mir auch nicht mit Mutterliebe und dergleichen! Die Wölfin liebt ihre Jungen genau so zärtlich wie du deine Brut. Daß sich unsere Liebe zu den Kindern noch etwas weiter hinauserstreckt, das ändert daran nichts. Dafür laufen wir auch nur auf zwei Beinen herum.

Aber wenn dir erst das Essen manchmal nicht mehr recht schmecken will — wenn du erst einen geheimen Widerwillen vor allen leckeren Mahlzeiten bekommst — wenn dir manchmal der Bissen im Munde quillt, indem du nämlich dabei an alle jene denken mußt, die jetzt nichts haben, die schon mit einem Stückchen Brot zufrieden wären (solche Empfindungen kommen zuerst ganz unbewußt) — dann erst fängst du an, ein wirklicher Mensch zu werden, ein Stellvertreter Gottes auf Erden! —

Mochten diese uniformierten Männer und Frauen geistig noch so beschränkt sein — allen Gesichtern war jener Stempel aufgedrückt, welcher nicht von dieser Welt ist.

Gold, Gold, Gold!!!

Hohngelächter der Hölle — und der Weisen!

Die hatten auch Gold gefunden — nur ein anderes Gold!

Mit Bitten und Ermahnungen, sich doch nicht nach den in der Luft schwebenden Goldfeldern zu begeben, hielten sich die nicht lange auf. Die besaßen ihre Lebenserfahrung.

»Einen Penny für die Heilsarmee!« sagte ein vorgehaltenes Tamburin.

Nobody zog seinen Block und schrieb einen Scheck aus — über wieviel, das steht nicht in seinem Tagebuch. Dann eilte er weiter.

Nach einem kleinen Uebergang von Hügelgelände trat das Hochgebirge in seine Rechte. Den Spuren immer folgend, gelangte Nobody an eine Felsenwand, nicht allzuhoch, keine zehn Meter, auch nicht senkrecht, aber doch von einer Schräge, daß keinem schweizerischen Geisbub das Gelüste gekommen wäre, sie zu erklimmen.

Wozu auch? Links und rechts gab es bequemere Aufstiege. Aber man gelangte nur auf einen schmalen Grat, wo man wieder umkehren, wieder hinunterrutschen mußte.

Nur diese so niedrige und unscheinbare Felswand hatte der Menschheit bisher eine goldene Welt verschlossen!

Auf der schrägen Fläche lief ein starkes Seil herab, die Spuren tragend, wieviele Hände es schon gepackt gehalten, und da der Felsen auch genug Vorsprünge zeigte, gegen welche sich die Füße stemmen konnten, so mußte es selbst für jede Frau ein leichtes sein, mit Hilfe dieses Seiles emporzuklimmen.

Nobody stand oben und vor einem Spalt in der höher gehenden und jetzt steil werdenden Felswand, den man von unten gar nicht sah. Durch diesen hindurch, eine Biegung und . . . . Nobody erschrak!

Nämlich aus dem Grunde, weil er plötzlich vor sich einen Weg sah, zwar anscheinend sehr gefährlich, weil es ein Grat war, links Felswand und rechts ein gähnender Abgrund, aber in Wirklichkeit doch ganz bequem zu gehen, dabei breit genug, um eine Karawane gleich sektionsweise marschieren zu lassen.

Und Nobody hatte einen mühseligen Kletterweg erhofft, auf dem die tausend Menschen nur langsam, ganz langsam vorrücken konnten. Der langwierige Aufstieg und die enge Felsspalte hatten ihn in dieser Hoffnung bestärkt. Hier hatten tausend Menschen eine gar lange Zeit gebraucht, um hintereinander vorzudringen.

Aber wenn die Fortsetzung des Weges so breit und so bequem blieb — und er war mit den Augen gar nicht zu übersehen, auch noch im Fernrohr verschwand er als immer schmaler werdender Streifen — da hieß es eilen, wollte man den vorausgegangenen Haupttrupp der Expedition, deren Mitglieder vom Goldfieber beflügelte Füße verliehen bekommen, noch einholen!

Und Nobody flog dahin.

Wir wollen ihn nicht Schritt für Schritt begleiten. Er sah ja auch nichts weiter als den Boden, auf den er den Fuß zu setzen hatte, für alles andere was auf diesem Wege lag, war er ja blind geworden. Es war Unglück genug. Doch er konnte nicht helfen. Die noch Lebenden galt es zu retten oder doch zu warnen!

Zu erwähnen ist nur noch, daß häufig aus Felsspalten Quellen hervorsprangen, welche in der Tiefe verschwanden. Was für Szenen sich hier zwischen den durstigen Goldgräbern abgespielt hatten, was hier von der menschlichen Rücksichtslosigkeit geleistet worden war, das verrieten hinterlassene Spuren — nicht nur Eindrücke, sondern Spuren aus Fleisch und Blut.

Die mondlose Nacht mit wolkenbedecktem Himmel machte Nobodys Wanderung ein Ende. Der Weg, der in starken Windungen auf und ab stieg, ohne vorläufig Klettertouren notwendig zu machen, senkte sich wieder einmal, und tief unter sich gewahrte Nobody viele flackernde Feuerchen, an denen auch Menschen zu erkennen waren.

Dort unten, wo sie Holz gefunden hatten, hielt ein Trupp Goldsucher sein Nachtlager. Es konnten die ausgerückten Jungen sein oder noch spätere Nachzügler, die sich zusammengefunden hatten.

Nobody hatte keine Lust, sich ihnen beizugesellen, ganz abgesehen davon, daß bei dieser Stockfinsternis jeder Schritt einen Sturz in die Tiefe bedeuten konnte. Das hier war ein natürlicher Felsenweg, durch keine Barrieren noch sonst etwas geschützt.

In einem Winkel, möglichst entfernt von wimmernden Stimmen, die nirgends fehlten, suchte er sich den weichsten Stein aus und war bald sanft entschlummert.

Das Geräusch eines Steines, der satzweise in die Tiefe sprang, weckte ihn. Es war nicht von Bedeutung, nur ein kleiner Kiesel, aber es hatte doch genügt, Nobodys Sinne aufmerksam zu machen, und es war in seiner nächsten Nähe gewesen.

Dort unten flackerten noch immer die Feuer, sie wurden noch reichlich genährt, aber sie traten nicht mehr so scharf aus der Finsternis hervor; denn die letzte Sichel des Mondes hatte sich über den Gebirgskamm erhoben, und der Himmel war wieder klar geworden.

Und da — dicht neben Nobody, nur etwas über ihm, auf einem isolierten Felsblock stehend, eine menschliche Gestalt!

Nobody erkannte sie im silbernen Mondlicht sofort. Es war niemand anders als der alte Känguruhjäger.

Auf seine lange Büchse gestützt stand er da, der leise Wind spielte mit seinen weißen Haaren, schmerzvoller Ernst prägte sich auf dem hageren Antlitz aus, und dennoch auch immer noch jene grausame Energie, welchen Ausdruck man so häufig beim Geizhals findet; jetzt hob er wie drohend die Hand gegen die unten flimmernden Lagerfeuer, und dumpf erklang es:

Die Gestalt sank in sich zusammen, war von dem Felsblock verschwunden.

Durch Nobodys Kopf jagten die Gedanken.

Zum Meineidigen geworden? Nobody hatte aus dem Munde des Alten nur einen einzigen Eid gehört, nämlich den mit erhobenen Fingern gesprochenen Schwur, daß er die Wahrheit aussage: selbst im Karrikarrigebiete gewesen und Zeuge geworden zu sein, wie es dort Goldkörner vom Himmel regne, wodurch auch schon seine beiden schwarzen Freunde getötet wurden.

Und beruhte denn das nicht alles auf Wahrheit? Der Alte mußte unbedingt dort gewesen sein. Nobody hatte doch auch ein Skelett gefunden, welches unbedingt einem Australneger angehörte.

»Hallo, Old Cangeroon!!«

Keine Antwort. Nur in der Ferne winselte nach wie vor eine menschliche Stimme um Wasser, betete deswegen zu Gott und verschrieb die Seele dem Teufel, die ihm sowieso schon gehörte.

»Mister Smith!!«

Der Alte meldete sich nicht.

»Auch ich bin schon im Karrikarrigebiet gewesen!«

Als auch dies nicht wirkte, mußte Nobody annehmen, daß der Alte schon außer Hörweite war.

Nur noch eins erkannte Nobody aus den sonst so rätselhaften Worten des alten Jägers heraus. Er besaß tatsächlich ein Mittel, um das Finden der Goldfelder doch noch unmöglich zu machen, vorausgesetzt, daß dieser Weg nicht immer so klar von der Natur vorgezeichnet blieb, was wohl auch schwerlich der Fall war, und jeder andere Mensch hätte dieses Mittel besessen: einfach den Führer wegzuschießen.

Schade um den Verbrecher wäre es ja nicht gerade gewesen — aber wer will zum Mörder werden?

Nobody benutzte den Mondschein, um noch in der Nacht seinen Eilmarsch fortzusetzen.

 

—————

 

»Dort unten liegen die Goldkörner wie die Erbsen auf der Tenne.«

Ned Rossel hatte es gesagt, mit ausgestreckter Hand in das Tal deutend, das in furchtbarer Tiefe zu ihren Füßen gähnte.

Mehr als vierhundert Männer waren es gewesen, die als erster Trupp unter seiner Führung und unter der Leitung des Sheriffs aufgebrochen waren, jetzt waren es kaum noch hundert.

Die anderen dreihundert waren ja nicht gerade den Strapazen der Reise erlegen. Sie hatten mit ihren rüstigeren Kameraden nur nicht gleichen Schritt halten können, waren zurückgeblieben, würden später hier eintreffen — abgesehen von denen, welche ihre Goldsucht wirklich schon mit dem Tode gebüßt hatten — weil sie den Strapazen nicht gewachsen gewesen waren, also an Schwäche, verunglückt, gemordet — und ihrer waren genug.

Und wie sahen diese hundert Männer aus, die als erste das Ziel erreicht hatten, wenigstens den Anblick des Goldfeldes genossen!

Es waren die robustesten Männer gewesen, deshalb eben waren sie ja zuerst hier, und innerhalb von sieben Tagen waren es ausgemergelte Gestalten geworden, die kaum noch ihren zusammengeschmolzenen Proviant tragen konnten, deswegen schon alles andere, selbst ihre Waffen weggeworfen hatten, und ihre zerfetzten Kleidungen, ihre zerschundenen Knie und Hände erzählten davon, daß der Weg nicht immer so bequem geblieben war.

»Und wo ist der Abstieg?« fragte Richter Mac Orlan, welcher von allen am meisten sein früheres Aussehen gewahrt hatte, den schweren Revolver am Gürtel, vor allen Dingen seine eiserne Ruhe.

»Dort!«

Rossel deutete auf die Quelle, an der die Männer soeben ihren quälenden Durst gelöscht hatten. Sie kam unter einem lose aufliegenden Felsblock hervor und verschwand wieder in einer Spalte.

»Wo denn?«

»In der Spalte geht es hinab.«

»In dieser Spalte? Da geht ja gar kein Mensch hinein.«

»Es geht schon, probiert's nur,« grinste der Rowdy, wie er während des ganzen Marsches gegrinst hatte. »Es führen sogar Stufen hinab.«

Man überzeugte sich von der Wahrheit. Aber man mußte sich platt auf den Boden legen und das Auge erst an die Dunkelheit gewöhnen, ehe man die ersten eingehauenen Stufen erkennen konnte.

Niemand fragte hier, welche menschliche Hand die Stufen eingehauen hatte, ein wildes Gedränge entstand, jeder wollte der erste sein, der die nach dem Goldfeld führende Treppe benutzte.

»Ordnung!« donnerte der Sheriff und hatte schon seinen Revolver auf einen wüsten Burschen angeschlagen, der andere brutal zur Seite stieß.

»Ich war hier zuerst. . . . .«

»Tritt zurück, Bill Lawendin!« erklang es drohend.

»Ach was, wir sind am Ziel, hier hat deine . . «

»Tritt zurück, Bill Lawendin, sage ich dir, oder es ist dein Tod!«

»Und ich sage Euch . . . «

»Eins. . . . . .«

»Oho!«

»Zwei. . . . .«

»Wagt es nur! Ich gehe nicht von. . . . .«

Ein ›Drei‹ folgte nicht, sondern ein donnernder Schuß, und mit zerschmetterter Stirn stürzte Bill Lawendin zu Boden.

Der Sheriff warf kaum einen Blick auf ihn, er ergänzte die abgeschossene Patrone durch eine neue. Es war nicht der erste, den er während dieser sieben Tage ins Jenseits beförderte. Und der Mörder, selbst ein staatlich angestellter Richter, würde keinen anderen irdischen Richter finden. Er war überhaupt gar kein Mörder, er hatte vielmehr ein gesetzliches Recht, jeden Ungehorsamen auf der Stelle zu töten.

Es kommen hier in Australien und auch in Amerika herrschende Verhältnisse in Betracht, die nicht näher erörtert werden können. Eben das Auffinden von Gold in diesen Ländern hat sie erzeugt. Der Führer einer Expedition, dem sich die Goldsucher freiwillig unterstellen, hat unumschränkte Macht über Leben und Tod, und das Gesetz erkennt diese stillschweigend an. Genau so ist es ja bei den sogenannten Regulatoren, einer Vereinigung von Männern, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Pferdediebe zu verfolgen. Wer beim Pferdediebstahl erwischt wird, wird gehangen, und das Gesetz lehnt sich nicht gegen diese Art von Selbsthilfe auf, welche auch noch lange nicht zu den Auswüchsen der Lynchjustiz zu rechnen ist.

Was sollte denn daraus werden, wenn hier nicht eine eiserne Hand die Zügel führte? Da lösten sich doch alle Bande der Ordnung!

Das wußten auch all diese Männer, selbst der Bruder des Getöteten billigte diese Handlungsweise, die den Lebensfaden eines Ungehorsamen abschnitt.

»Recht so,« hieß es, und man kümmerte sich gar nicht um die Leiche.

»Wie führt der Gang hinab?« fragte der Sheriff nach diesem Zwischenfall weiter, als ob nichts geschehen wäre.

»O, ganz bequem,« grinste Rossel. »Immer im Zickzack.«

»Gefährlich?«

»Ganz und gar nicht.«

»Kommen noch Kletterpartien?*

»Nein. Nur Stufen.«

»Wo mündet die Treppe?«

»Direkt im Tal, wo das Gold haufenweise liegt.«

»Wer hat die Treppe eingemeißelt?«

»Weiß nicht, Sir.«

Der Sheriff sah den Sprecher forschend an. Immer dasselbe höhnische Grinsen. Man wurde aus dem Kerl gar nicht klug.

Der begnadigte Todeskandidat hatte sie doch richtig zum Ziele geführt, unterwegs keinen Fluchtversuch gewacht, aber . . . . . konnte er die Falle nicht bis zuletzt aufgehoben haben, in die er seine Begleiter gehen ließ, um selbst die Freiheit zu gewinnen?

Eine andere Möglichkeit war vorhanden, zu deren Ergründung freilich schon eine ganz scharfsinnige Spekulation gehörte.

Der Verbrecher mußte doch lebhaft daran denken, daß er, sobald er die Goldsucher ans Ziel geführt hatte, als überflüssig beseitigt wurde, durch eine Revolverkugel, waren doch auch Freunde des von ihm Ermordeten dabei.

Um nun dies zu vermeiden, eben deswegen setzte er immer solch ein höhnisches Lachen auf, er erweckte mit Absicht den Argwohn, er halte für seine Begleiter noch eine Falle bereit, und solange dieser Argwohn bestand, würde man ihn doch nicht beseitigen.

Jedenfalls rechnete der Sheriff mit solchen Möglichkeiten.

»Gut. Ich klettere zuerst hinab. Du folgst mir, und dann kommst du, Holmes, den gespannten Revolver in der Hand. Und sobald mir etwas zustößt, etwas Unnatürliches, schießt du Rossel nieder. Hast du mich verstanden, Holmes?«

»Yes, Sir.«

»Und du, Rossel? Hast du mich auch verstanden?«

»Yes, Sir, Aber was soll ich Euch denn Unnatürliches . . . . . .«

»Schon gut. Du weißt, was deiner wartet. — Stellt euch in eine Reihe auf. Leute, dann kommt ihr schneller in das enge Loch hinein.«

Die Männer gehorchten. Bei Bildung der Reihe ging es sogar ohne jeden Streit ab.

Es lag doch eigentlich sehr nahe, daß erst ein Kundschafter vorausging — ganz abgesehen von der Warnung des Känguruhjägers, mit seinem mordenden Golde, was ja doch nur eine Fabel war — aber hier handelte es sich nur um eine enge Felsspalte, in die man mindestens zweihundert Meter tief hinabkriechen mußte, und noch manch anderer dachte ebenfalls an eine Falle, die ihnen Rossel noch zu guter Letzt stellen könne.

Da wäre das Vorausschicken eines Kundschafters doch sehr angebracht gewesen.

Aber wie niemand solch einen Vorschlag machte, so kannte auch der besonnene Sheriff seine Leute.

Es war schon genug, daß ihm die Goldgräber so gehorchten — aber nun von ihnen zu verlangen, sie sollten einen vorausschicken und auf dessen Rückkunft warten — nein, das wäre wirklich zu viel von der Geduld der Männer verlangt gewesen.

Der Sheriff traf Anstalten zum Abstieg, hatte schon die erste Stufe mit den Füßen erreicht, blickte nur noch mit dem Oberkörper hervor. Noch zögerte er.

»Wer kommt denn da?« fragte er verwundert.

Der Richtung seiner Augen folgend, sah man einen Mann über das Plateau geeilt kommen.

Das war all diesen Männern, die in gewissen Dingen eine große Beobachtungsgabe und Urteilskraft besaßen, wirklich höchst auffallend.

Bisher waren sie von keinem einzigen der Zurückgebliebenen wieder eingeholt worden. Wie sollte das auch möglich sein? Diese rüstigsten der Rüstigen hatten, vom Goldfieber getrieben, doch all ihre Kraft aufgeboten, um ihr Ziel schnellstens zu erreichen. Daher war auch gar nicht denkbar, daß es einer tun könne, der erst vor sieben Tagen von Port Hunter aufgebrochen war, und dieses Mannes schneller Gang war ja noch federnd.

Außerdem kannten sie sich alle, sie waren ja alle aus Port Hunter oder Umgegend, und das war ein Fremder.

Kurz und gut, sein Erscheinen machte ein solches Aufsehen, daß das Goldfeld einmal vergessen wurde. Mit Spannung sah man dem Fremden entgegen, der Sheriff hatte die Spalte wieder verlassen.

Nobody — denn kein anderer war es — hatte den Trupp erreicht.

»Sheriff Mac Orlan?«

»Hier.«

»Ich merke, daß ich noch zu rechter Zeit komme, aber auch im letzten Augenblick, um euch zu warnen.«

»Wovor zu warnen?«

»Vor dem Betreten des Tales dort unten. Die Angaben des alten Känguruhjägers beruhen auf Tatsachen. Dort unten regnet es wirklich Gold vom Himmel herab, mordendes Gold, der Mensch zieht es an, es tötet ihn.«

Diesmal war es kein Hohn, sondern ein Murmeln der Entrüstung, das die Reihen der Goldsucher durchlief. Der Fremde wurde als Störenfried betrachtet, der ihnen, endlich am ersehnten Ziel, die Freude verderben, sie aufhalten wollte.

Nur der Sheriff behielt seine Ruhe.

»Wer seid Ihr?«

»Ich heiße Keller. Doch das tut ja gar nichts zur Sache. Ich selbst bin dort unten in dem Tale gewesen und habe mich mit eigenen Augen überzeugt, habe es am eigenen Leibe empfunden, daß der aufrecht stehende Mensch Goldkörner auf sich zieht, welche scheinbar vom Himmel herabfallen mit der Heftigkeit eines Pistolenschusses.«

Jetzt allerdings entstand unter den Goldsuchern eine Bewegung. Doch gerade jetzt wurde der Mann erst recht mit dem höchsten Mißtrauen betrachtet. Der stak natürlich mit dem alten Känguruhjäger unter einer Decke.

»Ihr seid schon dort unten in dem Tale gewesen?« fragte der Sheriff.

»Ja.«

»Wann?«

»Erst vor kurzem.«

»Wie kamt Ihr hinab?«

»Auf einem von mir entdeckten Wege.«

»Aus diesem hier?«

»Nein, auf einem anderen. Ich bin Engländer, habe mir die Erforschung der Blauen Berge zur Lebensaufgabe gemacht. . . .«

»Vorwärts, hinab, hinab!« schrien jetzt die Goldgräber.

»Ist der andere Weg bequemer als dieser hier?« fragte der Sheriff weiter.

»Wohl kaum. Ich brach auch von Sydney auf, erreichte das Tal von Westen her.«

»Was erlebtet Ihr in dem Tal?«

»Wie gesagt, es regnet wirklich Gold vom Himmel herab . . . .«

»Laßt Euch doch nicht auslachen mit Eurem Märchen!« schrien wieder die Stimmen. »Vorwärts, hinab, hinab!«

»Leute,« rief Nobody mit erhobener Stimme, »ich spreche die Wahrheit!! Bei Gott dem Allmächtigen, dort unten regnet es mordendes Gold, es wird euch treffen und töten . . . .«

»Vorwärts, Sheriff, klettert hinunter! Wir sind Euch nicht gefolgt, daß Ihr hier debattiert. Sonst hat Eure Führerschaft ein Ende!«

Und der Sheriff wandte sich denn auch sofort ab, verschwand in dem Spalt. Er mochte selbst nicht an diese Erzählung glauben, dazu war er ein realistisch zu sehr aufgeklärter Mann — und Nobody hatte von allem Anfang gewußt, daß seine Mission eine vergebliche sein würde, diese Männer, so nahe dem Ziele, ließen sich durch nichts, durch gar nichts mehr zurückhalten. Wie sie sich verhalten würden, wenn das Gold erst mordend in ihre Reihen schlug, das war noch abzuwarten.

So hatte er die mühselige Wanderung umsonst gemacht. Schadete nichts. Er hatte getan, was er tun konnte — sein Gewissen, das manchmal überaus empfindsam sein konnte, war beruhigt.

Nobody brachte es fertig, sich, als der dritte Mann in den Spalt stieg, schnell einzuschieben. Einiger Unwille darüber, in dem Schachte selbst aber war es zu spät, die Reihenfolge mußte beibehalten werden, kein Mensch konnte am anderen vorbei.

Hinab ging es. Ein überaus beschwerlicher Abstieg.

Nobody konnte unterwegs darüber nachgrübeln, wer diese zahllosen Stufen eingemeißelt, ab und zu eiserne Handgriffe angebracht haben konnte. Mehr noch aber dachte er daran, was man dort unten erleben würde.

Nach einer Viertelstunde bekam der voransteigende Sheriff Boden unter die Füße, der folgende Rossel sagte ihm, daß er jetzt auf Händen und Knien kriechen müsse.

Der Sheriff tat es, er folgte dem Lichtschein, der ihn in einiger Entfernung in dem horizontalen Schachte entgegenleuchtete.

Und dann hatte er das Freie erreicht, und der Sheriff stand wie geblendet da, auch dieser Mann, der bisher nur an die Führung der Expedition, nicht an das Gold gedacht hatte, wurde von einem Taumel erfaßt, als er das rote Metall vor seinen Füßen gleißen sah.

Gerade hier floß ein klarer Bach vorbei, und gerade dieser war am Boden über und über mit erbsengroßen Goldkörnern bedeckt, das Wasser floß auf einer goldenen Unterlage.

Der Sheriff sprang hinein, bückte sich, begann zu wühlen — ein zweiter, dritter, vierter sprang in das Wasser — unter einem tierischen Freudengeheul stürzten sie alle hinein, bis die hundert Mann vollzählig waren, und als hätten sie nur eine Minute Zeit, um ihre Taschen zu füllen, so gierig rafften sie die Goldkörner auf.

Und sie sollten auch wirklich nicht einmal eine Minute Zeit dazu haben!

Nur zwei Männer beteiligten sich nicht an diesem allgemeinen Aufraffen: Nobody und Rossel.

Ersterer beobachtete das wilde Treiben, er studierte den Menschen in seiner Goldgier, letzterer sah seine Freiheit gekommen.

Er warf einen Blick nach dem Sheriff, auch dieser stand bis an den Knien im Wasser, bückte sich und ließ die nassen Goldkörner in die Taschen gleiten — und Rossel eilte wieder dem Loche zu, welches sich am Fuße des jäh aufsteigenden Felsens befand.

Nobody hatte die Flucht bemerkt, und er war entschlossen, den Mörder seiner Strafe nicht entschlüpfen zu lassen.

Aber es sollte anders kommen, noch ehe Nobody ihm nacheilte.

Rossel konnte dem Anblick des Goldes nicht widerstehen. Auch er mußte noch einmal in das Wasser springen und seine Hände nach den gleißenden Kügelchen ausstrecken.

»Nur eine Handvoll will ich noch mitnehmen,« mochte er sich sagen, »nur eine einzige Tasche voll, nur zwei . . .«

Da machte der sich Bückende einen Luftsprung, warf die Arme hoch und stürzte rücklings ins Wasser.

Das hatte trotz allen Goldfiebers nicht unbeobachtet bleiben können.

»Nanu, was macht denn der? Badet sich der oder . . .«

Ein gelbes Leuchten in der Luft, ein Prasseln, und ein zweiter Mann stürzte nieder, blieb unterm Wasser liegen.

»Allmächt . . . .«

Der Sheriff war es gewesen, der es gerufen hatte, das Wort nicht vollenden könnend. Er war das dritte Opfer des mordenden Goldes geworden.

Und ein vierter, ein fünfter, ein sechster Mann stürzte nieder.

Und da kam die Erkenntnis. Nicht alle waren tot, einige walzten sich unter Schmerzgeheul im Wasser und auf dem Lande, dem einen hingen die Eingeweide aus dem zerrissenen Leibe.

Und es gibt doch noch einen mächtigeren Trieb als den der Goldgier — den der Selbsterhaltung, den nur der Asket zu überwinden weiß.

Erst ein lähmendes Entsetzen, dann eine wilde Flucht.

Doch wohin, um sich vor dem mordenden Golde zu schützen?

Gerade hier gab es keine Höhle, keinen Felsvorsprung — nur das eine Loch, die Oeffnung des Schachtes, in den immer nur ein Mann auf einmal kriechen konnte, dorthin ging die wilde Flucht in wahnsinniger Todesangst, jeder wollte der erste sein, und. . . . .

Es ist schon gesagt worden: jeder wollte der erste sein. Und Schlag auf Schlag prasselte der goldene Regen herab, jeder Schauer die Reihen lichtend.

Da geschah das Entsetzliche, welches die Feder vergebens zu beschreiben versucht. Da zeigte sich der Mensch in seiner wahren Gestalt.

Sie kämpften um den Eingang. Wer keinen Revolver mehr hatte, der stach mit dem Messer los, seinen Vordermann in den Rücken, blindlings um sich herum — der schon Hineingekrochene wurde von dem Nachfolgenden an den Füßen gepackt und wieder herausgezogen — der Schacht verstopfte sich mit Leichen, vor der Oeffnung häuften sie sich zum Wall auf. . . . . .

Und unter den Lebenden hielt der goldene Tod noch immer seine Ernte!

 

—————

 

V.
Des Rätsels Lösung.

 

Wenn jemandem die Flucht gelungen wäre, so wäre das Nobody gewesen.

Denn er war ja sowieso entschlossen gewesen, den Ausgang zu gewinnen, um dem sich mit offenbaren Fluchtgedanken tragenden Verbrecher den Weg abzuschneiden, er hatte diesen nicht aus den Augen gelassen und so als erster Zeuge beobachtet, wie Rossel von dem goldenen Hagel niedergeschmettert wurde, und Nobody wußte doch, was für eine Bewandtnis es mit diesem hatte, nämlich daß er sich wiederholen und neue Opfer fordern würde — und so hätte Nobody, der doch auch nicht gegen dieses mordende Gold gefeit war, sich erst selbst in Sicherheit bringen müssen.

Allein er tat es nicht. Etwas Seltsames mußte in ihm vorgehen. Zur Statue erstarrt stand er da, mit zurückgeneigtem Oberkörper, den Blick gen Himmel gerichtet — und so stand er wohl zehn Minuten lang da, während dicht neben ihm Mensch gegen Mensch mit Revolver und Messer wütete.

Endlich senkte sich sein Blick, er fiel auf die Greuelszenen, die sich vor dem Eingang zum Schacht abspielten, und da plötzlich wandte sich Nobody und jagte wie von Furien gepeitscht querfeldein.

Jener Wasserschacht, dem er schon einmal entstiegen, war sein Ziel. Zweitausend Meter waren es bis dahin mindestens. Er erreichte ihn, ohne daß ihn der Himmel einmal mit goldenen Geschossen bedacht hätte. Derselbe schien nur eine einzige Flinte oder Mitrailleuse zu besitzen — d.h., es fand immer nur eine einzige Entladung auf einmal statt.

Als Nobody den Schacht erreicht hatte, beugte er sich hinab, stieß einen gellenden Pfiff aus, und dann suchte er schnell jenes schützende Felsendach auf.

Nicht lange währte es, so tauchte aus dem Schacht Scott auf, gleich zwei solcher losgeschraubten Tischplatten als Schild über sich haltend, und daß er sie in der linken Hand trug, das zeigte, daß seine Wunde schon wieder geheilt war, ohne ihm noch Beschwerden zu verursachen. Außerdem gehörte die Riesenkraft des Kanadiers dazu, um während der langen Klettertour zwei solcher Metallplatten mit ausgestrecktem Arm über sich halten zu können.

Als er die Oberfläche der Erde erreicht hatte, stutzte er. Der Knall von Pistolenschüssen traf sein Ohr, dazu in weiter Ferne ein Geheul, ausgepreßt von Schmerz, Wut und Verzweiflung.

Doch der erste Gedanke galt dem Freunde, dessen Signalpfiff ihn aus dem Unterseeboote heraufgerufen hatte. Er sah ihn nicht.

»Alfred?!«

»Hier!«

»Wo denn?«

»Unter dem Felsvorsprung.«

Scott ging hin — er sah niemanden.

»Wo bist du denn nur?«

»Hier,« erklang es dicht vor ihm. »Ich habe mein Tarnkleid angezogen.«

Mochte sich der junge Kanadier in letzter Zeit auch sonst sehr geändert haben — das ihm eigne Phlegma war ihm doch geblieben. Er war von jeher ein ›Nevermindman‹ gewesen, daher auch schon immer der todesverachtende Sportsman, dessen liebstes Vergnügen es gewesen war, sein Leben aufs Spiel zu setzen.

Gleichmütig lehnte er die beiden Schilde gegen die Felswand.

»Haben die Goldsucher das Tal erreicht?«

»Ja. Wenigstens der erste Trupp.«

»Wie viele?«

»Hundertundacht Mann und ein in Männerkleidern steckendes Weib.«

Wir selbst hatten nur von ›mehr als hundert‹ gesprochen. Solche unbestimmte Angaben kannte dieser Detektiv gar nicht. Während er sich der Gruppe genähert und mit dem Sheriff gesprochen, nur eine Minute, hatte er sie gezählt, vielleicht auch nur abgeschätzt, aber mit einer Sicherheit, die keinen Irrtum zuließ.

Nobody hatte schon oft derartige Wetten abgeschlossen, etwa die Stückzahl von großen Schafherden abzuschätzen, wo sich die zusammengedrängten Tiere doch immer durcheinanderbewegen, ohne sich um mehr oder weniger als drei Stück zu irren, und er hatte seine Wette bisher noch immer gewonnen.

»Was schießen und schreien sie denn so?«

»O, Edward, wenn du gesehen hättest, was ich, gesehen habe!« erklang es aus dem unsichtbaren Munde' mit furchtbarer Erschütterung.

Nobody erzählte mit kurzen Worten zuerst seine siebentägige Wanderung, wie er den Trupp gerade erreicht hatte, als der Abstieg begonnen werden sollte — dann schilderte er ganz ausführlich die Greuelszenen, die sich bei dem Verzweiflungskampfe um Gewinnung des Schachtes abgespielt hatten.

Dabei aber hatte er doch selbst immer nur starr den Himmel betrachtet, nur dann zuletzt einen einzigen Blick auf die Kämpfenden werfend, worauf er sich sofort zur Flucht gewendet hatte.

Solch ein einziger Blick mußte für diesen Detektiv aber wohl genügen. Er hatte dabei mehr gesehen als manch anderer Mensch bei steter Betrachtung.

Jetzt allerdings war auch der phlegmatische Kanadier tief erschüttert. Nobody verstand zu schildern, schon in seine Stimme hatte er es zu legen gewußt.

»Ob sie noch immer um den Ausgang kämpfen?«

Schüsse fielen nicht mehr, auch das laute Brüllen war verstummt. Nur ab und zu noch ein klagender Schmerzensschrei.

»Entweder liegen sie jetzt alle dort am Boden oder es ist den Ueberlebenden doch noch gelungen, in den Schacht zu kommen.«

»Wir wollen hin.«

»Ja. Aber laß nur die Schilde stehen.«

»Ohne Schutz?«

»Unsichtbar. Hier, wirf mein zweites Tarngewand um, das lose, ich werde es um dich drapieren. Hier, fühlst du es?«

»Das Gewebe gewährt uns aber doch gar keinen Schutz.«

»O ja.«

»Wohl werden wir dadurch für menschliche Augen unsichtbar, doch der Himmel würde uns auch trotz unserer Unsichtbarkeit mit seinem mordenden Golde zu treffen wissen.«

»Auch der Himmel, der sich über dieses Tal wölbt, hat menschliche Augen — die goldenen Geschosse, die jetzt gegen die Goldsucher gerichtet wurden wie vor acht Tagen gegen uns, werden von menschlicher Hand in dieses Tal geschleudert.«

Ganz ruhig hatte Nobody es gesagt — Scott glaubte natürlich, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen.

»Was — was sagst du?!« stieß er mit größter Ueberraschung hervor.

»Noch habe ich keinen Beweis dafür, aber schon ist es mir zur untrüglichen Gewißheit geworden, daß es Menschenhände sind, welche die goldenen Todesboten entsenden. Siehst du dort im Osten hoch oben im Gebirgskamm die tiefe Einsattelung?«

In freier Luft kam eine Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger zum Vorschein, Scott folgte der Richtung, er wußte, welchen Punkt Nobody meinte.

»Als der Goldhagel Schlag für Schlag herniederprasselte, war mein Blick nach oben gerichtet, schon mit der Absicht, einmal die Flugbahn zu verfolgen. Mein Standpunkt war recht günstig dazu, ich sah die Goldkörner im Sonnenlicht schon hoch oben in der Luft einen leuchtenden Weg beschreiben.

Da gewahrte ich ganz deutlich, daß sie nicht direkt aus der Höhe kamen, sondern von dort hinten aus dem Satteleinschnitt nahm der leuchtende Weg seinen Anfang, in einem Bogen sausten die Goldkörner durch die Luft, bis zum Ende der horizontalen Flugbahn, dann nahmen sie nach allen Gesetzen des Falles eine vertikale Richtung an, fielen senkrecht herab — nicht anders, als wie jedes Schrapnell geschossen wird, überhaupt jedes Geschoß, bei dem nicht direkt visiert wird.«

Zuerst war Scott sprachlos. Dann war er desto ruhiger.

»Eigentlich hätten wir uns das gleich denken können, daß es von Menschen dirigierte Geschosse sind.«

»Eigentlich, ja. Wir haben uns durch das Gold der Geschosse und überhaupt durch das Ungewöhnliche frappieren lassen.«

»Mich frappiert doch noch manches.«

»Mich nichts mehr.«

»Dann wirst du mir einige Fragen beantworten können.«

»Frage! Dabei aber wollen wir uns nach der Kampfstätte begeben. Tritt immer möglichst auf Steine, daß wir im Sande keine Spuren zurücklassen; um so mehr werden wir wesenlose Geister.«

Sie bewegten sich über das Terrain. Die abgerundeten Basaltsteine lagen so dicht nebeneinander, daß sie niemals von einem zum anderen zu springen brauchten, es war ein sehr bequemes Balancieren.

»Wir selbst sind doch Zeuge geworden,« begann Scott, »mit welcher Sicherheit die Goldkörner den Menschen hier im Tale zu treffen wissen. Allerdings schlugen sie einmal daneben . . .«

»Du hättest nur sehen müssen, mit welcher Treffsicherheit sie vorhin in die Reihen der Goldsucher einschlugen. Nicht etwa aufs Geratewohl, die Männer standen auch gar nicht so dicht, sondern sie bildeten in dem Bache eine lange Reihe, und Mann für Mann stürzte nieder.«

»Nun also. Und nun nimm diese Entfernung an. Der Sattel ist doch von hier wenigstens vier englische Meilen entfernt. Wohl tragen die modernen Geschütze noch weiter; aber auf einen Menschen zu schießen, der sich als Punkt, selbst im besten Fernrohr nur als Punkt hier unten im Tale bewegt, da gibt es nichts. Schießen kann man wohl, nur nicht mit solcher Sicherheit treffen! Und wo bleibt denn der Kanonendonner, den man dann unbedingt noch hören müßte?«

»Du vergißt wohl ganz unseren alten Freund, Edward, den Mephistopheles?«

»Aaaahhh!« erklang es langgedehnt, und aus dem Tone war zu schließen, daß Scott gleich auf einem Steine stehen geblieben war.

»Komm mit, bleib nicht stehen. Wir können uns sehr leicht verlieren, und die Hand reichen können wir uns bei dieser Gangart auch nicht. Hast du wirklich noch nicht an den Herrn der Erde und an die abessinischen Udlindschis gedacht?«

»Nein, wirklich nicht!«

»Da brauchst du dir keine Vorwürfe zu machen. Mir ging es genau so. Erst vorhin, als ich überhaupt Menschen als Uebeltäter in Betracht zog, kam ich auf diese Idee, die der Wahrheit wohl entsprechen dürfte.«

»Natürlich, natürlich! Und doch kann man Gegengründe erheben.«

»Führe sie an.«

»Die Udlindschis, wie die Neger sie nannten, waren ausgegangen, um Abessinien zu erobern. Wir aber fanden auf dem Rassamharra nur ein modernes Geschütz.«

»Was schließt du daraus?«

»Da wir hier keinen Knall vernehmen, denkst doch auch du an ein pneumatisches Geschütz?«

»Allerdings.«

»Wenn die Udlindschis ein solches besäßen, würden sie es da nicht auch auf dem Rassamharra aufgestellt haben?«

»Edward, daß sie ein solches besaßen, oder doch herstellen konnten, daran ist doch gar kein Zweifel. Ob Luftpistole oder Luftgewehr oder Luftkanone, das bleibt sich doch gleich. Wer ein Luftgewehr von solch furchtbarer, uns ganz unbekannter Durchschlagskraft herstellt, der kann dasselbe System auch auf das größte Geschütz übertragen, wobei auch noch ein ganz anderes, uns fremdes Metall mit wunderbaren Eigenschaften in Betracht kommt.«

»Nun, warum hatten die Udlindschis solch eine pneumatische Kanone da nicht auf dem Tafelberge aufgestellt?«

»Du vergißt wohl, daß, wie wir aus einem Gespräch hörten, ein Unterseeboot gescheitert war. Leicht möglich, daß solch eine Kanone sich an Bord befand, sie konnte nicht gerettet werden, auch Tauchapparate oder andere Hilfsmittel fehlten, um sie wieder zu heben. Nur ein Pulvergeschütz, welches sich ebenfalls noch an Bord befand, konnte gerettet werden, in den Schacht hinein und auf den Tafelfelsen hinauf. Dann wurde doch auch so sehnsüchtig ein zweites, großes Unterseeboot erwartet, das sie ›Walfisch‹ nannten, und der würde schon solch eine pneumatische Kanone mitgebracht haben.«

»Ich vermute, daß es der ›Walfisch‹ war, den wir als Wrack fanden, und wir sahen auch nichts von einer pneumatischen Kanone.«

»Edward, willst du mir denn durchaus widersprechen? Was ist denn mit dir los? Muß denn überhaupt diese pneumatische Kanone geradeso aussehen wie unsere Kanonen? Vielleicht gleicht sie eher einer Klistierspritze oder einer Kartoffelquetsche.«

»Nein,« klang es heiter zurück, »ich will dir durchaus nicht widersprechen, bin jetzt vielmehr vollkommen deiner Ansicht. Ueberzeugen muß man sich doch lassen. Dann haben wir auch eine Erklärung für diese ungemeine Treffsicherheit auf solch weite Entfernung hin.«

»Wie erklärst du dir das?«

»Ich denke an eine Visiervorrichtung mit Spiegeln, ähnlich der Steuer- und Bremsvorrichtung in unserem Delphin.«

»So wird es wohl sein. Vielleicht handelt es sich auch hier um ein optisches Visieren und Abfeuern, was selbstständig vor sich geht.«

»Nun aber etwas anderes. Du meinst also, daß der Mann, der sich der Herr der Erde nennt, auch dieses Tal mit den Goldfeldern für sich in Anspruch nimmt?«

»Sicher ist es so.«

»Er hat Angestellte hinterlassen, um es vor fremden Eindringlingen zu schützen.«

»Ebensolche Angestellte, wie ich sie zum Beispiel bei den mexikanischen Ruinen fand, wovon ich dir erzählte.«

»Sollte aber dieser Mann, wenn es solch ein Geheimnis zu behüten gibt, wenn es sich um Gold handelt, nicht ein anderes Mittel haben, als daß er die Eindringlinge mit Goldkugeln zusammenkartätscht?«

»Ja, Edward, dieser menschliche Teufel ist ja auch dem Charakter ein unergründliches Rätsel. Der erlaubt sich Späße, von denen unsereiner gar keine Ahnung hat, an er denen auch keinen Geschmack finden könnte. Für mich, soweit ich beobachten konnte, fing die merkwürdige Scherzerei mit der spanischen Tänzerin an, der er sich als vor Schmutz stinkender Bettler nahte, bis er nackt im Frisiermantel auf ihrem Schoße saß, und hörte damit auf, wie er sich mir näherte, als ich im Serail des Sultans in der Mausefalle saß. Dieses Gesicht, wie er da auf mich zukam, diese grinsende Schadenfreude, und dabei doch immer so gut- und sogar großmütig — läßt mich gleich wieder frei — immer nobel — hähähähä — das alles ist mir unvergeßlich. So hat er sich auch hier mit seiner Zusammenkartätscherei nur ein kleines Späßchen gemacht. Dem kommt's doch nicht auf ein paar Dutzend Menschen an. Wenn er sie nicht in Eis einfrieren läßt, hackt er sie mit Gold zusammen und macht ein Ragout daraus. — Für uns gewöhnliche Menschen freilich hört hier der Spaß auf.«

Ja, bei dem Anblick, der sich den beiden jetzt bot, verstummte die Unterhaltung, die zuletzt einen humoristischen Ton angeschlagen hatte.

Es sah schauderhaft aus! Es gehörte eine besondere Lebenserfahrung dazu, auf Schlachtfeldern und ähnlichen Gebieten gesammelt, um so etwas ertragen zu können. Diese fürchterlich zerrissenen Leiber, zwischen deren Eingeweiden das Gold gleiste und. . .

Doch genug!

Nobody zählte vierundfünfzig Leichen. Mit furchtbarer Sicherheit hatten die Streukugeln getroffen. Einzelne Verletzungen gab es gar nicht. Nur ein einziger Mann wimmerte noch. Er verstummte, hatte ausgelitten, als die beiden noch danebenstanden.

Nobody steckte ein Fläschchen, das er unbemerkt von Scott schon aus der Tasche gezogen hatte, wieder ein.

Wolle sich der geneigte Leser einmal merken, daß Nobody bereit war, ein sich in Schmerzen quälendes Menschenleben auszulöschen, ohne sich vor Gewissensskrupeln zu fürchten. Er hatte es schon früher getan, es ist mehrmals angedeutet worden — aber eben nur angedeutet. So zum Beispiel, als er den ersten Abessinier fand, der von dem Tafelberg herabgeschleudert worden war, schon von Geiern und Schakalen angefressen, nur noch ein Fleischklumpen. Da war dieser noch ächzende Fleischklumpen unter Nobodys Hand auch plötzlich still geworden. Aber dies wurde damals nur angedeutet, und dies zu wissen soll noch später von großer Wichtigkeit werden.

»Sagtest du nicht, der Trupp hätte aus einhundertacht Personen bestanden?« flüsterte Scott.

»Ja, und hier liegen genau die Hälfte. Das mordende Gold hat sehr akkurat abgezählt. Nur an der Hälfte wollte es beweisen, daß es nicht mit sich spaßen lasse, die andere Hälfte hat es großmütig verschont.«

Wo war die andere Hälfte? Zu sehen war nichts Lebendiges, und ein Versteck gab es hier nicht.

Zwar mußte man damit rechnen, daß auch andere ihr Heil in einer weiteren Flucht gesucht und gefunden hatten, zumal, da der Fremde — also Nobody — hierzu das Beispiel gegeben, vor allen Dingen aber war der natürliche Ausgang in Betracht zu ziehen.

Es schien, als ob der schon verstopft gewesene Schacht doch noch frei gemacht worden wäre. Den Ueberlebenden war es gelungen, alle Leichen oder Verwundeten, hier im Schacht meist Opfer der eigenen Kameraden, wieder herauszuziehen, so hatten die Ueberlebenden durch den Schacht den Rückzug angetreten.

Nobody überzeugte sich alsbald, daß dem so war. Nur eine einzige Leiche fand er noch und die lag dort, wo der horizontale Schacht wieder eine senkrecht aufsteigende Richtung annahm, und der in die Ecke gedrückte Tote hinderte die freie Passage nicht.

Doch weiter verfolgte Nobody den Schacht nicht, um sich von dem Verbleib der anderen zu überzeugen, wenigstens vorläufig nicht.

Er kehrte zurück. Da er nicht gesehen werden konnte, mußte er sich dem Freunde durch seine Stimme bemerkbar machen, und Scott meldete, daß er dicht neben dem Ausgange stände.

»Mir ist noch etwas anderes eingefallen,« meinte Scott dann. »Ob wir von denen oben, welche das Geschütz so genau auf jeden einzelnen Menschen zu richten wissen, nicht trotz unseres unsichtbarmachenden Tarngewandes gesehen werden können?«

»Wie kommst du auf die Vermutung?« fragte Nobody erstaunt.

»Du hattest mir doch erzählt, als du im Serail in der Falle saßest, ebenfalls unsichtbar, wärest du der sicheren Ueberzeugung gewesen, daß dich der rote Mephistopheles trotzdem sehen konnte.«

»Ganz ohne Zweifel. Monsieur Sinclaire hielt eine Lorgnette vor die Augen, und ich bin fest überzeugt, daß diese Gläser besitzt, welche die Unsichtbarmachung dieses Gewebes wieder aufhebt.«

»Nun, könnten die dort oben nicht auch solch ein aufhebendes Glas haben?«

»Der Beweis, daß dies nicht der Fall ist, ist der, daß wir nicht beschossen werden.«

»Nicht so ohne weiteres. Die werden solch ein Glas nicht immer vor Augen haben, und die Vermutung liegt doch fern, daß sich hier im Tale solche unsichtbare Menschen befinden.

»Nein.« sagte Nobody mit Entschiedenheit. »Du befindest dich vollkommen in einem Irrtum. Keiner der Udlindschis ahnt auch nur, daß der Herr der Erde, den sie als ihren Gott anbeten, solch ein Tarngewand besitzt oder besaß; die wissen überhaupt gar nicht, daß sich jemand unsichtbar machen kann . . .«

»Aha, jetzt verstehe ich. Nein, dann können sie auch nicht solch ein Gegenmittel besitzen. Nun wäre aber noch in Betracht zu ziehen, daß sich der wieder lebendig gewordene Mephistopheles selbst hier befindet und einmal seine Lorgnette vor Augen nimmt.«

»Edward, das wäre ein Zufall, den wir gar nicht in Betracht ziehen dürfen. Nehmen wir an, daß sich der Herr der Erde nicht hier befindet — was ich auch stark bezweifele, überall wird der Kerl doch nicht sein — in diesem Bewußtsein wollen wir uns ganz frei bewegen, nur möglichst unsere Spuren verbergen.«

Zum ersten Male durchwanderte Nobody, begleitet von Scott, den ganzen Talkessel, sich immer an den Felswänden haltend.

Sand, Steine und Gold genug, besonders in den zahlreichen Bächen, hier wenigstens bloßliegend —weiter war nichts zu sehen.

Dann noch das Gerippe, von dem bereits erwähnt worden war, daß Nobody es schon bei seiner ersten, oberflächlichen Untersuchung gefunden hatte.

Besonders aus der Schädelbildung konnte man erkennen, daß es einem Australneger angehört hatte — dem Musson, der den alten Känguruhjäger hierhergeführt hatte und ein Opfer des mordenden Goldes geworden war.

»Hm,« brummte Scott angesichts dieses Gerippes. »Hiernach wäre an der Erzählung des alten Mannes ja gar nicht mehr zu zweifeln. Nur noch eins wäre in Betracht zu ziehen.«

»Daß der Alte selbst mit zu den Udlindschis gehört?«

»Allerdings. Dieses Gerippe hat ihm nur Veranlassung zu einer erfundenen Geschichte gegeben.«

»Höre, Edward, wir wollen uns lieber gar nicht auf Vermutungen einlassen, sondern tatkräftig Nachforschungen halten.«

Das taten sie denn auch, aber ohne Erfolg. Es blieb bei Sand, Steinen, Gold und Wasser. Auch jede Spur fehlte gänzlich — abgesehen natürlich von denen dort an dem Tunnelausgange.

Und Spuren konnten sich hier auch nicht lange halten. Die Blauen Berge bilden, wie schon erwähnt, eine ganz intensive Wasserscheide. Nach der Küste zu gibt es nur gewaltige Regengüsse, denen stets eine lange Trockenheit folgt — jenseits dieser Berge sind die Niederschläge viel regelmäßiger, was auch diese vielen aus den Felsen hervorbrechenden Quellen bewiesen, während gerade jetzt im Küstengebiet die Periode der Dürre herrschte, in der selbst große Flüsse ausgetrocknet waren.

Und jeder solcher Niederschläge mußte in dem feinen Sande die Spur eines Fußes verwischen.

Zuletzt kamen die beiden an den östlichen Felsenrand, auf dem sich oben die Einsattelung befand, von welcher aus nach Nobodys Behauptung die goldenen Kugeln ihren Weg ins Tal hinab genommen hatten.

Während sonst nirgends Höhlen zu bemerken waren, war diese Felswand hier siebartig durchlöchert, die Löcher von ganz verschiedener Größe, bis zu zwei Meter im Umfange, besonders zahlreich in der Nähe des Bodens, aber auch noch hoch oben.

Bemerkenswert war ferner, daß hier keine einzige Quelle hervorbrach.

»Siehst du,« sagte Nobody, wie die beiden überhaupt immer sprechen mußten, um sich nicht zu verlieren, »gerade auf dieser Seite, wo die Schützen sich befinden, sind auch die Bedingungen gegeben, um von unten da obenhinaus zu gelangen.«

»Untersuchen wir die Löcher,« entgegnete Scott. »Welches willst du zuerst vornehmen?«

Scott lauschte der Antwort. Diese kam nicht.

»Alfred, wollen wir uns nicht in die Untersuchung der Löcher teilen?«

Keine Antwort.

»Alfred, wo bist du denn?«

Na, der war einfach schon in einem Loche drin. Wenn es sich um ein Loch handelte, ließ sich Nobody niemals lange aufhalten.

Jetzt ließ sich seine Stimme wieder vernehmen.

»Mit diesem ist nichts zu wollen. Lang genug ist es, aber es wird nach hinten immer enger, nicht einmal den Kopf konnte ich mehr durchquetschen.«

So war es bei allen, die sie untersuchten. Die tunnelartigen Höhlen, die manchmal auch ineinanderliefen, hörten entweder ganz auf oder wurden noch vorher so eng, daß auch der aalglatte Nobody, der bekanntlich Schultern und Leib fast überall durchbrachte, wo nur sein Kopf etwas Luft hatte, sich nicht mehr hindurchzwängen konnte.

Eine Untersuchung aller Tunnels hätte viele Tage erfordert, abgesehen davon, daß sie zu den höhergelegenen ohne Hilfsmittel gar nicht hinaufgelangen konnten.

»Wir müssen uns auf stilles Beobachten verlegen,« entschied Nobody. »Daß die Goldschießer dem Tale bald einen Besuch abstatten werden, um nach den Toten zu sehen, daran ist nicht zu zweifeln. Wenn wir uns nichts entgehen lassen, werden wir ja sehen, wie sie das machen.«

»Wollen wir nicht nachforschen, was jetzt die überlebenden Goldsucher treiben?«

»Selbstverständlich, das muß geschehen. Aber das übernehme ich allein. Du bleibst hier unten und beobachtest das Tal. Mit anderen Worten: du übernimmst die Goldschießer und ich die Goldsucher!«

Nobody schien sich trotz der vorangegangenen Greuelszenen und trotz der Erfolglosigkeit seiner ersten Untersuchung in einer recht guten Stimmung zu befinden.

Sie begaben sich nach dem Schlachtfelde und Tunneleingange zurück. Unterwegs berieten sie des Weiteren.

Ganz so war es ja nicht, wie Nobody zuerst gesagt hatte. Einer mußte des anderen Arbeit übernehmen. Es war noch immer damit zu rechnen, daß sich doch noch Goldsucher in dem Tale selbst versteckt hielten, wagemutige Männer konnten, vom Goldfieber getrieben, doch noch einen Versuch machen, auch darauf hatte der zurückbleibende Scott zu achten, während Nobodys eigentlicher Zweck seiner Entfernung das Aufsuchen der ›Goldschießer‹ war. Er wollte versuchen, von oben aus einen Weg nach dem Felsensattel zu finden.

Sofort begann er den Aufstieg. Als er oben das Tageslicht hereinschimmern sah, hörte er auch schon Stimmen.

Die vom mordenden Golde verschont Gebliebenen befanden sich oben, fühlten sich in Sicherheit, da seit länger denn zwei Stunden kein goldener Hagel zwischen sie gefahren war. Soeben mußten neue Goldsucher angekommen sein, die Schaudermär wurde ihnen erzählt.

Als Mär faßten diese die Erzählung, was ihrer dort unten wartete, zuerst denn auch auf.

»Geht, so was gibt's ja gar nicht, ihr wollt bloß nicht, daß wir hinunterklettern.«

»Narr, warum sind wir denn selbst nicht mehr unten?! Sieh meine Hand, zwei Finger sind von dem verfluchten Golde glatt abgeschlagen worden — sieh Ben Snider an, soeben schneidet er sich eine goldene Kugel aus dem Schenkel heraus.«

Solchen Beweisen gegenüber mußte jeder Unglaube schwinden.

Nobody vollendete seine Klettertour, befand sich mitten unter den Männern.

Während die einen vor ausgestandener Todesangst noch ganz sinnlos waren und andere ihre Wunden verbanden, berieten die dritten schon kaltblütig, wie man dort unten dennoch das mordende Gold auflesen könne, ohne von ihm getroffen zu werden.

Das Wort ›mordendes Gold‹, welches zuerst der alte Känguruhjäger in die Welt geschleudert hatte, war allen schon ganz geläufig geworden. Ueber das Rätsel selbst grübelte niemand dieser Männer nach, das mordende Gold ward als ein Feind betrachtet, der zu entwaffnen, zu überlisten war.

»Old Cangaroo sagte, das mordende Gold käme nur vom blauen Himmel herab, nicht vom bewölkten, deshalb ist damals auch Ned Rossel verschont geblieben, hat gar nichts davon gewußt.«

»Da können wir noch lange warten, auch hier gibt's in dieser Zeit nicht so bald einen bewölkten Himmel mehr.«

»Wir müssen es in der Nacht probieren.«

»Probiere du es, ich danke dafür.«

»So geh doch nach Hause, Feigling!«

»Wir müssen rohe Fleischlappen hinunterwerfen,« schlug einer vor, »womöglich in den Bach hinein, die Goldkörner bleiben daran kleben, die Geier holen die Fleischfetzen und tragen sie in ihre Nester, dann müssen wir diese Nester suchen, wo dann die Goldkörner liegen.«

Der diesen Vorschlag machte, kannte offenbar das Märchen aus tausendundeiner Nacht, wie Sindbad der Seefahrer auf diese Weise durch Raubvögel Diamanten aus einem unzugänglichen Talkessel heraufbeförderte.

Nobody hatte so etwas Aehnliches schon einmal in seiner Praxis erlebt, damals im afrikanischen Kapland, wo sich Bergwerksarbeiter zum Fortschmuggeln von Diamanten dressierter Geier bedient hatten.

Hier wurde der Mann mit seinem Vorschlage ausgelacht. Allerdings würden sich die australischen Geier bald einstellen, dort unten wartete ihrer reiche Beute, aber das mit den Fleischklumpen und dem Aufsuchen der Geiernester würde seine Schwierigkeit haben, war hier gar nicht auszuführen.

»Wenn ich jetzt so einen frischen Fleischklumpen hätte, würde ich ihn selber fressen,« sagte der eine, und damit war die Angelegenheit erledigt.

»Wir müssen uns lange Stangen mit Schaufeln fertigen, die handhaben wir von dem Schachte aus, in dem wir doch geschützt sitzen.«

Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Es handelte sich nur darum, woher die Stangen hier auf dem öden Plateau nehmen.

Nobody wartete das Resultat der Beratung nicht ab — er wußte überhaupt schon, wie das enden würde, und später sollte sich zeigen, daß er wieder einmal richtig kalkuliert hatte — er wandte sich auf dem hier ebenen Plateau dem Osten zu.

Zwei halbe Tage mit einer dazwischenliegenden Nacht verwandte er auf den Versuch, jene Einsattelung zu erreichen. Eine himmelhohe Felswand, die weder zu erklimmen noch zu umgehen war, trennte ihn von seinem Ziel. Auch nicht ein höhergelegener Punkt war zu erreichen, von dem aus er auf die Einsattlung mit seinem Taschenfernrohr hätte hinabblicken können, und so oft er dieses auch von unten oder von gleicher Höhe darauf richtete, er sah dort nichts anderes als nackte Felsen, auf dem sich nichts Lebendiges bewegte.

Als er wieder einmal so nach dieser Einsattelung spähte, noch immer wenigstens eine englische Meile davon entfernt, sah er plötzlich von dort einen goldenen Lichtschimmer durch die Luft gesaust kommen.

Der leuchtende Strahl beschrieb einen etwas nach oben gerichteten Bogen, dann senkte er sich hinab, dabei wie eine Rakete mit Leuchtkugeln auseinandergehend.

Das war wieder ein Schuß mit Goldkörnern gewesen, gar kein Zweifel! Und auch hier in bedeutend größerer Nähe war keine Detonation zu hören gewesen.

In das Tal vermochte Nobody von hier aus nicht zu blicken, so konnte er auch nicht das Ziel und die Wirkung des Schusses sehen.

Noch ein zweiter folgte, dann keiner mehr, obgleich Nobody zwei Stunden wartete.

Am Nachmittage erreichte er wieder das Plateau. Unterdessen waren noch Nachzügler und ein ganzer Trupp von halbwüchsigen Jungen eingetroffen.

Wie Nobody gleich aus Gesprächen erfuhr, hatte man die Hoffnung noch längst nicht aufgegeben, wenn nicht alles Gold zu gewinnen, so doch als reicher Mann zurückzukehren, es wurde nur eine andere Taktik befolgt.

Hierdurch wurde wieder einmal der Beweis geliefert. daß der Mensch vor nichts zurückschreckt, wenn er seine Goldgier befriedigen kann.

Hierbei darf man nicht an die furchtbare Todesangst denken, welche die Männer zuerst befallen, als der mordende Goldhagel in ihre Reihe schlug. Das war etwas ganz anderes. Auf diese Weise wollte sich niemand töten lassen, da war man einfach sinnlos vor Schreck geworden, jetzt aber setzte man sich mit ruhiger Ueberlegung dem Tode aus.

Zuerst, gleich nach Nobodys Fortgang, waren zwei Gewehre, die einzigen, welche vorhanden, als Stange zusammengebunden worden, daran vorn aus einem breiten Messer eine Art von Kratze, so hatte man sich wieder hinab an den Ausgang des Schachtes begeben und hatte herangeharkt, was mit dieser Stange an Goldkörnern zu erreichen gewesen.

Viel war das nicht. Außerdem war es sofort zu Streitigkeiten gekommen, wem das Pfund Gold, welches auf diese Weise herangeholt worden, gehören solle; der Besitzer des einen Gewehres hatte dabei den Eigentümer des anderen erstochen, der Mörder war von einem Freunde des Toten niedergeknallt worden, und um die herrenlose Stange entstand nun erst recht ein blutiger Streit, der immer heftiger wurde, je mehr man die Stange durch andere Gegenstände verlängerte, bis das nicht mehr ging, bis sie beim Hinausstrecken einmal abbrach und so dann immer wieder.

Das war die erste Taktik gewesen, die schon Opfer genug erfordert hatte, aber nicht von dem mordenden Himmelsgolde, sondern das am Boden liegende wurde indirekt zum Mörder, indem die Menschen sich seinetwegen gegenseitig abschlachteten.

Die Oeffnung des Schachtes war so eng, daß immer nur gerade ein einziger durchgehen konnte. Da hatte einer nun einmal den Anblick des gleißenden Goldes nicht mehr ertragen können, er war hinausgestürzt, hatte soviel wie möglich Goldkörner zusammengerafft — und in den Bächen konnte man sie ja wirklich mit den Händen zusammenraffen — hatte sich die Taschen vollgepfropft und war wohlbehalten in den schützenden Schacht zurückgekehrt, ohne daß auf ihn oder um ihn ein mordender Hagel herabgeprasselt wäre.

Was dem gelungen war, konnten andere natürlich auch. Doch nur die sprangen jetzt hinaus, welche gerade unten im Schacht waren, und daß die Kenntnis davon nicht sofort eine allgemeine wurde, sollte ein Glück für alle anderen werden, sonst hätte sich das erste Gemetzel wiederholt.

Fünf Mann befanden sich draußen, als sich der Himmel wieder bemerkbar machte. Schnell hintereinander wurden zwei von ihnen tödlich getroffen, die anderen flohen dem Eingänge zu, jetzt waren es nur drei, welche um das Tor, in das nur immer einer hineinging, mit der Kraft und Rücksichtslosigkeit der verzweifelnden Todesangst kämpften; einen von diesen erreichte noch ein goldener Hagelschauer, die beiden anderen konnten sich in Sicherheit bringen, nur der eine wurde durch einige Goldkörner verletzt.

Nun hatte man durch Beobachtung herausgebracht, daß die Anziehung des goldenen Blitzes nicht eine augenblickliche war, sondern stets verging erst einige Zeit, ehe der Mensch den Goldhagel auf sich zog. Man dachte eben an eine Art von Regen, der doch zu seinem Herabfallen eine bestimmte Zeit gebraucht. Die Einsattelung konnte man von hier aus nicht sehen, diesen Männern schien er immer direkt vom Himmel herabzukommen.

Bis acht konnte man sekundenweise zählen, ehe der Goldhagel die Erde berührte. So rannte einer nach dem anderen hinaus, aber nur immer einer auf einmal, zählte laut oder in Gedanken bis acht, raffte an Goldkörnern auf, was er in dieser Schnelligkeit erwischen konnte, und dann wieder dem Eingänge zu. Erreichte er diesen nicht rechtzeitig, so konnte er sicher sein, von dem tödlichen Hagel niedergestreckt zu werden.

Aber immer weiter und schneller mußte man rennen, um nach Flecken zu gelangen, wo noch Goldkörner lagen, außerdem also konnte nur immer einer laufen, und so war dies trotz aller Tollkühnheit ein äußerst langwieriges Verfahren.

Als Nobody eintraf, hatten die Männer auch dieses Verfahren bereits aufgegeben, viele, besonders von den ersteren, welche schon ein bis zwei Pfund Gold erbeutet hatten, beschlossen den Heimweg anzutreten, um dann mit eisernen Schilden zurückzukehren, von denen man sich gegen den mordenden Goldhagel Schutz versprach.

Die anderen ergingen sich in fruchtlosen Beratungen, wie man doch noch das Gold aus dem Tale gewinnen könne, ohne sich einem Tode aussetzen zu müssen.

Jedenfalls also war hier der Beweis geliefert, daß der Mensch vor gar nichts zurückschreckt, wenn es sich um das Gewinnen von Gold handelt, und wüßte man ganz bestimmt, daß sich am Nordpol ein Berg Gold befände, der Nordpol wäre schon längst entdeckt, man hätte schon eine Eisenbahn hingebaut, etwa in einem Röhrentunnel laufend.

»Wie ist es denn bei Nacht?« fragte einer der Neuangekommenen.

»Da ist es ganz genau dasselbe wie bei Tage, das mordende Gold weiß einen immer zu treffen,« lautete die Antwort.

Das gab Nobody zu denken. Doch da er hierüber hier oben nichts weiter hörte, hielt er sich nicht länger auf, er kletterte hinab.

Glücklicherweise befand sich niemand im Schacht, wodurch er sonst wegen der Passage große Schwierigkeiten gehabt hätte.

Nahe dem Ausgange wehte ihm ein entsetzlicher Geruch entgegen. Die Sonne hatte in dem gegen jeden Luftzug geschützten Tale ihre Schuldigkeit getan, und die goldgierigen Menschen scheuchten ja immer die Geier davon, welche sonst bald das Amt der Totengräber übernommen hätten.

Auf den ersten Blick erkannte Nobody, wie sehr die Zahl der Leichen unterdessen zugenommen halte.

»Edward!«

»Hier bin ich,« erklang es in seiner dichten Nähe, und gleich darauf berührten sich beider Hände.

»Was, so dicht hast du dich in der Nähe der Leichen aufgehalten?«

»Nevermind.«

»Bist du schon wieder einmal im Delphin gewesen?«

»Ich habe die Nähe der Schachtmündung mit keinem Schritte verlassen. An Wasser und Proviant fehlte es mir ja nicht.«

»So wollen wir uns erst einmal hinabbegeben, wir dürfen die beiden Matrosen nicht so lange über unser Schicksal im Ungewissen lassen.«

Sie begaben sich nach dem Wasserschacht, immer über Steine balancierend, um im Sande keinen Fußabdruck zu hinterlassen.

»Hast du den Sattel erreichen können?«

Nobody berichtete von der Resultatlosigkeit seiner Expedition.

»Und was hast du unterdessen beobachtet?«

Nur über das Treiben der Goldgräber konnte Scott erzählen, nicht viel mehr, als Nobody bereits oben aus einzelnen Gesprächen gehört hatte. Er wußte sogar noch mehr, zum Beispiel, daß sie jetzt eiserne Schilde oder ähnliche Schutzwaffen holen wollten.

Nur die einzelnen Szenen konnte Scott genauer schildern.

»Und wie ist es bei Nacht?«

»Da haben die Männer ebenfalls versucht, das Tal zu betreten.«

»Und?«

»Genau dasselbe.«

»Hatten sie Laternen oder Fackeln?«

»An Holz wird es wohl fehlen, und auch keine einzige Laterne scheint vorhanden zu sein. Nein, aufs Geratewohl tasteten sie in der Stockfinsternis am Boden nach den Goldkörnern herum, bis abermals ein Goldhagel in ihre Reihen schlug, und an dem Schachteingange entstand ein neues Massaker.«

»Schlug der Goldhagel nur so ungefähr in die Reihen ein oder traf er wie am Tage Mann für Mann?«

»Mann für Mann, genau, ganz genau so wie am Tage, mit derselben Treffsicherheit, davon konnte ich mich bei Anbruch des Morgens an den Leichen mit eigenen Augen überzeugen.«

»Das ist merkwürdig. Dann müssen die in dem Sattel auch in finsterer Nacht beobachten können, was in dem Tale vorgeht, und das kann nur ein uns unbekannter Apparat ermöglichen.«

»Anders ist es nicht,« bestätigte Scott.

»Hierdurch aber ist wiederum der Beweis erbracht, daß es nur der Herr der Erde oder seine Untergebenen sein können, welche ...«

Nobody verstummte.

»Edward!«

»Was gibt es?«

»Hier ist ein barfüßiger Mensch gegangen. Dort, zwischen dem großen und dem kleinen Steine — ich will deine Hand danach richten ...«

Schon sah Scott — den Abdruck eines großen, nackten Fußes in dem feinen Sande, ganz deutlich mit allen Zehen ausgeprägt.

»Sollte ein Goldsucher so weit gekommen sein?« meinte Scott.

»Du denkst an einen der Goldsucher?«

»Ja, einige von ihnen sind barfuß, sie mögen ihre Fußbekleidung während des Marsches verloren oder als hinderlich beiseite geworfen haben, und wir haben noch immer mit solchen zu rechnen, welche bei der ersten Flucht eine andere Richtung als die nach der verstopften Tunnelmündung eingeschlagen haben.«

»Das wohl, aber sollte auch solch ein Flüchtling immer darauf bedacht gewesen sein, stets seinen Fuß nur auf Steine zu setzen, um seine Spur zu verbergen?«

Scott sah sich um. Es gab Sandflächen genug, die Steine lagen doch nur verstreut umher, und nirgends sonst war im Sande ein anderer Fußabdruck zu bemerken.

»Du hast recht, der Fuß ist nur einmal von einem Steine abgeglitten.«

»Ich will dir noch etwas anderes sagen: dieser Fuß hat noch niemals einen Schuh getragen, das erkenne ich an den weit voneinanderstehenden Zehen, besonders an der großen! Daraus dürfte man auf den Fuß eines Eingeborenen schließen!«

Flüsternd hatten die beiden jetzt gesprochen. Konnte doch hinter einem größeren Steine der Mann verborgen liegen, dem dieser Fuß gehörte.

Nach kurzer Beratung trennten sich die beiden Freunde. Scott begab sich zu dem Delphin zurück, um nach den beiden Matrosen zu sehen, welche eben Matrosen und doch nicht so ganz selbständig waren, während Nobody das Tal weiter untersuchen wollte.

Denn nun war ja erwiesen, daß sich darin eine Person befand, welche mit denen oben in der Einsattelung, von welchen der mordende Goldhagel ausging, in Verbindung stand; jetzt hatte es einen Zweck, sein ganzes Augenmerk auf den Boden zu konzentrieren.

Nobody schlug die Richtung ein, nach welcher die Fußzehen wiesen. Wirklich fand er noch einmal den Abdruck desselben Fußes, er war über eine größere Sandfläche gelaufen; immer stärker kam Nobody zu der Ueberzeugung, daß es nur der Fuß eines Eingeborenen sein könne, der noch niemals einen beengenden Schuh getragen hatte — dann aber fand er keinen Abdruck mehr, auch der Eingeborene hatte zu seiner Wanderung nach Möglichkeit immer Steine benutzt.

»Schade, daß ich mein javanisches Eichhörnchen nicht bei mir habe,« murmelte er, »dann könnte ich auch die unsichtbare Spur verfolgen. Die Nase eines guten Jagdhundes geht mir leider doch ab.«

Ein gellendes Wehegeheul lenkte seine Aufmerksamkeit dem Schachtausgange zu.

So weit er erkennen konnte, versuchten die Wagehalsigen abermals, hinauszurennen und in aller Schnelligkeit Goldkörner vom Boden und mehr noch aus dem Wasser aufzulesen. Ein Goldhagel mußte ein neues Opfer gefordert haben.

Die Fruchtlosigkeit der Verfolgung der Spur einsehend, mehr von der Nacht erhoffend, begab sich Nobody hin, um die Männer einmal bei der ›Arbeit‹ zu beobachten.

Ein halbwüchsiger Junge war es, der sich in Todeszuckungen am Boden wälzte, bis er ausgelitten hatte. Es lagen schon andere solche Jungen da, sie hatten zuletzt dem Tode sogar noch mehr Opfer geliefert als die erwachsenen Männer — was der hoffnungsvollen Jugend Australiens ein ganz besonderes Zeugnis ausstellt.

Und wer Australien kennt, wird sich hierüber nicht wundern.

In Australien ist eine Selbsthilfe erlaubt, wie sonst nirgends in der Welt. In Australien ist es wie in Amerika und England Sitte, das im Wirtshaus erhaltene Getränk sofort zu bezahlen. Wer nun das in Australien vergißt oder mit Absicht unterläßt, bekommt vom Wirt oder Kellner hinter der Bar hervor sofort eine Revolverkugel nachgebrannt.

Nicht wahr, das klingt unglaublich? Man frage einen, der in Australien gewesen ist, ob es in den Hafenstädten dort nicht so gehandhabt wird. Es gibt dort gar keinen Wirt und keinen Kellner, der nicht schon ein paar Menschenleben auf dem Gewissen hat, ohne freilich dieses zu belasten. Natürlich auch alles mit Unterschied — hier ist von Volkskneipen die Rede, wo ›hinter der Bar‹ verschenkt wird. So etwas aber, wie es in Australien zugeht, ist selbst im wildesten Teile des westlichen Amerikas ganz undenkbar. Es macht sich eben doch noch immer der Einfluß der ehemaligen Verbrecherkolonien bemerkbar.

Nun ferner: sobald ein Schiff einen australischen Hafen anläuft, nimmt es einen amtlichen Konstabler an Bord, der an Deck mit geladenem Revolver Wache geht, wofür er pro Tag zwanzig Mark bekommt. Dieser Konstabler, der das Recht zum Schießen hat, ist auch unbedingt nötig. Sonst würde dem Schiffe der Mastbaum weggestohlen werden. Denn in Australien wird gestohlen wie sonst nirgends in der Welt.

Kein Fremder darf das Schiff betreten, und wer es tut, wird von dem Konstabler ohne Anruf niedergeschossen — basta!

Das sind Verhältnisse, von denen wir uns in unserem soliden Deutschland wirklich nichts träumen lassen. Ein Gesellschaftsreisender unter der Flagge von Cook & Son wird davon wohl auch nichts erzählen können. Aber man frage nur irgendeinen Matrosen, der in Australien gewesen ist — er wird dies alles bestätigen.

Und dann wird er auch von der lieben Jugend Australiens erzählen können. Nur aus reinem Wagemut unternehmen es die Straßenjungen, von den Schiffen irgend etwas zu stehlen, am hellen Tage, dann erst recht, sie wetten, ob sie dabei totgeschossen werden oder nicht, oder nur angeschossen, oder ob der Konstabler vorbeischießt, und das ist bitterer Ernst, der Konstabler ist verpflichtet, auf jeden zu schießen, und er tut es, er schont auch die Kinder nicht.

Uebrigens, von einer anderen Seite aus betrachtet, ist es überall in der Welt dasselbe, man muß nur die Augen aufmachen und das Gleichnis zu finden wissen.

Was ist es denn anderes, wenn in den Alpen die Gaisbuben und die anderen Jungen, auch solche aus der Stadt, schwindelerregende Höhen erklimmen, wo jedes abbröckelnde Steinchen einen Todessturz bedeutet? Und sie tun es nicht aus Gewinnsucht, es handelt sich auch nicht um das Ausnehmen eines Adlernestes, sondern sie riskieren ihr Leben einfach aus Wagemut, einer überschäumenden Lebenskraft entspringend.

Und die australischen Jungen würden, wenn sie es sähen, es ebenso unbegreiflich finden, wie bei uns Jungen wagen können, auf Eis Schlittschuh zu fahren, dessen Stärke noch gar nicht gesichert ist, auf die Gefahr hin, einzubrechen und zu ersaufen, und sie tun es dennoch mit keckem Wagemut!

Gewiß, es ist überall dasselbe in der Welt! Man soll sich über nichts wundern.

Nobody betrachtete die toten Knaben. Erschütternd wirkte es doch, auch auf diesen eisernen Mann. Und schon schickte sich ein neues Paar zum Todeslauf an, um einige Goldkörner zu erbeuten.

»Dort der muß noch etwas haben, bei dem ist noch niemand gewesen,« sagte der eine.

»Dort drüben liegt auch noch einer.«

Was meinten die? Nobody sollte sich die dunklen Worte gleich erklären können.

Die beiden rannten ab — nicht dem nahen Bache zu, auf dessen Grund hier und da noch einige Goldkörnchen blitzten, sondern sie stürzten sich über Leichname her, visitierten in aller Geschwindigkeit deren Taschen.

»Hei, das war ein Fang!« triumphierte der eine, einen kleinen, aber schweren Lederbeutel schwingend.

Da ein Goldschimmer in der Lust, und der kleine Leichenräuber büßte sein längeres Zaudern mit dem Leben!

Aber da kam aus dem Loche schon ein anderer Junge hervorgerannt, riß dem sich noch in Todeskämpfen windenden Kameraden das Goldsäckchen aus der Hand und brachte sich noch rechtzeitig in Sicherheit.

Mit starren Augen hatte Nobody die schreckliche Szene beobachtet.

Die Leichen jener Männer, die gestern schon Beute hatten und dann vom mordenden Golde niedergeworfen worden waren, wurden jetzt geplündert!

Ja, warum denn nicht? Und daß Kinder es taten, das hatte hier nichts zu sagen, dafür befand man sich in Australien.

Und noch starrer wurden Nobodys Augen, als er sie auf einem einzelnen toten Mann rasten ließ.

Er hatte den einen Arm weitausgestreckt, die Hand lag flach da, und an dieser Hand fehlte der Zeigefinger.

Hatte ein größeres Goldkorn ihn abgerissen? Nein, das sah gerade so aus, als ob der Finger mit einem Messer abgeschnitten worden wäre!

Auf so etwas verstand sich doch der anatomisch gebildete Detektiv, selbst aus dieser ziemlichen Entfernung glaubte er das deutlich erkennen zu können.

Er begab sich hin, schlich sich gebückt hin, so groß war die seelische Erregung, die ihn plötzlich befallen hatte — wahrhaftig, der schon in Verwesung übergehenden Leiche war der Ringfinger abgeschnitten worden!

Und dort einem zweiten Toten, einem dritten — man hatte, wenn die Ringe nicht gleich vom Finger gingen, diese Finger abgeschnitten!!

Hierbei ist zu bemerken, daß in Australien das Tragen von Goldringen sehr verbreitet ist, auch unter den Arbeitern, ebenso wie in Amerika, wo man sich kein Dienstmädchen ohne mindestens einen Diamantring vorstellen kann, der nicht einmal bei der Arbeit abgelegt wird. Lieber keine ganzen Strümpfe — in Amerika fängt der Mensch, das Weib erst mit dem Diamantring an.

In Australien sieht man selten einen Arbeiter ohne mindestens einen Goldreif, der eine eigentümliche, kunstvolle Aetzung zeigt, ähnlich den englischen Verlobungsringen.

Alle die in Verwesung begriffenen Leichen, die also schon gestern hier gelegen hatten, hatten keine Ringe mehr an den Fingern, diese waren sogar abgeschnitten worden — diejenigen Männer dagegen, die erst heute ihren Tod gefunden, zeigten noch Ringe und anderen Schmuck, so zum Beispiel auch Uhrketten, mit der Uhr noch daran, wie sich Nobody gleich überzeugte, wobei zu bedenken ist, daß die Expedition durchaus nicht nur aus dem Ausschusse der Bevölkerung Port Hunters bestanden hatte, es waren sogar sehr wohlhabende Leute dabeigewesen.

War es denn möglich, daß die Ueberlebenden und die neueingetroffenen Männer und Kinder den Toten auch die Wertsachen abgenommen, die Leichen deswegen gar verstümmelt, geschändet hatten?!

Es waren ja alles rohe Charaktere, beseelt vom Goldteufel; daß sie den Leichen die gefundenen Goldkörner abnahmen, davon hatte sich Nobody mit eigenen Augen überzeugt, aber ...

Nobody hatte nicht nötig, den Unterschied zu definieren, welcher darin besteht, ob man einem Toten das kurz zuvor gefundene Gold abnimmt oder die Wertsachen, es ist wirklich ein gewaltiger Unterschied dabei, der sich aber schwer definieren läßt, das liegt im eigenen Gewissen des Menschen ... denn da sah Nobody im Sande die Spur eines nackten Fußes.

Barfüßig waren genug der Goldsucher gewesen, überall gewahrte man die Abdrücke von nackten Fußsohlen — aber diesen großen Fuß hier mit den abstehenden Zehen, dicht neben einer Leiche, von deren Hand gleich drei Finger abgeschnitten worden waren, den kannte Nobody, und in so etwas irrte sich sein Auge niemals — das war wieder der Fuß des vermutlichen Eingeborenen!

Ein Australneger befand sich nicht unter den Goldsuchern; diese hätten einen solchen nimmermehr unter sich geduldet, auch keinen afrikanischen Neger und keinen Chinesen.

Der fremde Neger hatte seinem leichenschänderischen Gewerbe bei Nacht obgelegen!

Es hieß diese abwarten!

—————

 

Die mondlose Nacht war angebrochen. Nur die Sterne flimmerten am dunklen Himmel.

Mochten sich die Goldsucher, die schutzlos dem kalten Nachttau ausgesetzt waren, dort oben auch noch so laut unterhalten, bis hier herab drang auch nicht der leiseste Ton, ebensowenig störte in dem vegetationslosen Tale irgendeine Tierstimme die Totenstille — die Stille der Toten im wahrsten Sinne des Wortes.

Schon seit Stunden lag Nobody auf dem Posten.

Es mochte gegen Mitternacht sein, als ein leichtes Geräusch sein Ohr traf — gewiß, das war das Knistern des Sandes unter einem Fuße — und da sah er dort, wo die Hauptmasse der Leichen lag, auch schon einen dunklen Schatten sich bewegen.

Es war die Gestalt eines Mannes. Mehr konnte Nobody von hier aus in dem äußerst schwachen Sternenlichts nicht unterscheiden.

Dem Tarngewand und seiner eigenen Unhörbarkeit trauend, schlich Nobody näher, bis auf Armweite heran, und jetzt genügte das Sternenlicht für sein Auge vollkommen, um alles deutlich unterscheiden zu können.

Der Mann, der auf einer Leiche kniete und sich mit dieser zu schaffen machte, war ein schwarzhäutiger Australneger, nackt bis auf einen Schurz, und mit einer so auffallenden Bart- und Haarfrisur, wie Nobody sie noch auf keiner ethnographischen Bildertafel gesehen hatte.

Die Australneger zeigen sonst nämlich einen sehr spärlichen Bartwuchs. Dieser hier dagegen trug einen mächtigen Vollbart, den er nach altphönizischer Weise an den Enden kunstvoll in zahllose kleine Zäpfchen geflochten hatte, und ebenso kunstvoll und eigentümlich war auch das lange, äußerst üppige Haupthaar frisiert, nicht frei herabhängend, sondern nach oben hinauffrisiert, eine Art von Damentoupet, ebenfalls von lauter dünnen Zöpfchen starrend.

Hatte Nobody solch einen haarigen, wohlfrisierten Australneger noch auf keiner ethnographischen Bildertafel gesehen, so hatte er doch schon gelesen, daß es im Innern Australiens Eingeborne gebe, welche eine derartige Sorgfalt auf ihr üppiges Bart- und Kopfhaar verwenden, darin noch die neuseeländischen Papuas übertreffend.

Einen solchen Australneger, der sonst noch nie mit der Zivilisation in Berührung gekommen ist, hatte Nobody offenbar vor sich.

Der Mann zog den seit heute neu hinzugekommenen Toten die Ringe von den Fingern und plünderte die Taschen, und ganz deutlich konnte Nobody beobachten, in welch habgieriger Freude die dunklen Züge aufleuchteten, wenn er eine Uhr oder gar Geld gefunden hatte, welches er dann stets etwas in die Höhe hob, um die einzelnen Münzen im Sternenscheine zu betrachten, wobei er gurgelnde Laute ausstieß, die wohl sein Entzücken ausdrückten.

Auf den Gold- und Silberwert der Münzen konnte es dieser Mann, der mitten im Golde saß, natürlich nicht abgesehen haben. Die geprägten Köpfe und Wappen des englischen Geldes entzückten ihn so, und an der Uhr, die er stets erst ans Ohr hielt, erfreute ihn nur das Ticken; ähnliche Anziehungskraft mochten auf ihn die goldenen und silbernen Ringe ausüben, während die Messer wohl praktischeren Wert für ihn hatten.

Die gefundenen Gegenstände barg er in einem Ledersäckchen, das er am Leibriemen hängen hatte.

Jetzt konnte er einen Ring nicht abstreifen. Messer hatte er genug — gleich der ganze Finger wurde abgeschnitten, mit Geschick aus dem Gelenke herausgeschält, und weil der Ring auch von hinten nicht abgehen wollte, wanderte gleich der ganze Finger in den Beutel.

Daß sich der Mann eines Unrechtes bewußt war, konnte Nobody aus der Hast beobachten, mit der er arbeitete, wie er sich immer scheu umsah. Aber auf das moralische Bewußtsein, durch diese Leichenplünderung ein Unrecht zu begehen, durfte Nobody daraus nicht schließen.

Die furchtsamen Blicke galten hauptsächlich der weit entfernten Einsattelung hoch dort droben, dort hatte der Eingeborene Gefährten, die von seinem nächtlichen Treiben nichts wissen durften.

Nobodys Entschluß war von vornherein gefaßt gewesen. Er mußte den Mann gewähren lassen, durfte ihn nicht dingfest machen. Nobody verstand die Sprache der Eingeborenen nicht, und es war doch sehr die Frage, ob ihm dieser auf englisch antworten konnte. Er mußte ihm dann nachschleichen.

Der Wilde wußte ganz genau, welche Toten neu eingetroffen waren, um die anderen kümmerte er sich nicht mehr. Bald war er mit seiner unheimlichen Arbeit fertig. Ein Blick nach den Sternen, als könne er nach diesen die Zeit bestimmen, ein furchtsamer Blick nach der Einsattelung des Gebirgskammes, und er trat den Rückweg an, wie ein Schatten von Stein zu Stein springend.

Nobody ihm nach, ein noch wesenloserer Schatten.

Es ging nicht, wie Nobody vermutet hatte, der durchlöcherten Felswand zu, sondern der Eingeborene nahm erst eine nördlichere Richtung.

Ein Bach war sein Ziel. Hier blieb er stehen, bückte sich, wälzte einen größeren Stein etwas zur Seite, Nobody glaubte darunter ein Loch unterscheiden zu können, und dem war auch so, und in dieses entleerte der Mann seinen Lederbeutel, dann den Stein wieder darüberwälzend.

Es war die geheime Schatzkammer des Leichenräubers.

Er setzte seinen Weg von Stein zu Stein fort, bis er auf einem felsigen Grund dieses Springen nicht mehr nötig hatte.

So erreichte er einen zweiten Bach, dessen Grund ausschließlich aus Goldkörnern bestand; kein anderer Stein verminderte den gelben Glanz; der Eingeborene bückte sich wieder, hatte einen größeren Sack in der Hand, den er, im Wasser stehend, mit Goldkörnern zu füllen begann, wobei er nur zu scharren brauchte, das oben im Sack stehende Wasser manchmal abgießend.

Dann hob er den Sack auf seine Schulter, und es gehörte die Kraft des athletisch gebauten Mannes dazu, um das fertig zu bringen; denn war der Sack auch nicht allzugroß, so enthielt er doch eben Gold.

Gebückt und leise keuchend strebte er jetzt der östlichen Felsenwand zu, und das steinige Terrain machte ein besonderes Verbergen seiner Spur unnötig.

»Denen oben ist die goldene Munition ausgegangen,« dachte Nobody, »er hat neue holen müssen, muß es wohl jede Nacht tun, und diese Gelegenheit benützt er, um die Toten zu plündern, was aber seine Kollegen nicht wissen dürfen, mindestens müßte er dann mit ihnen teilen. Nun, jetzt werde ich ja sehen, wie er da oben hinaufkommt.«

Richtig, es war einfach eines der Löcher, vor welchem der Eingeborene Halt machte. Aber es war schon gesagt worden, daß die ganze Felsenwand siebartig durchlöchert war; eine Untersuchung sämtlicher Löcher hätte viele Tage in Anspruch genommen. Dieses hier befand sich wohl einen Kilometer entfernt von der Gegend, wo die beiden Freunde probiert hatten, und dann hinterließ der ebene Steinboden auch gar keine Spur.

So wäre es ein außerordentlicher Zufall gewesen, hätte Nobody gerade dieses Loch gefunden, aus dessen Beschaffenheit er dann allerdings gleich erkannt hätte, daß es das gesuchte war, welches nach oben in den Gebirgssattel führte.

Der Eingeborene ließ den Sack vom Rücken gleiten und schleifte ihn in das tunnelartige Loch hinein, wobei er sich nur wenig zu bücken brauchte.

Nun aber war er für Nobodys Auge in der Finsternis vollkommen verschwunden.

Was nun tun? Nobody brauchte nicht lange zu grübeln, ob er jenem folgen solle, auf die Gefahr hin, mit ihm in dem finsteren Schachte zusammenzustoßen — schon kam der Australneger zurück, ein Bündel unter dem Arm, in welchem Nobody den Sack wiedererkannte. Er hatte das Gold in dem Schachte ausgeschüttet und entfernte sich, um den Sack abermals zu füllen.

Kaum war der Eingeborene in der Dunkelheit, welche in dem Tale herrschte, verschwunden, als es für Nobody kein Zögern mehr gab. Auch er drang in die Höhle ein, vorsichtig mit ausgestreckten Händen seitwärts vor sich tastend, angestrengt lauschend; nicht das leiseste Atmen eines Menschen wäre ihm entgangen.

Mit einem Male fiel von oben ein für diese Finsternis helles Licht herein, Nobody sah über sich Sterne schimmern.

Es war ein Schacht, der nach oben führte, gleichfalls mit eingehauenen Stufen versehen, dann hing noch ein Seil herab, an dem unten ein mit Gold gefüllter Sack befestigt war.

Daß der Eingeborene den ersten Sack nicht ausgeschüttet, sondern einen zweiten aus der Höhle herausgeholt hatte, um auch diesen zu füllen, dann wahrscheinlich alle beide zugleich emporwinden wollend, das war das einzige, was in Nobodys Kalkulation nicht zutraf.

Kurz entschlossen klomm Nobody empor.

Das war eine andere Klettertour als die in dem Wasserschacht, unter dem der Delphin lag, auch noch eine andere als die, welche die Goldsucher benützen mußten!

Hier handelte es sich wenigstens um vierhundert Meter; so hoch lag die Einsattelung über dem Tale, obgleich sie noch immer sehr tief in den Gebirgskamm einschnitt.

Viel bequemer hätte Nobody es gehabt, wenn er das herabhängende Seil als Handhabe hätte benutzen können, wie es dann doch jedenfalls der Eingeborene tat, wenn der nicht gleich emporgewunden wurde.

Aber Nobody wagte nicht, das zu tun. Jede Erschütterung des Seiles mußte oben verraten, daß es benutzt wurde, und dann war es nicht der erwartete Kamerad, und wenn man den Unsichtbaren auch nicht sah, so konnte es doch Mißtrauen erwecken.

Nun aber war der Schacht hier breiter als einen Meter; so mußte Nobody eine sehr gestreckte Lage einnehmen, um sich mit Händen und Füßen zugleich feststemmen zu können, dabei wollte er auch nur die Berührung des Seiles vermeiden — kurz, es war eine turnerische Kraftleistung ersten Ranges, die Nobody da ausgeführt hatte, als er sich endlich, ohne sich ein einziges Mal ausgeruht zu haben, was bei dieser Lage des Kletterers auch gar nicht möglich war, der Mündung des Schachtes näherte.

Ein Querbalken, an dem noch ein Teil des Seiles aufgewickelt war, darüber der gestirnte Himmel, sonst nichts weiter.

Auch von menschlichen Stimmen war nichts zu hören, kein anderes Geräusch.

Doch da — war das nicht ein menschliches Stöhnen gewesen?

Nobody steckte den Kopf zum Schacht hinaus.

Neben der Schachtmündung befand sich ein roher Aufbau von Steinen, wohl absichtlich so plump, um ihn nicht von der Umgegend abstechen zu lassen, und wirklich gehörten dieses Detektivs Augen dazu, um einen künstlichen Bau erkennen zu können. Durch das Fernrohr hätte er es damals von seinen Standpunkten aus unmöglich unterscheiden können.

Kein Mensch, kein Licht, keine Stimme, auch kein Stöhnen mehr.

Nobody kletterte vollends aus dem Schachte heraus.

Doch, da war ein Lichtschimmer! Er fiel aus dem Steinbau nach Norden hin, wo man dem Gebirge gleich ansah, daß es unersteigbar war, also abgewendet jener Gegend, wo sich die Goldgräber befanden und wo Nobody auch bei Nacht die Einsattelung durch das Fernrohr beobachtet hatte, eben auf einen Lichtschein hin.

Er umging das Steinhäuschen, welches nach jener Seite hin ganz offen war, da wieder ein Stöhnen, und ... keinen anderen als den alten Känguruhjäger hatte Nobody vor sich!

Gar so überraschend kam ihm dessen Anblick hier oben, von wo der mordende Goldhagel ausging, ja nicht. Es war doch schon gesagt worden, wie damit zu rechnen war, daß auch Old Cangaroo mit zu den ›Udlindschis‹ gehörte.

Also die Vermutung war eine richtige gewesen! Nobody war trotzdem sehr überrascht.

Doch das trübte seinen Blick nicht, mit dem er schnell alles erfaßte.

Der rohe Bau des nur aus Steinen aufgetürmten Häuschens blieb auch von innen bestehen. Die einzige Einrichtung bestand aus einem Instrument, einem langen Fernrohr vergleichbar, oder aber auch einem Geschützrohr oder einem dickeren Gewehrlauf, welcher, auf einem beweglichen Stativ ruhend, durch ein Loch in der Mauer hindurchging, insofern nur mehr einem Fernrohr ähnelnd, als es aus einzelnen Teilen bestand, die man sicher ineinanderschieben konnte.

Nun hinten eine starke Verdickung, wiederum an einen Gewehrkolben erinnernd, daran auch noch eine Kurbel mit Räderübersetzung — das pneumatische Geschütz, gar kein Zweifel!

Der am Boden danebenliegende kleine Haufen von Goldkörnern war die dazu gehörige Munition, welche zur Neige ging.

»O Gott, o, mein Gott, alles, alles ist umsonst gewesen!!«

Mehr Verzweiflung hätte der alte Mann nicht in die Worte legen können, als wie er sie gesprochen hatte, die Hände gerungen, mit stieren Augen vor sich hinblickend.

So hatte Nobody ihn zuerst nahe dem Ausgang stehen sehen.

Doch schnell war dieser Gefühlsausbruch vorüber, das Gesicht nahm statt dem der Verzweiflung wieder den strengen Ausdruck an; so trat er zurück in den Raum, der durch eine Kerze erhellt wurde, wie man sie auf den Farmen aus Hammeltalg sich selbst herzustellen weiß.

Diese Kerze stand auf einem zweiten Stativ, an dem das Auffälligste zwei Spiegel waren.

In der Erwartung, hier die Lösung eines Geheimnisses zu finden, das ihn schon längst beschäftigte, trat Nobody unter seiner Tarnkappe näher, und in der Tat, er hatte sich nicht geirrt, und seine Ueberraschung war grenzenlos.

Das Kerzenlicht fiel auf den größten, horizontalen Spiegel und zeigte darin das ganze Tal in klarster Deutlichkeit — die einrahmenden Felsen, die einzeln liegenden Steine, die durchfließenden Bäche, alles — also auch den hochfrisierten Eingeborenen, der soeben seinen Ledersack in einem Bache wiederum voll Goldkörner scharrte.

Dabei ist aber zu bedenken, daß in dem Tale vollkommene Finsternis herrschte, lind daß das Licht in den Spiegel fiel, das hatte mit dieser Sichtbarkeit doch gar nichts zu tun! Der Spiegel hätte das Kerzenlicht wiedergeben können, jeden Gegenstand, den man dicht davor hielt, aber sonst doch nichts weiter.

Hier lag einfach ein optisches Wunder vor.

Wie war dieses zu erklären?

Der hinter sich blickende Detektiv gewahrte allerdings oben an der Maueröffnung noch einen anderen Spiegel angebracht, der direkt nach dem Tale gerichtet war. Also eine Art Camera obscura. Aber das gab durchaus noch keine Erklärung. In jenem erhöhten Spiegel, von dem man annehmen mußte, daß er das Tal wiedergeben sollte, war überhaupt gar nichts zu sehen, das war eigentlich auch nur eine geschwärzte Glasplatte.

Nein, das waren Spiegel mit einer optischen Eigenschaft, wie sie der Menschheit noch ganz unbekannt war. Sie gaben auch von einem in Dunkelheit gehüllten Gegenstand ein scharfgezeichnetes Bild, nur mußten sie wohl selbst dabei erleuchtet werden.

Mit dieser Annahme einer Tatsache ließ sich Nobody genügen.

Jetzt drehte der Alte den Hauptspiegel etwas, das Lager der Goldsucher oben auf dem Plateau kam in Sicht.

Obgleich sie kein Feuer brannten — hatten sie doch kein Holz — war dennoch jeder einzelne Mann deutlich zu erkennen, die Mehrzahl schlief noch nicht, und reizend sah es aus, wie sich die kleinen Figürchen bewegten und im Gespräch gestikulierten. Es fehlte nur noch, daß man auch dünne Stimmchen vernommen hätte, dann wäre die Zauberei fertig gewesen.

»Kinder — auch Kinder sind darunter,« murmelte der Alte gedrückt, »und auch sie mußten dem Wohle der Menschheit geopfert werden — und alles, alles war vergeblich!!«

Was schwatzte der Entsender der goldenen Todesboten, dieser hundertfältige Mörder da von einem ›Wohle der Menschheit‹?

Der Spiegel wurde zurückgedreht, daß wieder der noch im Wasser schaufelnde Eingeborene hineinkam, jetzt schraubte der Alte am Stativ, und wie sich der Spiegel hob, so wurde der schwarzhäutige Mann dort unten im Tale immer größer, trat immer deutlicher hervor, während die weitere Umgebung immer verschwommener wurde, an dem Apparat gab es also eine Vorrichtung, um die Aufmerksamkeit des Spiegels, oder wie man es nun sonst nennen mag, nur auf einen einzigen Punkt zu konzentrieren, bis Nobody an der Gestalt jede Muskel, in dem dunklen Gesicht jeden Zug studieren konnte.

»O, Christian,« zischte der Alte grimmig zwischen den Zähnen hervor, und dennoch lag etwas wie schmerzliche Traurigkeit darin, »so also machst du mir Ehre, der ich dich durch liebevolles Beispiel zum Christen erzog?! Sardan hast du als barbarischer Wilder gehießen — nicht Christian, sondern Satan hätte ich dich Hundesohn umtaufen müssen!«

So, dieser alte Mann, der von hier oben aus seine Mitmenschen zusammenkartätschte, machte also in Christenbekehrung?

Doch wir müssen mit Nobodys Ohren hören und mit seinem Kopfe denken. Für Nobody lag in alledem nämlich gar kein Widerspruch — er hatte diesen bereits in den sich selbst widersprechenden Zügen gelöst, die in des Alten Gesicht seinen Charakter offenbarten, wenigstens für Nobody, und es sollte sich bald zeigen, daß er sich nicht im geringsten geirrt hatte.

Christian, den wir aber lieber mit seinem alten Namen Sardan nennen wollen, da er ja doch nicht viel auf die ihm beigebrachten christlichen Lehren zu geben schien, hatte seinen Sack gefüllt, lud ihn auf und schlug abermals die Richtung nach dem östlichen Felsrand ein.

Der Spiegel folgte ihm Schritt für Schritt, und Nobody staunte, daß die Vorrichtung eine Beobachtung bis dicht an die Felsenmauer zuließ, bis der Mann in dem Loche verschwand, obgleich die Steinhütte durchaus nicht dicht an dem Felsenrande stand. Dann mußten hier noch andere Reflexspiegel in Betracht kommen.

Als sich Sardan in dem Schachte befand, konnte er natürlich auf diese Weise nicht mehr im Spiegel beobachtet werden.

Der alte Känguruhjäger nahm sein an der Wand lehnendes Gewehr, untersuchte das Schloß, trat hinaus und blickte in finsterem Schweigen nach der Schachtmündung, über dem sich eine plump gezimmerte, aber ihren Zweck erfüllende Winde befand.

Das darumgeschlungene Seil begann zu zittern, und als die Zeit verstrichen war, welche ein gewandter Mann brauchte, um den Schacht zu erklimmen, tauchte Sardans hochfrisierter Kopf auf.

Er hielt das Gesicht der anderen Richtung zugekehrt, so stieg er auch vollends heraus, erst dann drehte er sich um — und furchtbar war sein Schreck, als er vor sich den alten Känguruhjäger stehen sah.

Das heißt, dieser furchtbare Schreck war wohl nur für Nobody erkennbar, der auch in dem schwachen Sternenschein jeden Gesichtszug beobachten und seine Ursache beurteilen konnte.

Allerdings knickte Sardan beim Anblick des weißen Jägers förmlich zusammen, aber das konnte auch ein Ausdruck der kriechenden Demut sein, die der schauspielerisch veranlagte Wilde im nächsten Moment in helle Freude zu verwandeln wußte. Und Nobody freute sich nicht minder, daß hier Englisch gesprochen wurde.

»Ach, du liebes Jesusknäblein!« jauchzte er auf. »Der liebe, gute Massa ist wieder da! Ist endlich zurückgekommen! Ach, du liebes Jesus …«

»Nimm den Namen unseres Heilandes nicht in den Mund, du Schurke!« wurde er drohend unterbrochen.

Wieder knickte der nackte Schwarze zusammen wie unter der Wucht eines Vorwurfs, oder war dies das Zusammenducken eines sich zum Sprunge anschickenden Panthers?

»Aber was habe ich denn begangen, lieber guter Massa, daß du mich gleich so schiltst?« erklang es in kläglichem Tone.

Ob der Alte wohl sah, mit welch furchtbar haßerfülltem Blick die Augen von unten herauf auf ihn gerichtet waren? Nobody bezweifelte es, sonst hätte jener wohl nicht so sorglos sein Gewehr bei Fuß behalten, es vielmehr schnell in Anschlag auf den sich zum Sprunge anschickenden Panther gebracht.

Zwischen einem Jäger und einem Detektiven ist eben ein Unterschied, mag ersterer auch den Adlerblick des letzteren besitzen.

»Du wagst auch noch zu fragen?« fuhr der Alte mit unheilvoller Stimme fort.

»Ach, lieber, bester Massa....«

»Willst du etwa leugnen, daß du die toten Goldsucher geplündert hast? Sogar die Finger hast du Hund ihnen abgeschnitten, weil du ihnen so die Ringe nicht abstreifen konntest.«

Da mit einem Male verwandelte sich die kriechende Demut in einen wilden Trotz. So richtete er sich auf. Nein, er wollte nicht leugnen, es hatte ja doch keinen Zweck, er kannte diese Spiegeleinrichtung, er war von dem Jäger, den er für abwesend gehalten, beobachtet worden.

»Und weshalb nicht?«

Bei dieser trotzigen Gegenfrage war der Alte zuerst ganz starr.

»Was?!«

»Und weshalb soll ich den Toten nicht die tickenden Kugeln und die Platten mit den Bildern nehmen, wenn sie mir gefallen? Warum soll ich ihnen nicht die Finger abschneiden? Sie fühlen es ja nicht.«

»Leichenschänder!!« donnerte der Alte ihn an.

»Du selbst hast diese lebendigen Männer erst zu Leichen gemacht.«

Leicht zuckte der alte Mann bei dieser Anklage zusammen.

Da erkannte er auch den grimmigen Ausdruck der auf ihn gerichteten Augen, die ihm drohende Gefahr, er mußte an seine Sicherheit denken.

»Auf die Knie nieder, Hund!«

Aber der Eingeborene war zu einer Verteidigung aufgelegt.

»Du hast mich gelehrt, daß ein Christ nicht töten soll, und du selbst ...«

»Auf die Knie nieder, sage ich, oder du bist ein Kind des ...«

Der Alte brachte sein Gewehr nur zur Hälfte empor.

Sardan hatte, wie Nobody schon bemerkt, hinten am Rücken im Leibriemen ein langes Messer stecken — ein blitzschneller Griff, es funkelte in seiner Hand, ein katzenähnlicher Sprung, schon berührte die spitze Klinge fast des Alten Brust — da brach der Wilde mitten im Sprunge wie vom Schlage getroffen zusammen, um regungslos liegen zu bleiben.

Er war denn auch wirklich von einem Schlage getroffen worden — nämlich geführt von Nobodys unsichtbarer Faust, die noch rechtzeitig, aber auch im letzten Augenblick gegen Sardans Schläfe geschmettert war.

Hiervon konnte der Alte nichts ahnen. Er beugte sich herab, legte die Hand auf des Regungslosen Herzgegend.

»Tot!« murmelte er erschüttert. »Ein Schlaganfall hat seinem Leben ein Ende gemacht. Das war Gottes Fügung.«

Wir wissen, wie ängstlich Nobody verhüten wollte, daß man ihn mit einem gottähnlichen Nimbus umgab, was besonders leicht geschehen konnte, wenn er sich seines Tarngewandes bediente.

Bei diesen Worten des Alten war sein Entschluß sofort gefaßt gewesen.

»Mitnichten, das war meine Hand, die Hand eines Menschen,« erklang es hinter dem Alten, und gleichzeitig legten sich zwei muskulöse Arme um dessen Leib, und ehe Old Cangaroo nur an eine Gegenwehr decken konnte, ehe er nur wußte, was eigentlich mit ihm vorging, saß er schon aufrecht am Boden, an Händen und Füßen gebunden.

Vor seinen Augen, die eine Vision zu haben glaubten, befand sich ein fremder Mann, der sich jetzt über den Eingeborenen beugte und ihm ebenfalls die Hand aufs Herz legte.

»Nur ohnmächtig, wird gleich wieder zu sich kommen,« sagte Nobody, der sich seines Tarngewandes mit Gedankenschnelle entledigt hatte, und band auch Sardan mit aus der Tasche genommenen Lederriemen an Händen und Füßen.

»Und nun zu dir, Mr. Tobias Smith, genannt Old Cangaroo,« wandte er sich dann an den Alten, der ihn noch immer wie ein Gespenst anstierte.

»Wer — wer ...«

»Wer ich bin? Ein Mann, der die Ursache des mordenden Goldes ergründen wollte und sie auch ergründet hat.«

Mit einem Male hatte der Alte seine vollkommene Ruhe wieder.

»Dann ist die Komödie eben aus,« sagte er gleichgültig. »Schade nur, daß sie gar keinen Zweck gehabt hat. Es war Gottes Wille, er geschehe.«

»Und mich wundert nur, wie du selbst, der du es dem Australneger verbotest, noch Gottes Name im Munde führen kannst, und zwar nicht in lästernder Absicht, sondern scheinbar in aller Demut.«

»Wenn du mich kenntest ...«

»Das ist der Fall.«

»Aber ich kenne dich nicht. Aus Port Hunter bist du nicht.«

»Kannst du dich nicht des Mannes entsinnen, der sich bei Mr. Jonas befand, als du diesen in seiner Redaktion aufsuchtest?«

»Ah, richtig. Es ist zu dunkel, aber jetzt erkenne ich dich an deiner Stimme wieder. Bist du mit den anderen Goldsuchern gegangen?«

»Nein, allein.«

»Um in Karrikarri Gold aufzulesen?«

»Nur, wie ich schon sagte, um das Rätsel dieses Tales zu enthüllen.«

»Es ist dir gelungen?«

»Noch nicht so ganz. Ich hoffe, von dir nähere Auskunft zu erlangen.«

»Bist du ein Detektiv?«

»Ja.«

»Mit mir ist es vorbei. Es war Gottes Wille. Frage, ich werde antworten.«

»Es wurde mir erzählt, du seiest ein begüterter, zufriedener Farmer gewesen, glücklich im Kreise deiner Kinder.«

»Das bin ich gewesen.«

»Da fandet ihr beim Graben eines Brunnens Gold.«

»Verflucht soll alles Gold sein,« sagte der Alte jetzt ohne jede Heftigkeit.

»Durch das Gold verlorest du deine Kinder und alles. Stimmt das?«

»Ja, und ich ... .«

»Warte, laß mich fragen! Wann war das?«

»Vor fast zwanzig Jahren.«

»Dann gingst du in die Berge, um ausschließlich Känguruhs zu jagen?«

»Ja.«

»Hattest du dieses Tal, welches die Eingeborenen Karrikarri nennen, schon damals entdeckt?«

Nein, und jetzt mußte Nobody den Alten, der sich so willig zeigte, erzählen lassen. Er tat es mit möglichst kurzen Worten.

Es war vor acht Jahren, als Old Cangaroo aus der Jagd zwei der hier schon als ausgestorben geltenden Mussons fand, besonders an ihren Haaren und Bärten als solche erkenntlich, die sich in den Bergen verstiegen hatten und dem Verschmachtungstode nahe waren.

Old Cangaroo, der schon oft in dieser Gegend gewesen und hier jeden Pfad kannte, befreite sie aus ihrer Lage, rettete ihnen überhaupt das Leben. Die drei wurden Freunde, oder doch Jagdgefährten.

Einmal kam das Gespräch auch aus das Gold.

Da sagten die beiden, sie kennten ein Tal, welches mit Goldkörnern ganz angefüllt sei; in den Bächen lägen sie offen zu Tage, und sonst brauche man nur im Sande zu wühlen, um überall Goldkörner zu finden.

»Sie nannten das Tal Karrikarri. Da wußte auch ich, welche Gegend sie meinten. Dieser Name ist ja auch schon auf den Karten verzeichnet, er stammt eben von den früheren Bewohnern dieser Gegend her, von denen nur zwei Männer noch existierten. Sonst sind die Mussons teils ausgestorben, teils haben sie sich vor den Weißen ins Innere Australiens zurückgezogen.

»Mit Karrikarri bezeichnen die Geographen heute ein unbekanntes Gebiet, auf den Karten als ein weißer Fleck eingetragen — unbekannt deshalb, weil man keinen Zugang kennt. Den Mussons war dieses Tal niemals verschlossen gewesen, auch diese beiden letzten Männer kannten noch den geheimen Weg.

»Auf meinen Wunsch führten sie mich hin. Der eigentliche geheime Weg bestand in dem hinabführenden Schacht, den auch Ned Rossel gefunden hat, und den die Goldsucher benutzt haben.

»Durch diesen dort drüben liegenden Schacht gelangte auch ich das erstemal hinab, wußte noch nichts von diesem hier.

»Ja, ich fand Gold im Ueberflusse. Für die beiden Mussons waren es nichts weiter als rote Steinchen, für sie ganz wertlos — auf mich machten sie einen schrecklichen Eindruck. Das Gold war ja an all meinem Unglück schuld, das Gold hatte mir Frau und Kinder geraubt, hatte mich zu dem einsamen Manne gemacht, der ich schon damals war und jetzt noch bin.

»Wie ist das Geheimnis dieses Tales, welches verfluchtes Gold birgt, für die Menschheit auf ewig zu wahren? Das war mein erster Gedanke.

»Daß der Zugang bisher nicht entdeckt worden war, genügte mir noch nicht. Zunächst schlug ich die Richtung nach der Küste ein und überzeugte mich, daß der an sich sehr gute Weg, den die Natur verzeichnet hat, nicht so leicht zu finden war, obgleich nur eine gar nicht so sehr hohe und steile Felswand zu übersteigen war ...«

»Meinst du dieselbe Felswand, welche dann die Goldsucher an einem Seile überklettert haben?« unterbrach Nobody den Erzähler.

»Dieselbe.«

»So ist dies wirklich das einzige Hindernis, welches der Benutzung des natürlichen Weges entgegensteht?«

»Ich bin zwanzig Jahre lang kreuz und quer in dieser Gegend der Blauen Berge herumgestrichen, und ich habe keinen anderen Weg gefunden, der bis an den oberen Rand des Karrikarritales führt, als den, der von der Port Hunter begrenzenden Wüste nur durch jene niedrige Felswand geschieden ist.«

»Es ist merkwürdig, daß noch niemand daran gedacht hat, diese Felswand einmal zu erklimmen,« meinte Nobody.

»Das sagte ich mir auch. Wenn es einmal geschah, so mußte man nach dem Passieren der engen Felsspalte den von der Natur so deutlich vorgezeichenden Weg sehen, man würde ihn verfolgen, hierhergelangen, man würde auch die Oeffnung des Schachtes finden, in den die Stufen eingehauen sind.«

»Wer hat diese Stufen eingehauen?«

»Ich weiß es nicht.«

»Auch die Mussons konnten nichts davon erzählen?«

»Gar nichts.«

»Aber sie wußten, daß in den Schacht solche Stufen eingehauen waren.«

»Natürlich, sie hatten sie ja schon benutzt.«

»Sie waren schon in dem Tale gewesen?«

»Ja, einmal.«

»Wozu?«

»Sie waren einmal bei der Verfolgung eines Känguruhs bis oben an den Rand des Plateaus gekommen, ein fehlgehender Wurfspeer war ins Tal hinabgeflogen, wegen der wertvollen Holzwaffe scheuten sie nicht den mühsamen Weg.«

»Woher kannten denn sie den geheimen Schacht?«

»Die Kenntnis davon vererbte sich damals vom Vater auf den Sohn, auch als Kinder waren sie schon unten gewesen.«

»Und wie erklären sie sich das Vorhandensein der Stufen?«

»Die sind eben von allem Anfang dagewesen.«

»Bringen sie die nicht mit einer Sage von Göttern in Verbindung?«

»Die Australneger glauben nicht an Götter, sind wohl das einzige Volk auf der Erde, welches gar keine Religion besitzt, und so haben sie auch gar keine Sorgen.«

»Hm, fahre erst in deiner begonnenen Erzählung fort, ehe ich weitere Frage stelle.«

»Ich wollte den Schacht verschütten, ihn zersprengen. Hast du nicht oben und unten Spuren davon bemerkt?«

»Nein.«

»Es ist ja auch schon lange her, und das Gestein verwittert hier sehr schnell. Den Anfang machte ich oben am Eingänge. Mühsam bohrte ich Löcher und füllte sie mit Pulver. Doch ich hatte gar keine Erfahrung in so etwas, und das Sprengen will wie alles andere gelernt sein. Es mißlang. Der Schwefelfaden versagte immer, was ich der Feuchtigkeit zuschrieb, weil es so dicht neben der Quelle war. Deshalb wiederholte ich den Versuch unten am Ausgang. Endlich explodierte ein mit Pulver vollgepfropftes Sprengloch. Eine andere Wirkung hatte es nicht. Der massive Felsen war nicht zu erschüttern. Aber ein fortgeschleudertes Sprengstück hatte einen meiner schwarzen Begleiter getötet. Da erkannte ich Gottes Hand, er wollte nicht, daß ich den Schacht verschütten sollte.«

Und der Mann, welcher in den letzten Tagen seine Mitmenschen massenhaft hingemordet hatte, ließ sein Haupt tief auf die Brust sinken.

»Ich wollte die Leiche beerdigen,« fuhr er dann fort, »sie nicht so in dem losen Sande verscharren. Ich dachte an eine der Höhlen, welche ich auf dieser östlichen Seite, auf der wir uns hier befinden, schon gesehen hatte. Zufällig betrat ich gerade diejenige, welche....wie bist du hierheraufgekommen?«

»Durch diesen Schacht hier, in den Stufen eingehauen sind, und in dem das Seil herabhängt, an das man sich halten kann.

»Ganz genau so war es schon vor acht Jahren. Was sollte ich davon denken? Ich kletterte hinauf. Auch diese Steinhütte war schon hier, diese Kanone, diese Spiegel — alles. Nur von Menschen keine Spur. Ich drehte an der Kurbel, blickte in den Spiegel, und bald war mir alles klar, wozu es diente, und wie man es handhabte. Es ist eine Kanone, die mit Luft schießt. Man braucht nur die Kurbel zu drehen.«

Also der alte Känguruhjäger stand nicht mit den Udlindschis in Verbindung! Denn Nobody glaubte seinen Worten. Ein Zufall nur hatte ihn das finden lassen.

Freilich gab es nun für Nobody erst recht noch vieles zu erforschen.

»Weißt du, wer diese Einrichtungen hier getroffen hat?«

»Du hast keine Ahnung?«

»Nicht die geringste.«

»Sind keine Menschen wieder hierhergekommen?«

»Nie wieder.«

»Woher weißt du das so bestimmt?«

»Siehst du dort den Sand vor dem Eingänge liegen?«

»Ja.«

»Ich trug ihn hierherauf, ordnete ihn ganz unauffällig an. Niemals hat sich eine Spur darin abgedrückt, und ich hätte es auch sofort bemerkt, wenn man versucht hätte, eine Spur zu verwischen.«

In so etwas hatte der alte Felsenjäger Erfahrung, da war ihm zu glauben.

»Wie oft untersuchtest du, ob ein Mensch hier gewesen sei?«

»Aller Vierteljahre.«

»Aller Vierteljahre kamst du hierher?«

»Ja.«

»Nur um diesen Sandkreis zu prüfen, ob ihn ein Mensch betreten habe?«

»Auch noch aus einem anderen Grunde.«

»Aus welchem?«

»Um Gold aus dem Tale zu holen.«

»Also auch du sammeltest Goldkörner auf?«

»Ja. Wenn ich genügend Felle erbeutet hatte, daß sich ein Transport lohnte, und wenn ich meine Munition in Port Hunter ergänzen mußte, begab ich mich stets erst hierher und füllte meine Taschen mit Gold.«

»Was tatest du mit dem Golde? Ich bezweifle, daß du es für dich verwendetest.«

»Und da irrst du dich auch nicht. Ich möchte lieber gar nicht davon sprechen, aber ich bin dein Gefangener, es muß sein. Weißt du, was ich mit dem Gelde immer getan habe, welches ich für meine Felle erhielt?«

»Du überwiesest es Witwen und Waisen.«

»So ist es.«

»In gewissem.Sinne bist du ein sehr edler Mann, nur ein rätselhafter. Und was tatest du mit dem Golde?«

»Ich verwandelte es stets in Sydney in bares Geld und schickte dieses durch die Post nach London an eine Privatarmenkasse, deren Adresse ich zufällig einmal gehört hatte. Deshalb begab ich mich in den letzten Jahren immer nach Sydney, weil ich in dieser großen Stadt das Gold unauffällig verkaufen und das Geld ebenso unauffällig abschicken konnte.«

»Du wolltest nicht erkannt sein?«

»Nein. Man soll die linke Hand nicht wissen lassen, was die rechte gibt.«

»Was für eine Londoner Privatgesellschaft ist das?«

Der Alte nannte die Adresse der wohltätigen Gesellschaft, die schon reichen Segen gestiftet hat. Nobody kannte sie.

»Du fügtest deinen Geldsendungen keinen Namen bei?«

» Niemals.«

»Wieviel Gold nahmst du von hier immer mit?«

»Soviel wie meine Taschen faßten und ich auch sonst tragen konnte. War ich mit meinen Fellen doch schon immer schwer genug belastet.«

»Wieviel erhieltest du für das Gold jedesmal?«

»Im Durchschnitt 1200 Pfund Sterling.«

»Aller Vierteljahre?«

»Aller Vierteljahre.«

»Und wie lange hast du das so gehalten?«

»Acht Jahre lang. Das letztemal habe ich mit der zweiunddreißigsten Sendung gerade 40 000 Pfund Sterling an jene Londoner Assoziation abgeschickt. Es ist dies das erstemal, daß ich zu einem Menschen davon spreche, und ich tue es jetzt nur, weil mich etwas dazu drängt, mich dir gegenüber zu rechtfertigen.«

Ja, es war auch sehr notwendig, daß der alte Jäger solche genaue Angaben machte, damit man ihre Wahrhaftigkeit kontrollieren konnte.

Hatte dieser in Fell gehüllte Mann, der kein Dach mehr sein eigen nannte, im Laufe von acht Jahren fast eine Million für wohltätige Zwecke gestiftet!

In Anbetracht alles dessen aber gab es für Nobody noch viele Rätsel zu lösen. Doch zeigten seine Fragen, daß er sie schon gelöst hatte, nur noch die Richtigkeit der Lösungen prüfen wollte.

»Du betrachtetest das hier im Tale aufgespeicherte Gold als dein Eigentum, welches du nach und nach den Notleidenden zufließen lassen wolltest?«

»So ist es. Du zwingst mich, es jetzt zu sagen.« '

»Du jagtest aber noch immer Känguruhs.«

»Du meinst, warum ich meine Zeit dann nicht ausschließlich der Ausbeutung dieses Goldfeldes widmete? Das sind Ansichten. Ich betrachtete die Känguruhjagd als meinen Beruf, und was ich hierbei verdiente, überwies ich ja ebenfalls den Armen. Das Gold hingegen war für mich nur Nebensache. Ich kam sowieso hier jedesmal vorbei, und da nahm ich immer so viel mit, wie ich ohne Beschwerde tragen konnte. Was mich trieb, so zu handeln, wirst du wohl schwerlich verstehen, und ich kann es dir nicht begreiflich machen.«

Allerdings wäre für die meisten Menschen die Handlungsweise des alten Jägers wohl ganz unverständlich gewesen. Nicht für Nobody.

»Doch, ich verstehe dich. Du hassest das Gold, aber es mußte dir als Mittel zum Zwecke dienen. Auch du hast dir das jesuitische Motiv zur Lebensregel erwählt: Der Zweck heiligt das Mittel.«

»Wie meinst du?«

»Lassen wir das. Du bist ein rätselhafter Mann. Vor allen Dingen also wolltest du nicht, daß dieses Tal mit seinen Goldschätzen den Menschen eröffnet würde.«

»Nein: denn das Gold ist mit einem Fluche beladen und hat den Menschen noch immer nur Fluch gebracht.«

»Nun aber wurde der geheime Weg dennoch entdeckt. Weißt du, woher jener Ned Rossel, der jetzt tot ist, sein Geheimnis hatte?«

»Nein.«

»Hast du ihn hier gesehen?«

»Auch nicht. Es ist mir unbegreiflich. Er muß den Weg eben zufällig gefunden haben. Daß ihm ein Eingeborener ihn gezeigt hat, bezweifle ich. Ich kam gerade aus Sydney zurück, als er von dem Karrikarritale erzählte, um sein Leben zu retten, und aus allem, was er sagte, ward mir klar, daß er wirklich schon hier gewesen sein mußte.«

»Und was tatest du?«

»Mein Entschluß stand fest. Das Gold wenigstens, was ich bisher als mein Geheimnis und als mein Eigentum behütet hatte, sollte nicht, wie gewöhnlich, zum Fluche der Menschen werden. Zuerst wollte ich Ned Rossel niederschießen. Doch wenn er nun Mitwisser hatte? Oder konnte der geheime Weg nicht noch immer von einem anderen gefunden werden? Zum ersten Male drängte sich mir dieser Gedanke mit Macht auf. Da ersann ich ein Mittel. Nicht verbergen konnte ich mein Geheimnis, wohl aber abschrecken, das Tal jemals zu betreten und das Gold aufzulesen. So betrat ich die Redaktionsstube und erzählte Mister Jonas das Märchen von dem mordenden Golde, mit dem Bewußtsein, die Macht zu besitzen, dieses Märchen in Wirklichkeit zu verwandeln.«

»So hattest also du selbst dieses Märchen erfunden?«

»Gewiß.«

»Liegt dem Ganzen nicht wenigstens eine Sage der Eingeborenen zugrunde?«

»Auch nicht.«

»Was bedeutet denn Karrikarri?«

»Wie hier allgemein bekannt ist — Luft, nichts, etwas, was man nicht greifen kann.«

»Also nicht, wenn man es Karrikarriihh ausspricht, mordendes Gold?«

»Nein. Die Australneger haben gar kein Wort für Gold. Das hatte ich alles nur gesagt, um die Goldsucher auf die Schrecken des Todes, mit denen ich selbst sie dort überraschen wollte, vorzubereiten.«

Nobody hätte diesen Mann fast bewundern können. Der war zu gut zum Känguruhjäger, der besaß schon mehr dichterische Phantasie.

»Und nun weiter?«

»Ich eilte der Expedition voraus, um sie an der Luftkanone zu erwarten.«

»Kanntest du denn deren Bedienung?«

»Die ist ganz einfach. Man braucht nur den einen Spiegel ...«

»Das werde ich dann selbst ausprobieren. Jetzt möchte ich von dir erst anderes erfahren. Du kennst doch in dem Tale den Brunnenschacht?«

»Welchen Brunnenschacht?«

»Dort aus der westlichen Seite, nahe dem Felsenrande.«

»Ist denn da ein Brunnen?«

Nobody überzeugte sich, daß der Alte von dem Vorhandensein dieses mit Stufen versehenen Schachtes, unter dem der Delphin lag, wirklich nichts wußte. Der war seiner Untersuchung entgangen, und das war begreiflich, wenn man bedenkt, daß das Tal gegen neun Quadratkilometer umfaßte, und der Spiegel zeigte doch immer nur einen kleinen Teil.

Dann aber mußte die vorige Erzählung des Jägers eine Unwahrheit enthalten, oder ein Fall bedurfte noch einer Erklärung.

»Du sagtest doch, du hättest den Entschluß, die das Tal betretenden Männer mit Gold zu beschießen, erst gefaßt, als du hörtest, wie Ned Rossel sie hierherführen wollte.«

»So ist es auch.«

»Nun sind aber schon vorher, nämlich zwei Tage später, nachdem die Expedition von Port Hunter aufgebrochen, zwei Männer von hier oben aus mit Goldkörnern beschossen worden.«

»Welche zwei Männer?«

»Mein Freund und ich. Wir waren schon vorher hier.«

»Davon hat mir Sardan gar nichts gesagt.«

»Hattest du denn deinen Gefährten angestellt, dies zu tun?«

»Erst nachträglich.«

»Nachträglich? Wie meinst du das?«

»Nun, ich dachte, so sehr ich mich auch beeilen würde, könnten doch noch vor mir Männer das Tal erreichen, ich mußte auch an Gefährten des entsprungenen Sträflings denken, und so ließ ich meine Taube mit einem Schreiben fliegen, welche Sardan befahl, sich an die Kanone zu stellen und auf alles Lebendige, was sich in dem Tale zeigen würde, mit Goldkörnern zu schießen.«

Dies gab allerdings eine vollständige Erklärung.

»Ah, du hast mit deinem Begleiter eine Brieftaubenpost eingerichtet?«

»Wenn ich nach Sydney und Port Hunter gehe, nehme ich aus unserer Hütte stets eine Taube mit, und ich habe den Australneger das Schreiben gelehrt, wie er überhaupt ein ganz intelligenter Mensch ist. — Ach, wie sehr hat er mein Vertrauen getäuscht!« setzte der Alte seufzend hinzu.

»So hat er dir also nicht gesagt, daß er schon zwei Männer im Tale gesehen und sie beschossen hatte?«

»Nein, kein Wort davon.«

»Er mag es vergessen haben oder hatte einen Grund, es dir zu verheimlichen, weil wir dem goldenen Hagel zu trotzen wußten.«

»Auf welche Weise?«

»Indem wir Schilde über uns hielten.«

»Aus Eisen oder Stahl? Ich habe es ausprobiert, daß die schweren Goldkörner, aus solcher Höhe kommend, selbst zolldicke Stahlplatten durchschlagen.«

Nobody gab keine Erklärung, er war der Examinator, der Richter.

»Also auch Sardan konnte die Luftkanone handhaben?«

»So gut wie ich, und es ist ja auch so einfach.«

»Wer schoß nun zwischen die Reihen der Goldsucher, als sie schon sämtlich, wenigstens die vom ersten Trupp, das Tal betreten hatten?«

»Das war ich,« erklang es in aller Seelenruhe, »ich war einen Tag eher hier eingetroffen und stand schon auf meinem Posten.«

Eine Pause trat ein. Nobody hing seinen grübelnden Gedanken nach.

»Mann, Mensch,« sagte er dann leise, »du, der du dein Leben den Notleidenden gewidmet hast, der du von wahrhafter Frömmigkeit durchdrungen zu sein scheinst — du bist solch eines Massenmordes fähig?«

Da trat auf den hageren Zügen des Alten wieder jene grausame Energie hervor.

»Bah, wer einmal vom Goldfieber erfaßt ist, der ist ja gar kein Mensch mehr, und ich wollte gleich das erstemal das blutigste Exempel statuieren, um ein für allemal vom Betreten des Tales abzuschrecken.«

»Und ist dir dies denn etwa gelungen?«

Da ließ der Alte wiederum sein Haupt tief auf die Brust sinken, und ein qualvolles stöhnen entwand sich dieser.

Mitleid, aufrichtiges Mitleid war es, mit dem Nobody auf den alten Mann blickte. Allerdings war nur Nobody solch eines Mitleids fähig, eben deshalb, weil auch er nur gleich alle die seltsamen Beweggründe zu solchen sich widersprechenden Handlungsweisen begriff.

Der Zweck heiligt die Mittel — das war der erste Beweggrund, nach dem dieser Mann handelte.

Gewiß, wenn der Zweck edel ist, so kann sich eine einwandfreie Hand sogar unedler Mittel bedienen. Das trifft schon bei der Rute der Eltern zu, welche das unartige Kind züchtigt, um aus ihm einen brauchbaren Menschen zu erziehen. Sobald aber der Vater oder die Mutter sich dabei vom Jähzorn hinreißen läßt, wird auch schon die Rute ein Instrument der ungerechtfertigten Mißhandlung und dient dann nur zur Befriedigung des eigenen Triebes, eines unlauteren, unedlen.

Bei diesem alten Manne war der Hauptentschuldigungsgrund — wenigstens in den Augen Nobodys — der, daß er nur ganz subjektiv zu urteilen verstand, nicht objektiv. Weil er selbst das Gold verachtete, mußte das rote Metall auch für alle anderen Menschen verächtlich sein, und wer danach strebte, war selbst ein verächtlicher Mensch, dessen Tod wenig galt — am allerwenigsten, wenn es sich darum handelte, andere Menschen von dem mühelosen Erwerb dieses Goldes zurückzuhalten. Und Tatsache ist es nun allerdings, daß solch gefundenes Gold noch nie einen direkten Segen gestiftet hat. Aller Besitz muß durch Fleiß und Schweiß erworben sein, sonst ist kein Segen daran — das ist ein moralisches Naturgesetz.

So war der alte Mann, ein Opfer seiner Begriffsverwirrungen, trotz all seiner edlen Gesinnung und trotz der aufrichtigsten Gottesfurcht zum vielfachen Mörder geworden, ohne daß ihm irgendwelche Gewissensskrupel aufstiegen.

Jetzt schmetterte ihn nur die Erkenntnis nieder, daß dies alles umsonst gewesen war. Er hatte eben die Menschen ganz falsch, nur nach sich selbst beurteilt.

Wer wollte ihn richten? Nobody fühlte sich nicht dazu berufen.

Und wer verurteilt denn den Fürsten, den Feldherrn. der die Truppen zum Kampfe gegen den Feind anführt? Es ist nicht einmal nötig, daß dieser das Vaterland bedroht.

Wenn der Feldherr unterliegt, dann freilich ist schnell der Stab über ihn gebrochen.

Kreuzige, kreuzige ihn!! Es ist und wird vom Volke immer gerufen werden!

Du sollst nicht töten! Mit ehernen Worten steht es geschrieben, nicht mißzudeuten. Und wird nicht auf beiden Seiten des Schlachtfeldes Gott inbrünstig um den Sieg der ›gerechten Sache‹ gebeten?

Wer will richten? —

Im Osten begann es zu dämmern.

»Armer Mann, du tust mir leid.«

Nobody bückte sich und löste die Fesseln an Händen und Füßen.

Der Alte stand auf und reckte die steifgewordenen Glieder.

»Du erweisest mir Erbarmen, das ich ... Sardan!!« unterbrach er sich mit einem Schreckensschrei.

Dort floh mit weiten Sätzen der Eingeborene davon, der sich seiner Fesseln entledigt hatte, bei seiner Flucht das an der Wand lehnende Gewehr des Alten mitnehmend.

Schon hatte Nobody den Revolver in der Hand.

»Steh, oder ich ... .«

Der Flüchtling stand, wandte sich um, die lange Büchse hochgerissen — ein Doppelknall, aus einem Gewehr und aus einem Revolver kommend, und zwei Menschen brachen zusammen — Sardan und der alte Jäger, der sich in demselben Augenblick vor Nobody geworfen hatte. Er hatte die Kugel aufgefangen, die sonst mit unfehlbarer Sicherheit Nobodys Brust durchbohrt hätte.

Das Opfer war ein vollkommenes gewesen.

»Gott sei mir Sünder gnädig,« röchelte noch einmal der mit Blutschaum bedeckte Mund.

»Amen,« sagte Nobody und drückte dem Toten die Augen zu. »Gut für ihn und nicht minder für mich, daß es so gekommen ist. Das erspart mir viel Arbeit.«

Um den Eingeborenen kümmerte er sich gar nicht. Er wußte, daß seine Revolverkugel ihn zwischen die Augen getroffen hatte. War es doch das erstemal, daß sich jemand der Banden, die Nobody geschlungen, hatte entledigen können.

Da zeigte sich, daß die Riemen, welche die Hände gefesselt hatten, völlig unverletzt und die Knoten unberührt waren. Dann gehörte eben dieser Australneger zu den seltenen Menschen, welche ihre Hände schmäler als das Handgelenk machen können, diese sind auf solche Weise nicht zu fesseln, und dann hatte er ja ohne Mühe die Lederriemen an den Füßen aufknüpfen können.

Nobody legte die beiden Toten in einen Felsenspalt und bedeckte sie mit schweren Steinen. Dann untersuchte er das pneumatische Geschütz.

Seine Vermutung bestätigte sich. Die Zielvorrichtung war eine ähnliche wie die Bremsvorrichtung in dem Unterseeboote, sie wirkte selbsttätig durch einen Brennspiegel.

Als Nobody das Tal durchquerte, um Scott zu holen, wimmelte dasselbe bereits von Goldsuchern. Wohl blickten sie immer ängstlich nach dem Himmel, aber da der goldene Regen heute noch keinen der ersten Wagemutigen getroffen hatte, war einer nach dem ändern aus dem schützenden Schachte hervorgekrochen.

Gold, Gold, Gold!!! Es hat doch einen merkwürdigen Klang, es ist ein Zauberwort.

In der Nacht schafften die beiden das Geschütz herab und verschwanden in dem Brunnenschacht, um nicht sobald wieder dieses Tal zu betreten.

 

—————

 

 

VI.
Im Reiche Snorri Sturlusons.

 

»Wohin nun?«

»Wir verfolgen den unterirdischen Wassertunnel bis an sein Ende, das mit einem ausnahmsweise großen roten Fleck bezeichnet ist.«

Alsbald wurde die nach Nordwesten führende Fahrt angetreten.

Nobody sagte nicht, daß dieser rote Fleck, mitten im Zentrum Australiens, gerade auf der Stelle lag, welche Scott in seinem auf hypnotischen Befehl hervorgerufenen Hellsehen als den Ort bezeichnet hatte, wo er seine Agathe wiederfinden würde. Nobody hatte überhaupt noch kein Wort verloren über den seltsamen Zustand, in welchen Scott damals gerade geraten war; dieser glaubte nicht anders, als es sei alles ganz natürlich zugegangen, er sei eben durch hypnotischen Befehl hellsehend geworden und habe nun auch den vermißten Jochen geschaut, um ihm zu Hilfe eilen zu können — nichts weiter.

Agathe, die delherrah Fatme des afrikanischen Wüstenbrunnens, jetzt im Zentrum Australiens! O wundersame Verkettungen des Schicksals!

Denn Nobody zweifelte nicht, daß man sie dort wirklich finden würde! In Sachen seines Freundes zweifelte er überhaupt an gar nichts mehr, es wäre geradezu ein Verbrechen oder doch eine Torheit gewesen.

Wie sah es dort aus, bis wohin der Herr der Erde vorgedrungen war, um die Endstation mit so einem großen Punkt in roter Farbe zu bezeichnen?

Die Landkarte zeigte einen weißen Fleck — unerforscht. Und gerade dort waren durch punktierte Linien Gebirge und auch ein Flußlauf angedeutet worden.

Zufällig hatte Nobody eine andere Landkarte in die Hand bekommen. Als er die neueste aufschlug, die letzten Forschungsreisen enthaltend, da zeigte sich der seltsame Fall, daß einer der letzten Forscher, ein Engländer namens Jerome Lany, gerade durch diese Gegend gekommen war, aber jene Gebirge und den Flußlauf hatte er nicht mehr gefunden.

Auf dieser neuesten, genauesten Karte zeigte Australien wiederum eine unschuldige Weiße.

Ja, so ist es! Man bedenke doch nur immer: ein Forschungsreisender kann einige Kilometer links und einige Kilometer rechts von seinem Wege die Gegend überblicken, mehr sieht er nicht! Wollte er die Gegend richtig erforschen, so müßte er das ganze Gebiet streifenweise in Kilometern abschreiten, und das ist eine Aufgabe, welche nur Hunderte von Menschen im Laufe der Jahrhunderte bewältigen können.

Ferner bedenke man, wie oft man mitten im Gebirge nichts von Bergen sieht, sie sind von Wolken, von Nebel verhüllt, schon ein Regenwetter verändert die ganze Gegend, wie man andererseits oft eine Wolkenwand für ein Gebirge halten kann — und man wird die Unsicherheit in dergleichen Bestimmungen, wie einer ein Gebirge gesehen haben will, während es ein anderer wieder wegleugnet, begreiflich finden.

Rund 350 geographische Meilen waren es bis dorthin, die auf der Karte genau verzeichneten Krümmungen mit eingerechnet.

Wenn man mit sehr mäßiger Geschwindigkeit fuhr, in der Stunde nur sechs Knoten, so konnte man schon in zehn Tagen dort sein — vorausgesetzt, daß man immer fahren konnte, woran zu zweifeln Nobody allen Grund hatte.

Die unterirdische Wasserader war, wie sich schon bisher gezeigt, mehr einem Wasserrohre denn einem Tunnel vergleichbar.

Vor allen Dingen war sie immer vollständig mit Wasser gefüllt, das unter einem gewissen und stets schwankenden atmosphärischen Drucke stand. Und unter einem Tunnel versteht man doch mehr einen gleichmäßig verlaufenden Schacht. Das war aber hier durchaus nicht der Fall. Abgesehen von den seitlichen Krümmungen lief der Kanal auch bergab und bergauf, er stieg bis zu Tiefen von Hunderten von Metern hinab und ging dann wieder hinauf, und so glich das Ganze eben mehr einem in der Erde mit Krümmungen liegenden Wasserrohre.

Daß solch ein Wasserlauf für die Menschheit als Verkehrsweg niemals in Betracht kommen kann, ist wohl begreiflich. Solcher unterirdischen Wasserläufe haben wir ja überhaupt überall, auch ganz Deutschland ist mit ihnen durchzogen, die Geologen und Wasserbauingenieure kennen diese Läufe ziemlich genau, das sind ja eben die Wasseradern, welche die Quellen und die Brunnen speisen, wenigstens die sogenannten artesischen Brunnen.

Also es sei nochmals betont: diese unterirdische Wasserader, die sich durch ganz Australien hinzog, auch noch zahllose Zweigläufe habend, das war durchaus nichts Wunderbares! Jeder Reisende kann von den schrecklichen Überschwemmungen erzählen, von denen das wüste Innere Australiens jedes Jahr heimgesucht wird, dabei von Flüssen gar keine Spur, und wohin soll denn da das Regenwasser kommen? Irgendwohin muß es doch ablaufen!

Nicht einmal die Mächtigkeit dieser Wasserader war eine bedeutende. Man sehe sich nur eine hydrogeologische Karte von Deutschland an. Was das z. B. für eine unterirdische Wasserader ist, die von den Alpen nach Westpreußen läuft! Da kann ein Kriegsschiff mit voller Takelage gleich direkt bis in die Alpen hineinfahren!

Aber ein unterseeisches müßte es sein, und noch ein ganz anderes, als wir es jetzt haben, da müssen erst noch ganz andere Probleme gelöst werden, besonders auch das der Ergänzung der Luft.

Kommen wird es noch einmal so weit! Unbedingt! Das Unterseeboot ist ja kaum erfunden worden. Es mag jetzt ungefähr Dräsens hölzernem Fahrrad gleichen im Gegensatz zum modernen Bicycle oder gar zum Automobil.

Aber wenn dieses Unterseeboot auch solch eine Vollkommenheit erreichen wird, wie es hier ein einzelner Mensch für sich selbst schon angefertigt hatte, — als Verkehrsstraßen werden diese unterirdischen Wasserläufe doch niemals eine Verwendung erlangen.

Die Bedeutung der gestrichelten Linien kannten die unterirdischen Flußschiffer nun schon. Dann stieg die Röhre so hoch empor, daß oben noch ein freier, mit Luft angefüllter Raum war, das Wasser füllte hier die Tunnel also nicht vollkommen aus.

Dann kam auch die strichpunktierte Linie hinzu. Da war stets eine natürliche Galerie vorhanden oder sonst ein Vorsprung, den man trockenen Fußes betreten konnte, welche Gelegenheit stets benutzt wurde, um die in dem engen Gefängnis steif gewordenen Glieder zu recken.

Achtzig geographische Meilen vor jener rotmarkierten Endstation nun ging eine strichpunktierte Linie sogar in einfache Punkte über, und das war etwas Neues.

Was hatten die bloßen Punkte zu bedeuten?

»Mich erfüllt eine trübe Ahnung,« sagte Nobody. »Wenn Striche und Punkte Decke und ein Streifen trockenes Land bedeuten, so werden bloß Punkte wohl nur Land sein. Mit anderen Worten: dort, wo die punktierte Linie beginnt, werden wir wohl den Delphin verlassen müssen, die Wasserstraße hat ein Ende, wir werden die letzten achtzig deutsche Meilen zu Fuße machen müssen. Eine nette Aussicht!«

»Wie soll das Wasser plötzlich aufhören? Es muß doch irgendwo herkommen?«

»Ja, von unten oder von oben. Dieser Zufluß aber ist, dieser so genauen Karte nach zu urteilen, nicht mehr befahrbar. Sonst wäre das doch auch angegeben. Nun, wir werden ja sehen. So betrübt bin ich ja darüber auch gar nicht, es wird vielmehr sehr interessant werden, einmal eine tagelange Fußwanderung unter der Erde zu machen.«

Eintönig schlichen die Tage und Nächte dahin, gleichmäßig von Finsternis umhüllt, von dem ausstrahlenden Licht des Delphins erhellt.

Die Gefahren der Reise waren gering. Scharfe Ecken gab es nicht mehr, sie waren im Laufe der Jahrtausende vom waschenden Wasser abgerundet worden, und der kleinste stehengebliebene Vorsprung wie jede andere Gefahr war aus der Karte peinlich genau mit einem Kreuze verzeichnet.

Die Wände bestanden aus Gestein aller Art, große Metalladern, nur kein Gold. Das Gold scheint in Australien nur direkt an der Erdoberfläche vorzukommen, so daß man wirklich an das ›vom Himmel herabfallen‹ glauben möchte.

Anders wurde es, wenn sich am Grunde des Wasserlaufes eine natürliche Barriere befand, besonders wenn noch eine Ecke hinzukam. Hier fand man stets Gold, das sich abgelagert hatte, als Staub, als Körner, in ganzen Blöcken.

Doch was war ihnen das gleißende Metall? Ach, wenn sich doch solch eine rote Goldader, die sich

lang über den Boden hinzog, in einen lachenden Sonnenstrahl verwandelt hätte!

Nobody dachte lebhaft an die alten Alchimisten, welche das Gold — wenigstens nach der einen Theorie — für erstarrte Sonnenstrahlen hielten, welche deshalb Sonnenstrahlen auffingen und vergruben, die sich aber erst nach Jahrtausenden in Gold verwandeln würden. In Viktor Hugos Roman ›Notre Dame‹ ist das sehr hübsch beschrieben.

Durch Ringe in allen Farben waren genug nach oben führende Schächte angedeutet, wie freute man sich, die Sonne wieder einmal zu sehen — aber wenn man hinkam, so fand man keinen, keine Andeutung davon.

Was hatte das zu bedeuten? Weshalb da der eingezeichnete Kreis?

Durch Schlußfolgerungen aus dem Vergleiche mit anderen Zeichen war das zu erklären.

Alle diese Kreise waren nur mit punktierten Linien eingetragen, und das sollte heißen: hier ist eine Stelle, wo ein Schacht nach oben gebrochen werden könnte!

Als man an eine Stelle kam, die mit einem strichpunktierten Ringe bezeichnet war, erwies sich auch die Richtigkeit dieser Mutmaßung. Hier hatte man nämlich begonnen, einen Schacht nach oben zu treiben, aber die Arbeit war wieder liegengelassen worden.

Als nun der nächste Schacht gestrichelt war wußte Nobody schon die Bedeutung dieser Striche — und richtig, es war wirklich ein offener Schacht vorhanden, aber ohne Vorrichtung, ihn zu erklimmen, auch zu weit, um sich gegen die Wände zu stemmen.

Es war Nacht, als man ihn erreichte, der Himmel wolkenbedeckt, nur einen einzigen Stern sah man, er wirkte auf die unterirdischen Flußschiffer wie der Stern des Heils, sie konnten sich von seinem Anblick nicht losreißen, bis es doch endlich geschehen mußte.

»Morgen früh werden wir dafür die Sonne schauen,« tröstete Nobody, »und zwar selbst an der Oberfläche der Erde stehend, oder all meine Berechnungen täuschen.«

Es war nämlich ein mit voller Linie eingetragener Kreis, den sie morgen während der Fahrt in strichpunktiert angegebenem Tunnel erreichen würden.

Nobody hatte sich denn auch nicht getäuscht. Am anderen Tage, am fünften der Abfahrt von Karrikarri, lachte von oben herab die Sonne auf sie hernieder, und der Schacht war mit eingehauenen Stufen versehen, bequem zu erklimmen, man konnte im Tunnel selbst trockenes Land betreten, denn eine Galerie war vorhanden, und Nobody brauchte kein ›Freiwillige vor‹ zu kommandieren.

Ein Wettklimmen entstand, obgleich keiner an dem anderen vorbeikonnte, und nur im letzten Augenblicke konnte sich Nobody bezähmen, daß er erst vorsichtig den Kopf zur Schachtöffnung hinaussteckte.

Die Vorsicht war nicht nötig. Eine gelbe Sandfläche, bestanden mit dem in einzelnen Büscheln wachsenden Ischi-Gras.

Da lebende Wesen — Känguruhs! Ihr Frieden war bereits gestört; deshalb brauchten sie den Menschen noch nicht zu kennen, daß sie vor ihm flohen, das auf zwei Beinen gehende Geschöpf ist und bleibt für jedes Tier ein Ungeheuer, auch für das stärkste Raubtier, bis es die Schwäche des Menschen kennen gelernt hat — sie flohen in weiten Sprüngen davon.

Da knallte Nobodys Revolver, der letzte Flüchtling stürzte und blieb liegen.

Wie gesagt, es muß bei Nobody betont werden, der auch nicht wollte, daß man auf den so zutraulichen Seelöwen schoß: er hatte den Frieden der Schöpfung nicht gestört — und hier lag doch ein etwas anderer Fall vor.

Die Jagdbeute wurde ausgeweidet, aber nicht erst hinuntergeschafft, um im elektrischen Kochtopf zubereitet zu werden. Weiter fehlte nichts!

Gleich hier oben unter Gottes freiem Himmel, im herrlichen Sonnenscheine wurde ein Feuer angezündet, das harte, trockene Gras gab reichliche Nahrung, und daß man so häufig nachwerfen mußte, machte ja gerade Vergnügen.

»Ein Feuer, endlich wieder einmal ein richtiges Feuer!!« jubelten die beiden Matrosen.

Die saftigsten Stücke wurden gebraten, der abgezogene Schwanz in eine mit Wasser gefüllte Blechbüchse gelegt und aufs Feuer gesetzt.

»Ach, Känguruhschwanzsuppe, mein Leibgericht!!« jauchzte Jochen Puttfarken, sich mit seiner gummiartigen Zunge über die ganze Nase leckend.

»Hast du denn die schon so oft gegessen?«

»Ich? Nee. Noch gar nicht. Eben deshalb bin ich so erpicht darauf.«

Nun, sie schmeckte gut.

Und den Speisenden kam eine Erkenntnis.

Mag die chemische Herstellung des Eiweißes ein Gemeingut der Menschheit werden, mag man alle Gewürze und andere Präparate erfinden, um dem Eiweiß in den verschiedensten Zubereitungen den verschiedensten Geschmack zu geben — ein saftiges Beefsteak kann doch niemals ersetzt werden, noch weniger eine gute Bouillonsuppe mit Spargel, Blumenkohl und Klößchen, noch weniger Leipziger Allerlei mit Krebsnasen, nicht einmal ein Maatjeshering mit neuen Kartoffeln.

Und dies alles will mit dem Schweiße der Menschen gedüngt und von schwieliger Hand geerntet werden — und so wird es auf dieser Erde in alle Ewigkeit bleiben, so lange sich jemand noch nach Maatjeshering mit Pellkartoffeln sehnt!!

»Ja ja, nee nee, so ist's,« stimmte Anok diesen Ausführungen Nobodys bei, während sich Jochen begnügte, noch einmal über seine Nase zu lecken — und in Ermangelung eines Taschentuches hatte er das auch gerade sehr nötig gehabt.

Dann nahmen sie ein Sonnenbad, nicht liegend, sondern laufend, bis ihnen der Schweiß vom Körper triefte, und dann stiegen sie wieder hinab in den finsteren Orkus.

»Morgen erreichen wir einen See,« sagte Nobody, dies von der Karte ablesen könnend.

Es gibt ja genug unterirdische Seen, in Höhlen, in Bergwerken — aber solch ein Naturgebilde wie dieses hier, hatte noch kein anderer sterblicher Mensch gesehen, mit Ausnahme seines Entdeckers und derer, die bei ihm gewesen, die diese Fahrt vielleicht schon öfters gemacht hatten.

Doch diese, die ›Udlindschis‹, konnte man ja kaum zu der allgemeinen Menschheit rechnen, sie standen durch ihre Abhängigkeit zu jenem rätselhaften Manne ganz außerhalb derselben.

Der schwarze, unheimliche Wasserspiegel nahm viele Quadratkilometer ein. Ringsumher war er von einer Galerie umgeben, wie eine solche auch an der Erdoberfläche die Natur überall zu bilden liebt, wo Wasser an steinigem Geländer spült. Es mag dies mit periodenweisen Erdumwälzungen zusammenhängen, und als die kleinste dieser Perioden kann man auch die täglich wiederkehrende Ebbe und Flut betrachten.

Der Wasserspiegel lag, wie das Manometer anzeigte, wie auch auf der Karte angegeben, noch einige Meter unter der Meeresoberfläche, danach mußte ein atmosphärischer Luftdruck darüber lasten.

Für die Lungen und für den ganzen Körper war dieser Luftdruck nicht besonders empfindlich, sie konnten sich ganz gut im Freien bewegen. Dagegen würden sie nicht mehr im Skaphander bis zu vierzig Meter Tiefe hinabtauchen können.

Das hatten sie ja auch nicht nötig, sie konnten im Delphin bleiben, der noch ganz andere Tiefen abhielt als die wenigen hundert Meter, welche auf der Karte angegeben waren.

Sie ließen das Unterseeboot an einer der tiefsten Stellen hinab, in der Erwartung, auch hier nichts zu sehen, so wenig wie bisher in dem Wassertunnel, keine Pflanze, kein lebendiges Wesen.

Allerdings war die Wasserröhre bisher nirgends besonders tief gewesen, das lag in der Natur der Sache, um so weniger konnten sie aber in einer größeren Tiefe Vegetation und eine Tierwelt erhoffen.

So wollten sie gewissermaßen nur eine Pflicht erfüllen, wenn sie solch eine Tiefe nicht ununtersucht ließen, um dann ihre Fahrt gleich fortzusetzen.

Doch sie sollten eine große Ueberraschung erleben.

Tiefer und tiefer sank der Delphin, mit seinem Lichte das scheinbar so schwarze Wasser klar durchdringend.

Da berührte er den Grund, und seine Insassen stießen Rufe des Staunens aus.

Der Grund war über und über mit Knochen bedeckt, zum Teil lagen sie auch noch im Zusammenhang, die einstige Körperform erkennen lassend, und es waren meist riesenhafte Saurier gewesen, von denen die bekannteste Form der Ichthiosaurus ist, der sie angehört hatten, Eidechsen, Krokodile, gegen welche aber die heutigen Zwerge sind.

Nobody und Scott wurden sich schnell darüber einig, daß diese Wasserungeheuer nicht einst hier unter der Erde gelebt hatten, sondern sie waren auf irgendeine Weise von der Erdoberfläche hier herunter in diesen See gekommen; vielleicht hatte sich einmal der ganze See gesenkt und über ihm hatte sich die Erdrinde, damals vielleicht noch weich, wieder geschlossen.

Dies zeigten dann auch andere Gerippe an, welche man nach und nach entdeckte, von Tieren, welche unbedingt an der trockenen Erdoberfläche gelebt haben mußten: unter anderem das ausgestorbene Riesenkänguruh, von drei Meter Höhe, und ferner auch ein ungeheuerer, straußähnlicher Vogel, das Riesenkänguruh noch weit überragend, welcher Vogel als Emu in kleinerer Ausgabe noch heute die einsamsten Wüsten Australiens bevölkert.

Hierbei sei bemerkt, daß das Känguruh vor der Eiszeit auch in Europa häufig gewesen ist, wie die Knochenfunde beweisen. Doch die Höhe des noch heute in Australien lebenden Riesenkänguruhs von anderthalb Meter Größe, auf den Hinterfüßen kauernd, hat es nicht erreicht, und so sind nun wieder die fossilen Känguruhs Australiens noch ganz andere Riesen gewesen.

Daß sonst auf dem Grunde des Tunnels keine Gebeine gefunden wurden, daran mochte die Strömung schuld sein, die alles fortgespült hatte — immer mit Jahrtausenden zu rechnen — hier in dem tiefen See dagegen hatte sich alles angehäuft.

Es war eine Fundgrube für einen Geologen, der sich mit der Urwelt beschäftigt. Auch ohne hierin speziell bewandert zu sein, erkannte man ohne Mühe die riesenhafte Flugeidechse und andere Ungeheuer, die jetzt nur noch in zwerghaften Verkleinerungen existieren, oder auch gar nicht mehr — doch das glaubten die beiden, die schon manches Museum besucht hatten, konstatieren zu können, daß sie hier auch nichts Neues sahen, nichts des Mitnehmens wertes, höchstens zu Hause für die Privatsammlung — unsere naturwissenschaftlichen Geologen haben in letzter Zeit eben einen ameisenartigen Fleiß im Durchwühlen der Erde an den Tag gelegt; jetzt gibt es wohl schwerlich noch ihnen unbekannte Tiergestalten einer vergangenen Zeit. Es kommt nur darauf an, immer bessere, vollständigere Gerippe zu erhalten.

»Da — da — was ist das?«

Nobody hatte den Lichtschein verstärkt, und jetzt sah auch er das fabelhafte Ungeheuer, eine riesenhafte Spinne, mindestens drei Meter hoch, nicht zusammengebrochen wie alle anderen Gerippe, sondern in dieser Höhe aufrecht stehend!

»Hier hält die Haut, oder was sonst die Knochen umgibt, aufrecht, das ganze Tier ist zu einer Kruste zusammengetrocknet.«

»Kennst du solch eine vorsündflutliche Spinne?«

Nein, so etwas hatte Nobody noch in keinem Museum gesehen, noch nichts davon gehört.

Der Delphin hob sich und schwebte näher.

Es war ein schauderhaftes Ungetüm. Eine Kreuzspinne in tausendfacher Vergrößerung, und solch eine vergrößerte Spinne, gezeichnet oder auch durch Lichtvergrößerung an die Wand geworfen, sieht schauderhaft aus. Der Rachen starrt von furchtbaren Zähnen, diese mit Borsten besetzten Greifwerkzeuge, diese für die dürren Beine ungeheuren Muskeln — und dies alles hier in handgreiflicher Wirklichkeit, nur tot.

»Herrgott, wenn das Biest jetzt lebendig würde und uns in seine Arme nähme, da wäre unser Delphin futsch und wir mit!«

So flüsterte Jochen, und er hatte recht. Anok gab diesmal nur ein ›Ja ja‹ hinzu, das ›Nee nee‹ blieb ihm vor Grauen im Halse stecken.

»Das ist etwas Neues, das müssen wir unbedingt mitnehmen,« sagte Nobody und ließ den Delphin noch näher schweben.

Da, noch nicht einmal eine Berührung, nur eine leichte Wasserwelle, und das Ungetüm brach in sich zusammen, es lagen nur noch graue Stangen und Stängelchen umher, welche aber von dem Greifwerkzeug des Delphins gar nicht gefaßt werden konnten, sie brachen ebenfalls, zerfielen in lauter kleine Stückchen.

Auch diese fossile Spinne hatte kein Knochengerippe gehabt. Ihre Haut war nur zusammengetrocknet, diese mochte an sich schon sehr hart gewesen sein, um den ganzen Aufbau zu halten. Gewissermaßen äußere Knochen, wie bei den Käfern. Aber diese harte Haut konnte nicht wie die Knochen dem Einfluß der Zeit widerstehen, bei der geringsten Berührung, schon bei einem Hauche brach alles zusammen.

So werden wir von solchen knochenlosen Tieren, die früher existiert haben, auch niemals Kunde erlangen, sie konnten nicht einmal Abdrücke hinterlassen.

Nun liegt eine Frage sehr nahe. Die Möglichkeit der Existenz von ungeheuren Polypen oder Kraken bestreitet auch Brehm nicht. Er selbst hat bei Nizza eine Krake von drei Meter Länge mit fünfzig Pfund Gewicht am Angelköder gefangen, und die Angabe des Kapitäns Bouyer vom französischen Kriegsschiff ›Alecton‹ und seiner gesamten Mannschaft, die am 30. November 1861 zwischen Teneriffa und Madeira einen Kraken von sechs Meter Länge mit Armen von 18 Meter Spannweite sahen, ist nicht anzuzweifeln.

Und was für ungeheure Kraken mag nun die Tiefe des Meeres noch bergen? Also selbst der nüchterne und so überaus gewissenhafte Brehm ist durch seinen eigenen Fang, den er nach der Schilderung eines anderen für ein Märchen gehalten hätte, gläubig geworden.

Da sich aber nun in den Urzeiten der Erde die Schöpfung in viel riesenhafteren Formen gefiel, was mag sie da bei solchen wirbellosen Tieren, die für uns noch heute sagenhafte Ungeheuer sind, geschaffen haben?

Eben infolge der Wirbellosigkeit ist uns nichts erhalten worden, nicht einmal ein Abdruck — da können wir uns gar nichts träumen lassen.

Jetzt, da die furchtbare Riesenspinne zusammengebrochen, war es auch für diese vier so gut wie ein Traum gewesen.

»Da oben sitzt noch eine!«

Der Grund des Sees war nicht eben, er enthielt Täler und Hügel, und auf einem solchen sah man noch solch eine Riesenspinne aufrecht stehen, jene an Größe vielleicht noch übertreffend.

»Ich möchte sie zu gern mitnehmen,« sagte Nobody, als er sich ans Steuer setzte. »Wenn ich nur wüßte, wie sie zu konservieren wäre. Nicht einmal einen Photographenapparat besitze ich. Ich will so nahe wie möglich heran und sie abzeichnen.«

Vorsichtig dirigierte er den Delphin in ihre Nähe, verstärkte das Licht und begann zu zeichnen.

Einige Minuten vergingen. Dann änderte Nobody etwas die Stellung des schwebenden Delphins, um das Tier von einer anderen Seite zu betrachten, mehr von vorn.

»Das Luder lebt!!« schrie da plötzlich Jochen.

»Ach wo.«

»Ja ja, nee nee, es hat mit den Zähnen geklappert!«

»Eine Täuschung. Hast du irgend etwas bemerkt, Edward?«

»Ich habe nicht hingesehen.«

»Nu, weiß Gott, es hat den Rachen auf- und zugeklappt, aber noch ganz anders, als wie es Mr. Mojan machen kann!« beteuerte Jochen, und Anok wollte das Gleiche gesehen haben.

»Sollten sich die Kiemenbänder beweglich erhalten haben?« meinte Nobody. »Das ist doch kaum . . . alle Wetter!!!«

Plötzlich erhob sich das Ungeheuer etwas, bewegte die langen, dürren Beine, klappte den Rachen mit den furchtbaren Zähnen auf und zu und senkte sich wieder, wie vorhin stehend.

Jetzt war es kein Zweifel mehr — dieses Ueberbleibsel einer sagenhaften Vorzeit lebte noch!!

Und der Anblick war ein derartig schreckhafter gewesen, daß Nobody unwillkürlich den Hebel gedreht hatte, wodurch der Delphin zurückging — und da setzte auch die Riesenspinne wieder ihre Krallenfüße in Bewegung, diesmal sie aber am Boden lassend, und so kroch sie dem langsam zurückweichenden Delphin nach, dabei immer die schrecklichen Bewegungen mit dem zähnestarrenden Maule machend.

Doch das Hügelplateau, auf dem sie gestanden, war nur klein, bald kam sie an den Rand — schadete nichts, mit denselben Gehbewegungen der Spinnenfüße konnte sie auch schwimmen, und so folgte sie noch immer dem zurückweichenden Delphin nach, den sie für eine gute Beute halten mochte.

Der Schreck der vier Männer war begreiflich. Mochten sie sonst auch noch so furchtlos sein, so muß man doch bedenken, daß es ein vorsündflutliches Ungeheuer war, von dem sie noch nicht einmal etwas gehört, sich nichts hatten träumen lassen, und nun sahen sie es plötzlich vor sich, und die Riesenspinne, die sie schon seit Jahrtausenden für tot gehalten, bekam, anstatt wie die andere schon vom Wellenschlag in Staub zusammenzufallen, nun plötzlich Leben, wollte in feindlicher Absicht auf sie los!!

Sie wären keine Menschen gewesen, wäre ihnen nicht der kalte Todesschreck den Rücken herabgerieselt.

Doch nur einen Augenblick, dann hatte Nobody mit klaren Augen die Sachlage erfaßt.

»Wir haben nichts zu fürchten, dem eisernen Delphin kann sie nichts anhaben,« sagte er, das Boot wieder zum Stillstand bringend.

»Allerdings ist ihr der Delphin, den sie offenbar für einen lebendigen hält, an Körpermasse bedeutend überlegen,« meinte Scott, ebenfalls seinen ersten Schreck schnell überwunden habend; »aber ihr feindliches Vorgehen beweist, daß sie sich auch einem größeren Gegner gewachsen fühlt.«

»Sie wird giftig sein, wie alle Spinnen,« sagte Anok.

»Die Spinnen sind überhaupt nicht giftig, das ist nur ein Märchen,« wurde er von Jochen belehrt.

»Doch, Anok hat ganz recht,« kam aber Nobody diesem zu Hilfe. »Wohl sind die meisten uns bekannten Spinnen giftig, sie beißen ihr Opfer und entleeren gleichzeitig aus einem Drüsensack in die Bißwunde einen Saft, welcher das Opfer betäubt, d. h. eine Fliege, die Vogelspinne kann auf diese Weise wohl auch einen kleinen Vogel betäuben, doch auf ein größeres Tier übt die minimale Menge Gift gar keine Wirkung mehr aus. Bei dieser Riesenspinne dürfte es anders sein, und eben ihr Losgehen auf den viel größeren Fisch beweist, daß sie sich ihres giftigen Bisses bewußt ist. Nun, an den Platten, die einer Hartgußgranate spotten, wird sie ihre Zähne vergeblich versuchen.«

In dem Angriff trat ein Stillstand ein. Sobald der Delphin nicht mehr zurückging, blieb auch die Spinne stehen, blieb wirklich im Wasser stehen, obgleich sie mit den langen Beinen noch genau dieselben Schwimmbewegungen machte. Aber sie kam dabei nicht weiter vorwärts. Offenbar mußten die Füße, die ganz komplizierte, fingerähnliche Greifwerkzeuge zeigten, eine Art von Schaufeln besitzen, die sie nach Belieben drehen konnte.

Die tellergroßen, weit hervorquellenden Augen hatte sie gierig auf den Delphin geheftet, und noch deutlicher ward diese heißhungrige Gier dadurch ausgedrückt, wie sie den Rachen mit den zehn Zentimeter langen Zähnen auf- und zuklappte.

Aber eben weil diese etwas gebogenen Zähne so lang und dabei sehr dünn waren, das verriet, daß sie nicht zum Zerreißen und zum Zermalmen dienten, sondern nur um Wunden zu schlagen, sich ins Fleisch zu bohren, und dann konnte man mit Sicherheit auch auf einen giftigen Saft schließen, den sie in die Wunden spritzte, um ihr Opfer zu töten oder doch zu betäuben. Doch mußten auch die muskulösen Beine trotz ihrer Dürre Kraft genug besitzen, um auch eine größere Beute festzuhalten.

Wovon nährte sie sich, hier, wo man bisher nur Knochen gesehen hatte? Ihr kugelförmiger Leib, mindestens anderthalb Meter im Durchmesser haltend, war voll gerundet. Man messe sich diese anderthalb Meter aus, um zu erkennen, was für eine ungeheuerliche Spinne es war, und dabei zwei Meter lange Beine, welche etwas geknickt gehalten wurden.

»Wollen wir an ihr nicht einmal ein elektrisches Geschoß probieren?«

»Auf keinen Fall!« entschied Nobody. »Muß sie getötet werden, dann wenigstens auf eine Weise, daß sie wohlerhalten bleibt. Erst aber wollen wir sie solange wie möglich lebend beobachten, und ich gehe schon mit dem Gedanken um, sie zu meiner Gefangenen zu machen.«

Unter Nobodys Hand ging der Delphin wieder vorwärts — und da trat in der Kriegstaktik der Spinne eine Aenderung ein, auch sie ging zurück.

Fürchtete sie sich vor dem kleineren, aber doch massigeren Gegner? Danach sahen ihre Augen gar nicht aus. Es mochte eben ihre Taktik sein, vor jedem Angriff zurückzuweichen.

Der Delphin blieb wieder stehen — die Spinne ebenfalls. Der Delphin wich zurück — kampfbereit folgte sie ihm. Jetzt ging der Delphin langsam vor — ebenso langsam wich das Ungeheuer vor ihm zurück.

»Das wird langweilig,« sagte Nobody, nachdem er dies mehrmals wiederholt hatte, »wir werden zu einer anderen Angriffsweise übergehen, wir werden die Spinne zwingen, den Kampf aufzunehmen.«

Erst aber traf er Vorbereitungen, den besiegten Gegner auch gleich gefangennehmen zu können.

Der Delphin stieg an die Wasseroberfläche empor, Nobody begab sich auf seinen Rücken und befestigte an dem herausgestreckten Greifarm eine Schlinge, und die beiden Matrosen, welche doch alle Arten von Knoten und Schlingen zu schürzen verstanden, bekamen von dem Detektiven, der doch gar kein Seemann sein wollte, wieder einmal etwas zu lernen.

Auch sie verstanden Schlingen zu legen, welche sich von selbst zusammenziehen mußten, aber so eine einfache und doch sinnreiche, wie sie unter des Detektivs Hand entstand, war ihnen neu.

Mit dieser Fangschlinge an dem einstweilen glatt am Rumpfe liegenden Greifarm senkte sich der Delphin wieder hinab.

»Wenn die Spinne nun währenddessen das Weite gesucht hat?«

»Dann werden wir sie wiederzufinden wissen, sie soll uns nicht entgehen.«

Die Sorge war unnötig. Das Ungeheuer schwebte noch auf derselben Stelle im Wasser. Nobody fand es sogar merkwürdig, daß es sich so ruhig verhalten hatte, wenn jetzt auch wieder Beine und Rachen bewegt wurden. Es war etwas Unnatürliches an dieser Beharrung. Doch wie kann man solch ein vorsündflutliches Ungetüm beurteilen, welches von Rechts wegen schon seit Jahrtausenden tot sein müßte?

Der Delphin ging langsam vor, — die Spinne wich langsam zurück. Jetzt wich der Delphin langsam zurück — die Spinne ging zähnefletschend vor.

»So, also bei diesem langweiligen Manöver willst du beharren. Dann werden wir ein anderes Lied anstimmen. Aufgepaßt!«

Nobody gab einige kurze Instruktionen, er selbst wollte den in allen Teilen äußerst beweglichen Fang-arm dirigieren — und plötzlich schoß der Delphin wie ein Pfeil auf die Spinne zu und an ihr vorbei, dann sofort die Fahrt mäßigend, zuletzt ganz stillstehend.

Es war gelungen. Nobody hatte es fertig gebracht, während des schnellen Vorbeifahrens mit seinem eisernen Greifarm die Schlinge um eines der acht Beine zu legen, die Schlinge zog sich zu, die Spinne war gefangen.

Ihr Verhalten war ein durchaus unnatürliches.

Von Zorn ob ihrer Niederlage keine Spur. Sie ließ sich nachschleifen, blieb in Fahrt, schlug an den eisernen Rumpf des Delphins mit einem harten Klange an, bewegte wohl noch drohend den Rachen und die Beine, schneller denn zuvor, aber ohne einen Biß oder eine Umklammerung zu versuchen.

Starr hatte Nobody das Auge auf das Ungetüm geheftet, das sich jetzt dicht an der durchsichtigen Bordwand befand.

»Edward, merkst du etwas?« flüsterte er mit eigentümlichem Gesichtsausdruck.

Es war Jochen, der die Antwort gab.

»Na, so was lebt ja gar nicht und wackelt doch mit dem Schwanze!« rief der Matrose.

Er hatte das Richtige erkannt, und jetzt, in dieser Nähe, wurde auch gleich noch mehr erkannt. Die Riesenspinne war nicht nur tot, sondern ... es war überhaupt nur ein Kunstwerk, hervorgegangen aus der Hand eines Mechanikers!

Allerdings war das gar nicht so leicht zu beurteilen, selbst wenn man so deutlich an den beweglichen Gliedern der Beine und Füße die Scharniere unterscheiden konnte. Alle Spinnen und auch die meisten Käfer mit harten Krusten haben an ihren Füßen solche Scharniere, welche menschlichen Mechanikern schließlich doch erst als Vorbild gedient haben.

Sonst war alles ganz natürlich. Nur der metallene Klang bei dem Zusammenstößen mit dem Delphin hatte zuerst stutzig gemacht, und dann freilich, als man in dem Kugelleibe so deutlich die Platte sah, welche das Mannloch verschloß, da mußte die Illusion verschwinden.

Doch die Ueberraschung paarte sich auch mit etwas Schreck, wenigstens bei Scott und den beiden Matrosen, und er war berechtigt.

»Ein Werk des Herrn der Erde!« wurde geflüstert.

»Ja, gerade wie hier der Delphin, diesmal ist es eine Wasserspinne.«

»Und da steckt auch jemand drin!«

»Nein!« sagte aber Nobody mit Entschiedenheit. »Das leichtbewegliche Ungeheuer ist sich selbst überlassen.«

»Es folgte uns aber doch und wich vor uns zurück.«

»Das ist alles zu erklären. Als die ersten leichten Wellen, welche der schwimmende Delphin auch unter Wasser erzeugt, die Spinne trafen, bewegte sie den Rachen und die Füße. Wie der Delphin nun zurückging, mußte das Wasser seiner Umgebung ihm folgen, das ist doch selbstverständlich, sonst entstände hinter dem Fahrzeuge doch ein leerer Raum, und diese Wasserbewegung machte auch die sich in einem schwebenden Zustande befindliche Spinne mit. Nähern wir uns ihr aber, so stößt der Delphin das Wasser vor sich her, drängt es zurück — die Wellen verdrängen auch die Spinne nach rückwärts.«

Die physikalische Erklärung für die scheinbar selbständige Bewegung war gegeben —— aber noch vieles andere war zu erklären.

Zunächst aber ließ Nobody den Delphin emporsteigen, und jetzt, so dicht an dem Leibe des Bootes, wäre die Spinne, völlig ausbalanciert und ein gleiches Gewicht mit dem Wasser habend, dem Delphin auch freiwillig mit in die Höhe gefolgt.

Diese im Wasser so gewichtslose Riesenspinne war mit einem Papierschnitzelchen zu vergleichen, welches dem großen Luftballon gehorsam folgt, dessen Anziehungskraft größer ist als die der weit entfernten Erde.

»Weißt du, Edward,« begann Nobody während dieses Emporsteigens, »wie wir über die Mangelhaftigkeit des Skaphanders sprachen, welcher nicht gestattet, in größere Tiefen zu dringen, ebenso wie es nicht möglich ist, einen Gegenstand, den der Greifarm des Delphins gefaßt hat, gleich unter Wasser in das Boot zu bringen?«

»Ja, und wir warfen die Frage auf, ob jener ingeniöse Mann da nicht einen besonderen Apparat erfunden hätte, mit dem er in jede Tiefe dringen und dort alles vom Boden aufheben, gleich mit eigenen Händen fassen kann.«

»Ich bin der festen Ueberzeugung, daß wir hier solch einen Tauchapparat vor uns haben, dem als Vorbild eine vorsündflutliche Wasserspinne gedient haben mag, die ebenfalls imstande war, in kolossale Tiefen hinabzutauchen.«

»So meinst du, daß die erste Spinne, die schon bei der Annäherung des Delphins in Staub zerfiel, ursprünglich eine lebende gewesen ist?«

»Das ist doch ganz sicher — eben dadurch, weil es nur noch ein loser Aufbau von Teilchen war, deren Gleichgewicht im Wasser in solch einer Tiefe durch nichts gestört wurde. Wir dürften, wenn wir suchen, noch mehr solcher guterhaltenen Spinnen finden, die man nur nicht berühren darf.«

Unterdessen hatte der Delphin die Wasseroberfläche erreicht, er strebte der Galerie zu, die Spinne, welche nicht einmal mit dem Kopfe, nur mit den mächtigen und borstigen Fühlfäden aus dem Wasser hervorsah, wurde nachgeschleift.

Schwer war es, das Ungeheuer aufs Trockene zu bringen, zudem man fürchten mußte, die so dünnen Glieder leicht zu verbiegen. Doch es war ja auch nur nötig, den Kugelleib so weit zu heben, daß er aus dem Wasser heraussah, denn dort oben hatte das metallene Ungeheuer ebenfalls ein verschlossenes Mannloch.

Diesmal war es mehr ein Zufall, daß Nobody so schnell den Verschluß des Deckels zu öffnen wußte. Denn als sich der Mechanismus bewegte, merkte er, wie schwer es ihm sonst gefallen wäre, dies durch eigene Untersuchung herauszufinden.

Ein Hohlraum zeigte sich, mit weniger Mechanismus angefüllt, als man erwartet hatte, indem man unwillkürlich an das Innere eines jener tierähnlichen Spielzeuge gedacht hatte, die zu ihrer Bewegung der Triebfedern, eines komplizierten Räderwerkes und dergleichen bedürfen.

Einige dünne Röhren, biegsam wie Kautschuk, aber anscheinend doch aus einer Art Metall bestehend, einige Hebel und Räder, ein bequemer Sitz — weiter nichts.

Nobody kroch hinein, zunächst den Deckel über sich offen lassend, man sah ihn an den Hebeln hantieren, längere Zeit, doch nichts wollte sich bewegen, dann schloß er den Deckel über seinem Kopfe, und mit einem Male wurde die Riesenspinne lebendig, und staunend sahen die drei, wie das Spinnenungeheuer vollends auf die Galerie hinaufkroch und auf dieser weiter, mit genau den Bewegungen einer Spinne, dann begab es sich in das Wasser zurück und verschwand den Blicken der Beobachter.

In dem dunklen Wasser war von ihren Manövern nichts zu sehen, und die im Delphin hatten keinen Auftrag bekommen, ihr zu folgen, wußten ja nicht, wie lange sie ausbleiben würde.

Erst nach einer Viertelstunde, für die Wartenden eine Ewigkeit, mit besorgten Gedanken ausgefüllt, kam das Ungeheuer wieder zum Vorschein, kroch mit den gelenkigen Beinen aus die Galerie, machte dabei sogar einen Sprung, der Deckel öffnete sich, und Nobodys Kopf kam zum Vorschein.

»Alles pneumatisch. Man kann in die hohlen Beine bis hinab in die Zehen Luft Hineinpressen, dadurch wird alles beweglich, man kann wie mit Fingern greifen. Eine nähere Erklärung ist gar nicht möglich, da muß auch erst alles ausprobiert werden.«

»Kann man denn auch unter Wasser etwas ins Innere nehmen?« fragte Scott.

»Ja, das ist das eine, was ich schon ausprobiert habe,« entgegnete Nobody, einige Knochen in die Höhe haltend, »und das in einer Tiefe von fast 200 Metern. Eine genauere Untersuchung des ganzen Mechanismus und wessen diese Spinne fähig ist, erfordert viele Tage, so lange können wir uns nicht aufhalten, das verschieben wir für später.«

Mit diesen Worten hatte Nobody den Riesenleib verlassen und verschloß die Klappe wieder.

Er sah tiefernst aus, feierlich, fast erschüttert, sagte auch kein Wort mehr über die Spinne, ließ sie dort stehen, wohin er sie gebracht hatte, und trat mit dem Delphin unverzüglich die Weiterfahrt an.

Das, was auf ihn einen so gewaltigen Eindruck machte, war leicht zu begreifen. Die anderen hatten ja ganz ähnliche Gefühle.

Sie hatten das Werk eines Menschengeistes vor sich, der seiner Mitwelt weit, vielleicht um Jahrhunderte vorausgeeilt war, welcher schon Probleme gelöst hatte, die für uns noch in phantastischer Ferne liegen — das war der Kernpunkt des Gefühls, unter dem sie jetzt alle standen, sogar die weniger empfindlichen Matrosen. Auch sie unterlagen dem unsichtbaren Zauber dieses mächtigen Geistes, der sie mit scheuer Ehrfurcht erfüllte.

Noch drei Tage ging es unter der Erde hin, ohne einen Sonnenstrahl erhaschen zu können, meistenteils durch völlig mit Wasser angefüllte Steinröhren, selten einmal konnte man sich oben auf dem Delphin und noch seltener auf einer Galerie Bewegung verschaffen, und dann näherte man sich der Stelle, wo auf der Karte die Fahrtlinie nur noch mit Punkten angedeutet war.

»Donnert das nicht?« fragte der Nasenkönig und lenkte sein rechtes Elefantenohr, unabhängig vom anderen, nach vorn.

Auch Nobody hatte schon das dumpfe Murren gehört, einem weit entfernten Donnern vergleichbar.

Nach oben steigen konnte man nicht, um die Ursache des Geräusches durch das Gesicht zu ergründen, man befand sich in einem gefüllten Wasserschachte, der auch so bleiben würde, bis man eben die punktierte Linie erreicht hatte — man konnte nur die Fahrt zur Vorsicht noch mehr verlangsamen.

Das Murren nahm zu, es verwandelte sich in ein wirkliches Donnern, die ehernen Schiffsplanken begannen zu zittern.

Die Matrosen waren angestellt, auf ein Merkzeichen zu achten, das auf der Karte angegeben war.

»Dort ist die rote Porphyrecke!«

»Dann können wir in die Höhe steigen.«

Es geschah, und bei den völlig durchsichtigen Bordwänden brauchte man sich nicht erst aus den Schiffsrumpf zu begeben, um das grandiose Schauspiel zu sehen, das sie hier erwartete.

Es war ein kleiner See, nicht zu vergleichen mit jenem vorigen, in den sich von oben herab ein mächtiger Wasserfall ergoß — aber ein Wasserfall, wie man einen solchen an der Erdoberfläche noch nirgends gefunden hat, was ja auch kaum möglich ist.

Das Wasser stürzte nämlich direkt aus der Decke hervor, ganz senkrecht. Die Entfernung der Oberfläche des Sees von der Decke mochte zwanzig Meter betragen, die Stärke des Wasserstrahls mindestens acht, und das war also die Quelle, welche diesen ganzen unterirdischen Fluß mit all seinen Nebenzweigen speiste, obschon auch diese ihre eigenen Quellen haben mochten.

Merkwürdig war es, daß der mächtige Wasserstrahl nicht etwa aus einer ausgewaschenen Oeffnung herabstürzte, aus der man wenigstens etwas Licht schimmern sah. Nein, von dieser Oeffnung war überhaupt gar nichts zu sehen, das Wasser fiel direkt wie von der finsteren Decke herunter.

Nobody hatte hierfür nur eine einzige Erklärung, und er sprach sie aus.

Das war nicht ein Flußlauf, der hier als Katarakt oder Wasserfall unter der Erde verschwand, sondern dort oben war ein mächtiger See, der hier unten einen direkten Abfluß hatte, ein offenes Ventil, und da man nicht annehmen konnte, daß dies alles erst seit neuerer Zeit war, sondern da man auch hier mit Jahrtausenden rechnen mußte, so war es ein äußerst widerstandsfähiges Gestein, eine Art schwarzer Granit, durch den im Laufe der Jahrtausende erst ein solches acht Meter breites Loch gewaschen worden war.

Wie gesagt, es war ein grandioses Schauspiel, die von dem Lichte des Delphins beschienene weiße Wassersäule, wie erstarrt dastehend, kaum einen Sprühregen von sich gebend — aber nun diesen gewaltigen Trichter, den sie beim Aufschlagen in der Wasserfläche des Sees erzeugte, unter donnerndem Gepolter, und diese Wogen, die von dem Trichter kreisförmig ausgingen, bis sie sich sanft an der den See umgebenden Galerie brachen!

Außerdem war es auch ein unheimliches Schauspiel, nun gar noch hier unter der Erde!

Nobody wagte nicht, den von den gleichmäßig gehenden Wogen heftig geschaukelten Delphin allzu nahe zu bringen.

Was in diesen fürchterlichen Strudel geriet, das tauchte niemals wieder auf, auch der Delphin wäre trotz all seiner Kraft wie ein Spielball auf und ab geschleudert worden, nicht umsonst waren hier auf der Karte viele warnende Kreuze eingetragen, und auch das wirkte beunruhigend, daß eine Tiefenangabe von über 2000 Meter gemacht worden war, dahinter aber auch noch ein Fragezeichen.

Also über 2000 Meter tief war der Entdecker dieses unterirdischen Flusses hier hinabgedrungen, dann war er, ohne einen Grund gefunden zu haben, wieder umgekehrt, eine Gefahr sehend, oder auch nur von Grauen erfaßt, weil er über sich den furchtbaren Wassersturz wußte, der diese gewaltige Tiefe erst ausgehöhlt hatte.

Hinter dem Wassersturz begann auf der Karte die punktierte Linie, den weiteren Weg bezeichnend. In vorsichtigem Bogen wurde die Wassersäule umfahren — richtig, wie Nobody vorausgesagt: der See hatte keinen Einfluß, hier hatte die Wasserfahrt ein Ende.

Der Scheinwerfer brauchte nicht erst die Wände abzusuchen, schon im einfachen Lichte erkannte man dort in der dunklen Wand ein noch dunkleres Loch, in dieser Entfernung gesehen, kaum groß genug, um einen erwachsenen Mann einzulassen.

»Soll das die Fortsetzung des Weges sein, den wir jetzt zu Fuß machen müssen?« meinte Scott.

»Kein Zweifel. Es dürfte doch etwas größer sein, als es von hier aussieht, und dann erweitert es sich vielleicht auch bald.«

Der Delphin legte in der Nähe der Oeffnung an der Galerie an, und wie oft dieser Weg schon von Menschen benutzt worden war, das zeigte, daß hier sogar schon eiserne Ringe eingelassen waren, um eben Fahrzeuge daran zu befestigen, und das war auch sehr nötig, da sonst gar kein natürlicher Vorsprung zu sehen war, an den man ein Seil hätte befestigen können.

Der Delphin wurde festgemacht; denn Nobody wollte auch die beiden Matrosen das Land betreten lassen, damit sie wenigstens auch wieder einmal die Glieder dehnen konnten, sonst verlernten sie noch ganz den Gebrauch ihrer Beine.

An Bord des Delphins befanden sich vier kleine, elektrische Lampen, von ebensolchen Batterien gespeist, wie Nobody eine damals dem überwältigten Mephistopheles aus der Tasche genommen, die ihm dazu gedient, elektrische Schläge auszuteilen.

Sie waren mitgenommen worden. Die dunkle Oeffnung war doch groß genug, um einen Mann einzulassen, aber zwei nebeneinander konnten nicht gehen.

»Basalt, vulkanischen Ursprungs,« sagte Nobody, eintretend und das Licht seiner Lampe spielen lassend. »Ein natürlicher Riß im massiven Felsen, und wenn eine menschliche Hand nachgeholfen hat, so muß das schon vor langer Zeit geschehen sein, zu sehen ist nichts mehr davon.«

Der Riß zog sich in derselben Breite und Höhe hin, soweit der Blendstrahl reichte, und Nobody drang nicht erst zu einer vorläufigen Untersuchung etwas ein, da ja doch kein Mensch weiß, wie weit ein ›Vorläufig‹ ist, so wenig wie man weiß, wann man beim Hasardspiel aufzuhören hat, wenn man beim Gewinnen ist.

Noch vor der Oeffnung auf der Galerie fand zwischen Scott und Nobody eine Beratung statt.

Die beiden Matrosen blieben bei dem Boote zurück, nicht als Wächter, was wohl kaum notwendig war, sondern als Reserve.

Der Karte nach betrug der punktierte Weg bis zu der roten Station 83 geographische Meilen, alle Windungen mitgerechnet.

Alle Fälle und Ueberwindung von Hindernissen erwägend, wurden zwanzig Tage angesetzt. Waren bis dahin Nobody und Scott nicht zurück, so sollten Jochen und Anok den Delphin verlassen und denselben Weg zu Fuß antreten. Aus keinen Fall einer allein. In dieser finsteren Einsamkeit mußte auch der willensstärkste Mensch gar bald dem Wahnsinn verfallen.

Gesetzt den Fall, der eine der beiden Matrosen wurde krank, dann durfte auch der andere nicht gehen, durfte seinen Kollegen nicht verlassen, selbst wenn dieser gar keine besondere Pflege brauchte.

»Sind wir in zwanzig Tagen noch nicht zurück, so braucht ihr euch unsertwegen aber noch nicht etwa Sorge zu machen, deshalb braucht uns nichts zugestoßen zu sein. Dann erwarten wir euch eben. Sollten sich Seitenwege abzweigen, so werden wir unsere Spuren kenntlich zu machen wissen.«

»Und wie wird es mit dem Wasser sein?« fragte Scott. »Die Proviantfrage ist ja leicht gelöst; aber ob wir unterwegs Wasser finden werden?«

»Daß der Weg schon von anderen gemacht worden ist,« entgegnete Nobody, »berechtigt uns nicht zu der Annahme, daß wir unterwegs auch Wasser finden werden. Sie können Wasser mitgenommen haben, dasselbe müssen wir tun.«

Verlegenheit entstand wegen eines Gefäßes, um das Wasser mitzunehmen. In dem kleinen Unterseeboote befand sich auch gar nichts Ueberflüssiges. Nobody wußte sich zu helfen. Die Hosenbeine der Skaphanderanzüge wurden zugeschnürt, sie dienten als Wasserschläuche, ließen sich sogar bequemer tragen als alles andere.

Sonst brauchte man sich wenig zu belasten. Eine Tasche voll Carbonitratpillen genügte, um sie für viele Wochen lang mit nahrhafter Speise zu versehen, auch ungekocht schon zu genießen, nur war zum Aufquellen, um überhaupt erst eine Nahrung daraus zu machen, wiederum Wasser nötig.

Sonst wurde noch alles mitgenommen, was man zu gebrauchen dachte.

Aber auch hier unter der Erde, der Spur seiner geheimnisvollen Vorgänger folgend, wollte Nobody nichts von einer Mitnahme jener pneumatischen, elektrische Kugeln schießenden Waffen wissen, sondern sich nur auf seinen ›menschlicheren‹ Revolver verlassen, und wie der Kanadier allen diesen Erfindungen gegenüberstand, deren Wesen er nicht begriff, die ihm mit einem ganz richtigen Gefühl als unnatürlich vorkamen, das hatte er schon gezeigt, wie er nur ein einziges Mal zu bewegen gewesen war, sich des unsichtbar machenden Gewebes zu bedienen.

Noch ein Händedruck, und die beiden Matrosen blieben allein zurück.

Fünfmal vierundzwanzig Stunden waren Nobody und Scott unterwegs. Beschwerlich war die Tour durchaus nicht, durch kein warnendes Kreuz unterbrochen, ein solches war auch nicht nötig, aber Nobody sagte, es sei der schrecklichste Weg seines Lebens gewesen. Allein dazu verurteilt, wäre er auch unrettbar dem Wahnsinn oder doch einer unheilbaren Melancholie verfallen.

Die Spalte verbreiterte sich, es kamen sogar große Säle, sie verengerten sich manchmal so, daß sie auf Händen und Füßen kriechen mußten, es ging bergauf und bergab, es kamen richtige Klettertouren — was kümmerte das alles sie? Gedrückt wanderten sie weiter, weiter und immer weiter! Nur immer vorwärts, um endlich an das Ziel zu kommen, um wieder umkehren zu dürfen —— oder sich am Sonnenlichte neue Kraft holen zu können.

Das Fehlen des Sonnenlichtes war es, was sie so niederdrückte. Hier aber kam noch etwas anderes hinzu. Ohne Sonnenlicht hat es ja mancher noch viel länger ausgehalten und deshalb nicht den Mut verloren.

Der Gedanke, sich unter der Erde zu befinden, wo oben am Tage die Sonne schien, und diesen finsteren Gang eigentlich gar nicht nötig zu haben, das war es, was so drückend auf sie wirkte.

Nein, das Unnatürliche dieses ganzen Weges, das war die eigentliche Ursache. In dem Unterseeboote hatten sie das gar nicht so empfunden.

Doch den Mut verloren auch sie nicht, keinem tauchte auch nur der Gedanke auf, vor Erreichung des Zieles wieder umzukehren, und daß sie bald jedes Interesse daran verloren, immer die Felswände auf Gesteinsarten zu mustern, darüber Bemerkungen zu tauschen, ist wohl selbstverständlich.

Lichtblicke in diese eintönige Wanderung, ein Ersatz für die fehlenden Sonnenstrahlen, waren die in die Karte eingetragenen Zeichen, wenn man nämlich die markierten Stellen in Wirklichkeit erreichte, wonach man auch die zurückgelegte und die noch vorliegende Strecke ermessen konnte.

Immer besser wußten sich die beiden in diesen Zeichen zurechtzufinden.

Da waren z. B. Dreizacke oder drei Linien, von einem Punkte ausgehend. Bisher hatte Nobody sie immer Dreizacke genannt, ohne ihre Bedeutung zu kennen.

Jetzt nannte er sie Hände, und es sollten wohl auch wirklich Hände sein, nur mit bloß drei Fingern.

Nämlich, wo solche Hände eingezeichnet waren, da hatten in dem natürlichen Felsenriß Menschenhände nachgeholfen. Zuerst hatten sie das bei einer Treppe erkannt, die nur mit einem Meißel in den steilen Stein eingehauen sein konnte. Denn sonst war das kaum noch zu erkennen, erst mußte man es wissen, dann fand man es begreiflich, daß die Felsenwände niemals so eng zusammenrückten, um sich nicht doch noch durchquetschen zu können, und wenn man an solchen engen Stellen die Wände genau betrachtete, erkannte man auch noch die Spuren des Meißels, der hier Luft geschafft hatte.

Aber das mußte schon lange, lange Zeit her sein. Selbst hier tief unter der Erde, wo die Temperatur fast gar nicht schwankte, also keine abwechselnde Hitze und Kälte verbunden mit Wasser und anderen Elementen den Stein mürbe machten, waren die Bruchstellen vollständig verwittert.

Wenn nicht der noch lebende Mephistopheles mit seinen Untergebenen, wer hatte dann diese ungeheure Arbeit geleistet?

Vergebliche Frage!

Von der Last der improvisierten Wassersäcke hatten sie sich gleich am ersten Tage befreit.

Schon nach wenigen Stunden waren sie an eine Stelle gekommen, wo aus einer Felsenritze Wasser hervordrang, das in einer selbstgegrabenen Rinne denselben Weg nahm.

Wenn sie sich nicht täuschten, so war diese Stelle auf der Karte mit einer kleinen Schlangenlinie in blauer Farbe bezeichnet, und solcher Schlangenlinien gab es noch viele, jeden Tag mußte man deren mehrere passieren.

Aber die Schläuche hatten sie deshalb noch nicht zurückgelassen. Wenn sie sich nun irrten? Auch der Beständigkeit des sie begleitenden Baches durften sie nicht trauen, und darin sollten sie recht haben.

Bald verschwand das Bächlein in einer Bodenspalte. Aber sie zählten die Schritte, achteten auf andere Marken, und als sie die nächste blaue Schlangenlinie erreichten, quoll da wieder trinkbares Wasser aus der Felswand hervor.

Nun waren sie ihrer Sache sicher, nun konnten sie sich von der beschwerlichen Last befreien.

Auch gelbe und schwarze Schlangenlinien waren eingetragen. Die ersteren bezeichneten Quellen mit salzhaltigem Wasser. Eine schwarz angegebene fand Scott, der schon von dem Wasser getrunken, ehe Nobody ihn hatte daran hindern können, völlig genießbar, mußte dann aber zu seinem Schaden das Gegenteil erfahren, er litt zwei Tage lang an einem heftigen Durchfall,

Also derartig genau hatte der erste Pionier hier seine Untersuchungen angestellt, derartig genau war die Karte gezeichnet worden! Und das war noch längst nicht alles. Es gab auch gestrichelte und punktierte Schlangenlinien in verschiedenen Farben; die ersteren gaben Stellen an, wo noch vor kurzem Wasser geflossen sein mußte, also periodische Quellen, die punktierten sollten offenbar gänzlich versagte Quellen angeben, und so gab es noch viele, viele andere Variationen.

Wir können uns nicht weiter darauf einlassen. Hauptsache war, daß genug blaue Schlangenlinien in voller Linie eingetragen waren, welche sich stets bewährten, so daß die beiden niemals Wassermangel litten.

»Morgen erreichen wir hier diesen Strich,« sagte Nobody, als sich die beiden am fünften Tage zur Ruhe niederlegten.

Es war ein dicker, schwarzer Strich, der quer durch die punktierte Linie gezogen war, ohne sie sonst zu unterbrechen.

»Was mag er bedeuten?

»Wenn ich das wüßte!«

»Irgendein Hindernis wird es wohl sein, doch kein gefährliches, sonst wären auch Kreuze angegeben.«

»Und wenn es ein feuriges Höllenmeer wäre, es sollte mich nicht abhalten! Denn von hier aus sind es nur noch sechs geographische Meilen, dann haben wir den roten Punkt erreicht, wo auch jede Linie aufhört.«

Nach einigen Stunden Schlafes wurde der Marsch fortgesetzt. Wie auf der Karte angegeben, wurde der Gang jetzt sehr winklig, auch die abzweigenden Gänge vermehrten sich, wie sie solche schon häufig passiert hatten.

Auch sie waren immer durch punktierte Linien angegeben, doch nur mit sehr wenigen Punkten, dann stand jedesmal ein Fragezeichen.

Also diese waren von den unterirdischen Pionieren noch nicht erforscht worden — wenn Nobody Lust hatte, konnte er dieser Erforschung sein Leben widmen. Doch einen derartigen Gedanken, als er einmal in ihm aufstieg, schüttelte er mit Grauen gleich wieder von sich.

Sie hatten sich mit der Verfolgung keines einzigen solcher nur angedeuteten Nebengänge, deren Oeffnungen sie auch wirklich immer fanden, aufgehalten.

Der große rote Punkt, das war ihr Ziel!

Mitten im Herzen des unbekannten Australiens liegend — und dort sollte Scott seine Agathe finden, die Nobody zuerst und zuletzt an dem afrikanischen Wüstenbrunnen gesehen hatte?

Nobody konnte es nicht fassen! Und was hätte wohl Scott gesagt, wenn er ihm dies mitgeteilt? Nobody tat es nicht.

»Hinter dieser Ecke liegt der Strich.«

Sie passierten die Ecke und....

Zu Statuen erstarrt standen die beiden da, ihren Augen nicht trauend, von einem furchtbaren Schreck erfaßt, obgleich es doch gar nichts so Schreckhaftes war, was sie da erblickten.

Dort hinten in der schwarzen Finsternis leuchtete es, es waren feurige Linien, sie bildeten Schnörkel,

Buchstaben .....

Snorri Sturluson.

Dieser Name war es, der ihnen in großen, feurig leuchtenden Buchstaben entgegentrat.

»Snorri Sturluson!« flüsterte Nobody mit bebenden Lippen.

Was war es, was ihn so gewaltig ergriff? Es läßt sich wohl begreifen.

»Snorri Sturluson!« wiederholte auch Scott, nur viel phlegmatischer. »Sollte dieser isländische Gelehrte wirklich auch ins Innere Australiens vorgedrungen sein?«

»Ja, Anoks Märchen werden zu Tatsachen — immer unter der Erde hat dieser geheimnisvolle, sagenumwobene Gelehrte, der isländische Doktor Faust, die ganze Welt bereist — vom Hekla aus — zu Wasser und zu Land, aber immer unter der Erde ...«

»Wolle aber auch bedenken, Alfred, daß wir sehr leicht ...«

»Nichts will ich bedenken!!« wurde er von Nobody mit Heftigkeit unterbrochen. »Ich meine,« setzte er ruhig hinzu, sich sofort wieder im Zaume habend, »wir wollen lieber handeln und forschen, anstatt uns in unnützen Vermutungen zu ergehen.«

So taten sie denn auch. Sie gingen los auf den feurigen Namen.

Schon auf diesem Wege wurden sie gewahr, daß hier Menschenhand für diesen Gang ganz besonders vorgearbeitet hatte, der Fremdling sollte auf etwas Wichtiges vorbereitet werden.

Der Tunnel war hier sehr breit und hoch, saalartig, überhaupt ein langgestreckter Saal. Aber nur im Beginn, auf dieser Seite.

Die Decke neigte sich nach unten, die Wände liefen zusammen, so bildete das Ganze einen Trichter, nur nicht rund, sondern vierkantig, bis Decke und Wände an einer Fläche zusammenstießen, welche, wie Nobody gleich maß, genau einen Meter hoch und einen Meter breit war, und sie wurde nicht von Stein gebildet, sondern von einer Eisenplatte, oder von einem weißgrauen Metall, und in mittlerer Höhe dieser Platte stand in flammenden Buchstaben jener Name.

Sie erblaßten nicht, als das elektrische Licht darauffiel, welches sonst jedes andere Licht mit Ausnahme des der Sonne zum Verschwinden bringt, weil es an Stärke eben nur vom Sonnenlicht übertroffen wird.

Für Nobody war dies alles nichts Merkwürdiges mehr, auch nicht, daß die Lichtquelle in dieser Nähe gar nicht gesehen werden konnte. Eher fühlte man die erhabenen Pünktchen, die in die Erzplatte eingelassen waren — Splitter von jener rätselhaften, selbstleuchtenden Substanz, die Nobody auch in seinem Ringe besaß, mit welcher auch der Name auf dem Buchdeckel in dem afrikanischen Wüstenbrunnen geschrieben gewesen war — ebenfalls der Name Snorri Sturluson.

Ein Klopfen antwortete mit hohlem Tone — eine Tür — aber ohne Schloß, ohne Riegel.

Nach einer Stunde hatte Nobody herausgebracht, daß die feurigen Körner in dem O des Wortes Sturluson in Plättchen eingelassen waren, die man verschieben konnte.

»Also ein Vexierschloß,« sagte Scott. »O weh! Nun heißt es erst die Kombination herausfinden, und um die alle, welche möglich sind, vorzunehmen, dazu dürften einige hundert Jahre nicht langen.«

»Nun, fangen wir einmal mit dem Worte Mephistopheles an.«

Und er reihte aneinander.

M-E—P—H—I—S—T—O….

Die eherne Tür ging von selbst ans.

Zuerst war Scott sprachlos vor Staunen; denn er begriff, was hier vorlag, wovon er soeben Zeuge geworden war.

»Alfred,« stieß er dann hervor, »bist du denn ein Mensch — oder ein Gott — oder stehst du mit Mächten der Hölle in Verbindung, die dir Allwissenheit verliehen haben?!«

»Bitte, keine gar zu große Schmeichelei, die schon mehr an Verdächtigung grenzt.«

Mit drei Worten teilte er ihm mit, wie er schon einmal dieses Wort als Schlüssel zu einem Vexierschlosse gebraucht hatte.

Wir wollen dem noch etwas hinzufügen. Daß Nobody damals in dem Wüstenbrunnen an dem Panzerschranke mit dem Worte Mephisto den richtigen Schlüssel gefunden hatte, das war ein Zufall gewesen, immerhin ehrlich genug verdient, hatte er sich doch stundenlang damit abgequält, all seinen Scharfsinn zusammennehmend, der nicht von Todesgedanken getrübt werden durfte, mit denen er sich damals, als ihm im Skaphander die Luft ausging, tragen mußte.

Daß auch hier das Wort Mephisto gleich als Schlüssel paßte, das war allerdings ein direkter Glücksumstand.

Nun aber etwas anderes, ein ureigener Erfolg, den Nobodys Bescheidenheit in gewissen Sachen nicht hätte hinwegleugnen können.

Wir sagten, daß er nach einer Stunde fand, wie sich in dem 0 die Plättchen verschieben ließen. Das hätte wohl kein anderer Mensch herausgefunden, und wenn er auch sein ganzes Leben lang an der ehernen

Platte gesucht und getastet hätte — Nobody hatte dazu nur eine Stunde gebraucht, dann hatte die Hand des unvergleichlichen Taschenspielers, weich und zart wie die feinste Frauenhand, die sich ein andermal in einen stählernen Schmiedehammer verwandeln konnte, das Geheimnis herausgefühlt.

Noch traten sie nicht ein, Nobody hielt seinen Freund davon zurück.

»Bevor wir es tun,« sagte er, »bevor wir auch nur mit einem Blicke betrachten, was die eherne Tür verborgen hat, wollen wir diese Tür selbst untersuchen, damit wir nicht etwa in eine Mausefalle geraten.«

Es geschah. Nein, ein Mißtrauen war ungerechtfertigt. Auf der Innenseite befand sich eine einfache Klinke, sie funktionierte, Nobody ließ Scott hineingehen, das Schloß schnappte ein — aber Scott konnte ohne Nobodys Hilfe von innen öffnen, und dasselbe wurde geprüft, als sie sich beide drin befanden.

Nun erst konnten sie sich mit Ruhe umschauen.

Es war ein sehr breiter und sehr hoher Tunnel, der in schnurgerader Linie entlanglief. Dicht hinter der Tür sprang aus der Felswand ein starker Wasserstrahl, der als Bach in einem ausgewaschenen Bette den Gang begleitete.

Hiermit wäre ihnen nichts Neues geboten. Und doch sollte ihnen die eherne Tür ein ganz neues Reich erschlossen haben, wie sie es nimmermehr unter der Erde vermutet hätten.

»O Wunder, eine Vegetation!!«

Vor allen Dingen waren es Farren, Schachtelhalme und Pilze, welche am Rande des Baches üppig wucherten.

Farren lieben schattige Stellen, Pilze gedeihen sogar im finsteren Keller. Von einer völligen Finsternis aber darf man nicht sprechen. Ohne Sonnenlicht kann keine Pflanze gedeihen, ein für allemal nicht, eine Ausnahme gibt es nicht, auch der die Finsternis am meisten liebende Pilz braucht ab und zu einen Sonnenstrahl, einen Abglanz seines Lichtes, sonst ist sein Entstehen und sein weiteres Fortkommen unmöglich! Das ist eine eiserne Regel.

Hier wurde diese eiserne Regel umgeworfen. Hierherein drang niemals ein Sonnenstrahl, kein Reflex des Tageslichtes. Aber das hier war auch eine vollständig andere Flora, eine selbständige, wie es eine solche an der Oberfläche der Erde gar nicht gibt!

Der Unterschied fing schon mit der Farbe an. Viele schöne, zierliche Blumen- und Blütenformen, aber alles durchweg ein farbloses Grau. Der zweite große Unterschied bestand in ihrer Wurzelung.

Von Humus oder Sand war hier keine Spur vorhanden. Die Stengel und Halme klebten nur auf dem harten Steinboden, und nur die größeren Pflanzen die zu ihrer Entwicklung wohl vieler Jahre bedurften, hatten an dieser Stelle in dem harten Boden ein kleines Loch erzeugt — ein Zeichen, daß auch sie die mineralischen Bestandteile, die sie zum Wachstum, zum Aufbau der organischen Zellen brauchten, direkt aus dem Boden holten, aber nicht mit Wurzeln, sondern direkt mit dem Stengel.

Nobody löste einen Schachtelhalm ab, setzte ihn auf eine andere Stelle, und sofort saugte sich der untere, feuchte Teil, einem Munde vergleichbar, auf dem harten Boden wieder fest.

Schachtelhalme sind sehr harte Pflanzen. In ihren Stengeln findet man direkt Kieselkörner, die sie selbst bilden und absondern.

Diese hier unter der Erde dagegen waren von weicher, schwammiger Beschaffenheit, und ebenso zart und weich waren auch alle anderen Pflanzen, obgleich sie doch direkt auf Steinboden gediehen. Eine Ausnahme machten nur die Pilze, im Gegensatz zu denen an der Oberfläche der Erde.

Hier waren sie fest wie Stein, die kleinsten sowohl als solche, welche riesenhafte Dimensionen angenommen hatten, alle hart wie Stein, mit dem Felsboden verwachsen, so daß man hier wirklich von wachsenden Steinen sprechen konnte.

Und so war es überall. Die größten Gegensätze zur Flora an der Oberfläche der Erde — eine andere kennen wir ja auch gar nicht — und überhaupt ganz neue und die seltsamsten Formen.

»Edward, Edward, ist es denn nur wirklich möglich?! Oder ist es nicht nur ein Traum?«

Es hatte wie ein Stöhnen geklungen. Nobody konnte lachend dem Tode ins Auge schauen — lachend, um den Gegner irrezuführen und dann den Tod selbst mit eiserner Hand noch rechtzeitig zu packen — während er solch einem Wunder vollständig unterlag. Er war ganz von Sinnen. Doch dies zeigte nur die tiefe Veranlagung seines inneren Charakters. Ein Strohkopf und Hasenherz, das sich schon beim Donnern verkriecht, hätte sich beim Anblick dieser unterirdischen Pflanzenformationen nicht viel gedacht. Diese Dinger taten ihm ja nichts.

»Nun sieh nur hier diese Moose, diese Schlingpflanzen mit den edelweißartigen Blüten, und hier dieser Pilz dient als Blumentisch ...«

Doch wir können uns nicht bei einer näheren Beschreibung aufhalten. Es war ein Märchenreich, wenigstens für Nobody — solch ein Märchenreich, wie für jeden anderen Menschen, der in unserem kalten Norden zum ersten Male in seinem Leben ein Palmenhaus betritt.

Sie wanderten weiter. Die Vegetation begleitete sie ja. Viel Neues kam nicht hinzu — einmal ein riesenhafter Pilz von sechs Metern Höhe, ebenso breit sein Kopf, der Hut, sein Stamm von einem Meter Durchmesser, festverwachsen mit dem Boden, selbst ein Stein, aber eine andere Gesteinsart zeigend als der Boden, aus dem er sproßte, wie sich Nobody durch Losschlagen von kleinen Pilzen überzeugte.

»Wachsende Steine. Hier gibt es keine andere Theorie. Aber während des Wachsens verwandeln sie den Stein in eine andere Art. Wir oberirdischen Menschen kennen schon Uebergänge der Pflanze zum Tiere, so zum Beispiel die fleischfressenden See-Anemonen und andere — hier ist das Beispiel eines Ueberganges

vom Steine zur Pflanze gegeben.«

Wolle sich der geneigte Leser dieses Urteil Nobodys für später merken.

Doch auch wir haben Beispiele genug, wie die Natur bemüht ist, einen Uebergang der Steine oder überhaupt der leblosen Materie zur organisch-pflanzlichen zu schaffen. Man denke an die Korallenbildungen. vorzüglich auch an die Eisblumen am Fenster, meist Farrenkräutern ähnelnd, und Farren haben unsere Erde im Urzustände zuerst mit einer Vegetation bedeckt.

Wer sich mit solchen Gedanken trägt, wer alles um sich herum auf solche Gleichnisse hin betrachtet, der kennt fürwahr keine Langeweile mehr.

Sie hatten sich verschiedene Male zu lange mit Untersuchungen aufgehalten, um ihr Ziel in einem ununterbrochenen Marsche erreichen zu können.

Die Ruhepause wurde zum Schlafen benützt. Sie legten sich hin, wo sie gerade gestanden hatten, auf den harten Boden. Außer den Pilzen waren alle anderen Pflanzen von einer klebrigen Feuchtigkeit.

Keiner brauchte zu wachen, hier war nichts zu fürchten. Von einem Tierleben war noch keine Spur bemerkt worden, und Nobody bezweifelte, hier unten ein lebendes Wesen zu finden.

Ob nun Natur- oder Kunstprodukt eines unterirdischen Gärtners — zwischen Pflanze und Tier ist doch ein gewaltiger Unterschied.

Wichtig und erfreulich war die Tatsache, daß sie an sich noch nicht die geringsten verdächtigen Symptome konstatiert hatten. Denn zuerst hatte Nobody der Ausdünstung dieser feuchtklebrigen Pflanzen, die doch auch ihre Atmung haben, keine günstige Wirkung auf den Organismus des Menschen zugeschrieben. Doch von Atmungsbeschwerden und dergleichen zeigte sich nicht das geringste.

Nobody hatte einen Traum, einen seltsamen, aber den Verhältnissen entsprechend.

Er befand sich in eben dieser unterirdischen Pflanzenwelt, die auch seine im Traume noch verstärkte Phantasie nicht anders ausstatten konnte, nur noch mit allerhand ungeheuerlichem Getier, unter dem der Lindwurm eine große Rolle spielte, hatte er sie bevölkert, und dann kamen noch andere Elemente hinzu, ein furchtbarer Sturm brauste durch die Schachtelhalme ...

Nobody erwachte.

Man weiß, wie derartige Träume entstehen. Man steigt einen hohen Turm hinauf und fällt klaftertief herunter — und man ist auch wirklich gefallen, nämlich aus dem Bett.

Und da rauschte es auch wirklich, Nobody spürte noch den starken Luftzug, aber das, was sich mit solchem Geräusch und Brausen entfernte, das mußte ein ganz anderer Sturm gewesen sein, und er hatte auch viele Pflanzen umgeknickt, andere bewegten sich noch heftig.

»Edward!!!«

Schon war der Kanadier auf den Beinen, verwundert schaute er sich um.

»Mir war es doch gerade, als ob über mich ein Sturmwind hinweg . . . . «

Da sah auch er die hinterlassenen Verwüstungen, wie sich dünne Pflanzen noch so heftig bewegten. Nur zu hören war nichts mehr. Das Sausen und Brausen hatte sich schnell in der Ferne verloren.

»Um Gottes willen, Alfred, was ist hier geschehen?«

»Du hast nicht nur geträumt, über uns ist wirklich ein Sturm hinweggegangen.«

»Ein Sturm?! Woher soll denn der kommen?«

»Erkläre ihn dir, wie du willst. Ich hörte noch sein Brausen.«

Das Phänomen wiederholte sich nicht. Wollten sie nicht ewig so zwecklos dastehen, mußten sie weiterwandern. Daß sie dabei das beobachteten und beurteilten, was sie mit ihren eigenen Augen sahen, war viel wichtiger, als sich in Vermutungen zu ergehen, woher der Sturmwind hier unten gekommen und wohin er gegangen sein könne.

So konnten sie beobachten, auf welche Weise die Pflanzen in dieser unterirdischen Welt entstanden und wieder vergingen.

Das geschah nämlich fast zusehends. Die von dem Wirbelsturm vom Boden losgerissenen oder abgeknickten Stengel saugten sich mit der Bruchstelle sofort wieder fest, dadurch konnten aus einer Pflanze sogar gleich mehrere entstehen, hinwiederum war ersichtlich, wie sterblich diese schwammigen Pflanzen waren — eben wie Schwämme, wie Pilze, welche selbst hier unter der Erde gerade das Gegenteil davon waren.

Schon nach einer Stunde traf man auf losgerissene Schachtelhalme und andere Pflanzen, welche bereits in vollkommener Auflösung begriffen waren, sie zerflossen, wie man es sonst nur vom Pilz kennt, und sie würden in Bälde vergehen, ohne die geringste Spur hinterlassen zu haben, sie bildeten also auch keinen Humus, sie bauten ihren Körper nur aus Elementen auf, die sie der atmosphärischen Luft entnahmen.

Nobody blieb an einer Stelle stehen, wo der unbegreifliche Wirbelsturm unter den Pflanzen recht arg gehaust hatte. Er blickte sich um.

»Das sieht doch gar nicht danach aus, als ob das die Folgen eines Sturmwindes oder einer Luftbewegung seien.«

»Weshalb nicht?«

»Wenn ein starker Wind durch diesen Gang braust, muß er ihn doch auch ganz ausfüllen.«

»Gewiß.«

»Nun sieh hier unten — am Boden sind die Pflanzen ganz unberührt geblieben.«

»Man hat solche Winde, welche nicht den Boden berühren, z. B. den afrikanischen Samum.«

»Und sieh oben die Decke — auch da sind die Pflanzen unbeschädigt geblieben.«

Der Kanadier konnte nicht leugnen, daß der Wind sein Werk der Zerstörung nur strichweise ganz nach Willkür verrichtet hatte.

»Und dieser Schachtelhalm hier, wie glatt er abgeschnitten ist — nicht abgeknickt, sondern wie mit einem scharfen Instrument abgeschnitten — und dasselbe wiederholt sich oft. Wirklich, das sieht viel mehr einer mechanischen Zerstörung ähnlich.«

»Einer mechanischen?« wiederholte der Kanadier fragend.

Nobody blieb die Antwort schuldigt Mit beobachtenden Augen setzte er den Weg fort.

Mit einem Male hörte die Zerstörung gänzlich auf! Bis hierher waren die Pflanzen noch umgebrochen, hier hatte es begonnen — dahinter standen die höchsten und dünnsten Stengel aufrecht da!

»Hier aus diesem Loche ist es herausgekommen!«

Mit dem ›Loche‹ meinte Scott aber nicht ein wirkliches Loch in der Wand, sondern nur den Fleck, wo die Pflanzen stark zusammengedrückt waren.

Nobody ließ das Licht seiner Lampe darauffallen, er sagte nichts, mit fest zusammengepreßten Lippen betrachtete er nur diese Stelle und die einzelnen Bruchstellen der Pflanzen.

»Glaubst du, daß hier der Sturm gelagert, von hier seinen Ausgang genommen hat?«

»Gelagert?« wiederholte Scott im Tone des höchsten Staunens.

»Ja, hier hat etwas gelagert.«

»Doch nicht ein Tier?«

»Ich weiß es nicht.«

»Kannst du keine Spur entdecken?«

»Nein, wenigstens keine mir bekannte, aus der ich auf ein Tier schließen könnte.«

Während Scott hier stehen blieb und sich jetzt mit ganz anderen Augen umschaute, drang Nobody, mit der Laterne leuchtend, noch etwas weiter vor.

Da sah er einen Gang abzweigen, so breit und hoch wie dieser, und ohne die Karte zu Rate zu ziehen, wußte Nobody bestimmt, daß dieser Seitengang nicht auf ihr verzeichnet war.

Ohne zunächst seinem Freunde etwas von seiner Entdeckung mitzuteilen, betrat er diesen Gang.

Er war genau so wie der Hauptgang, dieselbe Vegetation und alles, nur der begleitende Bach fehlte.

Wie weit führte er? Nobody nahm sich vor, hundert Schritte zu zählen, dann wollte er zunächst umkehren.

Er hatte noch nicht die Hälfte der vorgenommenen Schritte getan, als er ein seltsames Geräusch hörte, ein leichtes Säuseln — aber mit Gedankenschnelle verstärkte es sich, es wuchs zu einem Brausen an, aber dazwischen mit einem Knattern — gewiß, das war dasselbe Sausen und Brausen, das er im Traume vernommen, im Wachen nur sein letztes Ausklingen — und nicht in diesem Schachte, sondern im Hauptgange kam es heran — und mit einem Male erkannte Nobody die Ursache dieses Knatterns — das war nichts anderes als ein gewaltiger Flügelschlag . ..

Da plötzlich verstummte das knatternde Brausen, wie mit einem Klappen war es abgebrochen, und da gleichzeitig....

»Hilfe, Alfred, zu Hilfe, ich …«

Mit zehn Sätzen hatte Nobody die fünfzig Schritte wieder zurückgelegt, den schußbereiten Revolver schon in der Hand — und da sah er an jener Stelle seinen Freund am Boden liegen, auf ihm einen adlergroßen Vogel — nein, er erkannte es gleich an der Haltung der zusammengefalteten Flügel, es war ein ungeheurer Vampir, eine Fledermaus von riesenhaften Dimensionen!

Das Ungeheuer hatte seine Fänge in Scotts Brust geschlagen, hatte es mit dem hufeisenförmigen Maule offenbar auf Scotts Kehle abgesehen; aber auch der Kanadier hatte es mit beiden Händen am Halse gepackt und hielt es so von sich ab.

Wenn die Fledermaus den hünenhaften Mann zu Boden geworfen hatte, durfte Nobody an keine Ueberwältigung denken, auch handelte er nach der Eingabe des Augenblicks, vielleicht war die höchste Eile geboten, noch im Laufen feuerte er zweimal den Revolver ab, und in Brusthöhe durch die Seite geschossen, rollte das Ungetüm zu Boden, auf den Rücken, einige Zuckungen, einige Flügelschläge, und mit weitausgespannten Flügeln blieb es still liegen.

Scott sprang auf die Füße.

»Das war Hilfe zur rechten Zeit! Ich konnte mich der Nackenkraft des Tieres nicht mehr erwehren, ein einziger Flügelschlag warf mich zu Boden.«

»Bist du verletzt?«

»Ich fühle nichts.«

»Auch nicht auf der Brust, wo dich die Fänge gepackt hielten?«

Nein, nicht einmal der Anzug war an dieser Stelle zerrissen.

Sie wandten sich dem toten Tiere zu.

Es war nichts mehr und nichts weniger als eine Fledermaus, mit einem grauen Haarpelz und mit allen anderen charakteristischen Merkmalen der Gattung Fledermaus.

Australien ist die eigentliche Heimat der Fledermäuse. Europa zählt gegen zwanzig verschiedene Arten, Australien deren siebzig. Die größte Art ist der Kalong, bis einen halben Meter hoch und bis zu zwei Meter Flügelspannweite, wobei zu bedenken ist. daß jede Fledermaus eben im Verhältnis zum Körper ganz abnorm lange Flügel oder richtiger Flatterarme besitzt.

Wer solch ein Tier noch nicht gesehen hat. wer zum ersten Male nach Australien kommt, und es saust in der Abenddämmerung mit Blitzesschnelle solch ein zwei Meter langes Ungeheuer an ihm vorüber, oder bleibt gar vor ihm schweben, fächelt ihn an. daß er gleich umfällt, der wird natürlich glauben, ein sagenhafter Drache sei wieder lebendig geworden.

Der Einheimische aber kennt keine Furcht. Der Kalong ist ein völlig harmloses Tier, wenigstens in bezug auf Menschen und Tiere, er frißt nicht einmal Infekten. Schädlich wird er nur dadurch, daß er eben ein pflanzenfressendes Tier ist und manchmal in den Obstplantagen haust. Doch wiegt sein Nutzen vielleicht den Schaden auf, indem sein Fleisch als ein Leckerbissen gilt und sein Pelz sehr wertvoll ist.

Anders die Fledermaus Südamerikas, besonders die Blattnase Brasiliens, der echte Vampir.

Es ist viel über die Fürchterlichkeit dieses beflügelten Blutsaugers gefabelt worden. Tatsache ist aber doch, daß sie sich des Nachts auf warmblütige Tiere setzt und sie anzapft, auch den Menschen. Besonders bevorzugt sie, nach Tschudi, die nackten Zehen. Tschudi hatte in einer Gegend Brasiliens manchmal an jeder Zehe einen Vampir sitzen — ohne durch Schmerz oder ein anderes Gefühl etwas davon gemerkt zu haben, er hatte hingesehen und beobachtete dann.

Daraus also ist schon zu folgern, daß der Vampir gar nicht so gefährlich ist. Es sind ja auch nur kleine Tierchen. Da kann von einem Blutaussaugen, bis der Tod eintritt, keine Rede sein.

Anders schon die Gespenstblattnase, welche sechs Zoll groß wird mit zwei Fuß Spannweite, und die in einigen Gegenden Brasiliens in unheimlicher Menge auftritt, zur nächtlichen Landplage wird. Sie kann Rindern, Pferden und Maultieren gefährlich werden, kann sie durch Blutverlust erschöpfen, ruinieren, d. h., indem sich die Gespenstblattnasen in Menge auf jedes Tier setzen; Farmer haben deshalb schon solche Gegenden verlassen, ihr Vieh ging an Entkräftung ein.

Aber die Gespenstblattnase verschont den Menschen. Ist der Vampir die Fliege, die an alles geht, so die Gespenstblattnase die Bremse, die es nur auf Rinder und Pferde abgesehen hat. Das ist eine weise Einrichtung der Natur. Wenn die große Pferdebremse auch auf Menschen ginge, wie sollten wir es denn da im Sommer aushalten können?

Und wehe, wenn der australische Kalong ein Blutsauger wäre! Ein katzengeschmeidiger Elefant mit Reißzähnen und Tigerpranken!

Nobody erbrach das hufeisenförmige Maul, betrachtete das starke Gebiß, auffallend besonders durch die so eng zusammenstehenden Eckzähne, holte die Zunge hervor, welche röhrenartig zusammengelegt war, sich aber auch auseinanderrollen ließ.

»Das ist eine Mittelstufe zwischen australischem Kalong und brasilianischem Vampir,« entschied er sofort.

Dann hatte der Kalong seine Ungefährlichkeit verloren, er war zur Bremse geworden — und nun hier ein Ungeheuer von einem Meter Höhe und vier Meter Flügelspannweite — da hatte der Elefant Reißzähne und Tigerpranken bekommen!

Doch nein, eines wenigstens hatte ihm die Natur versagt. Die Pranken, die Adlerklauen. Die fingerähnlichen Krallen, sogar menschenähnlich, waren ganz weich, auch die Nägel konnten keinen Schaden anrichten, und das war Scotts Glück gewesen.

Was freilich von diesem Flügelschlag getroffen wurde, das mußte wohl umfallen, und wo diese Zähne einschlugen, und wo diese Röhrenzunge ansetzte, das war bald blutleer gepumpt.

»Edward, Edward!!« flüsterte Nobody wiederum ganz außer sich.

»Glaubst du, daß sich unter der Erde oder in Höhlen solche riesige Fledermäuse aufhalten, von deren Existenz wir noch gar nichts wissen, daß dies also nur ein Exemplar einer ganzen Gattung ist?« fragte Scott.

»Nein, ich glaube vielmehr, daß hier . . . .«

Nobody brach plötzlich ab, nur aus dem Grunde weil er nicht weitersprechen wollte, und Scott fragte auch nicht, was er hatte sagen wollen.

Auch er schien denselben Gedanken zu haben, so ungeheuerlich, so unfaßlich, daß keiner von ihnen ihn auch nur auszusprechen wagte.

»Hier aber können noch mehr solcher Ungeheuer existieren.«

»Ja, wir sind gewarnt, von jetzt an muß einer immer wachen.«

Mitnehmen konnten sie das schwere Tier nicht. Aber eines durfte nicht unterlassen werden: Nobody schnitt es auf und untersuchte den Inhalt des Magens.

Das Resultat war ein negatives. Der Magen enthielt eine weißgelbe, gallertartige Masse, aus der nichts zu schließen war — nur das, daß es kein Blut von vierfüßigen Tieren war.

»Eher könnte es Fischblut sein.«

»Wir haben noch keine Fische gesehen.«

»Wir können aber noch solche finden, nur in diesem schnellfließenden Bache halten sich keine auf. Jedenfalls aber hausen hier unten keine warmblütigen Tiere, mit Ausnahme von Fledermäusen, darauf dürfen wir wohl schließen.«

»Aber der Vampir liebt das warme Blut, auch dieser hier.«

»Ja, und eben daraus ist zu schließen, daß dieses Ungeheuer eine künstliche ...«

Wieder wurde der Gedanke nicht ausgesprochen: aber sein Inhalt war schon mehr angedeutet worden. Doch wiederum ging der Kanadier nicht darauf ein.

Tatsachen, Beweise für die Richtigkeit ihrer Vermutungen wollten sie erst haben!!

Sie setzten ihre Wanderung fort. Bald darauf drang wiederum ein Brausen an ihr Ohr; aber keine Aehnlichkeit mit jenem knatternden Flügelschlag habend.

»Das ist ein Wasserfall.«

Der Schein der elektrischen Lampen war trotz ihrer Leuchtkraft doch beschränkt, um so mehr kam ihnen alles Neue immer überraschend, und hier fehlten auf der Karte auch die betreffenden Eintragungen.

Daß z. B. der kaum sechs Meter breite Gang in eine weite Halle lief, davon war auf der Karte nichts vermerkt, die zeigte hier nur die punktierte Linie.

Eine Halle? Eine ganze Welt war es, die sich vor ihnen eröffnete!

Nur die Wände, die sich dicht hinter ihnen befanden, waren zu sehen, sie schienen ins Endlose zu laufen, nichts von einer Decke zu sehen, und es war wiederum ein Wasserreich, nämlich ein See, welcher, wie sie freilich erst nach der Umgehung konstatieren konnten, jenen ersten an Umfang noch bei weitem übertraf, und nun kam hier nicht nur eine schmale Galerie hinzu, sondern er war von einem breiten Stück Land eingefaßt, sie fanden dann Breiten bis zu einem Kilometer, so daß man hier wirklich von einer ganzen Welt im kleinen sprechen konnte.

Auch noch in anderer Weise war dieses unterirdische Reich für sich abgeschlossen, auch von dem hinführenden Tunnel.

Der Bach, durch unterwegs aufgenommene Quellen noch erheblich verstärkt, machte einen Sturz von wenigstens zehn Metern, so tief lag der Wasserspiegel des Sees unter ihm, und da der zum größten Teil sanft aufsteigende Strand nicht hoch war, so mußte man auch zu ihm so tief hinabsteigen.

Das hatte aber seine Schwierigkeiten. Jäh hörte der Tunnel auf, steil fiel die Wand hinab, und neun Meter ist eine Tiefe, in die hinab auch ein gummiartiger Clown nicht so leicht einen Sprung verträgt.

»Wie gelangen wir dahinab?«

Suchend irrte das Licht der Laternen umher. Das war es ja eben, man war doch nur immer auf das Licht der Laternen angewiesen, weiter reichte der Blick nicht.

»Da ist eine Leiter!«

Eine eiserne Leiter war, mit den Sprossen dicht an der Wand stehend, in den Felsen eingelassen.

Sie kletterten hinab und befanden sich wiederum zwischen solch einer Vegetation, in der feuchtklebrige Farren und Schachtelhalme und steinerne Pilze vorherrschten, hier zum Teil noch riesenhaftere Dimensionen zeigend.

Und hier herrschte auch Leben. Das erste war, daß mit Heftigkeit etwas Großes gegen Nobodys Brust flog und sich dort fühlbar festkrallte.

Wenn er erschrocken war, so war ihm davon doch nichts anzumerken; mit sicherem Griffe hatte er das warme Tier gleich am Halse gepackt, riß es los und brachte es in den Schein seiner Laterne.

Eine Fledermaus von derselben Sorte, halb australisch, durch die Zähne halb ein brasilianischer Vampir, aber bedeutend kleiner als jenes erste Ungeheuer, nur spannenlang.

»Das kleine Vieh, ein Kind der Finsternis, ist nur von meinem Blendlichte betört worden,« sagte Nobody, »überfallen hat es mich nicht wollen, es zittert ja an allen Gliedern.«

Er warf das Tier in die Luft, es schwirrte mit Blitzesschnelle davon.

Die Fledermäuse mehrten sich, sie umschwärmten die fremden Eindringlinge in ihr finsteres Reich, oder vielmehr das ungewohnte Licht, und noch öfters kam es vor, daß eine mit Vehemenz gegen ihren Körper schlug, sich dann immer gleich mit ihren weichen Krallen oder mehr Fingern einschlagend.

Doch es waren nur kleinere Tiere. Aber dort unter dem großen Hute eines Pilzes hing ein Ungeheuer, welches an Größe jener ersten wenig nachgab. Es blinzelte in das Licht, dann die mächtigen Flügel auseinandergefaltet, und mit einem knatternden Brausen floh es davon.

Vorsicht war jedenfalls geboten, und das Messer war hier wirksamer als der Revolver, es wurde zur Hand genommen.

»Zurück, Edward!!« schrie da plötzlich Nobody und riß den Freund auch zurück.

Er hatte einen schuppigen Schwanz liegen sehen, auf den Scott bald getreten wäre.

Der übrige Leib verschwand in einem Gebüsch von Farrenkräutern, da aber kam aus diesem ein Kopf zum Vorschein, welcher den riesenhaften Dimensionen dieses Schwanzes, der sich mit seiner grauschwarzen Farbe von dem Steinboden wenig abhob, entsprach.

Ein ungeheurer Rachen sperrte sich auf, aber nicht lang und spitz, sondern rund, gespickt mit furchtbaren Zähnen, und auf dem Kopfe sträubte sich eine Art von Haube.

»Ein Krokodil — nein, ein Saurier!« schrie Scott.

Nodody drückte ihm schnell den nach dem Rachen gerichteten Revolver herab.

»Erst beobachten, falls es das einzige Exemplar ist. Ich sehe den einen Stummelfuß, nein, mit solchen Füßen kann es uns nicht gefährlich werden, wenn wir uns außerhalb des Bereiches seines Rachens und des Schwanzes halten.«

Der blinzelnde Kopf wurde zurückgezogen, kam aber auf der anderen Seite wieder zum Vorschein, der Leib in seiner vollen Länge folgte nach, und auf kurzen Beinchen schleppte sich schwerfällig eine Echse von mindestens fünfundzwanzig Meter Länge dem nahen Wasser zu — und kein uns bekanntes Krokodil übersteigt eine Länge von acht Metern.

Nobody schien den Entschluß gefaßt zu haben, jedes Staunen von jetzt an aufzugeben. Mit Forscheraugen, aber doch gleichmütig, betrachtete er das fabelhafte Ungetüm, welches mehr auf dem Leibe kroch denn lief.

»Das ist kein lebendig gebliebenes Exemplar der sonst ausgestorbenen Saurier. Deren Köpfe sind alle lang und spitz, manchmal halb so lang wie der ganze Leib. Das ist eine künstliche Zucht zwischen Krokodil und dem amerikanischen Teju, dazu die Zornhaube des ebenfalls mexikanischen Helmbasilisken. Ganz gut gemacht, zu einer abnormen Länge entwickelt — nur die Beine sind viel zu kurz geraten. Daraus kann mit der Zeit sogar noch eine fußlose Wühlechse werden, die man dann fälschlicherweise für eine Schlange halten wird.«

Künstliche Züchtung! Das Wort war gesprochen!

»Alfred,« rief Scott außer sich, »also auch du glaubst, daß hier ein Mensch eine Versuchsstation angelegt....«

»Halt, so weit sind wir noch nicht!« siel ihm Nobody ins Wort. »Es kann auch eine künstliche Versuchsstation der Natur sein, wenn man sich so ausdrücken darf. Und warum nicht? Ueberall versucht die Natur, zwischen verschiedenen Tieren ein Mittelding zu schaffen. Aus einem Hund und einer Katze hat sie den Geparden gemacht, das bekannteste Beispiel zwischen Schlange und Eidechse ist die Blindschleiche, auch die nur in einer einzigen Art vorkommende Giraffe ist so ein Halbundhalb, und so ist es überall in der Natur. Allerdings kann der Mensch darin sehr behilflich sein und ist es auch schon gewesen. Ohne des Menschen Zutun wären wohl schwerlich das Maultier und der Maulesel enstanden. Sonst aber ist sich die Natur vollauf genug, um die rätselhaften Zwittergeschöpfe zu schaffen....«

»Und wer hat dort die eiserne Leiter geschaffen?« unterbrach diesmal Scott seinen Freund.

»Du hast recht, Edward. Ein Mensch hat hier gewiß seine Hand im Spiele, er leitet die künstlichen Zuchtversuche, abgeschlossen vom Sonnenlicht — und derselbe Mensch, dessen Genie eiserne Fische und Spinnen konstruiert, die noch selbst in nächster Nähe täuschen, wird auch der Natur in einer ganz anderen Weise zu Hilfe zu kommen wissen, als wir oberirdischen Menschlein uns bisher haben träumen lassen.«

»Und wozu dies alles?«

»Na, ist das nicht etwa interessant genug?! Menschen in Eis konserviert, unter der Erde neue Tiere konstruiert -—— Donnerwetter ja, meine Hochachtung vor diesem patenten Kerl steigt ins Unermeßliche!!«

»Aber das können doch nicht die Erfolge eines einzigen Menschenlebens sein.«

»Gewiß nicht. Unser Mephistopheles kann nur der Fortsetzer eines schon begonnenen Experimentes sein, schon vor Jahrhunderten begonnen. Snorri Sturluson? Wer weiß. Ein schnurriger Kauz ist der isländische Gelehrte, der seine ganze Verwandtschaft abmurkste und dann Bücher über die höhere Moral schrieb, gewiß gewesen.«

Das Ungeheuer verschwand im Wasser und verwandelte sich sofort in einen behenden Aal, der sein Element mit der Schnelligkeit eines Pfeils durchschnitt. Zuvor war ihm noch ein meterlanger Salamander oder eine ähnliche Echse in den Weg gekommen, mit einem Schnapp war die Beute im Rachen verschwunden.

Während ihrer Wanderung am Ufer des Sees entlang beobachteten sie noch viele solcher Wassergeschöpfe, ausschließlich zur großen Familie der Echsen gehörend, durchaus nicht alle durch besondere Größe ausgezeichnet, sogar zwerghaft kleine Exemplare darunter, vor allen Dingen aber sämtlich Formen zeigend, wie sie an der Oberfläche der Erde nicht existieren, sondern nur Verschmelzungen von solchen

Sie belebten das Wasser sowohl wie das Land, und immer neue Ueberraschungen boten sich den Wanderern — wenn sie noch zu überraschen gewesen wären. Nobody wenigstens war es nicht mehr.

So sahen sie eine große, schrecklich gestaltete Echse durch die Luft schwirren, fliegen, mit richtigen Flügeln versehen, und als sie am Boden weiterlief, hatte sie eine kleine Fledermaus im Maule, während des Fluges mit sicherem Sprunge erhascht. Denn von einem hohen Pilze war sie erst abgesprungen, das hatte Nobody noch gesehen.

Ein fliegender Drache — etwas so besonders Merkwürdiges war das nicht etwa.

Der Flugdrache, draco volans, eine auf den Sundainseln ganz gewöhnliche Echse, auch noch in den Gärten von Singapur, mit den dortigen Blumen an Farbenpracht wetteifernd. Diese Eidechse besitzt richtige Flügel, also nicht nur zu Flügeln ausgebildete Vorderbeine, was zum Beispiel bei der Fledermaus der Fall ist, oder wie bei den fliegenden Fischen, wo die Vorderflossen außerordentlich ausgebildet sind

— hier wieder so ein Beispiel, wie die Natur ein Mittelding zwischen Vogel und Fisch schaffen will —sondern der Flugdrache hat zwischen seinen Beinen noch einen selbständigen Flugapparat. Richtig fliegen kann er allerdings nicht, aber doch durch Schwirren Sprünge von acht bis zehn Metern machen, und noch bedeutend weiter, wenn er von einem Baume herabspringt.

Dieser Flugdrache hier hatte sich nur ins Riesenhafte entwickelt, außerdem war er noch mit einem höckerigen Panzer bedeckt, welcher verriet, daß hier noch der scheußliche Moloch Australiens hinzugekommen war.

Fische fehlten gänzlich. Auf ihre Augen durften sie sich deshalb freilich nicht verlassen. Doch das sagte ihnen der Magen zweier großer Krokodile, welche Nobody durch Revolverschüsse erlegte. Diese enthielten nur die Ueberreste von anderen Echsenarten, keine Fischgräten, dagegen wurde auch die Schale einer kleinen Schildkröte gefunden, obgleich sie Schildkröten selbst nicht sahen.

»Wenn es dem Hexenmeister gelungen ist,« sagte Nobody, »selbst das Krokodil und die Eidechse, welche die Sonne über alles lieben, an ewige Finsternis zu gewöhnen, dann wundert es mich nur, daß er nicht mit Nachtvögeln wie Eulen und Uhus den Versuch gemacht hat; es fehlen überhaupt alle an der Erde vorkommenden Nachttiere mit Ausnahme der Fledermäuse.«

Zwei Stunden wanderten sie an den Ufern des Sees entlang, wohl von den aufgestörten Fledermäusen belästigt, nicht aber wieder mit Absicht angefallen, was bei Scott doch offenbar der Fall gewesen war.

Es galt jetzt, den Ausgang aus diesem Reiche zu finden, das als so riesige Halle gar nicht in der Karte eingetragen war, die punktierte Linie lief gerade fort, und nur daraus konnte man schließen, daß der Ausgang dem Eingange gegenüber lag.

»Da ein Licht!«

Sie hatten es beide gleichzeitig geflüstert, und ebenso gleichzeitig, ohne Verabredung, hatten sie beide ihre eigenen Lampen verlöscht.

Das letzte, was sie gesehen, war, daß der See vor ihnen eine Bucht bildete, und auf der anderen Seite dieser Bucht, vielleicht dreihundert Meter von ihnen entfernt, bewegte sich ein helleuchtendes Lichtchen hin und her, bis es langsam eine Richtung beibehielt.

»Das ist elektrisches Licht!«

»Es wird von einem gehenden Menschen getragen!«

Die Erregung der beiden läßt sich denken. Jetzt sollten sie auch mit einem menschlichen Bewohner dieser unterirdischen Welt Bekanntschaft machen, und zwar mit einem, der schon elektrisches Licht besaß.

Hin mußten sie! Die Schwierigkeit lag nur darin, daß sie selbst sich in vollständiger Finsternis befanden, hier reichten auch Nobodys Luchsaugen nicht aus, um die Hand vor den Augen zu erkennen, während rings um sie herum raubgierige Augenpaare wie glühende Kohlen funkelten.

So konnten sie nicht vorwärts kommen. Es war auch nicht nötig, daß sie ganz im Dunkeln tappten. Ihre elektrischen Lampen konnten auf ein ganz wenig Blendlicht eingestellt werden, und das durften sie wagen, ohne daß dies von dort aus der weiten Entfernung bemerkt wurde.

So tappten sie, sich vor die Füße leuchtend, mühsam vorwärts, um die Bucht herum. Das Helle Licht blieb dort leuchten, jetzt aber an einer Stelle verharrend oder doch nur wenig sich bewegend.

Sie hatten noch nicht die Hälfte dieser an sich kurzen Strecke zurückgelegt, als dort plötzlich ein intensiv weißes Licht aufflammte, fast den ganzen See überstrahlend, so daß sich auch die beiden erschrocken hinter einem Busche niederduckten.

»Die modernste elektrische Bogenlampe!« flüsterte Scott erstaunt.

Sein Erstaunen mußte um so größer sein, weil das fortwährende Zucken des Lichtes fehlte, dem damals diese Lampen, welche ihr Licht zwischen Kohlenstiften erzeugen, sämtlich ausgesetzt waren.

Soweit man unterscheiden konnte, ging das intensive Licht von einer runden Kugel aus, ziemlich hoch an einer Felswand angebracht. Einen Menschen konnte man nicht sehen, obgleich das Terrain dort ganz frei von einer Vegetation zu sein schien.

»Sieh das Verhalten der Tiere, ist das nicht auffallend?« fragte Nobody.

»Wieso?«

»Man sollte doch meinen, daß besonders die Fledermäuse von dem hellen Lichte angezogen würden, so wie es schon unsere kleinen Lampen taten. Statt dessen suchen sie sich zu verstecken.«

So war es. Wohl waren die Fledermäuse beim Aufflammen des Lichtes erschrocken aufgefahren, aber nur um ein Versteck zu suchen, aus dem sie nicht wieder auftauchten. So wurde es um die beiden Menschen nach dem vorigen Geräusch, besonders erzeugt durch klatschenden Flügelschlag, mit einem Male ganz still. Auch die nahe dem Wasser gelegenen Krokodile suchten eiligst ihr feuchtes Element auf, um nicht mehr mit dem Kopfe zum Vorschein zu kommen.

»Das ist auch kein direkt weißes Licht,« sagte Nobody, »da mischt sich noch ein anderer, bläulicher, sehr unangenehmer Farbenton bei.«

Scott konnte das nicht unterscheiden. Es war aber doch möglich, daß dieses Licht den Tieren höchst unangenehm war, auch die Fledermäuse nicht wider ihren Willen anlockte, so wie z. B. alle Insekten durchaus kein blaues Licht vertragen können, unter solchem Glase schnell absterben.

Jetzt war das weitere Fortkommen ein sehr leichtes. Dabei boten ihnen die dichten Büsche genügend Deckung, so daß sie nicht an die Tarngewänder zu denken brauchten.

Ein unvorhergesehenes Hindernis trat ihnen in den Weg. Es war groß genug, füllte die ganze Halle aus, von der Decke, die hier allerdings niedriger war, bis an den Boden gehend, und dennoch bemerkten sie dieses Hindernis erst, als sie dicht davorstanden.

Es war nämlich eine Wand aus Drahtgeflecht. Nobody erkannte gleich wieder jenes Metall, welches allen menschlichen Instrumenten zu spotten schien, hier nur zu Draht ausgezogen.

Das war die Scheidewand, welche den letzten Teil der unterirdischen Höhle, wie wir den ganzen Raum trotz seiner Mächtigkeit bezeichnen wollen, von dem mit Vegetation bedeckten und von Tieren belebten Reiche absonderte.

Der See ging bis ziemlich an die Drahtwand heran, dann noch ein kleines Stück Land, mit Pflanzen bedeckt, und dann, hinter der Scheidewand, war der Felsboden ganz nackt. Es konnte wohl nicht anders sein, als daß hier die sich ansiedelnden Pflanzen mit Absicht ausgerottet wurden.

Dagegen war in diesem Teil, der sich mit etwa hundert Metern bis an die abschließende Felswand erstreckte, anderes zu erblicken. Mauerungen und Gitterwerke, jedenfalls Wasserbassins und Käfige. Hier also war die eigentliche Zuchtstation, wo die Versuche von Menschen geleitet wurden. Oben darüber an der Felswand hing die weiße Kugel, das ganze mit Licht übergießend.

Wo aber war der Mensch, den sie vorhin mit einem kleinen Lichte sich hatten bewegen sehen? Und wo war hier ein Eingang? Oder wie kamen sie sonst durch dieses Drahtgewebe hindurch, dessen Maschen man auch mit aller Kraft der Hände nicht erweitern konnte?

Eine Tür mußte es doch geben. Um diese aber zu finden, mußten sie die Drahtwand abschreiten, und dabei konnten sie doch leicht gesehen werden oder wurden es vielmehr jedenfalls.

»Sehr einfach, wir bedienen uns wieder einmal der Tarngewänder,« sagte Nobody.

»Hast du sie mit?«

»Selbstverständlich, sonst würde ich diesen Vorschlag doch gar nicht erst machen.«

»Ich meine, ob du alle beide bei dir hast.«

»Stets.«

»Du kannst ja allein nach der Tür suchen, mein Auge ist ja auch nicht mit deinem zu vergleichen, ich bleibe einstweilen hier versteckt.«

»Edward, du bist und bleibst ein seltsamer Mensch. Weshalb nur deine unüberwindliche Abneigung vor dem Tarngewand?«

»Es kommt mir … unnatürlich vor.«

»Ich verstehe dich,« sagte Nobody in anderem Tone. »Du bist ganz Gefühlsmensch, zu gut für diese Welt. Aber das hilft dir diesmal alles nichts, du wirst dich unsichtbar machen. Denn wenn ich nun die Tür gefunden habe? Dann mußt doch auch du durch sie hindurch, über den freien Platz hinweg, und so lange das elektrische Licht dort brennt, sind wir der Gefahr ausgesetzt, von Bewohnern dieses unterirdischen Reiches gesehen zu werden, welche uns nicht sehen dürfen. Glaube mir, wenn ich es mit einem Gegner zu tun habe, dessen Wesen ich kenne, ob Blaßgesicht oder Rothaut oder Schlitzauge, und er hat keine anderen Waffen gegen mich als ich gegen ihn — auch ich würde mich schämen, mich des Tarngewandes zu bedienen. Hier liegt aber ein ganz anderer Fall vor, wir haben es mit Wesen zu tun, welche wir als Feinde der Menschheit zu betrachten haben, und die über uns ganz unbekannte Hilfsmittel verfügen. Vorwärts!«

Der junge Kanadier gab sein Zögern auf, er ließ sich in das ungenähte Gewebe einhüllen.

Sie schritten die Drahtwand ab, sorgsam darauf achtend, daß sie auch kein Blatt in Bewegung setzten, obgleich jenseits der Wand auf dem freien Terrain noch immer kein Mensch, kein lebendiges Wesen zu sehen war.

»Hier ist sie,« flüsterte Nobody.

Es war eine ganz einfache Tür, wohl sicher verriegelt, aber einer Menschenhand keine Schwierigkeiten bietend, obgleich der Riegel sogar draußen war. Doch konnte man ihn mit dem durch eine Drahtmasche gesteckten Finger leicht zurückschieben.

Das hatte Nobody schon besorgt. Nun handelte es sich nur noch darum, die Tür auch zu öffnen, auf die Gefahr hin, daß dies von einer unsichtbaren Person beobachtet wurde.

Es mußte eben riskiert werden, das half alles nichts. Wenn auch nichts zu sehen war, so drangen von dorther doch Geräusche verschiedener Art. Wasser plätscherte, es raschelte, es klappte manchmal, als ob Kinnladen zusammengeschlagen würden.

»Das sind nur die in Einzelgefangenschaft gehaltenen Tiere,« flüsterte Nobody.

Leise öffnete er die Drahttür, nicht weiter, als daß beide hintereinander eben einschlüpfen konnten, wieder zu, und es war geschehen, ohne daß es irgendwelche Folge gehabt hätte.

Sie überschritten lautlos den harten Felsenboden, hatten wieder einmal Gelegenheit, zu beobachten, wie das elektrische Licht, welches hier die schwärzesten Schatten zeichnete, glatt durch sie hindurchging, ohne auch nur eine Andeutung von Konturen ihres Körpers zu geben, und erreichten den ersten ummauerten Bau.

Es war ein Käfig, zur Hälfte in ein Wasserbassin verwandelt, gleichmäßig in zwei Teile geteilt. Jedes Abteil enthielt eine Riesenschildkröte, aber ganz verschiedener Art, eine südamerikanische und eine indische.

Also auch mit Schildkröten wurden Züchtungsversuche gemacht. Und zu diesen Versuchen dienten auch alle anderen Bauten, Käfige, ausschließlich Reptilien enthaltend, und merkwürdig war nur, welche verschiedene Arten von Tieren man zusammengesperrt hatte.

Glaubte der Experimentator etwa, eine Riesenschlange würde mit einer Schildkröte ein Liebesverhältnis eingehen?

Doch die beiden Tiere waren ja auch noch voneinander getrennt, und wer wußte denn überhaupt, welcher Mittel sich dieser rätselhafte Mann bediente, um mit seinen Züchtungen solche Erfolge zu haben, wie er schon bewiesen hatte!

Jetzt kamen jedenfalls Schildkröten und Schlangen daran, sich mit oder gegen den Willen der Natur zu verwandeln.

Zum Teil würgten die Reptilien an rohen Fleischstreifen, andere Käfige und Bassins waren noch ohne Futter.

»Es wird schon noch jemand kommen, um auch diese Tiere mit Futter zu versorgen,« flüsterte Nobody, in der Meinung, sein Freund stände neben ihm.

Sie durften sich auch nicht vom Fleck bewegen, ohne sich gegenseitig zu berühren, sonst konnten sie sich leicht verlieren, und hier durften sie sich nicht durch lautes Sprechen bemerkbar machen.

So schritten sie Hand in Hand weiter. Da erblickten sie auf dem Boden einen großen Männerfuß naß abgedrückt.

Die Spur kam aus einem der Käsige heraus und führte dort nach der Felsenwand. Der Fuß war nackt, jede Zehe abgedrückt. Also ein großer Fuß, aber nicht allzu lang, dagegen sehr breit, plump, fast vierkantig, die sehr kurzen Zehen vorn fast eine Linie bildend.

»Ein eigentümlicher Fuß,« flüsterte Nobody, »der Fuß eines erwachsenen Mannes, der eine sehr geringe geistige Kraft besitzt.«

Dieser Schluß war nicht allzu schwer. Eine plumpe Hand verrät niemals einen edlen Charakter und hohen Geist, besonders wenn die Finger so gleich lang sind, vorn wie abgehackt, und dasselbe gilt vom Fuß. Harte Arbeit und dergleichen hat dabei gar nichts zu sagen.

Sie folgten den Spuren, und da entstand vor ihren Augen in der dunklen Felswand eine leuchtende Spalte. Das kam daher, weil die beiden etwas seitwärts gegangen waren, und es war eine Oeffnung, der Zugang zu einem Raume, welcher nach der Halle zu nur noch eine Vorderwand hatte.

Es war ein höhlenartiger Raum, in den sie blickten, durch Meißel noch künstlich erweitert, die Wände geebnet, und was man als Tisch und Sitz brauchte, war vom Stein stehen gelassen worden.

Erleuchtet wurde der enge Raum wiederum von einer elektrischen Glühlampe, deren Drähte aus einer Batterie hervorgingen — ein untrügliches Zeichen, daß auch hier der ,Herr der Erde' herrschte, ein Name, den er in Nobodys Augen mit immer größerem Rechte trug, während er dies zuerst als eine prahlerische Anmaßung betrachtet hatte.

Die beiden Elemente waren ziemlich groß, jedenfalls speisten sie draußen auch die große Bogenlampe, sie hatten auch sonst noch elektrische Apparate zu versorgen.

Am bemerkenswertesten nämlich war in diesem Raume noch eine an der Wand befestigte Uhr. Ihr Zifferblatt zeigte die Zahlen von 1 bis 24, und das hier unten mit Recht, wo es keinen Unterschied zwischen Tag und Nacht gab.

An der Seite des Zifferblattes hatte sie noch eine besondere Vorrichtung, vier Blättchen, jedes eine Zahl tragend, und gegenwärtig zeigte sie die Zahl 1327.

Also schon 1327 Tage hatte diese elektrische Uhr markiert, fast vier Jahre!

Der kleine Zeiger berührte fast schon die 24, der große rückte ihr sprungweise näher.

Weiter bemerkenswert war ein steinernes Pult, auf dem ein dickes Buch aufgeschlagen lag. Nobody trat näher. Es waren unter der einen Rubrik Zahlen eingetragen, bis 1327 gehend, das war also das Datum, die zweite Rubrik gab die Uhrzeit an, die anderen Linien waren mit Hieroglyphen bedeckt — einer Geheimschrift, die Nobody trotz aller seiner Kenntnisse auf derartigen Gebieten nicht so ohne weiteres entziffern konnte.

Uebrigens hatte auch die Geheimschrift des Notizbuches, welches er damals dem Mephistopheles abgenommen, aller seiner Bemühungen gespottet. Dies hier war wieder eine andere Geheimschrift, das wenigstens erkannte er auf den ersten Blick.

Im Gegensatz zu diesen Erfindungen der modernsten Technik, auch im Gegensatz zu dem sorgfältig geführten Tagebuche, sah es in dem Raume recht ungeleckt, recht hinterwäldlerisch aus — aber auch merkwürdig genug.

Da hingen Fischgerätschaften, Netze und vor allen Dingen viele Messer verschiedener Größe, dann zwei Betten, richtiger Lager — das war aber auch das ganze Mobiliar, ein Kleiderspind und derartiges fehlte — die steinernen Betten aber waren mit Fellen belegt, und zwar mit ... . Panther- und Löwenfellen!!

Oho, wie kamen die hier unter Australiens Erde zu Panther- und Löwenfellen? Nun, sie züchteten ja auch Schildkröten und eine Art von Krokodilen, die ebenfalls gar nicht in Australien Vorkommen!

Im übrigen sah es recht schmutzig aus, nur die Apparate, und was dazu gehörte, zeigten eine peinliche Sauberkeit, was sich Nobody recht gut zusammenreimen konnte. Der nackte Fuß erzählte es ihm.

Hier hausten zwei Männer, vielleicht Wilde, dazu abgerichtet, die elektrischen Apparate in Ordnung zu halten, wie man ja auch einen Hund zum Drehen des Bratspießes abrichten kann, das taten sie aufs sorgfältigste, auch schreiben konnten sie, sie führten sogar ein Tagebuch — das war aber auch alles, sonst vernachlässigten sie ihre Wohnung und jedenfalls auch sich selbst.

Wie sich die beiden Freunde so umschauten, war es besonders Scott, der von einer großen Enttäuschung befallen wurde.

Wie schon gesagt, fehlten auf der Karte zuletzt bei der punktierten Linie, welche den Weg angab, alle weiteren Merkmale. So konnten die beiden auch nicht wissen, wie weit sie schon vorgedrungen waren.

Offenbar hatten sie das Ende der punktierten Linie nun schon erreicht, hier dieser große See, diese Versuchsstation, das war der rote Punkt, den sie stets als ihr Ziel betrachtet hatten. Das erschien um so glaubwürdiger, als das Ganze ja hier von der Felswand abgeschlossen wurde.

So hatten sie also ihr Ziel erreicht. Und was nun? Nun konnten sie wieder umkehren. Sie hatten ja Wunderbares genug gesehen, das Wunderbarste zuletzt gefunden, aber ... beide waren doch der festen Meinung gewesen, daß der rote Fleck etwas Besonderes anzeigte, was an der Oberfläche der Erde liegen müsse.

Flüsternd teilte Scott dem Freunde seine Ansicht mit. Doch Nobody, der den Blick auf die Uhr geheftet hatte, schüttelte den Kopf.

»Gott bewahre, wir sind noch nicht an unserem Ziele.«

»Woraus schließt du das?«

»Vor allen Dingen müssen wir doch erst diese beiden Menschen kennen lernen, die als Tierwärter hier unten Hausen.«

»Gewiß. Aber was dann? Dann müssen wir eben den Rückweg antreten.«

»Ja, aber weshalb nicht erst die Oberfläche der Erde betreten?«

»Ich möchte bezweifeln, daß es von hier einen Weg nach oben gibt.«

»Aus welchem Grunde zweifelst du daran?«

»Weil ... aus den verschiedensten Gründen. Es liegt ganz in der Natur dieses seltsamen Mannes, der sich den Herrn der Erde nennt, hier unten zwei Menschen abgeschlossen von aller Welt zu halten, er versorgt sie mit allem, was sie zu ihrem Leben und zur Wartung der ihrer Pflege übergebenen Tiere brauchen … «

»In gewissem Sinne hast du recht,« unterbrach ihn Nobody, »aber du vergißt wohl ganz das Fleisch, welches wir die einzelnen Tiere haben verzehren sehen?«

»Hm. Allerdings. Doch könnte das nicht konserviertes sein?«

»Nein. Das war frisches, noch blutendes Fleisch, und zwar nicht solches von Känguruhs, dazu sah es zu rot aus, und was für größere Tiere hat Australien sonst noch?«

»Ja, was aber schließt du aus alledem?«

»Daraus schließe ich, daß ... blicke erst einmal nach der Uhr, nach der letzten Nummer der Zahl, welche wohl das Datum angibt!«

Der große Zeiger hatte die 24 erreicht, ein klingender Ton, und auf dem letzten Blättchen wurde die 7 mit einer 8 ausgewechselt.

»Mitternacht! Doch könnte es ebensogut Mittag sein, wenn hier nämlich der neue Tag mit dem höchsten Stande der Sonne beginnt, was meiner Ansicht nach auch viel richtiger ... still, Vorsicht, es kommt

jemand!!«

Wie Nobody das Nahen eines nackten Fußes auf diesem Steinboden hören konnte, war für Scott unbegreiflich. Doch sein Freund hatte sich nicht geirrt, es kam jemand ... das seltsamste Wesen, welches die beiden jemals gesehen hatten!

 

—————

 

 

VII.
Die Pygmäen.

 

Das eintretende Geschöpf war ein Mensch, ein alter Mann, dem der weiße Bart bis auf den Gürtel wallte — aber ein Mensch von wenig über einen Meter Höhe.

Es war ein Zwerg, wie Nobody ihn noch nicht gesehen, ihn nicht für möglich gehalten hätte — ein Wichtelmann aus dem Märchen.

Zwerge sind doch immer zart gebaut, haben kleine Füße und Hände, haben überhaupt etwas Kindliches, etwas Unreifes an sich. Einen Bart findet man selten.

Ganz anders werden die sogenannten Wichtelmänner dargestellt. Und das hier war nun gar der furchtbare Alberich, der mit Riesenkraft begabte Zwerg, gegen den auch Siegfried bald unterlegen wäre.

Die kaum meterhohe Gestalt mit einem Paar mächtiger Schultern ausgestattet, die Arme strotzend von Muskeln, ebenso die großen Hände, überhaupt der ganze Körper, und dazu paßte auch der dicke Kopf mit dem langen, weißen Barte.

Aus dem weißen Bart- und Kopfhaar durfte man nicht auf ein hohes Alter schließen. Nach den roten Augen war der Zwerg nämlich ein Albino. Trotzdem aber war er, den finsteren und charaktervollen Gesichtszügen nach zu urteilen, ein schon hochbejahrter Mann.

Hierdurch wurde dieses menschliche Wesen nur noch mysteriöser. Schon der menschliche Albino ist eine Seltenheit, ein Albino ist überhaupt etwas ganz Unreifes, der Zwerg wird nie alt, der Albino noch weniger — und hier nun ein zwerghafter Albino, sicher ein sechzigjähriger Mann, dabei strotzend von selbstbewußter Kraft!

Der mannbare Wicht war in ein zottiges Fell gehüllt, in welchem der staunende Nobody das eines kleinen, malaiischen Bären erkannte, es hing ihm von der linken Schulter herab, den rechten Arm freilassend, um den Leib durch einen Riemen zusammengehalten, in dem ein großes Messer steckte, für diese winzige Gestalt schon eher ein Schwert, und gehoben ward dieser germanische Eindruck noch dadurch, daß er in das lange, weiße Haar dicht hinter dem Kopfe einen Knoten geschlungen hatte — also nicht zu verwechseln mit einer Frauenfrisur, wobei das ganze Haar in einen Knoten geschlungen wird, sondern wie einige Stämme der alten Germanen ihr Haar schürzten, wie man es auch manchmal bei langschweifigen Rossen macht.

Ja, germanisch! Das waren die Züge eines Germanen, eines alten, trotzigen, verbissenen Helden! Um diesen Eindruck zu gewinnen, dazu mußte natürlich auch die Hautfarbe eine weiße sein — freilich nicht eben eine reinliche.

Stracks war der Zwerg in diesen Wohnraum hineingegangen. Noch rechtzeitig hatten sich die beiden unsichtbaren, aber nicht wesenlosen Geister in den Hintergrund zurückgezogen. Und wenn nun der Zwerg gerade dieselbe Richtung einschlug? Schon rüstete sich Siegfried zum Kampfe mit dem Zwerge Alberich, Nobody spannte schon seine Muskeln. Denn auch mit diesem Zwerge konnte nicht gut Kirschenessen sein.

Aber es sollte nicht so weit kommen. Der kleine Mann, richtig ein abgebrochener Riese, trat an den Schreibtisch, der ihm als sehr hohes Stehpult diente, warf einen Blick nach der elektrischen Uhr, nahm die Feder wie einen Schippenstiel zwischen die muskulösen Finger und begann Hieroglyphen zu malen.

Jetzt trug er wahrscheinlich ein, welche Tiere er schon gefüttert hatte.

Das Schreiben ward ihm nicht leicht, einmal wendete er sinnend den Kopf, blickte gerade dorthin, wo die beiden Beobachter standen.

Himmel, wenn diese roten Augen des anormalen Geschöpfes, das unter der Erde hauste, imstande waren,

auch jenes Gewebe ... doch nein, auch gegen diese roten Augen des Albinos war die Tarnkappe ein wirksamer Schutz, auch sie gehorchten den optischen Gesetzen, er sah die beiden nicht, das erkannte man gleich am Gesichtsausdruck, der nur ein mürrisch-nachdenklicher war.

Die Feder hingeworfen, und der Zwerg verließ den Raum wieder.

»Wir müssen ihm nach!« flüsterte Nobody.

Sie faßten einander an den Händen und schlichen ihm nach.

Der Zwerg schritt eine kurze Strecke die Steinwand entlang und blieb vor einer Oeffnung stehen, ein seitwärts in die Wand führender Tunnel, von einem erwachsenen Menschen nur gebückt zu betreten.

»Tack!« rief der Zwerg hinein.

»Barr?« erklang es in fragendem Tone zurück.

»Bist du fertig?«

»Gleich!«

Deutsch! Wahrhaftig, sie sprachen Deutsch! Diese zwerghaften Albinos, wenigstens der eine ein solcher, hier mitten im Herzen Australiens, tief unter der Erde hausende Wichtelmänner!!

Nur die beiden Namen, denn solche waren die beiden zuerst gewechselten Worte doch offenbar gewesen, hatten fremd geklungen.

In dem Tunnel klatschte es heftig mehrmals hintereinander.

»Fertig!« wurde drin gerufen.

Der Zwerg verschwand in der Oeffnung, kam aber sofort wieder zum Vorschein, hinter sich eine Art Schubkarre ziehend, auf der ein Haufen blutiger Fleischstücke lag.

Nobody ahnte, daß diese soeben aus ziemlicher Höhe heruntergeworfen worden waren, daher das klatschende Geräusch.

Barr, wie er gerufen worden war, schob mit seiner Karre ab. Jetzt zerlegte er jedenfalls das Fleisch, um die anderen Tiere zu füttern.

Nobody folgte ihm nicht, er hielt seinen Freund an der Oeffnung des Tunnels zurück. Den einen hatten sie ja nun schon kennen gelernt, jetzt wollten sie auf das Erscheinen des anderen warten.

Es dauerte denn auch nicht lange, bis der zweite aus der Oeffnung hervorkam. Ebenfalls ein Zwerg, nicht größer als jener, eher kleiner, ebenfalls ein Albino mit roten Augen und weißen Haaren, auch schon mit Vollbart, aber sicher weit jünger, er hatte nur einen starken Bartwuchs, vielleicht noch ein Jüngling, sonst aber genau so untersetzt und kräftig gebaut.

Ein ganz anderes, ein selbständiges Geschlecht von Zwergen! Oder doch wenigstens ein Paar davon, wie es an der Oberfläche der Erde wohl nirgends existierte.

Dieser hier trug statt des zottigen Bärenfelles ein feingegerbtes Känguruhfell, aber auch nur lose umgehängt. Dagegen zeigte der Gürtel eine bunte Stickerei, und so war er auch sonst geschmückt, mit Arm-, Fuß- und Fingerringen, um den Hals schlang sich eine Kette von gediegenem Gold, und Nobody erkannte sofort, daß dies eigene Goldschmiedearbeit war, plump für unsere moderne Industrie, sehr geschickt für ein auf niedriger Stufe stehendes Volk von Wilden, wobei Nobody nämlich an die Goldschmiedearbeiten der Negervölker Afrikas dachte.

Der junge Zwerg liebte sich zu schmücken, der Alte verschmähte solchen Tand, und daß der eitle Jüngling solch einen widerwärtig schmutzigen Eindruck machte, war entschuldbar, er hatte mit blutigen Fleischstücken hantiert. Doch auch sonst mochte es, dem Wohnraume nach zu urteilen, den er mit dem Alten teilte, mit seiner Sauberkeit nicht allzu gut bestellt sein.

Tack, wie er gerufen worden war, kroch in ein anderes Wandloch und kehrte mit einem Eimer und einem Besen zurück. Der Eimer war roh und dennoch geschickt durch Ausbrennen eines Baumstumpfes hergestellt, der Besen unterschied sich nicht viel von unseren Schiffsbesen. Er war wohl kurz, aber sonst für einen kräftigen Arm berechnet, den Messern entsprechend, die sich in den Händen der kleinen Wichte wie Schwerter ausnahmen, und der Eimer, den er aus einem Bassin voll Wasser schöpfte, bedeutete auch für einen kräftigen, normalen Mann eine ziemliche Last.

Mit diesen Reinigungsinstrumenten verschwand er wieder in dem ersten Tunnel, er scheuerte drin, wie herausströmendes Wasser verriet, er ging auch noch oftmals hin und her, um frisches Wasser zu holen, bis er Eimer und Besen unterstellte und sich zu den Käfigen begab, zwischen denen auch Barr hantierte.

»Unser erstes muß sein, diesen Tunnel zu untersuchen, aus dem das rohe Fleisch hervorkam,« flüsterte Nobody, »jetzt ist die günstigste Gelegenheit, die Arbeit ist fertig, er wird den Tunnel wohl nicht gleich wieder betreten, und beobachten können wir die beiden noch immer. Trennen wollen wir uns lieber nicht, wir bleiben beisammen.«

Sie drangen ein. Hinten, doch gar nicht weit vom Eingänge entfernt, war ein heller Lichtschein. Dort war der horizontale Schacht zu Ende, dort führte ein anderer in die Höhe und wurde von einer an der Wand befestigten Glühbirne erleuchtet.

Wieder war eine eiserne Leiter eingelassen. Sie klommen hinauf. In der Höhe von zwei Etagen kam ein Absatz, ebenfalls erleuchtet. Nur wenige Schritte seitwärts, wodurch sie also über sich wieder eine Decke bekamen, und sie standen vor einer Tür, konnten eine solche wenigstens durch das Vorhandensein einer Klinke ahnen.

Die Klinke konnte niedergedrückt werden, die steinerne Tür drehte sich nach innen, also den beiden zu, in ihren Angeln, sie traten wiederum in einen Schacht und ... sahen über sich endlich wieder einmal den blauen Himmel lachen!

Freilich in ganz bedeutender Höhe, und viel war davon auch nicht zu sehen. Der nach oben führende Schacht war nach Nobodys Schätzung mindestens einhundert Meter hoch und dabei sehr eng.

Zunächst aber sollten sie sich über den langersehnten Anblick des Himmels nicht freuen können.

»Hast du denn die Tür wieder hinter dir zugemacht?« fragte hastig Nobody, der zuerst eingetreten war.

»Ja — oder eigentlich nicht — sie ging von selbst zu — ich wendete keine besondere Kraft an, sie offen zu halten.«

Sofort dämmerte in Nobody eine böse Ahnung auf. Die grauen Steinwände des Schachtes waren ganz glatt, und nicht einmal eine Fuge deutete mehr an, wo sich die Tür überhaupt befand, noch weniger also ein Schloß oder so etwas Aehnliches.

Wenn aber einmal so etwas geschehen war, was nicht mehr zu ändern, dann machte Nobody auch keine Vorwürfe, nicht sich selbst, noch weniger einem anderen, dann nahm er sogar die Schuld auf sich.

Er hätte seinen Freund ja darauf aufmerksam machen können, vorsichtig zu sein, hätte die Tür selbst in der Hand behalten sollen.

Mit kundigen Fingern betastete er die Stelle der Wand, wo sich die Tür befinden mußte. Nichts war zu merken, auch das kräftigste Dagegenstemmen brachte keine Wirkung hervor.

»Na, dann nicht. Aufkriegen wollten wir sie schon, haben es ja aber gar nicht nötig, wollen uns wenigstens nicht lange damit aufhalten. Unser Weg geht jetzt dorthinauf. Hm, das gibt freilich eine anstrengende Klettertour.«

Der vierkantig gehaltene Schacht, in dem die beiden eng zusammenstanden, hatte etwas über einen Meter im Durchmesser. Die Wände ganz glatt, wie gemeißelt, keine Stufen, keine Leiter, gar nichts.

»Edward, bringst du das fertig?«

Nobody beugte sich vor, das Gesicht nach unten, stemmte die Füße gegen die eine Wandseite, die Hände gegen die andere, und klomm so, abwechselnd einen Fuß und eine Hand ablösend und höher setzend, schnell und scheinbar ohne jede Anstrengung ein Stückchen empor.

»Siehst du oder weißt du, wie ich es mache?« fragte er unterwegs ganz ruhig im Konversationstone. »Ich klettere wie ein Schornsteinfeger in der Esse.«

Scott konnte ihn ja nicht sehen, aber er wußte, was sein Freund jetzt tat, wie er dies bewerkstelligte, er hatte ihn bereits einmal bei einer anderen Gelegenheit so klettern sehen.

Scott hatte Nobody auch einmal in anderer Weise klettern sehen, nämlich einen Mastbaum hinauf, an dem die Wanten fehlten, und die Matrosen hatten damals nicht schlecht gestaunt.

Weiß der geneigte Leser zufällig, wie der Australneger die schlanken Kokospalmen erklimmt, um die Nüsse abzupflücken? Bei Schautruppen von Australnegern wird ja dieses eigentümliche Klettern stets gezeigt.

Die Eingeborenen Australiens und der umliegenden Inseln, wie z. B. auf Neuseeland und Timor — aber schon nicht mehr auf den Sundainseln — klettern, wie es sonst keine anderen Eingeborenen tun, in der ganzen Welt nicht, sie bringen es auch gar nicht fertig, das will von Kindheit an gelernt, eingeübt sein, da muß sich der Knochenbau besonders dazu entwickeln, so wie der zukünftige Schlangenmensch schon als kleines Kind von den Eltern ständig gebogen wird.

Kurz, diese eigene Art von Kletterei ist der übrigen Menschheit überhaupt ganz unbekannt. Nur der Affe klettert auf dieselbe Weise, und das Merkwürdige dabei ist, daß es in Australien gar keine Affen gibt, diese Eingeborenen ihnen das also auch nicht abgesehen haben können, und gerade deswegen ist diese Kletterei wirklich wert, daß man darüber spricht. Denn das beweist wiederum, wie sehr der Australneger, der am tiefsten stehende Mensch, sich dem Affen nähert.

Der Australneger umklammert nämlich den Palmbaum mit den Händen, stemmt die Füße glatt dagegen und erklimmt den Stamm auf diese Weise Schritt für Schritt. Es braucht kein rauher Baumstamm zu sein, er bringt dasselbe an einer glatten Stange fertig, wenn sie nur nicht gerade mit Seife eingeschmiert ist.

Das ist leichter beschrieben als getan. Soll es einmal jemand versuchen. Das bringt der geübteste Turner nicht fertig, kein Zirkusclown, kein indischer oder japanischer Jongleur. Solche Versuche sind oft genug gemacht worden. Das muß von zartem Kindesalter an unter Leitung eines Lehrmeisters geübt werden, wobei noch zu bemerken ist, daß die australische Rasse nicht etwa besonders lange Arme besitzt.

Und Scott hatte Nobody auf diese Weise einmal an Bord einen Mastbaum erklimmen sehen, der gar nicht anders zu erklettern gewesen war, weil das Umschlingen mit den Beinen doch eine Grenze hat, und es geschah mit der Geschwindigkeit eines großen Menschenaffen.

Und er hatte auch einmal gesehen, wie Nobody so, wie er jetzt tat, sich in einer Felsspalte emporarbeitete. Damals hatte es sich nur um eine ganz kurze Strecke gehandelt, die aber wohl für jeden anderen Menschen unersteigbar gewesen wäre.

Nein, das konnte ihm der Kanadier nicht nachmachen, ein so ausgezeichneter Turner er auch war. Er hatte es schon damals probiert, probierte es noch einmal — er konnte sich nicht einmal so festklemmen, daß er in der Schwebe blieb. Es war ihm überhaupt ganz unbegreiflich, wie Nobody das nur machte.

Dieser war wieder an seiner Seite. Das Stückchen war nur ein Versuch gewesen.

»Du bringst es nicht? Freilich, das will gelernt sein, und mancher lernt's nie und dann noch mangelhaft. Das ist sozusagen eine göttliche Gabe. Es hängt fast allein von der Stellung der Füße, der Zehen ab, so etwa, wie wenn man einen Teller mit der flachen Hand emporhebt. Dann muß ich eben zuerst allein hinauf und mich nach einem Seile oder etwas Aehnlichem umsehen, an dem du mir nachkommst.«

Scott blickte in die Höhe. Wie sich der vierkantige Schacht nach oben scheinbar verengte! Der sonst so phlegmatische Kanadier konnte ein Schaudern nicht unterdrücken.

»Alfred, wenn dich unterwegs die Kraft verläßt -— oder nur ein ganz klein wenig brauchst du mit einem Fuße auszugleiten!!«

»Gibt es nicht bei mir! Dort oben ist der einzige Ausweg aus diesem Loche, damit basta.«

Nobody sprach anders, als er dachte, um seinem lichtempfindlichen Freunde, dessen Phlegma immer nur sich selbst galt, keine Sorge zu bereiten.

Er unterschätzte das Risiko nicht. Eine solche Höhe hatte er auf diese Weise noch nie erklommen, noch nicht den vierten Teil. Und wenn er nun aus schon beträchtlicher Höhe herabstürzte. Dann war es auf alle Fälle auch der Tod des unter ihm Stehenden.

Und das war dann vielleicht um so besser!

Wie ernst Nobody es nahm, das zeigten seine Vorbereitungen.

Er entledigte sich der unsichtbar machenden Beinkleider, zog Stiefel und Strümpfe aus und die Hosen wieder an. Er kletterte wieder einige Schritte hinauf und sprang zurück.

»Das genügt immer noch nicht, ich muß völlig barfuß sein, schon dieses dünne Gewebe, obgleich es luftdurchlässig ist, hindert. Ich habe Gott sei Dank zwar keine Schweißfüße, aber die Feuchtigkeit, welche nun einmal jede Haut ausdünstet, hilft doch etwas mit. Gemsjäger sollen, wenn sie ganz glatte Felswände erklimmen, sich die Fußsohlen ritzen, um an ihrem eigenen Blute einen Klebstoff zu haben. Das ist eine Fabel, ich weiß es. Um so klettern zu können, darf man keine schmerzenden Füße haben. Dagegen hat jeder Gemsjäger ein Stück Harz in der Tasche, um sich die Füße zu harzen. Ja, wenn ich nur Harz hätte.«

Da erkannte auch Scott, wie sein Freund über das Unternehmen dachte.

»Um Gottes willen, Alfred, gib das fürchterliche Unternehmen auf!!«

»Und was soll dann aus uns werden? Hier verschmachten?«

»Wir werden schon die Tür wieder zu öffnen wissen.«

»Das bezweifle ich. Diesmal bin auch ich etwas hellsehend.«

»Einer der Zwerge wird doch diesen Schacht, in den man von oben herab Fleisch wirft, wieder betreten und uns finden.«

»Und du meinst, darauf werde ich warten?!« erklang es etwas spöttisch. »Nein, Edward, da verlangst du wirklich zu viel von mir. Dort oben ist ein Ausgang, und der wird zu gewinnen versucht!«

Scott sah ein, daß er gegen Nobodys Willen nichts ausrichten konnte, er gab seine Bemühungen auf.

Nobody begann seine Klettertour. Er hatte sich also nur der unsichtbar machenden Beinkleider entledigt, und merkwürdig sah es nun aus, wie es bloß zwei Beine waren, welche da die Wand hinaufliefen, denn von dem Oberkörper war doch nichts zu bemerken.

Der Kletterer, das Gesicht nach unten, beobachtete es selbst, oder er dachte daran, und plötzlich, erst zwei Meter über dem Boden schwebend, ließ er sich unter einem kurzen Lachen nochmals zurückfallen.

»Nein, mich nur mit meinen Beinen bloßstellen, das hat keinen Zweck. In gewisser Hinsicht bin ich eitel. Werde ich von dort oben beobachtet, dann soll man auch meine ganze Figur bewundern können.«

Unter diesen Worten hatte er sich auch des oberen Teiles des Tarngewandes entledigt, er steckte es zu sich und begann zum dritten Male die Klettertour, welche nicht wieder unterbrochen werden sollte.

Höher und höher kroch die menschliche Spinne. Wir können nur sagen, daß das Wagnis gelang, daß Nobody den Rand der Ausmündung erreichte.

Was Scott durchmachte, als er den verwegenen Mann so hoch oben in der Luft schweben sah, nur durch den Druck seiner flachen Fußsohlen und Handflächen gegen die Wände in der Schwebe gehalten, dabei immer einen Fuß und eine Hand ablösend, wie Scott nicht mehr hinaufblicken wollte und es doch mußte, das können wir nicht schildern, und ebensowenig, welche Anstrengungen es Nobody kostete, diesen Weg zu vollenden.

Ein Zurück gab es nicht mehr, er mußte hinauf — und als er oben war, brach er schweißtriefend

zusammen, ohnmächtig, und dennoch mit fliegendem Atem und an allen Nerven zitternd.

Doch einige Minuten genügten für diesen Mann, da hatte er sich wieder erholt, richtete sich auf.

Es war ein steiniges Plateau, umgeben von einem Waldsaum. Nobody wunderte sich darüber, was für Bäume das waren, solche hätte er im Innern Australiens nicht erwartet — doch jetzt hatte das für ihn noch kein Interesse, die Hauptsache war, daß dicht neben der Schachtöffnung ein Balken und ein aufgerolltes Seil lagen, offenbar zu demselben Zwecke bestimmt, zu welchem Nobody die beiden Gegenstände jetzt benutzen wollte, um seinen zurückgebliebenen Freund heraufzubefördern. .

Also den Balken schnell über das Loch gelegt und das Seil hinabgelassen. Es war in Abständen mit Knoten versehen, welche das Klettern sehr erleichterten, vor allen Dingen manchmal ein Ausruhen gestatteten, die Füße bekamen wenigstens einen kleinen Halt. Immerhin gehörte ein sehr gewandter Kletterer mit großer Muskelkraft dazu, um solch eine Höhe von mindestens hundert Meter zu erklimmen. Den Zwergen mit ihrem kleinen Körper und ihren muskelstrotzenden Armen würde das leichter gelingen als dem hünenhaft gebauten Kanadier, doch Nobody zweifelte nicht, daß auch dieser der Anstrengung gewachsen war.

Bis auf den Grund hinabblicken konnte Nobody natürlich nicht. Nur für eine kurze Strecke reichte das Licht der Sonne, so hoch diese auch noch stand, aus, dann gähnte ihm die schwärzeste Finsternis entgegen.

Nobody rollte das Seil auf, ließ es hinablaufen. Offenbar war es viel länger als der Schacht. Als er glaubte, das Ende müsse den Grund erreicht haben, hörte er auf, und daran denkend, daß es hier oben Menschen gebe, von denen er nicht gehört werden mochte, legte er sich an den Rand des Schachtes nieder und steckte den Kopf möglichst tief hinein.

»Edward!« rief er mit gedämpfter Stimme.

»Edward — Edward — Edward — Edward...« antwortete das sich an den Wänden brechende Echo in zahllosen Wiederholungen.

Ebenso kam dann auch seines Freundes Stimme fragend zurück.

»Ja? — Ja? — Ja? — Ja? — Ja?«

»Ist das Seil unten?«

Das war erst ein schönes Kauderwelsch, was da zurückkam, und dann ließ sich wieder Scotts Echo vernehmen.

»Wie? — Wie? - Wie? - Wie? — Wie?«

Sollte Scott ihn wegen des Echos nicht verstehen?

Na, wie er das Seil hinabließ, das mußte der unten Stehende, gegen das Licht blickend, doch sehen, und die Hauptsache war, daß er das Seilende erreichen konnte, dann wußte er schon, was er zu tun hatte.

Um die Sache abzukürzen ließ Nobody gleich das ganze Seil ablaufen — so, nun war es unbedingt unten, sein Freund würde es sofort benützen.

Einstweilen schaute sich Nobody um. Zunächst betrachtete der Fährtensucher den Boden.

Auch hier hatte noch vor kurzem rohes Fleisch gelegen, an dem geronnenen Blute erkennbar; Füße waren hineingetreten und hatten sich auch anderwärts auf dem Steinboden abgedrückt — nackte Füße, ebenso groß und breit, mit wie abgehackten Zehen, wie die Füße der Zwerge dort unten.

So lebten also auch hier an der Oberfläche der Erde solche Zwerge, welche die dort unten zur Fütterung der künstlich gezüchteten Ungeheuer mit rohem Fleisch versorgten?

Ja, warum denn nicht? Nobody kam ja aus Snorri Sturlusons Reich, das erstreckte sich auch noch über die Oberfläche der Erde — Nobody zweifelte an gar nichts mehr.

Und nun der ihn umgebende Wald!

Eichen, und was für stattliche Exemplare!

Hat man je gehört, daß es in Australien Eichen gibt? Es gibt deshalb keine dort, weil sie eben in Australien nicht fortkommen.

Ja, sie kommen fort — in Töpfen, in Gärten — wie bei uns in Europa der australische Gummibaum.

Doch gibt es im Freien einen ganzen Wald von Gummibäumen? Man hat es probiert, in Italien — es ist mißglückt.

Hier war ein ganzer Eichenwald. Ja, hier hatte auch eine andere Hand gepflanzt, eine Hand, die kaum noch eine menschliche zu nennen war. eine übermenschliche, oder vielmehr die übermenschliche Hand einer ganzen Generation!

Denn alles dies konnte unmöglich das Werk und der Erfolg eines einzigen Menschenlebens sein, das erkannte Nobody immer mehr.

Und der Wald war auch belebt. Vor allen Dingen waren es Affen, die den einzelnen Menschen hier neugierig betrachteten und sich von Ast zu Ast schwangen — Affen in Australien! — noch dazu Affen mit Wickelschwänzen, wie sie nur in Südamerika vorkommen!

Nun ja, es waren eben importierte und akklimatisierte!

Nobody wunderte sich über gar nichts mehr.

Wenn aber nun ein Forschungsreisender diese Gegend, auf der Karte bisher als weißer Fleck markiert, erreichte, und er fand mitten in Australien einen Eichenwald, bevölkert von langgeschwänzten Affen, und der Forschungsreisende wußte alles das nicht, was Nobody schon wußte — und woher hätte er es auch wissen sollen — was für Augen hätte er wohl gemacht?

Der mußte sich ja wie in ein Märchenland versetzt Vorkommen — und was er dann bei seiner Rückkehr erzählte, hätte man auch nur für ein Märchen gehalten.

Und Nobody ahnte schon, wußte bestimmt, daß der Eichenwald und die Affen erst das kleinste Wunder waren, was er hier zu sehen bekam.

Wo befand er sich denn eigentlich? Sextant, Logarithmen und eine Spiegeldose mit Quecksilber, welches da, wo Wasser fehlt, dieses vertreten muß, hatte er bei sich. Er machte die geographische Bestimmung.

Die Berechnung der Breite ergab 27 Grad 9 Minuten 12 Sekunden, die der Länge 133 Grad 26 Minuten 16 Sekunden — genau dieselbe Stelle, an welcher auf der Spezialkarte der große rote Fleck eingetragen war — — und auch genau dieselbe Stelle, welche Scott im hypnotischen Hellsehen angegeben hatte, wo er nach jahrelanger Trennung seine Jugendgeliebte wiederfinden würde.

Nun hätte der Kletterer aber oben sein können.

So weit das Tageslicht hinabreichte,, war von ihm noch nichts zu sehen, und dazu wäre auch nötig gewesen, daß er sich des Tarngewandes entledigt hätte.

Ein Zittern des Seiles war nicht zu bemerken. Zu heben war das Seil nicht so einfach mit der Hand, es war, frei herabhängend, durch sein eigenes Gewicht zu schwer.

Stutzig dagegen wurde Nobody, daß es sich oben so leicht hin und her bewegen ließ. Das machte gar nicht den Eindruck, als ob da ein schwerer Mensch dranhinge — oder der Kletterer mußte sich noch ganz weit unten befinden, und es waren inzwischen doch schon gut fünf Minuten vergangen.

Nobody legte sich wieder an den Rand des Schachtes hin.

»Edward, wie weit bist du?«

»Du Edward du wie du weit du Edward du bist . . . .«

So antwortete das Echo durcheinander. Aber die Stimme seines Freundes kam nicht dazwischen, wie Nobody auch lauschte.

»Edward!!« rief er einmal scharf hinab.

Das Echo edwardete sich aus — aber der Angerufene antwortete nicht!

Seltsam! Gehört mußte er es haben, und mochte die Kletterei auch eine noch so anstrengende sein, einen Laut konnte er doch ausstoßen.

»Edward!!!«

Keine Antwort aus dem Munde eines zweiten Menschen drang herauf.

Da hatte Nobody eine schreckliche Vision. Er sah seinen Freund am Boden des Schachtes liegen —abgestürzt, abgeglitten, die Kraft hatte ihn unterwegs verlassen!

Es war nur eine blitzschnelle Vision gewesen.

Nein, das konnte nicht sein. Dann hätte Nobody unbedingt den Aufschlag des schweren Körpers auf den harten Stein gehört haben müssen.

Aber warum kam er nicht?

Nobody ließ sich aus keine Vermutungen ein — schon hing er am Seil und glitt hinab, mit einer Gewandtheit, die ihm keiner der langgeschwänzten Affen dort nachmachte.

Jetzt hatte er den Boden erreicht — ›Edward‹! —er tastete um sich — Scott befand sich nicht mehr im Schacht, war verschwunden!

Es verging doch eine Minute, während welcher Nobody die vier Felswände anstierte, ehe er dieses Wunder des Verschwindens als Tatsache anerkannt hatte.

Dann aber dachte er auch gleich recht korrekt. Zunächst empfand er Freude darüber, daß er seinen unsichtbaren Freund nicht mit zerschmetterten Knochen am Boden liegen fühlte.

Wenn er nicht tot war, mußte er noch leben, und daß man noch lebt, ist immer die Hauptsache.

Wie mochte er aus dem Schachte herausgekommen sein? Oben sicher nicht — also durch die Felswand hindurch.

Durch jene Tür? Vielleicht, vielleicht auch nicht!

Eins aber glaubte Nobody mit Bestimmtheit annehmen zu dürfen: nämlich daß keiner der beiden Zwerge den Schacht wieder betreten hatte, Scott darin gesehen, ihn überwältigt und als Gefangenen mitgenommen hatte.

Hätte sich dieser Kanadier wohl so leicht überwältigen lassen? Hätte er nicht wenigstens einen einzigen Schrei ausgestoßen?

Kurz und gut, das Verschwinden seines Freundes hing mit einem Rätsel zusammen, welches nicht dadurch ergründet werden konnte, daß man sich hier unten umblickte und die nackten Felswände anstierte.

Wenn Nobody so dachte, so war dies gewiß nicht ein Zeichen von Gefühllosigkeit — von Nobody, der kein Tier leiden sehen konnte und für seinen Freund noch viel mehr als nur den kleinen Finger hingegeben hätte, schließlich hatte dieser Philosoph in seiner eigenen Art auch seine eigenen Gedanken.

»Edward hat gesagt, daß er hier seine Agathe wiederfinden würde, und was er in seinem Hellsehen aussagt, glaube ich ihm unbedingt. Also wird er nicht eher den Tod finden, als bis er sie gesehen, wiedergefunden hat. Und hat sich dann sein Schicksal erfüllt — nun, was kann der Mensch sich mehr wünschen, als im Augenblicke des höchsten Glückes vom Tode getroffen zu werden, und wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.«

Mit diesem Selbstgespräch war Nobody hier unten mit sich selbst fertig geworden, und er wußte genau, was er tat, als er nicht erst nach der Oeffnung suchte, durch welche sein Freund verschwunden war, sondern als er sofort wieder die Klettertour nach oben antrat.

»Edwards wieder habhaft zu werden, muß natürlich meine Hauptaufgabe sein,« dachte er unterwegs, als er seinen Körper in die Höhe hob und schob. »Aber ich darf auch nichts versäumen, alles kennen zu lernen, was der rätselhafte Mann, der eigentlich in meinem Keller als Mumie liegen sollte ...«

Er brach mit seinem inneren Selbstgespräch ab, der Gedanke blieb ihm im Räderwerk des Hirnes stehen, und es hätte nicht viel gefehlt, so hätte Nobody das Seil losgelassen und wäre hinabgestürzt.

Abermals hatte er eine Vision, aber eine ganz andere als vorhin, da er mit seinen geistigen Augen den Freund am Grunde des Schachtes hatte liegen sehen.

Plötzlich sah er über sich ganz deutlich das ihm so gut bekannte, von Haß und Hohn verzerrte Teufelsgesicht, — nicht nur das Gesicht, sondern den ganzen Mephistopheles, ebenso bekleidet wie damals, da er ihm in seiner Wohnung den Besuch abgestattet hatte, ebenso elegant im schwarzen Gesellschaftsanzug, vorn die goldene Doppelkette — er ließ den Klemmer an der schwarzen Schnur um den Finger wirbeln; jetzt setzte er ihn auf, blickte in den Schacht hinab, nun noch so ein recht höhnisches, schadenfrohes Grinsen, ganz unbeschreiblich, wie es eben nur der leibhaftige Teufel fertig bringen mag —- und da war die Gestalt schon wieder verschwunden.

Und in der Mitte des Schachtes hing Nobody an seinem Seile. Er hatte zum Glücke nicht losgelassen. Alsbald kehrte auch die klare Besinnung zurück.

»Es war nur eine Vision,« sagte er zu sich selbst, das Klettern wieder aufnehmend, »ich habe mich vorhin doch etwas überanstrengt, ich hatte gerade an ihn gedacht — da gaukelte mir meine Phantasie etwas vor.«

Er hatte allen Grund, an eine Vision zu glauben, so deutlich er auch die ganze Gestalt dort oben über der Mündung des Schachtes hatte stehen sehen.

Eben deswegen konnte es keine Wirklichkeit gewesen sein. Denn auf dem Querbalken hatte die Gestalt nicht gestanden, das wußte Nobody bestimmt, und dann wäre es auch gar nicht möglich gewesen, von hier unten aus die ganze Gestalt zu überblicken, so wie Nobody es gesehen zu haben glaubte, unbedingt hätte der menschliche Körper in stark verkürzter Projektion erscheinen müssen, oder er hätte sich weit vorbiegen müssen, dann aber wäre doch immer nur der Oberkörper zu sehen gewesen —— kurz und

gut, Nobody war völlig davon überzeugt, daß ihm seine Phantasie nur eine Vision vorgegaukelt hatte. Stand dieser Mann mit alledem, was er hier sah und erlebte, doch in engster Verbindung.

Oben angekommen, war es sein erstes, daß er sofort das Seil emporzog, zusammenrollte und es mit dem Querbalken wieder so legte, wie er alles gefunden hatte.

Selbstverständlich wußte er auch hierbei genau, was er tat, wenn er dadurch seinem Freunde die Möglichkeit nahm, doch noch das Seil als Hilfsmittel zu benutzen, um den Schacht wieder zu verlassen.

Wir können nicht die Gründe alle anführen, die ihn zu dieser Handlung bewogen; ist es doch überhaupt schwierig, mit dem Kopfe dieses Detektivs zu denken, welcher mit klarer Vernunft manchmal die seltsamsten und widersprechendsten Handlungen beging — um zuletzt doch immer recht zu behalten.

Obgleich aber Nobody an eine Vision glaubte, sah er sich doch danach um, ob neue Spuren aus dem Boden hinzugekommen seien, die Vision schien also doch gar zu deutlich gewesen zu sein. Aber bei der Beschaffenheit des Bodens hier, einer Steinplatte gleichend, konnte sich überhaupt sein Fuß nicht abdrücken, er sei denn benetzt gewesen, wie die breiten, kurzen Füße es mit Blut gewesen waren.

Hieraus zog Nobody Strümpfe und Schuhe wieder an und schritt aufrechten Ganges als sichtbarer Mensch über das Steinplateau.

Erst in einem dichten Gebüsch, seltsamerweise aus herrlich duftenden Fliedersträuchern bestehend, worauf Nobody aber jetzt nicht achtete, hüllte er sich wieder in sein Tarngewand, und von nun an, als er das Gebüsch wieder verließ, unsichtbar, gab er sich möglichste Mühe, seine Spuren zu verbergen.

Gesetzt also den Fall, es hatte jemand ihn dem Schacht entsteigen sehen, so führte seine Spur doch nur bis zu diesem Fliederbusch, dann konnte sich der Betreffende den Kopf darüber zerbrechen, wo der Mann plötzlich verschwunden war.

Es war ein deutscher Eichenwald, durch den Nobody dahinwandelte, als Park gepflegt, durchsetzt mit Flieder-, Rosen- und anderen Büschen — aber wiederum doch nicht gepflegt, sondern ein verwilderter Park, und an Nobodys Urteil, daß es ein deutscher, parkähnlicher Wald sei, wurde dadurch nichts geändert, daß noch andere Bäume und Sträucher hinzukamen, welche in Deutschland nicht gedeihen, zum Beispiel die Feige und der Johannisbrotbaum, wie er auch bald herausfand, daß die Eicheln süß und eßbar waren, wie solche in Italien allgemein zu finden sind.

Trotzdem kam Nobody nicht auf den Gedanken, von einem italienischen Eichenwald zu sprechen. Nein, das war ein deutscher, trotz Feigen, Johannisbrot und allem.

Woher der Unterschied kam, das ist schwer zu sagen. Das kann man auch nicht aus Büchern lernen, dazu muß man selbst viel gereist sein, und dann kann man das auch nur herausfühlen.

Die Gefühlssache kann man sogar im buchstäblichen Sinne des Wortes nehmen.

Nehmen wir Aegypten an. Was für paradiesische Gegenden gibt es nicht zwischen Kairo und Alexandrien, wie Damiette, Mansurah. auch die großen Oasen — was für herrliche Rasenflächen erblickt man dort nicht! Nun setze man sich auf solch einen Rasen. Mit einem Wehegeschrei wird man wieder aufspringen.

Disteln, alles mit Disteln vermischt, ganz Aegypten ist verdistelt! Und dasselbe gilt für Italien. Deshalb mögen Aegypten und Italien auch das Paradies der Esel sein.

Ja, das, was wir gemeinhin Rasen nennen, also die verschiedenen Grasarten, das gibt für die Vegetation jedes Landes den Ausschlag, das charakterisiert es. Nicht Bäume, nicht Sträucher, sondern der Rasen. Denn mit dem Rasen hat jede Vegetation angefangen; und wird alles aus der Erde vernichtet, etwa durch eine Feuerbrunst — wiederum sproßt zuerst der Rasen hervor, und aus dem Rasen erkennt man das Land.

Den herrlichsten Rasen besitzt Irland, dann kommt England, dann Deutschland, speziell Norddeutschland. Und das hier, war ein deutscher Rasen, der unter den kernigen Eichen den Boden bedeckte.

Schließlich kann man auch am Baume selbst gleich das Land erkennen. In Italien schießt die Eiche hoch und dünn empor, in England geht sie nur in die Breite, in Deutschland schlägt sie die goldene Mittelstraße ein —— und nach alledem war das hier ein deutscher Eichenwald, mochten seine Früchte auch eßbar, mochte er von Papageien und Affen bevölkert sein.

Mit diesen Affen und Papageien hatte es wiederum seine besondere Bewandtnis. Daß die ersteren Wickelschwänze waren, welche nur in Südamerika vorkommen, wurde schon gesagt. Aber vor allen Dingen fehlte das ohrenbetäubende Brüllen und Schnattern und Kreischen, mit denen die Affen die südamerikanischen Urwälder noch unausstehlicher machen, als diese noch aus anderen Ursachen schon zur Genüge sind.

Und dann erkannte Nobody in den Gesichtern dieser langgeschwänzten Affen, als er ihnen nahe genug kam, auch ganz deutlich die charakteristische Physiognomie der indischen Vierhänder.

Also auch hier wieder eine Vermischung zweier fremden Weltteile. Und dasselbe galt von den Papageien oder Kakadus. Die außerordentlich großen in herrlicher Farbenpracht strahlenden Vögel, die sich recht sittsam benahmen, mochten wohl australischen Ursprungs sein, das war nicht zu erkennen, aber wiederum verschmolzen mit amerikanischem und indischem Blut.

Da erreichte der mit forschenden Augen um sich sehende Nobody schon den anderen Saum des Waldes. Es war, wie er später noch genauer erkannte, nur eine mehrfache Reihe von Bäumen, welches jenes Steinplateau, in dessen Mitte sich die Schachtöffnung befand, ringförmig umgab.

Vor ihm breitete sich eine Prärie aus, wie es eine solche ebenfalls sonst nicht in Australien gibt, nämlich aus dicht zusammenstehendem, hohem Grase, und wiederum erkannte Nobody eine Verschmelzung von amerikanischen und indischen Grasarten, zum Teil aber auch ihm ganz unbekannte.

Im Hintergründe erhob sich eine hohe Bergkette.

Noch einmal faßte Nobody alles zusammen, was er bisher alles gesehen hatte, jetzt nur hier an der Erdoberfläche, und seine Gedanken klangen in dem Schlußsatze aus:

»Wenn diese bisher noch unbekannte Oase, was diese so überaus fruchtbare Gegend mitten im Herzen des sonst so wüsten Australiens doch jedenfalls ist, von einem Forschungsreisendem erreicht wird, und er findet hier solch eine fremde Vegetation und Tierwelt, in der er die südamerikanische und indische, nicht minder aber die europäische erkennt, und dem Forschungsreisenden gelingt wieder die Rückkehr nach den kultivierten Gebieten, und er erzählt von seiner Entdeckung, deren Umfangsweite ich selbst noch gar nicht kenne, so …«

»Hähähähähäü«

»Das ist der Mephistopheles!« war Nobodys erster Gedanke, als sein stummes Selbstgespräch von solch einem spöttischen Gelächter unterbrochen wurde.

Es hatte in seiner dichten Nähe erklungen, und obgleich sich Nobody bewußt war, unsichtbar zu sein, hatte er sich doch schnell zusammengeduckt, eben weil er jenen Mann vermutete, in dessen Augen die Eigenschaft des Tarnkleides zu versagen schien.

Richtig, da lag im Schatten eines Baumes ein Mensch — kein Zwerg, sondern ein erwachsener, normaler Mensch — aber auch nicht, wie sich Nobodys Phantasie im ersten Moment, als er den Blick gewendet, vorgegaukelt, im eleganten Gehrockanzuge, sondern nur in Känguruhfelle gehüllt, das Antlitz nicht totenblaß, sondern sonnenverbrannt, nicht von einem schwarzen, sondern von einem rotblonden Barte umwuchert — und um das Staunen vollzumachen: ein guter Bekannter von Nobody!!

Oder war das nicht Doktor King, der hier im Herzen Australiens, in einem abgegriffenen Buche lesend, unter einer in Australien gar nicht vorkommen dürfenden Eiche lag, sich in altgermanischem Kostüme präsentierend, nur anstatt eines Bärenfells das eines großen Känguruhs um den sonst nackten Leib geschlungen?

Es konnte sogar recht gut Doktor King sein, die Begegnung hier war gar keine so merkwürdige.

Vor zwei Jahren war Fox Prichard, der sich schon als Australforscher einen Namen gemacht hatte, von London aus abermals nach Australien gegangen. Als Arzt begleitete ihn Doktor James King, der ebenfalls den neuholländischen Kontinent schon einmal durchquert hatte, einer der besten Kenner der neuholländischen Dialekte. Nobody hatte die Bekanntschaft dieses Arztes im Travellerklub zu London gemacht.

Mit noch anderen Männern der Wissenschaft hatten sich die beiden nach Sydney begeben, und mit einer kleinen, aber aufs beste ausgerüsteten Expedition waren sie abmarschiert, ins Innere des unbekannten Australiens.

Vor einem halben Jahre hatte Nobody das letztemal etwas über diese Expedition vernommen. Gehört hatte man noch nichts wieder von ihr, gab sie aber durchaus noch nicht verloren. Zwei Jahre hatten die Forscher auch mindestens ausbleiben wollen.

Und hier nun sah Nobody diesen Doktor King wieder, nackt, nur in Känguruhfelle gehüllt! Das sagte ihm schon viel.

Aber er mußte mehr wissen, alles, und Nobodys Entschluß war gefaßt.

Nachdem er sich vorsichtig umgesehen hatte, zog er hinter einem Busche sein Tarnkleid mit wenig Handgriffen wieder aus.

»Doktor James King!«

Auf schnellte der mit leiser Stimme Angeredete, und es war begreiflich, daß er Augen machte, als ob er nicht einen jägermäßig gekleideten Mann, sondern einen Geist sähe.

»Wer — wer …«

»Erkennen Sie mich nicht? Wir machten unsere Bekanntschaft vor zwei Jahren am Bankholyday im Travellerklub, der mich als Gast bewirtete — Nobody!«

Da sank der Gelehrte, dessen Blöße nur mit einem Känguruhfelle bedeckt war, auf die Knie nieder und breitete beide Arme aus.

»Nobody, Sie kommen als mein Retter …«

»Still!!« wurde sein Jauchzen sofort unterbrochen. »Oder erst müssen Sie mir sagen, ob wir hier auch ganz ungestört sprechen können.«

Der Arzt hatte sich denn auch sofort gefaßt, er erhob sich wieder, und dann erwies er sich als ein echter Nevermindman, der er schon früher gewesen war. Er hatte nur seine Wissenschaft im Kopfe, nichts weiter. Nur der erste Anblick eines Menschen in dieser Einsamkeit, den er wirklich als Menschen betrachtete, hatte ihn nach langer Entwöhnung dieses Anblicks etwas überrumpelt.

Vielleicht galt seine Freude auch nur dem Retter der Früchte seiner Entdeckungen, nicht dem Retter seiner eigenen Person.

»So ziemlich,« entgegnete er jetzt also phlegmatisch auf Nobodys Frage, ob sie hier ungestört wären.

»Wir können hier nicht belauscht werden?«

»Am Nachmittage darf kein Lop diesen Wald betreten, der ein Heiligtum umschließt, sich ihm auch nur nähern, die Gottheit würde ihn sofort töten, und die Sonne hat bereits ihren höchsten Stand überschritten. Mann, Nobody, wie kommen Sie denn hierher in diese Oase?«

Das war es, worüber sich Nobody so freute, hier einen Mann zu treffen, der ihn schon kannte.

Denn welche Erklärung hätte er einem anderen geben sollen, der womöglich den Namen Nobody noch gar nicht gehört hatte? Den Weg, den er genommen, wollte er als sein Geheimnis bewahren, und jede andere Erklärung mußte erst recht wie ein Märchen klingen.

Dieser Gelehrte hier aber kannte Nobody zur Genüge und er glaubte an seine außerordentlichen Fähigkeiten.

»Zu Fuß. Wie denn sonst anders? Doch erst wegen unserer Sicherheit: können wir ruhig hierbleiben oder wollen wir uns nicht lieber etwas tiefer in diesen heiligen Wald zurückziehen?«

»Bleiben wir hier, niemand wagt sich zu nähern, und ich habe einen Grund, dort die Wiesenfläche zu beobachten.«

Der Arzt hatte sich sorglos wieder in das Gras zurückgelegt, welches ihn auch vollkommen verbarg, Nobody lagerte sich neben ihm.

»Allein?«

»Allein,« bestätigte Nobody aus gutem Grunde, für diese Unwahrheit dann für später schon jetzt eine Ausrede wissend.

Dieser Arzt wunderte sich also nicht im geringsten darüber, daß ein einzelner Mann gewagt hatte, so weit ins Innere Australiens vorzudringen, und daß ihm dies auch gelungen war. Es war eben Nobody, den er vor sich hatte.

»Sind Sie den Spuren unserer Expedition gefolgt?« fragte Doktor King weiter.

»Nein.«

»So wissen Sie noch gar nicht, daß unsere Expedition hier zugrunde gegangen ist?«

»Es ist das Neueste, was ich zu erfahren bekomme, und ich bin erschrocken.«

»Wissen Sie denn, wo Sie sich befinden?«

»Auch nicht.«

»Aber daß es eine große Oase ist, mitten in einer endlosen Wüste gelegen, zu deren Durchquerung wir zwei Wochen gebraucht haben, das wissen Sie doch?«

»Ja, das weiß ich. Ich glaube wenigstens, daß es eine Oase ist.«

Zum Glück fragte King nicht weiter, wo Nobody denn die Oase betreten habe und dergleichen mehr. Offenbar kitzelte es den Arzt, mehr zu wissen als Nobody, diesen belehren zu können.

»Sind Sie hier schon Menschen begegnet?«

»Sie sind der erste.«

»Noch keinem Zwerge?«

»Was sprechen Sie da von Zwergen?'« stellte sich Nobody erstaunt.' ^

»So wissen Sie noch gar nicht, welchen wunderbaren Fleck auf der Erde Sie erreicht haben?«

»Allerdings ist mein Staunen groß, ich kann es gar nicht fassen, was ich hier mitten in Australien zu sehen bekomme. Eichen und Fliederbüsche, Affen und Papageien, die ich doch nicht für australische halten kann, und Affen gibt es in Australien ja überhaupt gar nicht, und nun auch diese Savanne hier ...

»Ach, was ist alles das!« fiel ihm der Gelehrte, bei dem immer mehr ein Dünkel durchbrach, verächtlich ins Wort. »Aber nun erst das Volk — dieses Volk von Zwergen, das sich hier selbständig entwickelt hat — und ich bin der erste Mensch, der es entdeckt hat!« setzte er eilfertig noch hinzu.

»Wo sind denn die übrigen Mitglieder der Expedition?«

»Lassen Sie sich erzählen.«

Und er begann umständlich zu erzählen, zuerst, wie in Sydney die Expedition ausgerüstet wurde. Nobody erfuhr, daß sie aus vier gebildeten Männern, sieben anderen Weißen, die das Buschleben kannten, und vier Eingeborenen bestanden hatte, und daß auch zwei Kamele als Lasttiere mitgenommen worden waren.

Ebenso umständlich schilderte er den Weg bis hierher und alle sonstigen Einzelheiten der Reise, was sie sonst alles durchgemacht hatten, wie den Strapazen zwei Mitglieder der Expedition erlegen waren, von Wassersnot, Überschwemmungen usw.

Nobody bezähmte seine Ungeduld, bis die Expedition endlich nach dieser Oase kommen würde. Uebrigens war die Schilderung auch ganz interessant, und vor allen Dingen lernte Nobody gleich den Weg auch an der Oberfläche der Erde bis hierher kennen, jetzt konnte er mitsprechen, als ob er ihn selbst zurückgelegt habe.

»Welches Datum haben wir heute?«

»Den achtzehnten.«

»Ja, aber in welchem Monat? Mir ist die Zeitrechnung vollständig abhanden gekommen.«

»Den achtzehnten Dezember.«

»Mein Gott, also schon ein halbes Jahr bin ich nun hier als Gefangener!!«

»Doch nicht als Gefangener von Menschen?«

»Gewiß, ich werde wie ein Sklave behandelt.«

»Wie Sie hier lesend unter einem Baume liegen, machen Sie gar nicht den Eindruck eines Sklaven. Wo sind denn Ihre Herren? Doch erzählen Sie!«

Am 22. Juli erreichte die dem Verschmachtungstode schon nahe Expedition nach Durchquerung einer schier endlosen Wüste eine Gebirgskette, hinter welcher man aus dem Flug der Vögel bestimmt Vegetation und Wasser vermutete.

So war es denn auch.

»Als wir die Höhe erreicht hatten, blickten wir in ein grünes Tal hinab. Daß wir beim Abstieg immer mehr eine Flora erkannten, welche gar nicht nach Australien gehört, kümmerte uns vorläufig nicht, wir wollten Wasser haben, nur Wasser. Nun, Quellen und Bäche gibt es hier überall, und als wir unseren Durst gelöscht hatten, da freilich erweiterten sich unsere Augen. Doch ich bin kein Botaniker und kein Zoologe, sondern Ethnologe. Sie sehen ja schon hier, was für eine seltsame Flora und Fauna hier existiert. Bei uns kam gleich noch ein Tiger hinzu, der uns eine Quelle streitig machen wollte . . . .«

»Was sagen Sie, ein Tiger, hier in Australien?« stellte sich Nobody wiederum erstaunt.

»Ein Tiger,« bestätigte Doktor King. »Kein Königstiger, aber doch ein Tiger. Doktor Hornak, der uns begleitende Zoologe, erklärte ihn identisch mit dem indischen Tiger, aber doch eine selbständige Rasse, auch der amerikanische Charakter herrscht immer mit vor, und so ist es hier bei der ganzen Flora und Fauna. O, und hier gibt es noch ganz andere Bestien als nur Tiger, auch Panther und Löwen . . . .«

»Löwen?! Hier in Australien? Na, nun hören Sie aber auf!«

»Denken Sie etwa, ich bin hier irrsinnig geworden oder erzähle Ihnen mit Absicht Märchen?«

»Pardon. Es kam mir aber doch etwas gar zu überraschend.«

»Uns auch. Doch wir mußten eben glauben. Also ein Land, jedenfalls in der Wüste eine Insel, aus der sich eine ganz neue Pflanzen- und Tierwelt selbständig entwickelt hatte. Wie gesagt, ich bin hauptsächlich Ethnologe, und so interessierte mich am meisten ein Mensch, dessen Jammern uns nach der Stelle geführt hatte, wo er mit einem doppelten Schenkelbruch lag. Er war von einem Felsen herabgestürzt.

»Nun stellen Sie sich erst unser Staunen vor, wie wir ein menschliches Wesen finden, das wohl auf einen anderen Planeten gehört, aber nicht auf unsere Erde. Ein Zwerg, nur achtunddreißig Zoll hoch, dabei aber breitschultrig und mit ungeheuerer Muskulatur, dabei alt, mit langem, weißem Bart und roten Augen, nämlich ein ausgesprochener Kakerlak ...«

Die Beschreibung, welche Doktor King gab, galt einem Zwerge, wie Nobody einen solchen vorhin unter der Erde erblickt hatte.

»Während ich den Schenkelbruch schiente, kamen noch fünf andere solche Zwerge an, genau so gestaltet wie mein Patient, nämlich alle so alt und stark — die richtigen Wichtelmänner. Und was meinen Sie, wie sie sich fortbewegten?«

»Nun, auf den Händen werden sie wohl nicht gelaufen sein.«

»Nein, aber auch nicht auf ihren Füßen.«

»Sie ritten?«

»Ja, aber nun erraten Sie das Reittier, auf welchem sie saßen — das heißt jeder auf dem seinen.«

»Pferde werden's wohl nicht gewesen sein, sonst würden Sie nicht so geheimnisvoll sprechen. Doch nicht etwa gar ein Löwe oder ein Tiger?«

»Es war vielleicht ein noch fabelhafteres Reittier. Sie ritten auf ...da — da!!«

Sich etwas duckend, streckte der Arzt den Arm aus, Nobody folgte mit den Augen der Richtung, und er bekam etwas zu sehen, was allerdings sein höchstes Staunen erwecken mußte.

In ziemlicher Entfernung sah er über die Prärie zwei Känguruhs jagen, in weiten Sprüngen, wie eben nur ein Känguruh sie fertig bringt, und es waren riesige Tiere, und auf dem Rücken eines jeden, ganz vorn am Halse, sah Nobody eine menschliche Gestalt sitzen.

Schnell waren die seltsamen Reiter in einem Gehölz verschwunden, welches die eine Seite der Prärie wieder begrenzte. Schon an den weißen Bärten hatte Nobody erkannt, was für Reiter es gewesen waren.

»Sie reiten auf Känguruhs!!«

»So kamen sie damals auch zu uns, und unser Staunen war vielleicht noch größer als jetzt das Ihrige. Wenn man sich an den Anblick gewöhnt hat, ist ja gar nichts Wunderbares mehr dabei, und dann kann man sich auch fragen, warum sie denn nicht auf Känguruhs reiten sollen. Als man den ersten Kaffer auf einem Reitochsen erblickt hat, war das Staunen nicht minder groß, und daß in manchen Gegenden Afrikas der Strauß als Reittier benutzt wird, hat man so lange für eine Fabel gehalten, bis man Negerjungen auf Straußen hat sitzen sehen. Erwachsene trägt der Strauß allerdings nicht. Ein Riesenkänguruh aber trägt solch einen Zwerg, der höchstens achtzig Pfund wiegt, mit Leichtigkeit; der Reiter hindert es gar nicht am Springen, und ich sage Ihnen, diese Zwerge haben ihre Känguruhs abgerichtet, daß sie dem besten Pferde nicht nachstehen. Ich selbst habe schon darauf gesessen. Es ist auch durchaus nicht so schwierig und unangenehm, wie man annehmen sollte. Da merkt man erst, mit welcher sanften Grazie ein Känguruh seine ungeheueren Sätze ausführt. Man merkt gar nichts davon. Nur in dem Augenblick, wenn es den Boden wieder berührt, muß man sich etwas nach hinten werfen. Sonst sitzt man auf dem Halse eines Känguruhs wie in Abrahams Schoß, nicht zu vergleichen mit dem entsetzlichen Reiten auf einem Elefanten oder gar auf einem Kamele, wo man gleich die Seekrankheit bekommt.«

»Diese Ausführungen sind ja sehr interessant,« sagte Nobody. »Aber wollen Sie nun nicht erst schildern, wie sich die Zwerge gegen die fremden Ankömmlinge verhielten?«

»Warten Sie nur, ihr Reiten hängt eng mit unserem Empfange in ihrem Reiche zusammen. Sie machen sich nämlich keinen Begriff, wie faul diese Zwerge zu Fuße sind. Wenn sie nur sechs Schritte zu gehen haben, rufen sie lieber erst eins der dressierten Känguruhs herbei, klettern hinauf und lassen es mit einem einzigen Satze diese Strecke zurücklegen. Darin gleichen sie ganz den südamerikanischen Indianern und deren weißen Nachfolgern, den Kreolen. Nun ist aber für gewisse Bewegungen das satzweise Springen des Känguruhs doch recht unangenehm, und als die Zwerge die großen zweibeinigen Wesen erblickten, nämlich uns größeren Menschen, die sie aber nicht als Menschen, sondern nur als menschenähnliche Mißgeburten anerkennen, da mochten sie sich gleich gesagt haben: halt, diese zweibeinigen Mißgeburten sind ja wie geschaffen zum Reittier, auf denen können wir sogar Felswände hinaufklettern und beim Beerensammeln ganz hübsch langsam von Busch zu Busch reiten — die werden wir uns dressieren.«

»Was, Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß die Zwerge Sie und die anderen als Reittiere benutzt haben?« rief Nobody jetzt mit ungekünsteltem Staunen.

»Als nichts anderes,« nickte der Gelehrte, dabei phlegmatisch Grashalme durch die Zähne ziehend. »Wie das alles kam, kann ich Ihnen gar nicht schildern, und das ging auch alles schneller, als es sich schildern läßt. Ich schicke voraus, daß diese Pygmäen, wie ich innerhalb des halben Jahres zur Ueberzeugung gelangt bin, überhaupt noch gar keinen anderen Menschen gesehen haben — mit einer Ausnahme, von der ich später sprechen werde. Kurz, wenn wir großen Menschen ihnen auch ganz fremde Wesen waren, so machte unsere Höhe und alles andere auch nicht den geringsten Eindruck auf sie, am allerwenigsten unsere Waffen und unsere sonstige Ausrüstung — das sind zweibeinige Wesen, die zum langsamen Reiten wie geschaffen sind — anders können sie wohl bei unserem Anblick nicht gedacht haben; denn schwubb! da war der eine schon von seinem Känguruh herunter und saß mit einem Satze auf den Schultern von Prichard — und schwubb schwubb schwubb!! — die anderen fünf ebenfalls, jeder Zwerg hatte sich ein zweibeiniges Reittier erkoren, auf meinen Schultern saß ebenfalls einer der kleinen Teufel, und unter Hott und Hü wurden wir vorwärts getrieben. Jawohl, das ging schnell!«

»Unerhört!« rief Nobody. »Und das ließen Sie sich gefallen?«

»Haben Sie nur erst einmal so einen Wichtelmann auf dem Nacken sitzen, wie der seine Beine um Ihren Hals zu pressen weiß, ob man sich da noch etwas gefallen zu lassen hat! Nein, wir waren auch nicht damit einverstanden, so als Reittiere benutzt zu werden. Oder vielmehr, wir dachten doch an einen feindlichen Ueberfall. Dem Gegner so auf den Nacken zu springen, das mußte wohl die Kriegstaktik dieser Pygmäen sein. Prichard war der erste, der mit so etwas nicht einverstanden war, er warf sich schnell aus den Boden und packte seinen Reiter bei den Beinen —das sah ich so ungefähr wie im Traume — ich folgte seinem Beispiele — da erhielt ich einen Faustschlag gegen die Schläfe — als ich wieder zu mir kam, war ich gebunden und geknebelt — die anderen auch — nur Prichard hatte ein Messer im Herzen sitzen — war schon tot.«

Nobody hatte erst etwas wie eine humoristische Anwandlung empfunden — der bis auf das Känguruhfell nackte Gelehrte trug das auch so phlegmatisch vor — bei diesem Schlüsse war die humoristische Anwandlung schnell vorüber.

Denn nun war Nobody auch der Mann, um sich solch eine Szene in greifbarer Wirklichkeit auszumalen — schon als Kind hatte es auf ihn einen furchtbaren Eindruck gemacht, wie Sindbad der Seefahrer von dem lahmen Meergreis als Reittier benutzt wurde — mancher Knabe mag leicht darüber hinlesen, es ist ein hübsches Märchen, nichts mehr und nichts weniger — Nobody aber war als Kind von dieser Situation Tag und Nacht verfolgt worden —- und daher auch jetzt seine furchtbare Erschütterung.

»Entsetzlich!« hauchte er. »Und was nun weiter?«

»Nun, das ging eben so weiter. Mit mir war noch glimpflich verfahren worden, die anderen hatte man gleich halbtot geprügelt — mit Gier wurde nur darauf gewartet, daß sie wieder auf den Beinen stehen konnten, dann wieder auf ihre Schultern, es wurde zur Probe der neuen Reittiere gleich ein Wettrennen arrangiert. — Mister Orglan, der Botaniker, war der erste, der Blutspucken bekam — als zweiter fiel ein alter Squatter um — wie lange hat es gedauert? Vier oder fünf Tage. Dann hat von meinen Gefährten kein einziger mehr gelebt. Alle zu Tode geritten! Diese barbarischen Zwerge schonen ja auch ihre Känguruhs nicht. Aber diese auf zwei Beinen laufenden Tiere können eben mehr aushalten als Menschen.«

Mit scheuen Augen blickte sich Nobody um — er konnte sich eben das alles so lebhaft ausmalen — er fühlte schon einen Zwerg auf seinem Nacken sitzen — und dieser Mann kannte doch gewiß keine Furcht, aber ... es war doch etwas dabei, was ihn gewaltig erschütterte.

Doch schnell hatte er sich wieder gefaßt. Dieser Gelehrte, der in gewisser Hinsicht äußerst einseitig war, wollte ausgefragt werden, bedurfte eines geistigen Spornes.

»Nun, Sie aber sind doch am Leben geblieben.«

»Ja, sonst läge ich nicht hier und könnte Dickens ›Pickwikier‹ lesen. Dieses Buch ist so ziemlich das letzte, was mir von allem erhalten geblieben ist. Unter den sieben Zwergen gibt es einen, der sehr hinkt, ein ganz schiefes Bein hat, das ihn auch beim Reiten hindert. Auch er hat es einmal gebrochen, es ist schlecht geheilt. Natürlich, ohne jede Schienung. Wie ich dem nun das Bein geschient hatte, das machte auf die anderen einen großen Eindruck, und weil sie schnell merkten, daß die großen zweibeinigen Wesen sich doch nicht recht als Reittiere eigneten — sie bekamen ja gleich Blutspucken — so wurde ich vom Schicksal der anderen verschont. Ich kann gerade nicht klagen. Nur so nebenbei werde ich als Reittier benutzt, wenn man mich gerade bei der Hand hat, aber immer nur im Schritt, höchstens in gemäßigtem Trab. Bin ich nicht zur Stelle, sucht man mich auch nicht. Deshalb ziehe ich mich gern hierher zurück, wohin am Nachmittage niemand kommt. Am Vormittage geht es hier desto lebhafter zu, da wird dem Schack Fleisch geopfert. Sonst bin ich nur dazu da, um zu schienen, wenn jemand wieder einmal einen Knochen bricht.«

Zunächst hatte Noboby nur eines gehört. Er blickte den Sprecher an. Es war der ausgesprochene Typus eines Gelehrten, womit das Aussehen dieses Arztes nicht weiter beschrieben werden soll.

»Sie lassen sich als Reittier benutzen?«

»Ich muß es mir wohl gefallen lassen,« war die gleichmütige Antwort.

»Haben Sie noch nicht an Flucht gedacht?«

»Nicht nur gedacht, sondern ich habe schon Fluchtversuche probiert. Geht nicht. Aus dem Känguruh reiten habe ich gelernt, jedes Tier gehorcht mir auch. Nur über den Gebirgskamm hinaus, wo die Wüste beginnt, will das Biest nicht, kein einziges, da hört meine Reitkunst auf. Nein, so einfach ist das mit einer Flucht nicht. Außerdem habe ich dieses rätselhafte Volk noch längst nicht genügend studiert, und ich gehe nicht eher, als bis ich in alles eingeweiht bin. Und daß ich nicht umsonst gehofft habe, beweist mir Ihr Herkommen. Aber ich bitte Sie, noch einige Zeit zu bleiben, wenigstens einige Hauptsachen muß ich erst noch ergründen.«

Nobodys Abneigung gegen einen Menschen, der sich als Reittier benutzen läßt, schwand schnell. Doktor King war kein Mensch schlechthin, sondern ein Gelehrter, ein Forscher, und er sprach und handelte wie ein Gelehrter und Forscher. Alle Hochachtung! Glücklicherweise besaß er auch den dazu nötigen Charakter —— sonst wäre er eben kein solcher Forscher geworden.

»Erzählen Sie mir etwas von diesem Volk von Zwergen. Zunächst — was für eine Sprache sprechen sie?«

»Zuerst konnte ich mich gar nicht mit ihnen verständigen, obgleich ich die sämtlichen australischen Dialekte beherrsche, so weit diese bekannt sind, und sie entspringen sämtlich ein und derselben Wurzel. Diese Zwerge hier aber reden eine ganz eigentümliche Sprache, die ich als künstliche bezeichnen möchte, und ihre Eigenart ist die, daß darin kein zweisilbiges Wort vorkommt.«

Nobody hatte aber doch nun die beiden Pygmäen unter der Erde sich auf deutsch unterhalten hören! Doch da er dieses Geheimnis bewahren wollte, mußte er weitere Erkundigungen auf Umwegen einziehen.

»Was Sie nicht sagen! Eine Ihnen ganz fremde Sprache?«

»Vollkommen fremd. Hat auch mit keiner existierenden Sprache irgendwelche Aehnlichkeit.«

»Können Sie Deutsch, Herr Doktor?«

»Nein. Das heißt, Sie denken doch nicht etwa, daß diese Zwerge Deutsch sprechen? Abgesehen davon, woher dieses sich im Herzen Australiens selbständig entwickelte Volk Deutsch gelernt haben sollte — so viel verstehe ich denn doch auch, daß ihre Sprache kein Deutsch ist. Vor allen Dingen von Grammatik, von Deklination und Konjugation gar keine Spur. Wie kommen Sie denn überhaupt auf diese Frage?«

»Nun, weil das Deutsche doch auch sehr viele einsilbige Vokabeln hat.«

»Hat es? Eigentum« — der englische Gelehrte, dieses deutsche Wort aussprechend, brach sich dabei fast die Zunge ab — »das ist doch ein einfaches Wort, keine Zusammensetzung.«

»Allerdings. Und was heißt Eigentum in der Sprache der Zwerge?«

»Ran. Nein, Deutsch ist es nicht, und woher sollte es auch! Und doch möchte ich fast annehmen,« setzte der Gelehrte noch hinzu, seinen Nachbar mit einem mißtrauischen Blicke bedenkend, »daß Sie doch schon einem dieser Zwerge begegnet sind.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Eben weil Sie fragen, ob sie Deutsch sprechen.«

»Nein, ich habe noch keinen gesehen. Deshalb aber eben verstehe ich auch Ihre Frage nicht.«

»Nun, der Typus dieser Pygmäen ist nämlich tatsächlich nicht nur ein kaukasischer, sondern auch ein germanischer. Es ist ja die Möglichkeit vorhanden, daß in früheren Zeiten einmal ... doch Sie gestatten wohl, daß ich meine Meinung für mich behalte, bis ich mein Buch veröffentlicht habe.«

Und Doktor King machte seinen Mund zu, preßte gleich die Lippen fest zusammen.

O weh, wenn der Gelehrtendünkel, verbunden mit Brotneid, zum Vorschein kam, dann würde Nobody wenig erfahren!

Glücklicherweise öffnete der Arzt seinen Mund gleich wieder.

»Was ich sonst erforscht habe, meine realen Erkenntnisse, damit stehe ich Ihnen gern zu Diensten. Nur meine wissenschaftlichen Spekulationen möchte ich für mich behalten, die sind mein geistiges Eigentum.«

Na, dann war es ja gut, dieses Eigentum konnte er auch ruhig behalten!

»Dann gestatten Sie mir also derartige Fragen?«

»Bitte sehr.«

»Wie groß ist dieses Volk von Zwergen?«

»Es besteht aus sieben Männern.«

»Was, nur aus sieben Männern?!« rief Nobody wiederum mit erkünsteltem Staunen; denn für diese geringe Kopfzahl eines ›Volkes‹ hatte er eine Erklärung, von welcher aber dieser Gelehrte schwerlich etwas wußte, obgleich er ein halbes Jahr hier gelebt hatte.

»Nur aus sieben Männern,« bestätigte Doktor King nochmals. »Ich habe die Oase untersucht, abgeschritten. Es ist wirklich eine Oase mitten in der Sandwüste, die sich nach Süden hin gegen dreihundert englische Meilen erstreckt — nämlich die Wüste meine ich, die unsere Expedition doch durchwandert hat. Begrenzt wird die Oase ringsum von einem geschlossenen Gebirgszug, von dessen Kamm man ringsum wiederum nur Sandwüste erblickt. Zum Durchschreiten der Oase habe ich in den verschiedensten Richtungen immer sechs Stunden gebraucht, sie mag also gegen einhundertvierzig englische Quadratmeilen umfassen, durchaus fruchtbar, mit eigenen Wasserläufen, welche nirgends nach der Wüste zu fließen, mit eigener Pflanzen- und Tierwelt, alles eine so selbständige Entwicklung aufweisend, wie die in ihr hausenden Menschen, welche ... doch da komme ich wieder auf meine

Hypothesen, die ich noch für mich behalten will. Diese einhundertvierzig Quadratmeilen werden von sieben Zwergen bevölkert, bewohnt, beherrscht. Es ist ihr Jagdgebiet. Denn diese Zwerge, die sich selbst Lops oder Lopen nennen, oder vielmehr Lop — denn sie deklinieren überhaupt kein Wort, haben gar kein Plural — leben ausschließlich von der Jagd. Sie essen das Fleisch der erlegten Tiere, am Feuer geröstet, sie verstehen die Felle zu gerben, verstehen Eisen, welches sie an einer Stelle des Gebirges in fast reinem Zustande finden, zu bearbeiten — mehr verstehen sie nicht, und daher ist das alles, was ich Ihnen über die Lop mitteilen kann.«

»O, damit bin ich noch nicht zufrieden, und Sie werden mir wohl auch noch etwas mehr erzählen können. Vor allen Dingen sprechen Sie immer nur von sieben Männern. Und die Frauen und Kinder?«

»Gibt es nicht.«

»Was, gar keine Frauen?!«

»Nein, keine einzige.«

»Na, woher kommen denn da die Kinder?«

»Es gibt eben auch keine Kinder.«

»Aber die Lops müssen doch auf irgendeine Weise entstanden sein.«

»Das wohl, Mütter müssen sie gehabt haben.«

»Dann ist wohl das ganze weibliche Geschlecht ausgestorben?«

»Jedenfalls. Ueberhaupt dieses ganze Zwergenvolk ist von der Natur auf den Aussterbeetat gesetzt worden und ...«

Der Gelehrte hatte schon wieder zu viel von seinen wissenschaftlichen Spekulationen aus geplaudert, er machte mit seinem Munde einen Gedankenstrich.

»Wie erklären sich denn die Zwerge selbst diese Weiberlosigkeit? Irgendein Gefühl muß ihnen doch sagen, daß es noch ein anderes Geschlecht gibt.«

»Gewiß. Sie selbst haben nie ein Weib gesehen, sie sind von Männern erzogen worden, ebenso zwerghaft kleinen, also jedenfalls von ihren Vätern. Irgendeine Katastrophe muß einmal hereingebrochen sein, der nur wenige Männer und Knaben entgingen. Die jetzt noch lebenden sieben Pygmäen sind ebenfalls alle schon alt — wie alt, das wissen sie selbst nicht, obgleich sie aus dem Wechsel der Jahreszeiten nach Jahren rechnen können. Der eine weiß bestimmt, daß er diesen Wechsel schon vierzigmal erlebt hat, und das ist einer der fünften. Trotz dieser nur schwachen Erinnerung an eine Vergangenheit, die Folge einer alles vernichtenden Katastrophe, hat sich bei ihnen die Ahnung erhalten, daß es Frauen gibt, daß sie deren zu ihrer Fortpflanzung bedürfen, und aus alledem haben sie sich eine selbständige Religion gebildet.«

»Was für eine Religion?«

»Vor 120 Jahren schuf Hock, das ist Gott, die Erde und setzte darin als Herrscher über alles, was er sonst noch geschaffen hat, den ersten Lop und die erste Lopin. Nach Ansicht der Lops aber besteht die ganze Erde nur aus Nal, das ist hier diese Oase, und die darumgelagerte Wüste, auf der nichts gedeiht. Hock selbst, der einzige Gott, wohnt in Nal, in dieser Oase — dort in dem Loche. Zu seiner Verehrung haben die Lops die Hälfte aller Jagdbeute ihm zu opfern, d. h. dort in das Loch zu werfen. Das ist der ganze Kultus dieser Zwerge. Spezialisiert wird der Kultus noch dadurch, daß man sich dem heiligen Loche nur am Vormittag nähern darf.«

Eine nette Religion! Aber was ist denn ... doch wir wollen hier nicht über Religionen sprechen. Der Gelehrte faßte das Ganze auch nur mit etwas gar zu trockenen Worten zusammen.

»Und wo bleibt nun das Verschwinden der Weiber?«

»Sehr einfach — die Lops haben eine Zeitlang die Opferung vernachlässigt, haben weniger als die Hälfte des erbeuteten Fleisches in das Loch geschmissen, oder einmal auch gar nichts, und da sind ihnen zur Strafe die Weiber genommen worden.«

»Aha! Und besteht nun nicht auch die Hoffnung, daß sie die Weiber wiederbekommen werden?«

»Jawohl, wenn die Zeit gekommen ist, wird Hock die Lops wieder mit Frauen beglücken. Oder zunächst mit einer, die gleich groß und stark — groß nach den Begriffen der Lops — aus dem heiligen Loche herausgeboren wird. Die wird dann für weitere weibliche Nachkommenschaft sorgen.«

»Aha! Und wann wird diese Zeit gekommen sein?«

»Das weiß ich nicht und auch kein Zwerg. Sie hoffen und opfern, und je mehr sie Fleisch dort hinunterschmeißen, desto mehr wird die Zeit ihrer Buße abgekürzt.«

»Aha!« sagte Nobody zum dritten Male.

Einfach genug war ja die Religion, welche der ›Herr der Erde‹ diesen selbstgezüchteten Zwergen eingeimpft hatte — aber diese Einfachheit war genial, besonders, wie er verstand, sein unter der Erde befindliches Tierreich immer mit genügend frischem Fleisch zu versorgen.

Im übrigen dachte Nobody lebhaft an den weiblichen Kakerlak, der mit dem Kinde damals in Abessinien verschwunden war, gerade zu der Zeit, als dort die ›Udlindschis‹ aufgetaucht waren.

Sollten Mutter und Kind nicht hierherbugsiert worden sein? Das kleine Mädchen war ja ebenfalls eine Kakerlakin geworden, und es ist überhaupt wohl noch gar nicht vorgekommen, daß echte menschliche Kakerlaken sich fortgepflanzt haben, der menschliche Kakerlak ist bisher, von normalen Eltern abstammend, immer nur ein Spiel der Natur gewesen.

Oder befanden sich die beiden vielleicht schon hier?

Diese Vermutung lag nämlich sehr nahe, sobald man annahm, daß die sieben Lops vielleicht gar nicht wußten, wie sie auch noch unter der Erde gleichgestaltete Kameraden besaßen.

Es war für Nobody, wenn er sein Geheimnis wahren wollte, äußerst schwer, derartige Fragen zu stellen, und es gehörte sein eigentümliches Geschick dazu, dies dennoch fertig zu bringen.

»Wie kommen die Zwerge gerade auf die 120 Jahre?«

»Weiß ich nicht, ist mir auch ganz gleichgültig.« entgegnete der Mann, der nur für die Ethnologie Interesse hatte.

Ebenso gleichgültig war das auch unserem Nobody. Es war nur eine einleitende Frage gewesen, um ja kein Mißtrauen zu erwecken.

»Also sie halten ihre Oase für die ganze Erde?«

»So wie noch genug Völkerschaften ihr Land, besonders wenn dasselbe eine Insel ist, von der sie nie herabkommen. Den alten Griechen und Römern war ihre bekannte Erde auch noch äußerst klein, und das waren schon hochgebildete Völker.«

»Die Lops hatten vor der Ankunft Ihrer Expedition also überhaupt noch keine anderen Menschen gesehen?«

»Nein. Das habe ich mit Bestimmtheit aus ihnen herausgebracht.«

»Da hätten sie beim Anblick der doppelt so großen Riesen doch eigentlich etwas erschrocken sein müssen.«

»Diese Zwerge fürchten sich vor Gott und Teufel nicht. Doch das ist keine Ehre für sie. Sie stehen eben auf einer sehr tiefen geistigen Stufe. Das beweist ja schon die Religion, die sie sich gebildet haben.«

Aus alledem mußte Nobody annehmen, daß diese Zwerge wirklich noch keinen anderen normalen Menschen zu Gesicht bekommen hatten. Dann aber hatte er Agathe auch nicht auf, sondern unter der Erde zu suchen, dort, wo die beiden Zwerge Deutsch gesprochen hatten.

»Sie sind alle alt?«

»Alle.«

»Sie lassen sich doch nicht durch die weißen Bärte täuschen, welche sie als Albinos haben müssen?«

»Ich lasse mich durch gar nichts täuschen,« war die selbstbewußte Antwort des Gelehrten. »Ich schließe aus den alten Gesichtszügen.«

Dann konnte Doktor King auch noch nicht den jungen Albino gesehen haben, dessen Jugend unverkennbar gewesen war.

»Gibt es hier Gold?«

»Ich habe noch keins bemerkt, die Lops wissen auch nichts davon.«

Hierdurch war die Richtigkeit von Nobodys schon gefaßter Ansicht mit Sicherheit bewiesen: unter der Erde gab es noch andere Zwerge, von denen vielleicht nicht einmal die an der Oberfläche der Erde lebenden etwas wußten. Sie spielen wahrscheinlich die Rolle der Gottheit.

Mit der nötigen Vorsicht konnte Nobody den Gelehrten hierüber ja auch noch weiter aushorchen.

»Das Loch dort in dem Steinplateau habe ich gesehen, ich bin vorhin vorübergekommen. Nichtwahr, es liegt ein Balken und ein aufgerolltes Seil daneben?«

»Jawohl, das ist — sozusagen die Kirche, oder doch der Opferaltar, nur nicht erhaben, sondern vertieft.«

»Und da wird immer Fleisch hineingeworfen?«

»Jeden Vormittag.«

»Viel?«

»Wie gesagt, die Hälfte aller Jagdbeute muß in das Loch hinuntergeworfen werden. Nur das Fell dürfen die Zwerge für sich allein behalten. Und diese muskulösen und starkknochigen Pygmäen sind kolossale Fresser, sie sind ja auch aus nichts anderes bedacht, als auf das Füllen ihres unersättlichen Magens, dazu übertreiben sie auch noch ihre Pflicht, eben um das Ziel der Verheißung, wieder Frauen zu bekommen, eher zu erreichen, und ein Sparen haben sie in dem wildreichen Gebiet ja auch nicht nötig.

Ich schätze es auf mindestens drei Zentner Fleisch, was da jeden Tag hinuntergeworfen wird.«

»Ja, was wird denn aber nun aus dem vielen Fleisch?«

»Das verzehrt eben Hock, der Gott dieser Oase.«

»Ach, Unsinn! Antworten Sie ernsthaft. Das Loch, und sei es noch so tief, müßte da doch bald voll werden.«

»Wenn es aber nun gar keinen Boden hat?«

»Keinen Boden? Wie meinen Sie das?«

»Es öffnet sich jedenfalls über einem fließenden Wasser.«

»Ach so! Waren Sie selbst unten?«

»Ich werde mich hüten.«

»Wovor haben Sie sich da zu hüten?«

»Das Seil ist 120 Yards lang, allein bringe ich das gar nicht hinab, noch weniger wieder herauf, und noch mehr gilt das bei mir vom Hinab- und wieder Hinaufklettern. Ich kann achtzig Stunden hintereinander marschieren, aber solche akrobatische Kunststückchen verstehe ich nicht.«

»Woher wissen Sie sonst, daß der Schacht über einem fließenden Wasser endet?«

»Wissen kann ich das überhaupt nicht, sondern nur aus gewissen Gründen schließen.«

»Aus was für Gründen?«

»Selbst wenn das Loch noch so tief wäre, bis auf den Mittelpunkt der Erde ginge, daß es sich nach menschlicher Berechnung niemals füllen könnte, so müßte dem Loche aber doch immerhin ein infernalischer Gestank entströmen, und dasselbe wäre auch der Fall, wenn sich unten stehendes Wasser befände. Ergo: es kann nur ein fließendes Wasser sein, welches das hinabgeworfene Fleisch immer schnell beseitigt.«

»Da haben Sie allerdings recht,« bestätigte Nobody des Gelehrten falsche Hypothese. »Wie wird denn das zu opfernde Fleisch hierhergebracht?«

»Das tut jeder für sich. Kommen sie gewöhnlich zusammen, so geschieht dies nur deshalb, weil die Zwerge überhaupt meist in Kompanie jagen. Hat einer allein eine Beute erlegt, so bringt er auch allein das als Opfer bestimmte Fleisch angeschleppt und wirft es hinab.«

»Ohne weitere Zeremonie?«

»Wenn er es hinuntergeworfen hat, legt er sich platt auf den Boden, steckt den Kopf in das Loch und murmelt etwas hinein.«

»Was spricht er denn?«

»Natürlich ein Gebet.«

»Ja, aber was für ein Gebet.«

»Das habe ich noch nie zu hören bekommen.«

Der englische Gelehrte betrachtete seinen ärztlichen Beruf als Broterwerb, sonst hatte er sich der Ethnologie gewidmet, speziell der Erforschung der Sprachen, alles andere existierte nicht für ihn. Darin war er ganz Engländer. Was kümmerte ihn, was für ein Gebet das war! Das war Sache eines Theologen, nicht eines Ethnologen.

»Nur des Vormittags wird diese eigentümliche Opferung vollzogen?«

»Nur am Vormittag.«

»Am Nachmittag kommt überhaupt niemand hierher?«

»Niemand, darf nicht.«

»Weshalb nicht?«

»Alte Tradition.«

Der Gelehrte wurde jetzt einsilbig. Sein Kopf war jedenfalls mit anderen Gedanken beschäftigt.

»Wozu liegen denn der Balken und das Seil an der Schachtöffnung?«

»An dem steigt Lor jeden Monat zweimal hinunter.«

»Wie, es steigt also doch manchmal jemand hinunter?!«

»Jawohl, Lor, der älteste, der gewissermaßen die Rolle eines Priesters spielt.«

»Im Monat zweimal?«

»Bei jedem Mondwechsel.«

»Bei Nacht?«

»Am Tage.«

»Wie lange bleibt er unten?«

»Je nachdem, manchmal fünf Minuten, manchmal fünf Stunden.«

»Und was treibt er unten?«

»Da trägt er der Gottheit Hock die Wünsche des Volkes vor und unterhält sich sonst mit ihm.«

»Ja, so mögen die in Unkenntnis gelassenen Zwerge glauben. Aber was mag er wohl in Wirklichkeit dort unten treiben?«

»Nun, er wird sich wohl dort unten auf einen vorspringenden Stein setzen, schon tief genug, daß er von oben nicht mehr gesehen wird, da bleibt er sitzen, oder wenn er gerade müde ist, mag er sein Schläfchen halten, und wenn er ausgeschlafen hat, ruckt er am Seil, und er wird wieder hochgezogen, und dann erzählt er den versammelten Zwergen, wie er sich mit der Gottheit unterhalten hat.«

»Hat dieser Priester einen künftigen Nachfolger, der ihn schon jetzt manchmal vertritt?«

»Ja, den Hal, aber der geht nicht mit hinunter. Auf dem Vorsprung, denke ich mir, wird wohl nur immer einer Platz haben.«

Der Gelehrte, der sich so alles hübsch zu erklären wußte, stand auf und dehnte die Glieder.

»Hören Sie, ich habe Hunger, und wenn ich den nicht mit Beeren und Früchten stillen will, kann ich nur dort etwas zu essen bekommen, wo die Pygmäen ihre Behausungen haben.«

Auch Nobody war aufgestanden. Das Wichtigste, was er aus dem stockfischigen Gelehrten herausgebracht hatte, war, daß es auch einen Priester gab. An den hatte er sich zu halten. Denn dieser kauerte sich, wenn er in dem Schachte verschwand, nicht nur auf einem Felsvorsprung nieder, sondern das war ein wirklicher Vermittler, nur nicht mit einer Gottheit, sondern mit den unter der Erde lebenden Zwergen, welche die künstlich gezüchteten Tiere zu füttern hatten.

Lag da die Vermutung nicht sehr nahe, daß dieser Priester auch die geheime Sprache verstand, die aber für den aus Deutschland gebürtigen Detektiv die allerbekannteste war?

Kurz, an diesen Lor mußte er sich jedenfalls halten, und vielleicht konnte auch sein Nachfolger, der Hal, noch in Betracht kommen.

»Wo hausen denn die Pygmäen?«

»Dort am See, gar nicht weit von hier, in Felslöchern. Ja, ich muß hin, ich habe Hunger. Freilich setze ich mich dadurch der Fatalität aus, wieder ein paar Stunden als Reittier benutzt zu werden, aber

wenn der Magen seine Rechte....Lor tacktack-tacktacktack!«

So ungefähr wenigstens, wie ein Entengeschnatter, hatte es geklungen, als der Gelehrte, einen Blick nach oben werfend, plötzlich mit allen Zeichen des Entsetzens oder doch der Furcht die Flucht ergriffen hatte.

Nobody brauchte nicht erst nach oben zu blicken, um zu erspähen, was jenen solchen Schrecken eingeflößt — es kam von selbst, fühlbar, aus den Zweigen der Eiche, unter der die beiden gestanden, es fiel etwas auf ihn herab, auf seinen Nacken, sein Hals wurde zusammengepreßt, ein schnalzender Laut, und da sah er auch schon zwei kurze, von Muskeln starrende Beine sich um seine Brust zusammenlegen ....

» Einer der Zwerge ist auf mich herabgesprungen!!«

Aber Nobody hatte keine Lust, sich wie Sintbad oder wie Doktor King als Reittier benutzen zu lassen, auch nicht einmal versuchsweise — doch er mußte sich beeilen, wenn er sich befreien wollte, die zusammenschnürenden Schenkel drohten ihn zu ersticken; er hatte die Füße an den Gelenken erfaßt, aber fühlte sofort, daß er sie mit seiner Muskelkraft nicht losreißen konnte, er hatte nicht einmal mehr Zeit, nach Messer oder Revolver zu greifen — er bückte sich, um in vollem Laufe seinen Reiter gegen den nächsten Baumstamm zu schmettern — — da wurden die Füße des schon Laufenden von hinten gepackt, Nobody stürzte, die muskulösen Knie würgten noch mehr — solch einen Erstickungstod konnte auch Nobody nicht vertragen, das Bewußtsein schwand ihm. —

Als er wieder zu sich kam, ward ihm sofort klar, daß er nicht mehr, wie er gestürzt war, auf dem Gesicht lag, sondern auf dem Rücken. Also mußte er einige Zeit wirklich besinnungslos gewesen sein, inzwischen war er umgewälzt worden, vielleicht ohne daß ihn sein Reiter dabei losgelassen hatte, dessen nackte, haarige Zwergbeine ihn noch immer umschlangen.

Nobody hütete sich, gleich Lebenszeichen von sich zu geben, erst wollte er die Situation erfassen. Er blinzelte seitwärts, und was er da zu sehen bekam, erfreute ihn sehr wenig.

Dort lagen sein Revolver, sein Messer — sogar die Ledertasche, die er auf dem bloßen Leibe trug, die an Papieren und sonstigen Sachen sein Geheimstes barg!

Alles, alles war ihm abgenommen worden, alles hatte man zu finden gewußt. Dabei war er nicht entkleidet worden, man hatte ihm nur die Sachen aufgerissen, ohne sie wieder zuzuknöpfen.

Wichtig war für ihn, daß die Ledertasche nicht geöffnet worden war, was er an dem Sicherheitsschlosse erkannte, und ebenso lagen die übrigen Gegenstände in einer Weise am Boden herum, welche darauf schließen ließen, daß es nicht darauf angekommen war, ihm die Sachen abzunehmen, um sie sich anzueignen, sondern nur um sie von ihm zu entfernen. Der Unterschied dabei ist verständlich. Die Zwerge hatten mit den Waffen der Riesen schon üble Erfahrungen gemacht, die Taschen des Reittiers mußten entleert werden.

Jetzt konnte Nobody ohne Zwang atmen. Ganz lose lagen die kurzen, haarigen Beine um seinen Hals und über seiner Brust.

Ein Griff, ein Sprung — Nobody mußte frei sein. Doch dies geschah erst in Gedanken, zunächst spannte er seine Muskeln zur Ausführung dieses Planes an.

»Tucktucktucktuck,« erklang es da, und ›tacktack-tacktack‹ antwortete eine zweite Stimme.

Es kamen noch andere Silben mit anderen Lauten vor, aber im Grunde genommen war es doch ein Entengeschnatter, wobei das u und das a nur die verschiedene Tonhöhe andeuten soll.

O weh, es waren zwei! Da hieß es die ganze Taktik ändern. Dann mußte er gleichzeitig mit dem Aufspringen sich auch seiner Waffen wieder bemächtigen.

Aber war es denn unbedingt nötig, daß er gleich beide töten mußte? Ließ er sich als Reittier benutzen, so hatte er die beste Gelegenheit, das Treiben der Zwerge in nächster Nähe beobachten zu können, sein menschlicher Stolz brauchte sich deswegen doch nicht verletzt zu fühlen, und seines Reiters wollte er sich noch immer entledigen.

Da erblickte er den zweiten Zwerg. Es war wohl ein anderer, als der, den er unter der Erde gesehen, aber sonst dieselbe Gestalt, auch so ein ältlicher Wichtelmann mit weißem Bart, roten Augen und faltigem Gesicht, dabei strotzend von Muskelkraft.

Statt eines Bärenpelzes trug er lose um die Schultern ein Känguruhfell, bewaffnet war er mit Pfeilen und Bogen, erstere trug er in einem ledernen Köcher auf dem Rücken, der Bogen, aus einem schwarzen Holz von beträchtlicher Stärke gefertigt, war bedeutend länger als der ganze Mann, und bemerkenswert an sich schon war, daß Pfeil und Bogen allen Eingeborenen dieses fünften Erdteils überhaupt ganz unbekannt sind. Nobody wußte ja, mit was für einer künstlichen Schöpfung man es hier zu tun hatte, für jeden anderen Forschungsreisenden aber mußte hier ein ethnographisches Rätsel vorliegen, und Doktor King konnte durch diese Art von Bewaffnung, die sonst nirgends in Australien vorkommt, in seiner Theorie von der selbständigen Entwicklung eines Menschengeschlechtes, wie er sich diese Theorie auch gebildet haben mochte, nur bestärkt werden.

Ein schnalzender Laut, und hinter Nobody hervor kam in kurzen, langsamen Sätzen ein Känguruh hervor, ein riesenhaftes Exemplar seiner Art, aber, wohlgemerkt, diesmal keine künstliche Züchtung, sondern eben ein Riesenkänguruh, und solche Exemplare von anderthalb Meter Höhe kommen selbst in zoologischen Gärten häufig vor.

Immerhin, es war ein gewaltiges Tier, und scheinbar noch riesenhafter wurde es durch die Kleinheit seines Herrn, der es an sich gelockt hatte, und sofort war es dem schnalzenden Rufe willig gefolgt.

Ein normaler Mensch und ein durch seine Größe ausgezeichnetes Hedjihn, ein spezielles Reitkamel, dieser Unterschied herrschte zwischen dem Zwerg und dem Känguruh — Nobody erwartete sogar ganz sicher, daß es wie das Kamel niederknien oder sich doch seiner Körpergestalt nach niederducken würde, um seinen Reiter aufzunehmen.

Aber dies geschah nicht. Jetzt verwandelte sich der Zwerg in einen ... Floh.

Diese eigentümliche Idee bekam Nobody nämlich dadurch, daß er daran dachte, wie ein Floh bekanntlich einige hundertmal höher springen kann als er selbst hoch ist, und nun ist der pulex unter dem Vergrößerungsglas auch so ein haariges, von Muskeln strotzendes Ungeheuer, daher eben seine kolossale Sprungkraft — und der kleine Mensch knickte seine kurzen, haarigen Herkulesbeinchen zusammen und ... schwubb! er schnellte in die Höhe und saß rittlings zwischen Hals und Rücken des Riesentieres, ohne sich dabei auch nur mit einer Hand gestützt zu haben. Es war ein Stückchen gewesen, welches kein arabischer Kunstreiter oder Akrobat bei einem Kamel fertiggebracht hätte.

Zu bemerken ist noch, daß das Känguruh keine Andeutung von einer Sattelung oder Zäumung besaß, kein Halfter, kein Halsband, an dem es zu fassen war, gar nichts, auch kein eingebranntes oder sonstiges Zeichen, durch das es von einem freien Tiere zu unterscheiden gewesen wäre.

In demselben Augenblicke, da der Reiter auf dem Rücken saß und die Beine um den schlanken Hals geschlungen hatte, jagte auch schon das Känguruh mit Gedankenschnelle davon, Sätze von zehn Meter Weite machend. Nobody bemerkte noch ganz deutlich, daß ...

Er hatte keine Zeit dazu, seine Beobachtungen in klare Gedanken zu formulieren. Ein heftiger Schmerz machte sich in seinen Hüften fühlbar, es wäre die Fersen seines eigenen Reiters, die sich dort einbohrten — und ein Schmerz war es, daß auch dieser eiserne Mann, der gar keinen Schmerz empfand, wenn er keinen empfinden wollte, bald laut aufgeschrien hätte.

Den Weheruf unterdrückte er, aber aufsprang er, als wäre der Boden plötzlich glühend geworden; von einer furchtbaren Wut erfaßt, packte er die haarigen Beine mit Riesenkraft, um diesen verfluchten Floh in Menschengestalt ...

Da wurde er gewahr, daß er vorhin recht beobachtet hatte — nämlich, daß der Reiter sein Känguruh nicht nur so nach Belieben dahinjagen ließ, sondern daß er es durch seine umschlingenden Beine völlig in der Gewalt behielt, es lenken könnend, wie er wollte, es im Augenblick wieder stillstehen lassend —— an sich selbst sollte Nobody die Richtigkeit dieser Beobachtung erfahren!

Ein Druck am Halse, daß ihm gleich die Luft abgeschnitten wurde, und Nobody ließ die Fußgelenke los, um dafür die würgenden Knie zu packen — da aber bereiteten ihm schon wieder die in die Hüften gegrabenen Fersen den entsetzlichen Schmerz —— und da verlor der eiserne Mann seine Besinnung, und er wäre kein Mensch gewesen, hätte er sie behalten —brüllend vor Wut, nicht vor Schmerz, warf er sich auf den Boden, und wieder verwandelte sich dieser in eine glühende Ofenplatte, nämlich unter den Schenkeln seines Reiters — wieder mußte er aufspringen, ob er wollte oder nicht — aber er wollte es; an dem nächsten Baumstamm wollte er seinen Peiniger zerschmettern, vielleicht seinen eigenen Kopf — aber wieder wurde er von einer unsichtbaren Gewalt, die nur von den Schenkeln und Hacken seines Reiters ausging, zu Boden geschleudert, um abermals wie von einer Tarantel gestochen aufzuschnellen.

Mit einem Wort: Nobody hatte in diesem Zwerge einmal seinen Herrn und Meister gefunden. Wir können es auch anders ausdrücken: so etwas, daß ihm solch ein menschlicher Floh auf dem Nacken saß, ihn mit seinen muskulösen Beinen umschlang, ihn als Reittier benutzte, das war auch für Nobody noch zu neu, darauf war er nicht geeicht.

Diese seine Ohnmacht war auch begreiflich genug. Ist es doch Tatsache, daß der amerikanische wie der asiatische Pferdebändiger das wildeingefangene Roß nur durch die Kraft ihrer Schenkel niederwürgen, sie pressen den Pferdeleib wie einen Schwamm zusammen, da muß auch ein Buccephalus ohnmächtig, ohne Macht werden, und um solch ein Riesenkänguruh gefügsam zu machen, dazu mußte nicht weniger Kraft und Reitkunst mit allen Kniffen gehören; um wieviel leichter war da ein Reittier zu zähmen, und führte dieses zweibeinige Reittier auch den Namen Nobody.

War nicht Nobody der allerstörrischste Gaul, der sich lieber den Schädel einrennt, als daß er gehorcht, so gab er klein bei, und so handelte denn auch Nobody.

»Hü hott!!«

Der Zwerg im Herzen des unerforschten Australiens hatte wirklich diese beiden Worte gerufen, um sein Reittier anzutreiben! Für Doktor King mochten es zwei einsilbige Worte gewesen sein, die er noch nie in seiner deutschen Grammatik gefunden, Nobody aber hatte diese beiden Worte als lallendes Kind geläufig gerufen, wenn er sein Schaukelpferd in schnellere Gangart zu setzen wünschte.

Im übrigen hätte es gar nichts geschadet, wenn auch ihm die Bedeutung dieses »Hüh hott!!« unbekannt gewesen wäre. Die beste Erläuterung dazu gaben die Schenkel, Knie und Hacken des zwerghaften Reiters.

Auch dem Nichtreiter dürfte bekannt sein, wie ein kundiger Reiter sein Pferd nur durch die Beine zu dirigieren versteht; gibt es doch genug Völkerschaften, welche gar nichts von Zügel und Zaum wissen, und die verschiedenen Gangarten werden dem Pferde überhaupt nur durch verschiedenes Ansetzen der Schenkel beigebracht.

So war es auch hier. Wollte sich Nobody nicht wieder zur Erde werfen, was ihm ja stets schlecht bekam, so war er gezwungen, in einen linksseitigen Galopp zu fallen, nämlich das linke Bein mehr vorzuwerfen als das rechte, jede andere Bewegung hätte ihm den größten Schmerz verursacht — ein anderes Ansetzen der Schenkel, er mußte mehr das rechte Bein vorwerfen — ein Ruck, ein Druck der Zehen in den Rücken, und ganz von allein warf Nobody den Bauch vor und blieb stehen, um dann auf den stummen, aber desto fühlbareren Wunsch seines Bändigers wieder in einen mäßigen Trab zu fallen.

Dem Zwerge machte es Vergnügen, das zweibeinige Vieh, das dem Menschen so ähnlich war, und das er soeben erst seinem Willen unterworfen hatte, alle Gangarten der hohen Reitschule durchmachen zu lassen, links und rechts herum und jetzt wurde eine Volte nach allen Regeln der Kunst geschlagen, und es gehörte Nobodys gottbegnadete Natur dazu, um auch in dieser verzweifelten Situation noch ein Stückchen Humor zu finden.

»Ein Glück nur,« dachte er vergnügt, »daß diese Zwerge wenigstens keine Sporen haben, sonst könnte der mich lendenlahm zeit meines Lebens machen. Einen schlankeren Trab? Jawohl, machen wir! Beibeibeine höhöhöhöher sagt Mr. Cerberus Mojan. Dem Dickwanste täte so eine Pferdekur übrigens gut. Aber mir auch, ich bin in dem engen Delphin sowieso ganz lahm geworden und in dem Tunnel konnte ich mich auch noch nicht richtig auslaufen. Noch schneller? Schön, immer zu. Meine Brust ist nicht so empfindlich wie die der anderen, du kannst lange drücken, ehe ich das Blutspucken kriege. Aber warte nur, wenn ich erst dich zwischen meinen Schenkeln habe, dann sollst du kleiner Wicht quietschen . . .

Doch es war keine aufsteigende Wut mehr, die ihm diesen letzteren Gedanken eingab, das zeigte schon der nächste Wunsch in seinem Selbstgespräch:

»Aber lieb wäre mir doch, wenn ihr euch beim Reiten eines Zügels bedientet — d. h. vorausgesetzt, daß man statt eines stählernen Gebisses eine Rolle Tabak ins Maul bekäme, an der man kauen könnte ... hoppla!!«

Leichten Fußes war Nobody über einen ziemlich breiten Bach gesetzt, nicht so ganz freiwillig — die Schenkel hatten ihn deutlich genug belehrt, daß er nicht durch das Wasser waten, sondern darüberspringen sollte. Nobody hatte überhaupt einen einfachen Schritt gar nicht fertiggebracht, die Schenkelstellung des Reitkünstlers hatten ihn dazu gezwungen.

Laut jauchzte der Zwerg auf. Er mußte mit der Sprungfertigkeit seines neuen Reittiers sehr zufrieden sein. Dieser Zufriedenheit gab er auch gleich noch einen anderen Ausdruck, er wollte sein Reittier auch dafür belohnen.

Vor Nobodys Augen erschien eine haarige, für solch einen kleinen Menschen sehr große Hand, die einen rotwangigen Apfel hielt. Sie waren schon an mehreren Apfelbäumen vorbeigekommen, die hier auf freier Grasgegend standen, alle mit den herrlichsten Früchten behängen, und Nobody nahm die Belohnung dankbar entgegen, nur daß dieses Reittier mit den Vorderbeinen zugriff und so den dargereichten Apfel aus den Händen verzehrte.

Dem Reiter schien das Füttern seines Tieres selbst Spaß zu machen, oder er sorgte für sein braves Pferd, und Nobody erhielt aus der Hand seines Herrn, den er in voller Gestalt noch gar nicht gesehen, noch manche Frucht, die er während eines langsamen Gehens verzehren durfte.

Das nächste Ziel war ein kleiner Teich. Ohne Hindernis wäre er zu umgehen gewesen, aber Nobody wurde durch Schenkeldruck direkt auf das Ufer zugetrieben.

Sollte das Reittier getränkt werden? Oder sollte es auf seine Schwimmfähigkeit geprüft werden?

Richtig, Nobody wurde ins Wasser gelenkt, der Grund war sehr schräg, bald ging ihm das Wasser bis zur Brust, bis an den Hals, und wollte er noch Atem schöpfen, mußte er schwimmen.

Mit einem Menschen auf dem Nacken, nicht nur auf dem Rücken, zu schwimmen, das ist wohl unmöglich, und wenn der Reiter auch nur ein Zwerg ist. Doch dieser war hier gar nicht so leicht. Das brachte auch Nobody nicht fertig.

Daß er trotzdem leicht schwimmen konnte, ohne daß sein Reiter ihn aus den Schenkeln ließ, daran war die Lage des Zwerges während des Schwimmens schuld. Dieser selbst hatte sich nämlich auf den Rücken gelegt, schwamm also auch auf dem Rücken, nur leicht seine Beine auf Nobodys Schultern liegen habend, wohl aber noch immer fest um seinen Hals herum.

Nobody überlegte während der kurzen Schwimmtour durch das Gewässer ernstlich, ob er sich bei solch einer Gelegenheit seines unfreiwilligen Reiters entledigen könnte, wenn nicht jetzt, dann eben ein andermal, wenn er durch ein tiefes Wasser getrieben wurde. Er hatte allen Grund, daran zu zweifeln. Umdrehen, um den hinter ihm auf dem Rücken Schwimmenden zu packen, konnte er sich nicht, dazu lagen die Oberschenkel zu fest um seinen Hals. Und wenn er nun untertauchte, den Zwerg mit sich hinabnehmend? Dann handelte es sich noch immer nicht nur darum, wer den Atem länger anhalten konnte, sondern diese muskulösen Beine würden ihn auch noch erwürgen.

Nobody warf solche Befreiungsgedanken vorläufig von sich. Erst wollte er das Treiben der sieben Zwerge näher kennen lernen.

Er bekam wieder Boden unter die Füße und watete ans Ufer, mußte wieder in Trab fallen.

Es ging weiter über die Prärie hinweg, bis zwischen den Bäumen eines anderen Gehölzes, das auch mit großen Felsblöcken durchsetzt zu sein schien, abermals ein Wasserspiegel schimmerte.

Es war ein sehr großer See, kaum zu überblicken, und gleich dort, wo sie das Ufer erreichten, machten sich die Spuren menschlicher Arbeit bemerkbar.

Doch Nobody sah nicht die zum Trocknen aufgepflöckten Felle, er sah nur die sechs kleinen Menschen, welche dort, alle dicht nebeneinander, ausgestreckt am Boden lagen, und noch ein siebenter Mann war vorhanden, aber groß und schlank gewachsen — kein anderer als Edward Scott, der sich über einen der stilliegenden Zwerge gebeugt hatte und sich nun, die Kommenden hörend, aufrichtete. -

Daß hier etwas Unbegreifliches geschehen war, erkannte der auf Nobodys Rücken sitzende Zwerg ebenso schnell wie dieser.

Ein gellendes Geheul, Nobody sollte durch einen würgenden Schenkeldruck vorwärtsgetrieben werden, ein Zischen, über seinem Kopf kam etwas gesaust, und nur durch einen schnellen Seitensprung war der Kanadier dem langen Pfeile entgangen, der jetzt mit zitterndem Schafte in einem Baumstamm steckte.

Das war erst die Einleitung zum Kampfe gewesen, Scott hatte seinen Revolver herausgerissen und scheinbar nach Nobodys Kopf angeschlagen, und sicher hatte der Zwerg schon einen zweiten Pfeil auf seinem Bogen, jetzt wurde das menschliche Reittier erst recht angetrieben, wie einst der Ritter sein gepanzertes Schlachtroß, das ihm auch als Waffe diente, anspornte, um es auf den Gegner stürzen zu lassen ...

Da aber machte dieses zweibeinige Schlachtroß hier nicht mehr mit. Es bockte, und zwar in ganz eigentümlicher Weise.

»Nicht schießen, Edward!!!«

Nur diesen Ruf noch, und dann war es geschehen.

Hat man einmal im Zirkus einen Clown gesehen, der seine Springfertigkeit und zugleich die Härte seines Schädels beweist, indem er hoch emporschnellt und dann scheinbar direkt auf den Kopf stürzt? Wenn man nahe genug sitzt und gut beobachtet, wird man erkennen, daß der Gummimensch im Augenblick des Aufschlagens blitzschnell den Kopf einzieht, so daß er dabei stets auf den Nacken stürzt, also mit diesem die Wucht des Aufschlags abschwächt. Anders ist es auch nicht möglich, sonst würde er sich einen Schädelbruch holen, sich die Wirbelsäule verstauchen, und ein anderer Mensch würde dabei immer noch das Genick brechen. Solch eine »Kunst« will eben von klein auf gelernt sein.

Nun, Nobody schien diese Kunst zu verstehen, genau so wenigstens handhabte er es, um sich seines Reiters zu entledigen, und er brauchte nicht einmal um seinen eigenen Kopf besorgt zu sein, dieser mußte ja durch den Zwerg beschützt werden.

Mit gleichen Füßen abspringend, schnellte Nobody hoch empor, drehte sich in der Luft um, den Kopf nach unten, ein krachender Aufschlag, und Nobody kniete auf seinem Reiter.

In demselben Augenblicke, als er es wirklich gewollt, hatte er ihn auch besiegt.

»Verflucht, der Kerl ist tot!!!«

In höchstem Ingrimm hatte Nobody es hervorgestoßen. Zum ersten Male sah er seinen Bereiter. Es war ein eben solcher alter Wichtelmann mit faltigem Gesicht, umwallt von einem weißen Barte. Seinen Tod zeigte schon die unnatürliche Stellung des Kopfes an.

»Hätte ich gewußt,« knurrte Nobody grimmig weiter, »daß er den Kopfsprung nicht verträgt, hätte ich ihn natürlich nicht ausgeführt. — Na und du, Edward? Wie kommst du hierher? Du Unglücksmensch hast doch nicht etwa gleich alle sechs Zwerge auf einmal abgemorkst, daß dieses Pygmäengeschlecht plötzlich ausgestorben ist?«

Nobody hatte sich erhoben und diese Worte fragend an seinen Freund gerichtet, der langsam auf ihn zukam.

»Mensch,« setzte er noch hinzu, ehe er die Antwort abwartete, »wie siehst du denn aus?! Hast du das große Los gewonnen oder hast du den heiligen Geist in eigener Person gesehen?«

In der Tat, der so unvermutet hier wieder aufgetauchte Kanadier hatte ein Gesicht aufgesetzt, welches

einesteils in höchster Glückseligkeit strahlte, andernteils die tiefste Feierlichkeit ausdrückte.

»Alfred, noch immer geschehen Zeichen und Wunder,« erklang es ebenso feierlich aus dem vor Jubel lachenden Munde.

»Bitte, erkläre mir näher, warum du das so halb lachend, halb weinend hervorbringst. Was ist denn nur eigentlich geschehen?«

»Weißt du, wen ich hier gefunden habe?«

Ja, Nobody glaubte es zu wissen — daher das glückstrahlende Gesicht — aber er wollte vorläufig noch den Unwissenden spielen.

»Vor allen Dingen möchte ich erfahren, wie du aus dem Schachte herausgekommen bist.«

»Der mir wieder die geheime Felsentür öffnete, war kein anderer als … nun, ahnst du nichts?«

»Sprich, spann mich nicht auf die Folter!«

»... als der Herr der Erde — als unser Mephistopheles.«

Das freilich war etwas, was Nobody nicht zu hören erwartet hatte. Dann aber hatte er, als er an dem Seile emporkletterte, auch nicht nur eine Vision gehabt.

»Es ist nicht möglich!!« rief er dennoch, von ehrlichem Staunen gepackt.

»Es ist so, kein anderer war es. Du warst eben oben über dem Schachtrande verschwunden, als er plötzlich vor mir stand … «

»Doch nicht etwa gar im schwarzen Gesellschaftsanzug mit Zylinder?«

»Nein, er trug ein graues Lodenkostüm, sonst aber war er noch genau derselbe hinkende Teufel, wie ich ihn damals kennen gelernt habe.«

Dann hatte sich Nobodys Phantasie jedenfalls nur den schwarzen Gehrock mit Zylinder hinzugedichtet — oder vielleicht auch nicht, dieser sonderbare Kauz liebte ja solche schnelle Maskeraden.

»Was sagte er?«

»Er sprach mit Hast. Es gelte uns zu retten. Nämlich vor den Zwergen, die uns hier bald finden würden. Er glaubte auch dich noch in dem Schacht und war sehr bestürzt — soweit dieser Uebermensch überhaupt bestürzt sein kann — daß du den Schacht auf dem Kletterwege schon verlassen hattest. Gut, es war dir ja gelungen, so solle ich allein ihm folgen . .«

»Erlaube erst einmal — konnte er dich denn unter dem Tarngewebe sehen?«

»Ja, er hatte eine Lorgnette vor Augen.«

»Aha! Nun weiter!«

»Ich folgte ihm also, den Weg kann ich dir nicht mehr beschreiben, ich befand mich etwas wie im Traume und sah mich in einem wundersamen Laboratorium, dessen Einrichtung ich dir noch viel weniger schildern kann. Es war eben eine naturwissenschaftliche Versuchsstation ...«

interessiert mich jetzt auch gar nicht. Was geschah nun weiter?«

»Zunächst verließ mich Monsieur Sinclaire noch einmal, und als er nach einigen Minuten wiederkam, sagte er, du befändest dich vorläufig in Sicherheit, hättest einen dir ebenbürtigen Menschen gefunden, den letzten Ueberlebenden einer hier von den Zwergen vernichteten Expedition, mit dem du dich unterhieltest. Stimmt das?«

»Stimmt! Weiter!«

»Dann habe ich mich in diesem Laboratorium mit Monsieur Sinclaire wohl eine Stunde lang unterhalten.«

»Worüber?«

»Er machte mir Offenbarungen. Zunächst muß ich dir mitteilen, daß wir uns in dem Charakter dieses Mannes vollkommen getäuscht haben. Trotzdem aber, wenn ich auch ganz anderen Sinnes geworden bin, kann ich dir diesen Charakter doch nicht definieren.

»Ich weiß, es ist ein Rätsel und wird uns immer ein Rätsel bleiben. Uebrigens hat sich auch bei mir das Bild dieses Mannes total verändert, in dem Augenblicke nämlich, als er mich damals, da ich im Serail des Sultans in der Mausefalle saß, befreite. Das war schon mehr als großmütig, das war ... wiederum rätselhaft. — Bleibe bei der Hauptsache, erzähle mir, was er dir offenbarte.«

»Er will diese Oase, eine Schöpfung von ihm, mit allem, was er hier künstlich gezüchtet hat, wieder vernichten, und das noch heute.«

»Weshalb?«

»Eine große Expedition, welche eine amerikanische Gesellschaft nach Australien zur Erforschung des unbekannten Inneren geschickt hat, nähert sich der Oase, und die Forscher sollen nichts weiter finden als eine ausgebrannte Gegend, woraus sie wohl darauf schließen können, daß hier noch bis vor kurzem eine reiche Vegetation und eine zahlreiche Tierwelt existiert hat: aber auch nichts weiter. Eine große Ueberraschung sollen die Forschungsreisenden also nicht erleben.«

»Das sagt mir noch nicht, warum er dies alles wieder vernichten will.«

»Sein Entschluß hat sich geändert.«

»Welcher Entschluß?«

»Im Laufe der Zeiten durch seine Willkür die ganze Erde umzugestalten.«

»Und warum hat er diesen Entschluß plötzlich aufgegeben?«

»Daran bist du schuld.«

»Ich?«

»Ja, du.«

»Wieso ich?«

»Du fragst noch? Ahnst du es nicht? Du hast den Herrn der Erde besiegt, nun ist ihm alles verleidet. Versteht du noch immer nicht?«

Nobody neigte sein Haupt, und dieses Schweigen war auch eine Bejahung.

Ist es zu schwer zu verstehen, was diese beiden Männer sofort verstanden, ohne weitere Worte nötig zu haben? Mit Worten läßt sich das ja überhaupt gar nicht definieren, oder man müßte ein dickes Buch darüber schreiben.

Genug, Nobody hatte verstanden, was diesen rätselhaften Mann dazu trieb, all seine wunderbaren Schöpfungen wieder der Vernichtung preiszugeben.

»Er war sowieso mit alledem nicht zufrieden,« setzte der Berichterstatter noch hinzu, »immer mehr kam er zu der Ansicht, daß er gegen den göttlichen Schöpfer doch nur ein armseliger Stümper ist, ihm überhaupt nur ins Handwerk pfusche — kurz, seit seiner Flucht aus deinem Keller ist er immer nur damit beschäftigt gewesen, alles, was er bisher geschaffen hat, um die Menschheit dereinst in Staunen zu versetzen, wieder zu vernichten.«

»So ist er schon an anderen solcher Stationen gewesen?«

»Ja.«

»Und was gab es dort zu vernichten?«

»Das wollte er nicht verraten. Aber jedenfalls würden wir nichts Absonderliches mehr vorfinden, selbst wenn es uns glückte, dorthin zu gelangen.«

»Es sind doch die auf der Karte mit roten Punkten angegebenen Stationen gemeint.«

»Ja.«

»Ist denn dies alles das Werk dieses einzigen Mannes?«

»Nein, er ist nur der Fortsetzer eines schon seit Jahrhunderten begonnenen Werkes.«

»Wer hat dies begonnen?«

»Auch hierüber bewahrte er Schweigen. Seine menschlichen Gehilfen hat er ebenfalls vernichtet — d. h., getötet. Verstehst du noch nicht?«

»Ich verstehe. Er will die Spuren seines Erdenlebens vollständig verwischen.«

»Das ist der richtige Ausdruck. Jetzt zuletzt kommt diese Oase im Herzen Australiens daran, auch diese Zwerge mußten daran glauben.«

Schnell hatten Fragen und Antworten abgewechselt. Nobody begab sich dorthin, wo die sechs toten Zwerge lagen, untersuchte sie oberflächlich — es war nichts Auffälliges an ihren Körpern zu bemerken.

»Wie erfolgte ihr Tod?« fragte er düster.

»Monsieur Sinclaire hätte sein Vorhaben eher ausführen sollen. Er kam einen Augenblick zu spät, sonst hätte er ein anderes Menschenleben gerettet.«

»Wie soll ich das ...«

Nobody vollendete seine Frage nicht, er prallte vor Doktor Kings Leiche zurück, die bisher ein Felsblock seinen Augen verborgen hatte. Der englische Gelehrte hatte ein Messer im Herzen.

»Wie ist das gekommen?« flüsterte Nobody.

»Ganz genau kann ich es dir nicht sagen. Wolle nur bedenken, was sich innerhalb dieser Stunde alles abgespielt hat, und es kommt noch vielmehr hinzu. Monsieur Sinclaire selbst teilte es mir dann nur in flüchtigen Worten mit. Dieser Gefangene ist abwesend gewesen, du selbst hast dich ja mit ihm unterhalten, bei seiner Rückkehr sollte er jedenfalls wegen seines langen Fortbleibens gezüchtigt werden, vielleicht hat er sich zur Wehr setzen wollen — kurz und gut, das Messer eines seiner zwerghaften Herren hat sein Herz getroffen — und gleich darauf sanken die sechs Unholde selbst leblos zu Boden nieder. Ihr Schöpfer hatte das Werk der Vernichtung an ihnen begonnen.«

Nobody strich sich das Haar aus den Schläfen, damit hatte sich der Mann, der im Leben schon Schrecklicheres geschaut, wieder gefaßt.

»Wie tötete er sie?«

»Ich war nicht mit dabei.«

»Mit einem Luftgewehr?«

»Ich habe es nicht gesehen. Als ich heraufkam, dort durch das den Zwergen heilig gehaltene Felsentor, durch welches auch du dann den Rückweg antreten wirst, lagen die sechs Leichen schon so da, wie sie jetzt noch liegen. Und nun, Alfred, angesichts des hier herrschenden Todes muß ich dir noch eine andere Mitteilung machen, muß dich auf etwas vorbereiten, damit du dann nicht gar so sehr überrascht bist.«

Es war wirklich nötig, daß sich der junge Kanadier entschuldigte, nämlich die folgende Mitteilung angesichts dieser Leichen zu machen, denn sein Antlitz begann plötzlich vor eitel Glückseligkeit wieder zu strahlen.

Nobody sah es, aber er schien es gar nicht zu beachten, er schien ganz mit anderen Gedanken beschäftigt zu sein. Oder mußte er nicht schon wissen, was jetzt kommen würde, was seinen Freund so überaus glücklich machte?

»Und das wäre?«

»Noch jemanden anderes habe ich hier gefunden.«

»Wen?«

»Rate!«

»Agathe?«

»Wie kannst du schon wissen ...,« stutzte Scott, doch dann brach der volle Jubel bei ihm hervor.

»Ja, hier mußte ich sie wiederfinden! Monsieur Sinclaire selbst führte sie mir zu. Schon vor einem halben Jahre wurde sie hierhergebracht.«

»Von wem?«

»In einem kleineren Unterseefahrzeuge von zwei Udlindschis, welche aus Abessinien kamen, und ahnst du, wer sich sonst noch in ihrer Gesellschaft befand?«

»Vielleicht die weibliche Albino mit ihrem Kinde?«

»Allerdings. Agathe, welche ja Arabisch spricht, mußte die Dolmetscherin sein,' denn die Zwerge

wiederum sprechen Deutsch —- ach, ich weiß ja gar nicht, wo ich anfangen soll, dir zu erzählen, was ich schon alles erfahren habe ...«

»Zu einer ausführlichen Erklärung ist hier auch nicht der geeignete Ort, und wir haben ja noch Zeit genug dazu. Nun aber vor allen Dingen: in welchem Zustande befindet sich die junge Dame denn?«

»Sie ist ganz normal, sie hat mich sofort erkannt,« erklang es in hellem Jubel.

»Also nicht mehr wahnsinnig?«

»Das war nur ein suggerierter Wahnsinn und —«

Ein Donnerschlag erscholl, der nicht vom blauen Himmel kommen konnte. Erschrocken war der Kanadier emporgefahren.

»Das war das Zeichen!!« stieß er hervor.

»Was für ein Zeichen?«

»Daß wir uns von hier entfernen sollen, jetzt setzt Sinclaire diese ganze Oase in Brand. Schnell, folge mir, er hat mir schon den Weg gezeigt, den wir nehmen sollen.«

Aber Nobody war nicht so schnell bereit, seinem plötzlich ganz umgewandelten Freunde zu folgen.

»Wo ist Monsieur Sinclaire?«

»Dort, von wo aus er die Oase in Flammen setzen will.«

»Wo ist das?«

»Ich weiß nicht. Komm, Alfred, wir müssen uns beeilen, umsonst hat mir dieser Mann nicht so eindringlich befohlen, uns beim ersten Kanonenschlag schnell unter die Erde zurückzuziehen.«

»Aber meine Sachen, die man mir abgenommen, muß ich doch erst holen ...«

»Halt!« wurde der sich schon zum Fortlaufen Anschickende zurückgehalten. »Dies alles hat mir Monsieur Sinclaire bereits eingehändigt.«

Nobody war nicht wenig überrascht, als Scott ihm seinen Revolver, sein Notizbuch und alles andere überreichte, was ihm die Zwerge während der kurzen Periode seiner Bewußtlosigkeit abgenommen hatten, um es achtlos wegzuwerfen, also auch die Ledertasche, welche des Detektivs Heiligtum barg.

Doch Nobody sollte keine Zeit mehr haben, hierüber weitere Aufklärungen zu verlangen, vorausgesetzt übrigens, daß Scott ihm solche geben konnte.

»Wir dürfen keinen Moment mehr verlieren!« drängte dieser auf das ungestümste, seinen Freund mit Gewalt mit sich fortziehend, »Sinclaire will die vielen Tiere nicht dem langsamen Flammentod aussetzen, er sprach von giftigen Dünsten, die er erst über die ganze Oase verbreiten will ...«

Da gab Nobody sein Zögern auf, er ließ sich fortziehen, die beiden verschwanden in der Höhle eines großen Felsblockes und ...

 

—————

 

Und dieses abermalige Verschwinden der beiden unter der Erdoberfläche bedeutete in der Lebenslaufbahn unseres Helden wiederum den Schluß einer Periode und den Beginn einer neuen, und so sind wir berechtigt, hier einen großen Sprung auszuführen.

Nur mit wenigen Worten sei angedeutet, wie sie den Rückweg bewerkstelligten, und was Nobody unterwegs erfuhr.

Er sah die Albino, ihr Kind, ein zwar kräftiges Mädchen, aber in der Entwicklung äußerst zurückgeblieben, das heißt sehr klein, und er sah Agathe, dieselbe, welche er als Wahnsinnige an dem libyschen Wüstenbrunnen gesehen hatte, jetzt aber ein geistig normales Weib, das sich nur sehr scheu gegen den fremden Mann zeigte.

Doch wie soll erzählt werden, wie die fünf Menschen wieder den Weg durch den unterirdischen Tunnel zurücklegten, bis sie abermals an den See gelangten, wo Jochen und Anok im Delphin ihrer Herren harrten?

Gewiß hat Nobody doch viel berichtet bekommen —nur schade, daß hierüber in seinem Tagebuche gar nichts verzeichnet steht, und was während dieser Zeit von ihm eingetragen worden ist, das verrät, daß er sich damals in einer tiefen, geistigen Niedergeschlagenheit befunden hat.

Und das ist begreiflich. Er hatte den geheimnisvollen Mann, der sich den Herrn der Erde nannte, besiegt, um dennoch zuletzt vor ihm zurückweichen zu müssen.

»Ach, hätte ich doch niemals dieses verfluchte Wrack des großen Unterseebootes mit dem noch brauchbaren Delphin gefunden, wie viele Irrpfade wären mir erspart geblieben, die ich nutzlos gewandelt bin!!!«

Das ist so eine Eintragung aus jener Zeit — ein Klageruf, aus dem gar viel zu schließen ist.

Dann aber eine andere Eintragung in das Tagebuch, und das ist wohl der Hauptgrund für Nobodys geistige Depression:

»Ich, der ich mich schon als Geist fühlte, bin als sterblicher Mensch wieder zur Erde niedergeschmettert worden. Soeben sagt mir Edward, daß er dem geheimnisvollen Manne das Tarngewebe zurückgegeben hat, jener hat es von ihm gefordert, und wie ich daraufhin meine Ledertasche untersuche, zum ersten Male, da ... finde ich sie leer! Ob ich diesen Sturz ertragen werde? Ja, ich muß, ich will, ich bin ein Mann!!« —

Dies ist der Schluß des sechsten Bandes von Nobodys Tagebüchern, eingetragen in Port Hunter, und wenn wir das siebente aufschlagen, so erfahren wir, warum dieser Mann, der seine Tagebücher sonst so gewissenhaft führte, ganz vergessen hat, den Abschied von seinem Freunde zu schildern, warum er über den Verbleib des Delphins kein Wort mehr übrig hat.

Gleich die erste Seite des siebenten Tagebuches beginnt mit einem ganz neuen Thema, obgleich hier nichts etwa fehlt. Nobody befindet sich noch immer in Port Hunter, begibt sich nach Sydney. Er scheint nur alles Vorangegangene vergessen zu haben. Und der Grund hierzu ist sofort erkennbar.

Am politischen Horizonte zog sich ein Gewitter zusammen, welches besonders England furchtbar schwer bedrohte.

Die unter englischer Oberhoheit stehenden Kolonien Englands traten zusammen, um vom Mutterlande abzufallen, um sich unabhängig zu machen.

Und schon wurden mit Kanada Grüße der Sympathie ausgetauscht.

Und schon trugen Arbeiterscharen durch die Straßen von Sydney die rote Fahne der Revolution!

Ist es da ein Wunder, wenn Nobody, oder vielmehr Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, der Champion, d. h. der Beschützer der englischen Königin, alles andere, was seine eigene Person betrifft, darüber vergißt?

Und das erste, was Nobody, als er in Port Hunter wieder die Oberfläche der Erde und des Meeres erreichte, erhielt, war ein versiegeltes Schreiben, welches ihm ein in Sydney liegendes Kriegsschiff zur Verfügung stellte, das den Champion der Königin mit gespannter Vollkraft nach London bringen sollte, wo eine Beratung der klügsten und erfahrensten Köpfe stattfand, wie Old England vor dem drohenden Zusammenbruche zu retten sei.

Diese Schilderung nun, wie die ganze politische Verwicklung entstanden war, was für Folgen ein Abfall der englischen Kolonien Australiens und Kanadas haben könnte, usw. usw., das nimmt die Hälfte von diesem siebenten Tagebuche in Anspruch.

Das können wir natürlich nicht wiedergeben, hat für den Leser auch gar kein Interesse.

Erwähnt sei nur, daß Nobodys Scharfblick sofort erkannte, wie diese ganze Sache in Bälde völlig harmlos im Sande verlaufen würde.

Den Anstoß zu der Bewegung hatte eine demokratische Zeitung gegeben, welche einmal voll und ganz den tatsächlich bestehenden Mißstand aufdeckte, wie der meiste Grundbesitz und die lukrativsten industriellen Unternehmungen Australiens in England wohnenden Personen gehören, besonders Aristokraten, die selbst niemals nach Australien kommen, sich das Geld nur nach England schicken lassen, es also dort auch verzehren — das viele Geld, welches der Australier mit Fleiß und Schweiß dem Boden abgerungen hat.

Der Unwille über diese Ungerechtigkeit hatte schon immer in der Luft gelegen, die ungeheuren Summen, welche jene Zeitung nun einmal vorrechnete, hatte dem Manne des Volkes vollends den Kopf verdreht, und in Anbetracht der ganzen Sachlage wagten die Aufgeklärten jetzt nicht, darauf hinzuweisen, wie diese Aussaugung Australiens doch nur eine scheinbare ist, wie in Wirklichkeit ein fortwährender Austausch der Werte stattfindet.

Doch genug davon. Wir beginnen die nächste Erzählung damit, wie sich unser Held an Bord des ihm zur Verfügung gestellten Dampfers begibt, was für ihn, ohne daß er noch eine Ahnung davon hatte, abermals den Beginn eines ganz neuen Abschnittes in seinem Leben bedeuten sollte.

 

—————

 

 

VIII.
Meuterei an Bord.

 

Australien war wieder einmal, wie es von Zeit zu Zeit geschieht, mit einem Besuche des englischen Kronprinzen bedacht worden. Begleitet wurde er wie gewöhnlich von einem stattlichen Kriegsgeschwader, welches einmal die englische Macht zeigen sollte — allerdings nur zu ganz friedlichen Zwecken, eine Art von Parade — der Kronprinz selbst befand sich auf dem ›Manofwar‹, eine gedeckte Panzerkorvette, für die damalige Zeit das ungeheuerlichste Kriegsschiff, welches je vom Stapel gelaufen war, und das jetzt seine erste größere Reise machte, mit 80 Geschützen schwersten Kalibers armiert und bemannt mit 1200 Matrosen und Heizern.

Jedenfalls hatte man im englischen Ministerium nicht gewußt, was für Zustände das Geschwader beim Erreichen seines Zieles in Sydney wie in ganz Australien vorfinden würde. Die Offiziere hatten wenigstens nichts geahnt.

Kurz vor Sydney wurde das Geschwader, welches unterwegs mehrere andauernde Stationen gemacht hatte, von einem schnellen Aviso eingeholt, der direkt von England kam und dem Admiralsschiff versiegelte Orders überbrachte.

Nun erfuhren die Offiziere von der drohenden Gefahr. Dementsprechende Instruktionen. Das Geschwader sollte wohl noch Sydney anlaufen, aber nur, um den notwendigen Salut der Höflichkeit abzugeben, am allerwenigsten sollte das Geschwader eine feindliche Demonstration machen — nur immer so ruhig und gleichgültig wie möglich — von der unzufriedenen Stimmung durfte gar nichts gesehen werden — es dampfte gleich wieder ab, nachdem vorher einige Besatzungen ausgetauscht worden waren.

So geschah es denn auch, und das war wieder solch ein in aller Harmlosigkeit ausgeführter Trick, in denen Old England von jeher so groß gewesen ist.

Der Austausch der Besatzungen geschah in aller Ruhe. Uns interessiert nur der ›Manofwar‹, wir müssen aber doch noch bemerken, daß in den australischen Häfen, besonders in Sydney, ständig einige englische Kriegsschiffe liegen, deren Bemannung Australien selbst stellt, also geborene Australier, meist von der Fischfang betreibenden Küstenbevölkerung, die tüchtigsten Seeleute.

Der Prinz von Wales verließ den ›Manofwar‹ und mit ihm sämtliche Offiziere und Mannschaften. Nur ein einziger Deckoffizier und einige Maschinisten blieben an Bord zurück.

Als neue Besatzung des ›Manofwars‹ kamen die Offiziere und 400 Mann, welche bisher auf der Kreuzerfregatte ›Trafalgar‹ gestanden hatten, ihr bisheriger Kapitän übernahm auch das Kommando — eine hohe Auszeichnung, da der Kommandant jener kleineren Kreuzerfregatte dieses Riesenschiff eigentlich noch gar nicht zu führen hatte, da waren noch ältere da — und den fehlenden Rest von 800 Mann mußten in Sydney stationierte Kriegsschiffe liefern, also alles geborene Australier.

Innerhalb weniger Stunden war der Tausch vollzogen. Solch ein Umzug geht ja schon schnell genug in der Kaserne, noch schneller in der Marine. Der Kleidersack ist immer gepackt, er wird auf den Rücken, das Gewehr über die Schulter genommen, die Mannschaft geht von Bord zu Bord, jeder Mann hat seine Nummer, jeder weiß sofort seine Hängematte, seine ›Back‹, d. h. seinen Tisch, — fertig ist die Geschichte.

Sobald Korvettenkapitän Frater das Kommando übernommen hatte, erbrach er die ihm von dem Aviso zugestellte Spezialorder.

Sofort mit Volldampf nach London zurück. Kohlen und was sonst nötig im nächsten Hafen einnehmen, nur in keinem australischen. Vorher aber. .

»Als Passagier wird Sie Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent, begleiten. Auf Befehl der Königin usw.«

Ganz so kurz war die Order allerdings nicht gehalten, nur dem militärischen Tone nach. Man hatte in London ja gar nicht gewußt, ob sich Nobody auch wirklich dort befände, ob seine Order ihn erreiche — der Kapitän des ›Manofwar‹ erhielt also noch Instruktionen, wie lange er in Sydney auf den Schiffsgast zu warten habe, ehe er ohne ihn abfuhr.

Nun, lange brauchte man nicht zu warten. Noch an demselben Tage betrat ein fremder Herr elastischen Schrittes das Deck; er legitimierte sich durch ein Schreiben, an dem noch das königliche Siegel zu sehen war, und ... der Kronprinz war gegangen, der König kam.

Ja, mit fast königlichen Ehren wurde der Championdetektiv empfangen, und bei dieser Behandlung blieb es auch, als die schwimmende Stadt die Anker gelichtet hatte. War doch in seinem Schreiben noch besonders ausgedrückt, daß dieselbe, nämlich diese schwimmende, nur anstatt mit alten Festungsmauern mit modernen Panzerplatten umgebene Stadt ganz zu seiner Verfügung gestellt war. Vielleicht wäre das auch gar nicht nötig gewesen — der Champion der Königin, der Waffenmeister des Hosenbandordens, allein der Name ›Nobody‹ genügte schon, um ihm überall den Ehrenplatz zu überlassen.

An der Offizierstafel konnte es ja niemals an Unterhaltung fehlen. Natürlich drehte sich diese vor allen Dingen um die Revolution in Australien und den Abfall sämtlicher Kolonien vom Mutterlande, dann aber auch nicht minder um den Zweck der schnellen Zurückberufung dieses Panzerkolosses wie der meisten anderen Schiffe des Geschwaders nach England.

Da führte ganz sicher Deutschland wieder einmal etwas gegen England im Schilde! Ohne das geht's ja beim Engländer nun einmal nicht.

Nobody war dieses sinnlosen Kalkulierens bald überdrüssig. Er lenkte seine Aufmerksamkeit dem Schiffe selbst und der ganzen Mannschaft wie auch dem Verhältnis derselben zu den Offizieren zu.

Und da, wie er so als unbemerkter Zuschauer den Exerzitien und anderen Dienstobliegenheiten beiwohnte, gewahrte er ... Böses! Und das wurde im Laufe der Tage immer böser.

Die aus 1200 Köpfen bestehende Mannschaft wurde auf eine schauderhafte Weise gedrillt und kujoniert, und das kann an Bord eines Schiffes nur direkt vom Kommandanten ausgehen.

In der gewöhnlichen Gesellschaft konnte man sich in der Person des Korvettenkapitäns Frater außerordentlich irren. Gegen seinen Gast war er von der vollendetsten Liebenswürdigkeit, und das hätte wohl nicht gerade der Champion der Königin zu sein brauchen; denn ebenso liebenswürdig war er bei jeder Gelegenheit auch gegen die ihm untergebenen Offiziere, wie man es sehr selten an Bord eines Schiffes findet.

Nur gegen einen einzigen machte er eine Ausnahme, gegen Sir Walter Bekham, einen jungen Wachtoffizier, nur den behandelte er von oben herab, oft sogar mit Geringschätzung, ließ ihn seine Würde bei jeder Gelegenheit empfinden, obgleich gerade dieser junge Offizier ein — wie man sagt — ein reizendes Kerlchen war, den Nobody sofort ins Herz geschlossen hatte, und dabei der tüchtigste Seemann vom Scheitel bis zur Sohle, jedenfalls der tüchtigste an Bord des ganzen Schiffes.

Nobody hatte unter den bejahrteren Offizieren einen vertrauten Bekannten gefunden, aus dem er bald durch geschickte Fragen die Ursache dieses unerfreulichen Verhältnisses herausgebracht hatte, soweit ihm dies nicht schon bekannt gewesen war.

Noch vor drei Jahren war Regial Frater als Leutnant Kommandant eines kleinen Kanonenbootes gewesen, das ständig im Roten Meere gekreuzt hatte. Ein Posten ohne jede besondere Bedeutung. Da ein Aufstand der Mohammedaner gegen die Christen, das Kanonenboot war als erstes europäisches Fahrzeug zur Hilfe da, Kapitän-Leutnant Frater bombardierte auf eigenes Risiko einige arabische Städte und Dörfer in Grund und Boden, was ihm dann aber verziehen wurde, weil er durch sein energisches, rücksichtsloses Vorgehen tatsächlich schnell wieder Ruhe geschaffen und Tausenden von Christen das Leben gerettet hatte.

Da war seine Karriere gemacht. Er stieg von Rang zu Rang, heute, nach drei Jahren, wurde ihm das Kommando über das größte Panzerschiff Englands übertragen. Und er war auch der Mann, der dieses Vertrauen rechtfertigte, und er würde noch höher, von Stufe zu Stufe steigen.

Nur noch eins fehlte ihm, was beim englischen Offizier nun einmal unbedingt nötig ist: der Adel… und dann das liebe Geld.

Letzteres mußte sich der berühmt gewordene Seeheld ja leicht durch eine reiche Heirat verschaffen können. Und sein Auge war auf die Lady Esther Bekham gefallen, deren kleine Hand so rund über zehn Millionen verfügte, nämlich in Pfunden Sterling.

Nicht immer war sie, die Schwester dieses Leutnants, so reich gewesen. Vor kurzem noch hatten die beiden auch noch nichts gehabt. Hiermit ist wieder eine kleine Geschichte verknüpft.

Schon seit vielen Jahrzehnten hatte das verarmte Geschlecht der Baronets von Bekham gegen die englische Peerschaft — dies der Name der gesamten englischen Aristokratie, die ihren eigenen Gerichtshof und andere Privilegien hat — einen Prozeß geführt. Es handelte sich um Herausgabe vieler Liegenschaften im Gesamtwerte von etwa zehn Millionen Pfund Sterling, sogenannte Kronengüter, welche die Bekhams auf Grund alter Urkunden für sich beanspruchen zu dürfen glaubten. Schon die Großväter waren mit ihrer Klage abgewiesen worden, Söhne und Enkel hatten sie immer wieder erneuert.

Jetzt endlich, in letzter Instanz, hatten die beiden noch lebenden Bekhams, Sir Walter und Lady Esther, den Prozeß gewonnen.

Der berühmte Seeheld, jedenfalls der Held des Tages, hätte sich nicht träumen lassen, von der reichen Erbin zurückgewiesen zu werden. Es war dennoch geschehen. Es sollte dabei zu einer bösen Szene gekommen sein, die Lady sollte trotz ihrer sonstigen Sanftmut Worte wie ›Barbar‹ und ›Bluthund‹ gebraucht haben.

Eigentlich hätte der Seeheld, dem nur noch das nötige Geld fehlte, der Lady für diesen Korb sehr dankbar sein müssen. Denn deren Reichtum dauerte nicht lange. Wohl hatte der oberste Gerichtshof in letzter Instanz zugunsten der Bekhams entschieden, aber das war nur das Ende des einen Prozeßes gewesen.

Die an dem Vermögen beteiligte Peerschaft strengte sofort einen neuen Prozeß an, kam mit noch älteren Urkunden, diesmal gewann sie, und ... Lady Esther hatte wiederum nichts weiter als ihre jungfräuliche Anmut, und ihr Bruder, Sir Walter, so ziemlich nichts weiter als seinen Degen.

Aber, wie gesagt, Kapitän Frater konnte der Lady doch nicht verzeihen, daß sie ihn, der einige arabische Dörfer in Grund und Boden geschossen, mit eigener Hand einigen Türken den Kopf abgesäbelt hatte, einen Bluthund und dergleichen genannt hatte, und da er der Lady nichts anhaben konnte, so — und das war nun die gemeine Niederträchtigkeit dabei, die unser Nobody mit seinem offenen Charakter am allermeisten empfand — so übertrug er seinen Haß wenigstens auf ihren Bruder, den er schon an Bord seines ersten Schiffes, des ›Trafalgar‹, unter seiner Fuchtel gehabt hatte.

Wie nun der Kapitän den mißliebigen Leutnant kujonierte und verächtlich behandelte, davon soll alsbald ein Beispiel gegeben werden, und wie die ganze Mannschaft ›gezwiebelt‹ wurde, das konnte Nobody täglich beobachten.

Auf welche Weise dies geschah, das braucht hier wohl nicht näher ausgeführt zu werden. Jedenfalls kann bei der Marine, an Bord, noch ganz anders ›gezwiebelt‹ werden als bei der Landarmee. Denn an Bord auf hoher See gibt es keinen Zapfenstreich, der auch dem gequältesten Soldaten endlich die ersehnte Ruhe verschafft, auf See befindet sich das Schiff immer im Kriegszustand, und nun diese Arbeit an Deck und in der Takelage, das Umstauen des Ballastes, das Zurren der Geschütze, Bootsmanöver, und nun vor allen Dingen das Aus- und Einbringen des Torpedonetzes —— wer das nicht kennt, vielleicht noch nicht einmal gesehen hat, der kann ja auch gar keine Ahnung haben, wie die Mannschaft eines Kriegsschiffes gezwiebelt werden kann.

»Blut müssen die Hunde schwitzen!«

Und an Bord eines Kriegsschiffes kann dies in buchstäblichem Sinne des Wortes erreicht werden.

Die 400 Mann, die Kapitän Frater von der ›Trafalgar‹ mitgebracht hatte, konnten schon etwas erzählen, die 800 neuen australischen Matrosen lernten Kapitän Fraters Kommando jetzt kennen, und er übertrieb noch seine frühere barbarische Strenge bei weitem.

Er versuchte seine Handlungsweise, nichts weiter als eine Ausgeburt seines zur Grausamkeit veranlagten Charakters, mit einem Zuge von Patriotismus zu bemänteln.

Wenn die gesamte Mannschaft zur Musterung angetreten war, sprach er von altenglischer Treue und australischer Untreue, ließ durchblicken, daß es sich um einen baldigen Krieg mit einer anderen Seemacht handele, da könnten die Australier ihre Ehre wiederherstellen, erst aber müßten sie, die immer still im Hafen gelegen hatten, zu tüchtigen Seeleuten gemacht werden ——— und nun ging eben die fürchterliche Arbeit wieder los.

Gerade, als wenn diese 800 australischen Matrosen, die in letzter Zeit gar nicht an Land gekommen waren, die ganze Unruhe verschuldet hätten und nun dafür büßen müßten.

Noch in einer ganz besonderen Weise zeigte der Kommandant seinen nichtswürdigen Charakter.

Der ›Manofwar‹ hatte nicht mehr viel Kohlen und Proviant an Bord. Es hatte nichts zu sagen. Der nächste neutrale Hafen, in dem alles eingenommen werden sollte, war Batavia. Den erreichte der schnelle Dampfer in zehn Tagen, und so lange war noch alles in Hülle und Fülle vorhanden.

Nobody wußte bestimmt, daß im Proviantraum noch genug aufgestapelt war, um die 1200 Mann für diese zehn Tage mit gutem Pökel- oder Konservenfleisch und mit gutem Schiffszwieback zu speisen, und er hatte sich mit eigenen Augen und mit eigener Nase überzeugt, daß die Mannschaft von Würmern zerfressenens Hartbrot und schon anrüchigen Speck vorgesetzt bekamen.

Wozu das? Der Kapitän hatte es befohlen, erst sollte mit den alten Vorräten aufgeräumt werden. Das war kein Grund, es gab frische Vorräte noch genug. Das war einfach eine niederträchtige Schikane!

Wehe aber dann, wenn es so weit kam, daß ...

Nobody sah es nicht, merkte es auch nicht — aber er fühlte es instinktiv heraus —— in seiner eigenen Brust ballte es sich wie ein furchtbar drohendes Ungewitter zusammen.

Nein, merken konnte er nichts davon, daß es unter der Mannschaft bereits gäre. Willig taten sie ihre Pflicht, erledigten sich der fürchterlichsten Arbeit, und wenn diese auch noch so zwecklos war, und wenn ihnen, die vor Müdigkeit manchmal buchstäblich umfielen, auch das Blut unter den Fingernägeln hervorspritzte —— keine Klage, kein unterdrücktes Murmeln des Unwillens, kein Wort, auch kein Zucken der Gesichtsmuskeln.

Gerade aber dieses schweigende Erdulden war es, was Nobody mit solch einer undefinierbaren Bangigkeit erfüllte.

Wenn sich nur ein einziger einmal wenigstens zu einer Verwünschung hätte hinreißen lassen! Das wäre menschlich gewesen.

Nein, gar nichts.

Das war die Schwüle vor dem furchtbaren Gewitter!!

Nur eine Erklärung wußte Nobody für diese Stille der Mannschaft, jedes einzelnen Mannes.

An Bord befand sich ein Zauberer, der den Elementen zu gebieten hatte, der das Unwetter noch zurückhielt.

Mit anderen Worten: an Bord befand sich ein Mann, der leiblich wie geistig eine ungeheure Macht über seine Kameraden ausübte — ein Mann, dessen Überlegenheit eine so große war, daß sie fast an Zauberei grenzte. Und ein unaufgeklärter Zauber ist ja auch dieser persönliche Einfluß, den einzelne Menschen manchmal über ihre Mitmenschen ausüben. Nur er konnte diesen stummen Gehorsam hervorzaubern und auch den größten Hitzkopf beschwichtigen, vielleicht nur mit einem einzigen Blick.

Und als Nobody einmal zu dieser Ansicht gekommen war, da hatte sein scharfer Blick unter den 1200 Mann auch sofort den Betreffenden, den geheimnisvollen Zauberer, herausgefunden.

Es war ein gewöhnlicher Matrose, durch die rote Biese an der Mütze als zur Torpedoabteilung gehörig gekennzeichnet, weshalb er auch, wenn die anderen bei der Musterung in Gefechtsdivision mit ihren Gewehren antraten, statt dessen Revolver und das schwertähnliche Entermesser trug, was sonst aber nicht etwa eine Auszeichnung ist. Das ist eben die Bewaffnung des Torpedomatrosen.

John Black hieß er, wie Nobody bei Gelegenheit, nachdem er einmal sein Auge auf diesen Mann geworfen hatte, erfuhr. Seine Kameraden riefen ihn black John, d. H. den schwarzen John. Und schwarz war er denn auch, wenigstens den Haaren nach. Aber der schlanke, sehnige Mann hatte überhaupt etwas Zigeunerhaftes an sich, und bei Betrachtung des eckigen Gesichtes, dem ein dünner, langherabhängender Schnurrbart etwas Verwegenes gab, kam Nobody immer mehr zu der Ansicht, daß hier trotz des englischen Namens wirklich Zigeunerblut vorhanden sein müsse.

Sonst war eigentlich weiter nichts Interessantes an dem Manne. Nur der Blick dieses Detektivs erkannte etwas Besonderes an ihm. Das war sein Auge, sein großes, schwarzes Auge, in dem eine ganze Welt von glühender Phantasie schlummerte, die er aber klüglich zu bezähmen wußte. In einen entsprechenden Anzug gesteckt, die Haare etwas länger, und der geniale Künstler war fertig, oder aber der geborene Welteroberer, der auch sein Ziel erreichen wird. Denn welcher Welteroberer hat nicht eine glühende Phantasie besessen? Was nützt aber alle projektemachende Phantasie, welche nicht durch Energie gezähmt werden kann? Alexander der Große!

Aber, wie gesagt, um dies alles zu erkennen, dazu gehörte eben das Auge dieses Detektivs. Ein anderer hätte nichts weiter gesehen als einen zwar intelligenten Menschen, sonst aber doch nur einen ganz einfachen Matrosen.

Weiter war er ja nichts. Er verrichtete seine Arbeit wie die anderen, wurde vom Offizier oder Bootsmannsmaat bei Gelegenheit ebenso abgetoffelt wie die anderen, genoß nicht den geringsten Vorzug.

Und doch, und doch!! Nobody wußte ganz, ganz bestimmt, daß dies der Zauberer war, der das drohende Ungewitter zurückhielt, dem alle anderen, auch die Unteroffiziere, blindlings gehorchten. Weshalb? Eben weil es der geborene Welteroberer war.

Nobody sah nichts, merkte nichts davon —— er fühlte es instinktiv heraus, das aber auch mit untrüglicher Gewißheit.

Es war am sechsten Tage der Reise, als Nobody durch das Batteriedeck ging. Kurz vor dem Mittagessen. Die Matrosen waren soeben von der Arbeit abgerufen worden, konnten sich verschnaufen, aber nicht wissend, ob sie nicht von dem Mittagessen durch die Pfeife des Bootsmanns zu einer neuen, zwecklosen Arbeit fortgescheucht werden würden.

Um ein Geschütz hatte sich eine Gruppe von Matrosen gebildet, deren Mittelpunkt der schwarze John war, welcher auf der Kanone saß.

Nobody sah nur seinen Kopf, gern wäre er unbemerkt Zeuge dessen geworden, was dort so eifrig verhandelt wurde, doch sie sprachen ja ganz laut — und Nobody stutzte — wahrhaftig, er hatte sich in dem Charakter des Blutes nicht getäuscht —— der schwarze John sagte seinen Kameraden aus der Hand wahr!!

Die Matrosen schienen nichts anderes als ihr einstiges Ende wissen zu wollen; denn nur Tod war es, was ihnen der Unglücksrabe prophezeite.

» . . . . hier die feine Linie um den Lebensweg — das ist ein Strick, der dir das Leben abschneidet - Bill, du wirst einmal gehangen.«

»Oho! Wann denn?«

»Wenn du's verdient hast — vielleicht schon eher. Weiter! Du, Ned? Zeig her! Hm. Ned, du kannst ein paar Pullen Bier zum besten geben, du stirbst einmal sanft im Bett, was du Strolch eigentlich gar nicht verdient hast.«

»Und ich?« drängte sich ein anderer vor.

»Bob? Hm. Na, das ist ja ganz einfach — du kriegst einmal was in den Hals, daran stirbst du.«

»Was denn?«

»Ja, das steht freilich nicht in der Hand drin. Es kann eine Gräte sein, die dir im Halse stecken bleibt, es kann auch eine Bohne sein.«

»Ich esse überhaupt keine Bohnen.«

»Dann ist's eine blaue Bohne, die dir durch den Hals fährt.«

»Und ich?«

»Du, Fred? Zeig her! Hm. Und du stirbst einmal an etwas im Auge — ja, das kann ich hier ganz deutlich sehen — ins rechte Auge bekommst du's — und das dauert gar nicht so lange mehr.«

»Und ich?« fragte ein rotnäsiger Matrose, seine Hand hinhaltend.

»Na, Old Timmy, in deine Hand brauche ich gar nicht erst zu sehen, dir steht's an der Nase geschrieben, du stirbst am Delirium.«

Nobody wollte nähertreten, und kaum ward seine Anwesenheit bemerkt, als die Matrosen scheu vor dem mächtigsten aller mächtigen englischen Kriminalbeamten zurückwichen, sie verschwanden gleich gänzlich.

Der schwarze John war ehrerbietig aufgestanden! der Champion der Königin nahm doch auch einen hohen Offiziersrang ein.

»Wie? Du kannst aus der Hand wahrsagen?«

Wohl stand der Matrose ehrerbietig da, aber dabei musterten die kühnen Augen mit kühler Ueberlegung den Vorgesetzten, die zu gebende Antwort erwägend, obgleich diese fast sofort kam.

»O nein, Sir, so was gibt's ja gar nicht, das ist ja alles nur Unsinn.«

Aber Nobody ließ sich nicht irre machen.

»Ich glaube doch, daß du's kannst.«

»Ach, ich erzähle ja nur so etwas, was mir gerade einfällt ...«

»Aber du mußt doch etwas von der Handlesekunst, wie man die einzelnen Linien deutet, verstehen, sonst kämst du doch gar nicht auf solch eine Idee.«

»Ja, das wohl!« erklang es jetzt zögernd.

»Wer hat es dich gelehrt?«

»Meine Mutter.«

»War sie vielleicht eine Zigeunerin?«

Nicht beleidigt, sondern wie stolz richtete sich der Matrose plötzlich empor.

»Ja, sie war eine Zigeunerin.«

Nobody hatte seine Freude an dem Burschen, der seine Eltern nicht verleugnen wollte.

»Na, da ist doch auch gar nichts weiter dabei.«

»Das denke ich auch.«

Oho!! Fast gereizt hatte es geklungen, drohend ruhten die schwarzen Augen auf dem fremden Herrn, auf dem Vorgesetzten.

Doch Nobody war ja gerade der Mann, der solch einen Charakter zu würdigen wußte. Hatte er doch selbst aus Hang zur Selbständigkeit einer glänzenden Laufbahn Valet gesagt, hatte alle Orden und den ganzen Bettel der Welt vor die Füße geworfen.

An Bord des Schiffes aber mußte er dem Matrosen gegenüber der Vorgesetzte oder doch der Gast des Kommandanten bleiben.

»Wie heißt du?«

»John Black.«

»Das ist ein echt englischer Name.«

»Gewiß, ich bin geborener Australier.«

»Wie kommt es da, daß deine Mutter eine Zigeunerin war?«

»Mein Vater war Fischer, sie retteten ein Fahrzeug vom Untergang, es war wohl ein italienisches, da war auch ein braunes Weib darauf, noch viel brauner als die Italiener sind — das wurde meine Mutter.«

»Dein Vater heiratete sie?«

»Nein. Wozu heiraten?«

Immer wieder nur Stolz, bei aller Unterwürfigkeit.

»Du aber führst den Namen deines Vaters?«

»Ja. er adoptierte mich.«

»Gesetzlich?«

»Wozu gesetzlich?« lautete wiederum die Gegenfrage.

Nun hatte Nobody diesen Charakter schon längst erkannt: ein Proletarier, welcher stolz darauf ist, ein solcher zu sein, dies offen bekennend, seinen Haß gegen den ›Reichtum‹ dagegen nur so weit, als er es darf. Richtiger ist der ›Haß gegen die bestehende Ordnung‹ Mit einem Wort: ein Sozialdemokrat.

»Deine Mutter ist also tot?«

-Ja.«

Es war doch einfach und deutlich genug geantwortet, und doch hatte das überaus feine Ohr dieses Detektivs etwas Besonderes herausgehört.

»Sie starb?«

»Sie starb nicht und ist doch tot? Wie ist das zu verstehen?«

»Der reiche Fischagent fand sie schön, zu schön für einen Fischerknecht und....«

»Schon gut. Jetzt verstehe ich. Sie war deine Mutter, nevermind. Und dein Vater? Lebt der noch?«

»Nein.«

»Er ist tot?« mußte Nobody trotzdem wiederum fragen, und ... er sollte richtig gehört haben.

»Er ist in Kaledonien.«

Kaledonien, richtiger Neukaledonien, ist eine große Insel bei Australien, nach welcher früher von England aus Sträflinge deportiert wurden und die noch heute als Strafinsel für Verbrecher dient, die in Australien selbst verurteilt worden sind, und zwar zu lebenslänglichem Zuchthaus. Es ist die härteste Strafe, die Verbrecher müssen meist Holz fällen, auch werden fortwährend Kolonisationsversuche gemacht, die aber bisher noch immer gescheitert sind.

»Was hat er begangen?«

»Mord.«

»Jenen Fischagenten....?«

»Ja.«

»Deiner Meinung nach ist er wohl unschuldig?«

Mit einem jähen Ruck warf der Matrose den Kopf zurück, furchtbar finster blickten die schwarzen Augen auf den Sprecher.

»Was geht das mich an?« stieß er hervor. »Habe ich überhaupt eine Meinung? Das Gericht hat entschieden, und die Richter sind gerecht.«

Nobody wollte dieses Thema fallen lassen. Er hielt jenem seine flache Hand hin.

»Nun wahrsage auch mir einmal aus der Hand.«

Doch der Matrose schüttelte den Kopf, blickte gar nicht hinab.

»Es ist ja alles nur Unsinn.«

»Tue es nur einmal.«

»Ich kann es gar nicht.«

»Ich bitte dich darum.«

Nobody hatte in seine Stimme jenen Ton gelegt, dem kein Mensch widerstehen konnte, nicht etwa besonders bittend, noch weniger schmeichelnd, sondern eben ... es war ein geheimnisvoller Zauber, den er in seine Stimme zu bringen wußte, und auch dieser Matrose erlag ihm, er blickte wenigstens hinab — und ein Ruf des Staunens entschlüpfte seinen Lippen, hastig und doch wie mit scheuer Ehrfurcht ergriff er die hingehaltene Hand.

»Was für eine wunderbare Hand Sie haben!!« rief er im Tone des höchsten Staunens, schon mehr mit Begeisterung.

Da hatte er ja allerdings nun recht. Wir haben schon öfters über die muskulöse und dennoch so frauenhaft zarte, schöngeformte Hand gesprochen, die dieser Detektiv besaß, wie man sie nur beim Klaviervirtuosen, mehr noch vielleicht beim professionellen Taschenspieler findet, und Nobody war ja auch der unvergleichlichste Taschenspieler und Eskamoteur.

Vor allen Dingen aber hatte Nobody jetzt eines erkannt. Für jeden anderen ist ein menschlicher Totenschädel eben ein Totenschädel, der nicht einmal für den Anatomen besonderes Interesse hat; nur der Phrenologe betrachtet ihn noch mit ganz anderen Augen — und aus der Hast, mit welcher der Matrose nach der Hand gegriffen, aus seiner förmlichen Begeisterung, mit der er den Ausruf getan — aus alledem erkannte Nobody, daß dieser einfache Matrose der echte Sohn einer phantastischen Zigeunerin war, der die Chiromantie oder Handlesekunst nicht als Humbug auffaßte, sondern sie allen Ernstes betrieb, selbst daran glaubte.

Dann weiter beobachtete Nobody, mit welch eigentümlichen Griff, indem er die Hautfalten auf dem Handrücken zusammenzog, er die innere Fläche straffspannte, so daß die Furchen und Linien plötzlich in ganz anderer Weise hervortraten — so ein Kniff der alten Zigeunerhexen, der ihnen gar nicht so leicht abzulernen ist — und dann mit welchem Interesse er in die Handfläche hineinspähte.

»Nun?«

»O weh, wie schade um diese schöne Lebenslinie!« murmelte der Matrose, ganz in seine Gedanken versunken. »Sie bricht plötzlich ab — die Schicksalslinie zerstört sie — allerdings beginnt sie wieder, aber es wäre besser für dich ...«

Bei dieser vertraulichen Anrede erwachte der Matrose aus seinem Träumen, er schrak zusammen, warf mit einer trotzigen Bewegung den Kopf zurück, daß die schwarzen Haare flatterten.

»Nun, was wäre besser für mich? Sprich es ruhig aus.«

»Ach, es ist ja alles nur Unsinn, so was gibt's ja gar nicht!« wiederholte der Matrose wie früher zum dritten Male.

Da rief die Bootsmannspfeife die Mannschaften zum Mittagessen, und gleichzeitig näherte sich ein Steward des Kapitäns.

Der Gast wurde gebeten, doch einmal in die Kajüte zum Kommandanten zu kommen.

Natürlich folgte Nobody der Aufforderung sofort, auch durfte er den Matrosen nicht von der kärglich genug bemessenen Mittagspause abhalten. Er gedachte ihn noch einmal zu sprechen — und das sollte eher geschehen, als er ahnte, nur unter ganz anderen Umständen.

In der Kajüte waren der Kapitän und einige andere Offiziere um einen Tisch versammelt, auf dem Karten ausgebreitet lagen. Es handelte sich wieder einmal um eine politische Disputation, wobei auch der erfahrene Detektiv seine Meinung abgeben sollte.

Weit war man hiermit noch nicht gekommen, als nach kurzem Anklopfen Leutnant Bekham eintrat, im Dienstanzug, sein Posten war jetzt an Deck, und in dienstlicher Haltung blieb er auch vor dem Kommandanten stehen.

»Was gibt's?« wandte sich dieser verdrießlich an ihn.

»Die Mannschaft bittet, zum Herrn Kapitän eine Deputation schicken zu dürfen,« lautete die kurze Meldung.

»Waas — eine — Depu — ta — tion?!« echote Kapitän Frater langsam, mit hochgezogenen Brauen, als glaube er nicht recht gehört zu haben, und genau dieselben Gesichter machten auch alle anderen Offiziere.

Allerdings ist es ja höchst selten, daß die Mannschaft einmal direkt mit ihrem Kapitän verkehren will, da muß schon etwas ganz Wichtiges vorliegen — aber hier schien solch ein Begehren geradezu eine Ungeheuerlichkeit zu sein, einige Offiziere machten schon mehr verstörte Gesichter.

»Wer führt die Deputation?«

Also nicht den Grund, sondern erst mußte er wissen, wer den Mut zu so etwas hatte.

»Torpedomatrose Black.«

Aha! Jetzt horchte Nobody hoch auf.

»Und aus wem setzt sich die Deputation sonst noch zusammen?«

»Aus sechs Matrosen und Heizern der verschiedenen Backschaften.«

»Und was wollen die Leute?«

»Sie sagen, das Büchsenfleisch, welches es heute gibt, sei nicht genießbar.«

Aus der Stirn des Kommandanten begann schon die Zornesader zu schwellen. Doch noch beherrschte er sich.

»Wer sagt das?«

»Die ganze Mannschaft.«

Einer der Offiziere mußte wohl einen Grund haben, sich hinter dem Tische schon wie zum Sprunge zu ducken.

»Nicht nur diese sechs oder sieben Matrosen?«

»Nein, die ganze Mannschaft.«

»Woher wissen Sie das?«

»Diese sieben Matrosen und Heizer, welche eben von der ganzen Mannschaft zur Deputation ausgewählt worden sind, sagten es mir.«

Mit durchbohrenden und zugleich haßerfüllten Blicken musterte der Kommandant den jungen Leutnant, der so frei und offen sprach. Warum sollte er auch nicht?

»Mir scheint — äh — Sie machen mit der Mannschaft gemeinsame Sache.«

»Herr Kapitän ...«

Es war ein zu ungerechtfertigter Vorwurf, der Kapitän sah es schnell genug selbst ein.

»Haben Sie selbst von dem Fleische gegessen?«

»Nein, Herr Kapitän.«

»Holen Sie eine Büchse — Sie selbst, holen Sie eine,« setzte er nochmals hinzu, als der Leutnant zögerte, und das mit Recht; denn das war eigentlich eine Dienstleistung, die eben ein Diener zu erledigen hatte, nicht ein Offizier.

Doch Sir Bekham machte kehrt, war schnell genug mit einer großen Konservenbüchse wieder zur Stelle.

»Es ist eine von jenen, aus denen die Mannschaft heute zu essen bekommt.«

»Wissen Sie das bestimmt?«

»Ganz bestimmt.«

»Oeffnen Sie die Büchse!«

Die Deputation schien der Kapitän ganz vergessen zu haben. Er wollte wieder einmal an dem ihm verhaßten jungen Leutnant sein Mütchen kühlen, machte höhnische Bemerkungen, jener solle ja seine zarten Fingerchen in acht nehmen, und dergleichen mehr, obgleich der junge Mann mit dem Oeffner, den er am Taschenmesser hatte, sehr geschickt umging.

Die Büchse war offen, der Kommandant nahm sie und schnüffelte hinein.

»Ich rieche nichts — absolut nichts — das Fleisch ist doch tadellos frisch, soweit man das von Büchsenfleisch verlangen kann. Nehmen Sie einen üblen Geruch wahr, Herr Kapitänleutnant?«

Mit diesen Worten gab er die Büchse dem ersten Wachtoffizier, auch dieser versenkte seine Nase hinein, zog sie schnell wieder zurück, roch aber immer noch einmal daran, nur vorsichtiger.

»Ganz gewiß nicht — das Büchsenfleisch ist ganz gut,« lautete dann das Urteil.

Da stieg es auch unserem Nobody siedendheiß zu Kopfe, und es war ein heiliger Zorn, der ihn erfaßte.

Nämlich gleich wie der Stahl nur ein kleines Loch in das Blech gemacht hatte, war seiner feinen Nase ein unangenehmer Geruch ausgefallen, und jetzt, da die Büchse geöffnet, war von einem ›Gerüche‹ gar nicht mehr die Rede. Das Fleisch mußte vollkommen verdorben sein — so verdorben wie der Kapitänleutnant, der aus Gefälligkeit, aus Feigheit, seinem Vorgesetzten das Wort redete.

Und hierbei sollte es noch lange nicht bleiben.

»Und Sie, Herr Leutnant, wie finden Sie das Fleisch? Ist das etwa verdorben?«

Es war ein älterer Oberleutnant, welcher jetzt seine Nase in die Büchse versenkte — auf Befehl! — und einer nach dem anderen tat es, und sie alle, alle bestätigten die vorgeschriebene Ansicht, daß dieses Büchsenfleisch durchaus nicht röche, obgleich der widerliche Duft die ganze Kajüte erfüllte.

Es waren lauter Ja-Brüder. Dem Offizier könnte man das vielleicht verzeihen. Auch solch eine Gefälligkeit, trotz der besseren Ueberzeugung mit dem Vorgesetzten einer Ansicht zu sein, gehört mit zur unerläßlichen Subordination. Aber das hat seine Grenzen. Gerade hier, wo es sich um das Wohl der Mannschaft handelte, wurden diese Grenzen bei weitem überschritten. Das war einfach Liebedienerei und moralische Feigheit.

»Und Sie, mein lieber Sir Bekham,« wandte sich der Kapitän erst jetzt zuletzt an diesen, »wie finden Sie denn dieses Fleisch?«

Plötzlich stand unserem Nobody das Herz still, wenigstens bemächtigte sich seiner eine furchtbare Spannung, wie jetzt der junge Offizier, den er schon immer beobachtet und der seine immer größere Sympathie gewonnen hatte, aus den Händen des Kommandanten die Konservenbüchse nahm, und Nobody beobachtete, wie fest dabei der Kapitän seine drohenden Augen in die des jungen Mannes bohrte, ihm einen stummen Befehl gebend, und auch dieser Kapitän Frater war in gewissem Sinne ein Hypnotiseur, er besaß eine außerordentliche Willenskraft, welche jeden schwächeren Menschen beeinflußte, und das eben war das einzige, welches bei Nobody das Verhalten der anderen Offiziere entschuldigte — und er sah den jungen Mann plötzlich einen ganz roten Kopf bekommen, und dann wurde sein hübsches und doch so männliches Gesicht todesblaß, und dann richtete er sich stramm empor.

»Nein, Herr Kapitän, dieses Fleisch ist vollständig verdorben.«

Ganz ruhig, aber bestimmt und fest hatte, er es gesagt, äußerlich blieb auch der beobachtende Nobody ganz ruhig — was kümmerte ihn denn schließlich das alles, was war denn überhaupt weiter dabei — aber in seinem Inneren wurde er von einem jubelnden Triumphe gepackt.

Weswegen? Er wäre unglücklich gewesen, hätte sich auch dieser junge Mann als solch ein Ja-Bruder erwiesen. Nein, bei diesem wenigstens hatte die männliche Redlichkeit über die böse Beeinflussung der Willenskraft und über alles andere gesiegt!

Was der junge Offizier soeben getan, gewagt hatte, das zeigten die bestürzten Gesichter seiner älteren Kollegen.

Der Kapitän aber schien noch einen Trumpf aufgehoben zu haben, daß er so ruhig blieb und nur spöttisch lachte.

»Woraus schließen Sie denn, daß das Fleisch verdorben ist?«

»Es riecht übel.«

»Ach, was heißt übelriechen — Einbildung — Geschmacksache — der eine findet den Stockfisch übelriechend, dem anderen ist es sein Leibgericht. Auf den Geschmack kommt es an. Kosten Sie einmal, Herr Leutnant, ob das Fleisch nicht genießbar ist.«

Es war ein Frühstück aufgetragen gewesen, der Kapitän nahm eine Gabel und reichte sie dem Leutnant.

»Nun, kosten Sie!«

Es war eine Situation, die sich nicht beschreiben läßt. Die Büchse in der einen Hand, die Gabel in der anderen, stand der Leutnant da, seinen Kommandanten fest oder mehr mit stieren Augen anblickend, und jetzt erfolgte das abwechselnde Erröten und Erbleichen schneller, und die anderen Offiziere wußten, um was es sich hier handelte, die erkannten die Furchtbarkeit dieser anscheinend so friedfertigen Situation, auch sie wechselten die Farbe.

»Herr Kapitän, dieses Fleisch ist verdorben ...

»Kosten Sie davon, ich befehle es Ihnen!« sagte der Kommandant jetzt in schrofferem Tone.

Durch den ganzen Körper des jungen Mannes ging es wie ein Ruck.

»Herr Kapitän, ich bin ein treuer Offizier Ihrer Majestät der Königin, aber — aber ...«

»Aber was?«

»Aber ich — ich — ich ...«

Da wurde ihm die Konservenbüchse aus der Hand genommen, gleichzeitig flog sie durch das offene Bollauge hinaus.

»Pfui Teufel, dieses Fleisch würde ich ja nicht einmal einem Schweine zu fressen geben, das verpestet ja die ganze Kajüte.«

Nobody war es gewesen, der es getan und gesprochen hatte.

Wie von einer gewaltigen Last befreit atmeten die Offiziere erleichtert auf, sie hatten ihre eigene Ehre aufs Spiel gesetzt gesehen, und aus des jungen Leutnants Augen traf ein Blick von unendlicher Dankbarkeit den Mann, der sich mit kühner Hand und kühnem Wort rechtzeitig eingemischt hatte.

Wie aber würde der Kommandant diese Handlung auffassen? Langsam, ganz langsam wandte er sich dem Manne zu, der auf diese Weise seine Pläne zu durchkreuzen gewagt hatte; jetzt war auch er leichenblaß, seine Augen sprühten in unheilvollem Feuer — aber sie blickten noch nüchtern genug, um in diesem Frevler den Champion der Königin zu sehen, und er sah noch mehr, nämlich wie dieser Mann bereit war, ihm nicht zu weichen, trotz aller zur Schau getragenen Ruhe eine feindliche Stellung einnahm, und es war doch ein gar kluger Kopf, dieser Kapitän Frater, er beherrschte sich, und es war ein klassisches Wort, das er gelassen aussprach:

»Ja, wenn Sie's sagen, Sir Willcox, dann muß es allerdings wohl wahr sein — dann haben wir anderen alle zusammen den Schnupfen.«

Aber Nobody erkannte sofort, daß der Kapitän dennoch seinen Willen durchsetzen würde, nur in anderer Weise, daß ihm dieser Mächtigere nichts mehr hineinzureden hatte, und so sollte es denn auch kommen.

»Die ganze Mannschaft antreten zur Musterung in Divisionen!!!«

Im Kommandotone hatte der Kapitän es gerufen; das gemütliche Beisammensein war vorbei, die Offiziere eilten, schnell ihre Schärpen umzulegen, schon schrillten draußen die Bootsmannspfeifen, die Matrosen und Heizer von dem unappetitlichen Mittagessen aufscheuchend, und gleichzeitig bemerkte Nobody, wie der Steward, welcher in der Kajüte dieser ganzen Szene beigewohnt hatte, es ebenfalls sehr eilig hatte, schnell hinauszukommen.

Ganz sicher lief der jetzt in die Batterie und sorgte für die Verbreitung dessen, was hier vorgefallen war.

Bis auf das notwendige Heizer- und Maschinenpersonal standen die l200 Mann Besatzung vollzählig angetreten, auf beiden Seiten des Schiffes wachenweise in doppelte Reihen verteilt, von der Back bis zum Heck.

Zu solch einer Generalmusterung sind stets die Waffen mitzubringen, und auch die Heizer sind für alle Fälle mit Büchsen und Seitengewehr versehen.

Zu beiden Seiten des Fockmastes standen die Leute der Torpedoabteilung, also, wie schon erwähnt, mit Revolver und Entermesser bewaffnet, vor der Front die Unteroffiziere oder Maate, und hier war es, wo der Kommandant wie gewöhnlich seine Stellung einnahm, um an die versammelte Mannschaft eine Ansprache zu halten. Seitwärts von ihm, in der Nähe des Kajüteneinganges, standen zwanglos die Offiziere, soweit sie keinen Dienst hatten, siebenundzwanzig Herren, und ferner auch Nobody.

Die Meldung, daß die Mannschaft vollzählig zur Stelle sei, war gemacht worden. Dann machte es Kapitän Frater kurz genug.

»Hat euch das Mittagessen geschmeckt. Leute?« rief er mit schallender Stimme, die über das ganze Deck zu hören war.

»Jawohl, Herr Kapitän!!!«

Das heißt, so hätte es einstimmig erbrausen müssen. Statt dessen herrschte eine Totenstille. Man hörte das Bugwasser rauschen, die Rahen knarrten monoton — sonst kein menschliches Wort.

Wer selbst Soldat gewesen ist, weiß, was so etwas zu bedeuten hat. Schon solch ein einmütiges Schweigen ist Meuterei auf Verabredung, und wer es nicht weiß, der fühlt es bei solch einer Gelegenheit heraus, und in banger Erwartung schnürt sich ihm das Herz zusammen.

Das gesundfarbene Gesicht des Kommandanten ward plötzlich aschgrau.

»Hat euch das Essen geschmeckt, Leute?« rief er nochmals, jetzt aber hatte seine Stimme einen ganz schrillen Klang angenommen.

Keine Antwort. Stramm standen die 1200 Mann da, das Gewehr bei Fuß, die Lippen fest geschlossen.

Da trat der Kapitän auf den einen zu.

»Hat dir das Essen geschmeckt?«

Aus diese direkte Frage mußte geantwortet werden, oder ... der Mann war des Todes.

»Nein, Herr Kapitän.«

Der Kommandant blieb ganz ruhig, aber man sah, wie er sich beherrschen mußte.

»Weshalb nicht?«

»Das Büchsenfleisch ist verdorben.«

»Du willst es nicht essen?«

»Nein, Herr Kapitän.«

»Du — willst — nicht?«

Ganz leise hatte er es gefragt, aber man hatte es am entferntesten Teile des Decks verstanden.

»Nein, Herr Kapitän.«

Der Kapitän trat zurück.

»Schnalle ab und gib dein Gewehr ab!«

Ohne Zögern gehorchte der Matrose und übergab auf weiteren Befehl die Waffen seinem Nachbar.

»Tritt vor!«

Der Matrose tat es.

»Ich wiederhole die Frage nicht, ob du das Fleisch essen willst oder nicht, du hast dich bereits geweigert, das genügt, und an dir werde ich ohne weiteres das erste Exempel statuieren, wie ich an euch Bande die Disziplin durchsetzen will. Entblöße deinen Oberkörper. Bootsmann, holen Sie die neunschwänzige Katze.«

Er hatte sich mit dem letzten Befehl an den ihm zunächst befindlichen Unteroffizier gewandt, und es ging, wie es gewöhnlich geht.

Als große Masse betrachtet war sich die Mannschaft wohl einig und jeder einzelne fest entschlossen, den Gehorsam, wie jedenfalls ausgemacht, zu verweigern, da hielten sie auch die Abmachung; sobald sich aber der Kommandant direkt an den einzelnen wandte, verließ diesen der Mut, oder wie man es sonst nennen mag — er unterlag dem mächtigeren Willen, er gehorchte.

Schon der Matrose hatte gehorcht, indem er die Waffen abgegeben hatte und vorgetreten war, was unmöglich im Willen der anderen liegen konnte, das sah man gleich den Gesichtern an, und jetzt entfernte sich dienstfertig der Unteroffizier, um den Befehl auszuführen, das Marterinstrument zu holen.

Daß der Matrose noch zögerte, sich zu entkleiden, das war etwas anderes; der bis in die Lippen erblaßte und an allen Gliedern zitternde Mann meinte wohl, nicht recht gehört zu haben. Die neunschwänzige Katze sollte er bekommen, öffentlich vor seinen Kameraden ausgepeitscht werden!

Nun muß erst noch etwas bemerkt werden. Auch in der deutschen Marine gibt es von Rechts wegen noch eine körperliche, entehrende Züchtigung, nämlich bei der Schiffsjungenabteilung, besonders wegen Diebstahls, begangen an einem Kameraden. Nach althergebrachtem Brauch wird der Junge vor der Front an den Mast gebunden und erhält mit der neunschwänzigen Katze, welches Instrument wohl keiner näheren Beschreibung bedarf, so und so viele Hiebe auf den entblößten Rücken. Barbarisch ist diese Züchtigung nicht gerade, die neun dünnen Taue an dem elastischen Stiele haben an ihren Enden auch nicht etwa Widerhaken, sondern nur Knoten, es wird ganz mäßig geschlagen — schließlich ist es nichts anderes, als wenn ein Schuljunge vom Lehrer vor der Klasse Stockprügel bekommt, und es ist ja auch noch ein Junge, der diese entehrende Strafe verdient hat.

Ebenso wird in der englischen Marine verfahren, und der unparteiische Schreiber kann versichern, laut Erfahrung, daß in der englischen Schiffsjungenabteilung noch eine ganz andere Strenge gebräuchlich ist, als in der deutschen Marine. Besonders die körperliche Jugenderziehung. Im strengsten Winter sieht man die Jungen an Deck barfüßig arbeiten, was es bei uns nicht gibt.

Bei der eigentlichen Marine Deutschlands hingegen, also beim Militär, ist von Rechts wegen eine körperliche Züchtigung als Strafe natürlich ebenso ausgeschlossen wie bei der Armee. Nicht so bei der englischen Marine. Da kann der Matrose noch immer bei einem Vergehen, welches gar nicht so groß zu sein braucht, an den Mast gebunden und öffentlich ausgepeitscht werden.

Das heißt, und wohlverstanden, so steht es aus dem Papier. Seit Admiral Nelsons Zeiten ist in der englischen Marine weder an Bord noch an Land solch ein Fall beglaubigt wieder vorgekommen. Die Zeiten sind eben andere geworden. Jeder Kommandant hat schriftlich das Recht, einem Matrosen die neunschwänzige Katze zu geben, das steht fast ganz in seiner unbeschränkten Willkür, das fußt noch auf den altenglischen Gesetzen, besonders auf den Seegesetzen, wobei das hohe Alter der Marine zu bedenken ist, wie Old-England überhaupt ein urkonservatives Land ist.

Ebenso steht in England nach dem geschriebenen Gesetz, gegeben von König Eduard — was auch sehr wenig bekannt ist — auf den Diebstahl, auch auf den allerkleinsten, der Tod. Das heißt, der Richter könnte, wenn er es für angebracht hält, über jeden Dieb, und wenn er auch nur eine Stecknadel entwendet hat, den Tod durch den Strang verhängen. Jede andere Strafe ist nur eine Begnadigung.

Aber die Zeiten haben sich geändert, die allgemeine Humanität fordert ihre Rechte. Kurz und gut, es ist heute ganz ausgeschlossen, daß ein Kapitän einen Matrosen noch öffentlich auspeitschen läßt. Das Recht hat er wohl dazu, kein Richter könnte ihn zur Verantwortung ziehen — wohl aber die allgemeine Oeffentlichkeit, das Volk, die Nation, vertreten durch die Zeitungen — die würden sich der Sache annehmen und solch einen Kapitän bald genug unmöglich machen.

Kapitän Frater schien von seinem Rechte nun einmal Gebrauch machen zu wollen. Was war mit dem sonst so nüchternen Manne? War er plötzlich von Sinnen geworden? Wußte er nicht, was für Folgen das haben müßte, daß er seine eigene Existenz dabei aufs Spiel setzte?

Er konnte einen Matrosen wegen des kleinsten Ungehorsams wohl gleich auf der Stelle niederstechen: aber diese öffentliche Schmach, einem Engländer zugefügt, fiel auf die ganze englische Nation zurück, das konnte nicht ungesühnt bleiben.

Ja, Kapitän Frater schien wirklich von Sinnen zu sein, obgleich er äußerlich so ruhig blieb. Das zeigte schon die ganze Unmotiviertheit seines Handelns.

Eigentlich hätte er vorhin doch die Deputation der Mannschaft empfangen sollen, oder er hätte davon jetzt beginnen müssen, mindestens hätte er jetzt das schon zubereitete Essen der Mannschaft prüfen sollen, das war doch das Nächstliegende, das kostete ihn doch nur ein Wort — aber nichts von alledem, er hatte gleich seinen Unmut auf den ganz unschuldigen Leutnant Bekham geworfen, der ihm die erste Meldung gebracht, und weil er an dem doch nicht so ohne weiteres seinen Haß befriedigen konnte, griff er nun den ersten besten Mann heraus, um an diesem seine Rachgier zu befriedigen.

Der Bootsmannsmaat, der das Marterinstrument aus der Requisitenkammer holen sollte, kam nicht so bald wieder zurück. Ob er überhaupt die Peitsche bringen würde? Es war sehr zu bezweifeln.

Der Kapitän dachte wohl auch gar nicht an den Abgeschickten: er hatte jetzt nur sein Opfer vor Augen, durch welches er die ganze Mannschaft ins Gesicht schlagen, demütigen wollte.

»Entkleide dich!!« herrschte er den Matrosen nochmals an.

Dieser erlag der befehlenden Suggestion; mit zitternden Händen begann er sein durch Schnüre zusammengehaltenes Hemd aufzunesteln.

Er brauchte nur dieses auszuziehen, sich zu entblößen, um die Schläge bereitwillig in Empfang zu nehmen, so war schon der ganzen Mannschaft genug Schmach zugefügt. Doch es sollte nicht so weit kommen.

»Herr Kapitän, im Namen der gesamten Besatzung Ihrer Majestät Kriegsschiff›Manofwar‹ protestiere ich gegen diese Behandlung, welche Sie einem unbescholtenen Matrosen zuteil werden lassen!«

Leutnant Sir Walter Bekham war es, welcher mit diesen Worten vor seinen Kommandanten hingetreten war.

Der als Zuschauer kühl beobachtende Nobody hatte es kommen sehen. Er hatte beobachtet, wie der junge Offizier furchtbar mit sich gerungen hatte, er hatte gesehen, wie das hübsche Gesicht sich plötzlich wie im Krampf verzerrte, um dann mit einem Male steinern zu werden, wirklich wie aus schneeweißem Marmor gemeißelt, und mit ebensolch interessierten Augen des personifizierten Publikums beobachtete Nobody, die Arme über der Brust verschränkt, wie sich diese Szene weiter abspielte, den Leutnant, den Kapitän, die ganze, aus 1200 Köpfen bestehende Mannschaft kaltblütig im Auge behaltend.

Und wie ein Blitz des Triumphes huschte es über das krankhaft gelbe Gesicht des Kapitäns, als er sich langsam dem ihm verhaßten Offizier zuwandte; sein Staunen, als habe er nicht recht gehört, war offenbar nur erkünstelt.

»Was — was — habe ich denn recht gehört — was sagten Sie da?«

»Ich protestiere dagegen, daß Sie diesen Matrosen peitschen lassen wollen,« wiederholte der junge Mann unerschrocken.

Für Nobody war es fast wunderbar, daß sich der Kapitän, in dessen Innerem es doch kochen mußte, noch so zu beherrschen verstand. Doch es war alles nur Schauspielerei.

»Weswegen protestieren Sie dagegen?«

»Weil es unvereinbar ist mit der Würde der englischen Marine.«

»Leutnant Sir Bekham — im Namen der Königin — geben Sie Ihren Degen ab!!«

Es war kaum möglich, daß der junge Offizier noch blässer wurde, und doch wurde er es, aber ohne Umschweife zog er seinen Degen nebst Scheide aus dem Bandelier, faßte ihn am Ende und überreichte ihn seinem Vorgesetzten.

»Das tue ich gern; denn dieser Degen wäre entweiht, wenn ich Zeuge dieses Vorgangs werden sollte,« sagte er noch bei dieser Uebergabe.

»Für diese Bemerkung lasse ich Sie noch in Eisen legen! Leutnant Keller, Leutnant Sir Rattlow — bringen Sie Leutnant Sir Bekham nach der Arrestzelle, schließen Sie ihn dort an!«

Die beiden gerufenen Offiziere traten vor, näherten sich ihrem Kameraden. Was in den beiden jungen Männern vorging, konnte man ihnen ansehen; wäre jetzt das ganze Schiff in die Luft geflogen, es wäre ihnen ein Hochgenuß gewesen — aber sie gehorchten, mit den Bewegungen von galvanisierten Leichen — sie nahmen Leutnant Bekham in die Mitte und führten ihn ab, hinter die Kajüte, wo sie den Blicken der anderen entschwanden.

Nach dieser kurzen Unterbrechung wandte sich der Kapitän wieder dem Matrosen zu, der noch immer an seinem Hemd nestelte.

»Na, wird's bald? Zieh dich aus!«

Und wahrhaftig, dort hinten kam der Bootsmannsmaat wieder, und er trug in der Hand wirklich den Stiel mit den neun geschmeidigen Tauenden!

Aber Nobody beobachtete auch noch etwas anderes. Dort hinten ging etwas vor sich; bis hierher erkannte das Falkenauge des Detektivs, wie dort zwischen den in Reih und Glied aufgebauten Matrosen bedeutsame Blicke gewechselt wurden; er glaubte ein drohendes Flüstern zu vernehmen, und Tatsache war, daß sich die zum Stillstand kommandierten Leute bewegten, die Gewehre wurden vorsichtig etwas gehoben und gleich wieder gesenkt, und an alledem konnte nur der mit der Peitsche vorübergehende Unteroffizier schuld sein — und plötzlich wurde Nobodys Brust von einer furchtbaren Ahnung, oder richtiger Erkenntnis, zusammengeschnürt, es war ihm plötzlich, als wenn er aus einem Vulkan stände, der im nächsten Augenblick in die Luft gehen müsse — und mit einem schnellen Entschlüsse trat auch er auf den Kommandanten zu.

»Herr Kapitän, ich beschwöre Sie ...« flüsterte er in hauchendem Tone.

Mit nicht minder haßerfüllten Blicken wandte sich der Angesprochene ihm zu.

»Was wollen Sie?« fragte er kurz, fast barsch, seine sonst gegen den hohen Gast zur Schau getragene Höflichkeit ganz fallen lassend.

»Gestatten Sie mir eine Unterredung zwischen …«

»Ich schätze Sie als meinen Gast, aber in die Dienstordnung lasse ich mir von Ihnen nicht hineinreden! Hier habe nur ich zu befehlen!« wurde er schroff unterbrochen.

»Herr Kapitän, ich beschwöre Sie, lassen Sie es nicht zum Aeußersten kommen, es ... «

»Haben Sie mich verstanden, Sir Willcox?! Hier bin Ich Kommandant!«

Und schon hatte der Kapitän dem Unteroffizier die neunschwänzige Peitsche aus der Hand genommen und war gegen eine Reihe Matrosen vorgetreten.

Nobody hätte durch nichts alles Kommende verhindern können. Er hatte es versucht, hatte sein möglichstes getan — er war entlastet.

Alles weitere spielte sich schneller ab, als sich hier erzählen läßt.

»Diese Sektion hier — reißt dem Matrosen das Hemd vom Leibe, bindet ihn am Mast fest!«

Es war eine Sektion der Torpedoabteilung, die der Kapitän gerade ausersehen hatte, und unter den vier Mann befand sich auch der schwarze John.

»Na?! Los, vorgetreten! Zugegriffen!«

Die vier Mann rührten sich nicht, standen wie die Statuen.

Noch einmal wurde das fahle Gesicht des Kapitäns gelb wie Wachs.

»Ihr — verweigert — mir — den — Gehorsam?«

»Ja!«

Der schwarze John hatte es mit lauter Stimme gesagt.

Da beobachtete Nobody noch etwas anderes. Unbedingt hätte der Matrose den Kapitän dabei doch fest anblicken müssen, und das tat er nicht, er blickte an ihm vorbei, sein Auge war starr in die Ferne gerichtet, und alle anderen an Backbordseite stehenden Matrosen sahen so starr in die Ferne — dies alles freilich nur für das Auge dieses Detektivs erkennbar und überhaupt auffallend — schnell drehte er sich um — und da sah er auf der anderen Seite einen Dampfer fahren, nur ein gewöhnlicher Frachtdampfer, auch er mußte von Australien kommen, obgleich er einen ganz anderen Kurs einhielt, er kreuzte das Kriegsschiff, war noch außer Rufweite — aber er hatte schon Flaggen hochgezogen, durch welche er Namen und Heimatshafen meldete, und außerdem gab er durch eine lange Flaggenreihe noch eine besondere Nachricht ab.

Die ganze Situation, die an Bord dieses Kriegsschiffes herrschte, hatte den aufkommenden Dampfer übersehen lassen. Natürlich nicht für die, welche auf jener Seite standen, von der aus sie den Dampfer unbedingt sehen mußten. Das aber waren nur Matrosen und Unteroffiziere, sämtliche Offiziere blickten wie der Kapitän nach der anderen Richtung, und eine Meldung seitens der Mannschaft war eben unterblieben, auch von der Kommandobrücke aus kam keine.

Unter den Matrosen befanden sich genug, die am linken Arm eine rote Flagge trugen, das Abzeichen, daß sie als Signalgäste ausgebildet waren; ganz besonders wird diese Ausbildung sämtlichen Torpedomatrosen zuteil, und allzu schwer ist diese Flaggensprache nicht, ein intelligenter Kopf kann bald auch ohne Hilfsbuch buchstabieren, das konnte auch Nobody, und so konnte er dort die Flaggenreihe entziffern, und die Meldung, welche der Dampfer dem Kriegsschiff gab, lautete:

»Australien hat seine Unabhängigkeit proklamiert!«

»Ihr — verweigert — mir — den — Gehorsam?« hatte der Kapitän atemlos gefragt.

»Ja!«

»Hund verfluchter!!!

Jetzt war alles Gekünstelte vorbei, es brach hervor. Der Kapitän ließ die Peitsche und Bekhams Degen, den er noch in der Hand gehabt, fallen, um dafür seinen eigenen aus der Scheide zu reißen. Schon holte er zum Stoße aus, um den blitzenden Stahl in des schwarzen Johns Brust zu bohren, aber mit einer Behendigkeit, die auch Nobody dann nicht begreifen konnte, hatte der Torpedomatrose seinen Entersäbel aus der Metallscheide heraus; im letzten Augenblick noch begegnete er dem Stoß; wie eine Schlange wand sich der breite, etwas gekrümmte Säbel um den schlanken Degen; in weitem Bogen flog dieser über die Bordwand, und noch nicht genug damit, daß der Matrose den Kapitän entwaffnet hatte..

»Hoch lebe die freie Republik Australien!!!«

Mit diesem jauchzenden Rufe hatte der schwarze John auch noch nachgestoßen, hatte die mächtige Klinge dem Kapitän in den Leib gerannt.

Wie soll man den Moment beschreiben, wenn ein Vulkan losbricht? Es kann nur bei dem erbärmlichen Versuch einer Schilderung bleiben.

Der Kapitän war auf der Stelle zusammengebrochen. Von den vor Entsetzen völlig gelähmten Offizieren hatte nur ein einziger ein Wort.

»Meuterei!!!« gellte es in wahnsinnigem Schreck.

»Hip hip hip Hurra für die freie Republik Australien!!!« jauchzte der schwarze John nochmals, seinen blutigen Entersäbel schwingend, den er aus dem Leibe des Kapitäns gerissen hatte.

»Hip hip hip Hurra für die freie Republik Australien!!!« donnerte es brausend im Chor aus den Kehlen von 1200 Mann und ... der Vulkan war losgebrochen, die bisher starre Lava war plötzlich glühend und lebendig geworden.

»Rebellion, Meuterei an Bord!!!«

Ein Offizier feuerte seinen Revolver ab, gleichzeitig stürzten zwei Matrosen nieder. Es war der einzige Schuß, der bei dieser ganzen Gelegenheit abgefeuert wurde, obgleich, wie sich dann herausgestellt hatte, sehr viele Matrosen in ihren Gewehren oder Revolvern scharfe Patronen hatten, die sie sich heimlich verschafft. Es war eben alles schon vorbereitet, die Meuterei sowieso schon beschlossen gewesen, der Kapitän hatte den Ausbruch durch sein Verhalten nur noch provoziert, beschleunigt.

Also nur dieser einzige Schuß fiel. Die Offiziere konnten an keinen weiteren Widerstand, nicht einmal an eine Flucht denken, um sich etwa zu verbarrikadieren — im Nu hatte sich die lebendig gewordene Lava über sie ergossen, zwei von ihnen, welche nur die Hände erhoben hatten, wurden mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen, dann waren auch sie wie die anderen sechsundzwanzig Offiziere, welche in der Nähe des Kajüteneingangs gestanden, überwältigt und lagen mit gebundenen Händen und Füßen hilflos an Deck.

Wie alles vorbereitet gewesen, wie man sich einig war, das zeigte besonders, daß in demselben Augenblick, als sich an Deck diese momentane Szene abspielte, auch die auf der Brücke befindlichen Matrosen und Unteroffiziere sich auf die drei wachthabenden Offiziere geworfen und sie überwältigt hatten.

Sofort, im kritischen Moment, als sich die brodelnde Lava auf die Offiziere gestürzt hatte, war der schwarze John auf Nobody losgesprungen, als hätte er es überhaupt nur auf diesen abgesehen gehabt, den schußbereiten Revolver in der Hand.

»Der gehört mir, Hand von Nobody!!« hatte er noch mitten im Sprunge gerufen.

Und Nobody hatte ihn kommen sehen, und er hätte noch Zeit gehabt, sich des Gegners zu erwehren, einem Nobody wäre dies auch noch gelungen: aber er tat nicht dergleichen.

Nur dieses Auge hatte im Augenblick alles erkannt, es hatte sogar noch gesehen, wie die Offiziere auf der Kommandobrücke niedergeschlagen worden waren — »Rebellion, dieses Schiff ist für England verloren!!« — und noch ein anderer Gedanke, ein Entschluß war ihm blitzähnlich durch den Kopf gezuckt — da aber war dieser Entschluß auch schon felsenfest gewesen — und da hatte er wieder die Arme über der Brust verschränkt, so erwartete er kaltblütig den schwarzen John, duldete kaltblütig, daß der große Marinerevolver dicht vor seine Brust gesetzt wurde.

»Sir, keinen Widerstand!!«

»Ich denke nicht daran.«

»Sind Sie der Unsrige?«

»Ich bin's.«

»Nehmen Sie Vernunft an.«

»Ich bin immer vernünftig.«

»Ich mache Sie zum Präsidenten der Republik Australien.«

»Das ist ein sehr großes Versprechen; aber ich nehme es an.«

»Sie halten es wirklich mit uns?«

»Ja!«

»Auf Ihr Ehrenwort?«

»Auf mein Ehrenwort.«

»Well — beschützen Sie die Offiziere, ich belege die Branntweinfässer mit Beschlag!«

Und fort sprang der Matrose, und Nobody war ein lebendiger Mann, war ein freier Mann ... zwischen Meuterern!

Es war gewiß ein seltsames Zwiegespräch gewesen, welches da innerhalb weniger Sekunden gewechselt worden war. Aber man bedenke die ganze Situation, man erwäge den Inhalt genauer, und man wird kein überflüssiges Wort darin finden, dagegen jedes Wort von einer furchtbaren Wucht.

Nobody hatte den Inhalt voll und ganz verstanden. Und er wußte genau, was er tat, als er sein Ehrenwort gab, eins zu sein mit den Meuterern, er, der Champion, der Beschützer der englischen Königin.

Sein Entschluß hatte eben von vornherein festgestanden, felsenfest. Vielleicht trug dazu auch viel mit bei, daß er in dem Augenblick, wie der Matrose so vor ihm stand, in der einen Faust den blutigen Entersäbel, in der anderen den großen Revolver, seine anfängliche Ahnung als Tatsache bestätigt sah.

Ja — oder nein — dieser Mann, der so mit blitzenden Augen vor ihm stand und mit hastiger Stimme ihm jene Worte zuflüsterte, das war kein gewöhnlicher Matrose, sondern das war wirklich der geborene Welteroberer, der sich gegenwärtig in der Gestalt des furchtbaren Kriegsgottes zeigte.

Genug. Hier war jetzt keine Zeit zu solchen Gedanken, hier wurde gehandelt!

Zu beschreiben ist der Tumult nicht, der an Deck herrschte. Es waren 1200 entfesselte Bestien, die sich darüber ergossen, sich durcheinandermengten und — wanden.

Das nächste, was Nobody sah, war, daß der schwarze John einem Bootsmannsmaate die silberne Pfeife von der Brust riß und sie an seine Lippe setzte.

Der sonst so schrille Ton verhallte in dem jeder Beschreibung spottenden Lärmen ungehört.

Da sprang der Matrose nach einem der am Oberdeck postierten Riesengeschütze, welche auf See stets geladen und schußbereit sind — bei deutschen Kriegsschiffen jenseits der Linie Dover-Calais — ein Ruck an der Abzugsleine, und unter einem donnernden Krach sauste die Dreißigzentimetergranate dahin, bis sie mehrmals auf der Wasserfläche aufschlug und dann in einem Wasserstrudel verschwand.

Der unvermutete Kanonenschuß mußte natürlich den 1200 Menschen in die Glieder fahren. Plötzlich standen sie alle wie die Statuen, Todesstille herrschte, und das nur hatte der schwarze John ja gewollt.

»Antreten in Gefechtsdivisionen!!« schrillte die Bootsmannspfeife in der nur den Kriegsschiffsmatrosen verständigen Sprache, und in für jeden anderen Menschen verständlichen Worten setzte er gellend im Kommandotone hinzu:

»Ich, der schwarze John, übernehme laut unserer beschworenen Abmachung das Kommando!! Sir Alfred Willcox, genannt Nobody, ist mein erster Offizier!! Bis auf die, welche mein Offizier Nobody für sich braucht — alles antreten zur Musterung in Gefechtsdivisiooooonen!!!«

Die entfesselte Meute gehorchte der gewaltigen Stimme, die man nimmermehr der hageren, eigentlich unansehnlichen Gestalt dieses Matrosen zugetraut hätte; jeder eilte nach dem Platze, den er bei solch einer Generalmusterung einzunehmen hatte.

Und ehe Nobody selbst zum Handeln überging, wurde er noch Zeuge von etwas anderem, wiederum von einem blutigen Drama, dessen furchtbarer Held der schwarze John war.

Wohl also gehorchten die 1200 Matrosen und zur Zeit unbeschäftigten Heizer wie Handwerker dem Kommando des selbsterwählten Führers dieser wohlüberlegten Meuterei; aber ein Unterschied mochte doch dabei sein, daß es nicht der richtige Kommandant war, der den Befehl gegeben, der unnahbare Kapitän.

Ein Matrose schien dem schwarzen John etwas sagen zu wollen, er hielt ihn in seinem Laufe nach der Kommandobrücke auf, vielleicht war es nur eine ganz harmlose Mitteilung, die er ihm zu machen hatte, vielleicht kam er auch gar nicht zum Sprechen —ein Blitz, ein Knall, und mit einer Kugel aus des schwarzen Johns Revolver zwischen den Augen stürzte der betreffende Matrose entseelt an Deck nieder.

Und damit noch nicht genug — ein Bootmannsmaat wollte auf den Mörder zuspringen, oder schien es nur zu wollen, machte nur eine Bewegung, hob nur eine Hand — da sauste das noch blutige Entermesser wie ein funkelnder Blitz durch die Luft und spaltete des Unteroffiziers Kopf gleich bis auf die Schultern.

»Antreten in Gefechtsdivisiooonen!!!« gellte es nochmals aus John Blacks Munde.

Der neue Tyrann war fertig, er hatte sich selbst dazu gemacht, und der Tyrann hatte gesprochen, hatte in doppeltem Sinne gesprochen, und daß er seine Eigenschaft zum Tyrannen nicht unterschätzt hatte, das bewies, daß ihm jetzt alles bedingungslos gehorchte. Im Nu war die wüste Masse wieder gebändigt.

»Was für ein Mann!« dachte Nobody noch bewundernd, wie eben nur Nobody bei solch einer furchtbaren Situation noch bewundern konnte, und dann kümmerte er sich um seine eigenen Angelegenheiten, er selbst hatte ja einen Befehl bekommen und ihn auszuführen.

Er hielt einige Matrosen an, die sich aus dem allgemeinen Wirrwarr noch nicht herausgefunden hatten, und befahl ihnen, die gebundenen Offiziere in die Kajüte zu tragen.

Mit schnellem Blick hatte er sie überzählt. Es waren richtig sechsundzwanzig. Dann konnten sich auch nur noch drei auf der Kommandobrücke befinden, ebenfalls schon unschädlich gemacht, und dann die Ingenieure, welche zurzeit Dienst im Maschinenraum gehabt hatten und deren Schicksal Nobody noch nicht kannte.

Diese sechsundzwanzig Offiziere hier, von denen nur einige wenige mehr oder minder übel zugerichtet waren, die meisten gänzlich unverletzt, waren schon alle halb tot. Doch nicht etwa aus Furcht ob ihres Schicksales. O nein, das waren alles Männer, die von so etwas nichts wußten.

Weshalb waren sie sonst schon halb tot, blickten mit entglasten Augen um sich?

»Meuterei! Meuterei an Bord!«

Fürwahr, man muß selbst Seemann sein, um dieses Wort ›Meuterei‹ in seiner ganzen fürchterlichen Bedeutung verstehen zu können.

Wenn die Erde ihre Bahn verließe, wonach sie in die Sonne stürzen müsse, und man könnte diesen Vorgang mit Muße beobachten ... so ungefähr.

Meuterei an Bord des kleinsten Kauffahrteischiffes, die Mannschaft empört sich gegen den, dessen Hand allein das Ruder zu führen vermag ... schon ein schrecklicher Gedanke!

Aber nun Meuterei an Bord eines mächtigen Kriegsschiffes, das mit achtzig Kanonen gespickt ist, und all dies befindet sich plötzlich im Besitze einer zügellosen Horde von Matrosen ... ein Mensch, der die Sachlage zu beurteilen versteht, vermag diesen Gedanken gar nicht zu fassen, er schreckt davor zurück wie vor einem entsetzlichen Traumgespenst.

Als sich Nobody über den Kapitänleutnant beugte, um sich desselben persönlich anzunehmen, ihn selbst nach der Kajüte zu tragen, schlug dieser die entgeisterten Augen auf, er erkannte Nobody, und da schien ihm eine Erkenntnis aufzugehen.

»Sir Willcox,« stöhnte er, »auch der Champion unserer Königin....«

»Still,« raunte Nobody ihm zu, »ich muß mit den Wölfen heulen, um Sie und Ihre Kameraden und das ganze Schiff zu retten.«

Es war das einzige Trostwort, welches Nobody diesen Offizieren gab, solange er mit ihnen zusammen war. Aber gleichzeitig führte er eine Handlung, einige Handlungen aus, welche noch mehr sagten als solche Trostworte.

Einer der von Nobody befohlenen Matrosen wollte an einem blutjungen Offizier sein Mütchen kühlen. Statt den Gebundenen aufzuheben, traktierte er ihn mit Fußtritten.

»Verfluchter Hund, du hast mir auch einmal einen Fußtritt gegeben, aber jetzt hat sich das Blättchen gewendet, da — und da — und ...«

Der Tretende und Schimpfende kam nicht weiter, plötzlich schoß ihm gleichzeitig aus Nase und Mund ein Blutstrahl, er stürzte zu Boden, und doch war es nur Nobodys flache Hand gewesen, die ihn ins Gesicht getroffen hatte.

» ... und da!! Wehe dem, der einen dieser Offiziere mit ungebührlicher Hand berührt!!«

Wohl schraken die umstehenden Matrosen zurück, aber diese hier waren noch nicht von dem Geiste erfaßt, den der schwarze John bereits den anderen einzuflößen gewußt hatte.

»Oho,« schrie der eine, ein wüster Geselle, »so haben wir nicht gewettet. Wir brauchen wohl ein paar Offiziere, um das Schiff zu führen, sonst aber sind wir jetzt die Herren und pfeifen ...«

Ja, da pfiff es schon durch die Lust, wiederum Nobodys Hand, jetzt aber zur Faust geballt: als Schmiedehammer sauste sie auf des Sprechers Kopf, und wie ein gefällter Stier brach der Matrose zusammen.

»Jedes Wort der Widerspenstigkeit bedeutet einen toten Mann!!!«

Donnernd hatte es geklungen, aber es verfehlte noch immer die Wirkung, es mußte noch immer furchtbarer werden.

Jener erste Matrose war von dem Schlage nur ein wenig betäubt gewesen, mit einem Wutschrei schnellte er wieder auf, und schon hatte er aus dem Gürtel das Schiffsmesser gerissen, schon sauste dieses als blauer Streifen durch die Luft, auf Nobodys Brust zu.

Nobody hatte nicht einmal mehr Zeit zum Zurückspringen, jeder andere Mensch wäre überhaupt verloren gewesen, hätte sich im nächsten Moment mit blutender Brust am Boden gewälzt.

Nur dieses Detektivs Hand war noch schnell genug; mit einem zuckartigen Griff hatte er die mordende Faust am Gelenk gefangen, und wieder wußte Nobody ganz genau, was er tat, als er diesen Matrosen bestrafte.

Ruhig blieb er stehen, nur den Oberkörper zurückgeneigt, und plötzlich sauste der Matrose, von Nobodys Faust am Handgelenke gepackt, wie ein Kreisel durch die Luft, mit fliegenden Beinen um Nobodys Kopf herum, einmal, zweimal, dreimal, dann ließ er ihn los, und in weitem Bogen verschwand der menschliche Kreisel über Bord, verschwand im Meer, auf Nimmerwiedersehen; denn niemand dachte daran, ein Boot auszusetzen, auch nur ein ›Mann über Bord!‹ zu rufen, und am allerruhigsten stand Nobody da, auf den mit starrem Entsetzen zahllose Augen gerichtet waren.

»Wer will der nächste sein?« erklang es ebenso ruhig, sogar gemütlich.

Und doch war etwas Fürchterliches geschehen! Wieder einmal war Nobody zum Mörder geworden, wenn auch aus Notwehr. Aber das hilft alles nichts, das nennt man Mord!

Ja, sollte er sich etwa begnügt haben, den Angreifer nochmals niederzuschlagen? Oder ihm nur den Arm auszurenken?

Nein, Nobody hatte gehandelt, wie er hatte handeln müssen, und er hatte einer wütenden Meute von 1200 Menschen durch seine Kraft und Siegesgewißheit imponieren müssen, und das hatte er erreicht, viel besser, als wenn er den Angreifer etwa durch einen Pistolenschuß niedergestreckt hätte — ganz abgesehen davon, ob hierzu, da das Messer schon seine Brust berührte, noch Zeit gewesen wäre. Aber dieses Ueberbordschleudern, dieses sichtbare Zeichen seiner athletischen Kraft, das hatte den Sieg davongetragen, das bändigte den wilden Haufen.

»Wer will der nächste sein?«

Niemand. Auch der Unbändigste kroch vor dem Unüberwindlichen jetzt sofort zu Kreuze.

Jetzt konnte Nobody die Offiziere, die der schwarze John und sein eigenes Gewissen ihm anvertraut harte, ruhig den Händen der Matrosen überlassen, die krümmten den Gefangenen kein Haar mehr, und Nobody dachte an die drei Offiziere auf der Kommandobrücke, welche jetzt vielleicht schutzlos der Brutalität preisgegeben waren, und so eilte er zunächst dorthin.

Seine Sorgen waren unnötig gewesen. Auch hier waren die Offiziere niedergeschlagen und gebunden worden, aber ohne weitere Mißhandlungen, und soeben stellte der schwarze John andere Matrosen an, auch diese Gefangenen nach der Kajüte zu schaffen, und schwur des Himmels Rache auf sie herab, falls sie es wagen sollten, den ehemaligen Vorgesetzten aus Haß noch ein Leid anzutun.

Wenn der schwarze John nicht in Wirklichkeit ein ritterlicher Charakter war, so wollte er doch als solcher erscheinen, und im gewöhnlichen Leben genügt schon dieser Schein.

Im übrigen war der schwarze John damit beschäftigt, den Signalapparat zu bedienen, der den Maschinenraum wie das ganze Schiff befehligt, was schließlich jeder intelligente Matrose versteht, und außerdem hatte er als jetziger Kommandant eine Unterredung mit Unteroffizieren und auch Matrosen, welche jedenfalls schon bei Abmachung der Meuterei als Führer bestimmt gewesen waren. Unter anderen nahm er von einem Bootsmannsmaaten soeben die Meldung entgegen, daß der Proviantraum, welcher besonders die Branntweinfässer barg, durch die nüchternsten und zuverlässigsten Leuten mit scharfgeladenem Gewehr besetzt worden sei.

»Gut, Kamerad. Uebernimm du selbst die Kontrolle dieser Wache.«

Es ging also auf diesem zum anarchistischen Staate gewordenen Schiffe noch ganz militärisch zu, der schwarze John hatte sofort Ordnung zu schaffen gewußt, freilich mit blutiger Hand.

»Kamerad Nobody,« rief er jetzt diesem bei seinem Anblick sofort zu, »begleite auch diese drei Offiziere nach der Kajüte, nimm sie unter deinen Schutz, bereite sie vor, wir haben dann mit ihnen zu sprechen, das Schiff braucht einige nautische Leiter.«

Für den Eingeweihten war wiederum vollkommen deutlich gesprochen, und Nobody verließ die Kommandobrücke wieder, um sich dem Gefangenentransport anzuschließen, eilte ihm dann aber voraus, weil er zuerst mit dem in Arrest befindlichen Sir Bekham sprechen wollte.

Unterwegs jagten ihm die Gedanken durch den Kopf.

Wie kam dieser Torpedomatrose dazu, ihn als Kameraden zu betrachten? Wie konnte er mit solcher Gewißheit von vornherein geglaubt haben, Sir Willcox, der Champion der englischen Königin, würde sich so ohne weiteres den Meuterern anschließen?

Hier lag offenbar ein Rätsel vor, welches noch der Lösung harrte.

Auf dem Wege zur Kajüte sollte Nobody noch durch etwas anderes aufgehalten werden — durch etwas, von dem er nicht sofort ahnte, wie tief es noch in sein Leben einschneiden würde, nach dem alten Satze, daß oft kleine Ursachen große Wirkungen haben.

An Deck lagen die beiden Matrosen, welche von der Revolverkugel des Offiziers niedergestreckt worden waren. Soeben wurden ihre Körper von Matrosen zum Forttragen aufgehoben. Nobody hörte, daß sie tot seien, und er kümmerte sich nicht weiter um sie, besichtigte die Leichen gar nicht erst.

Aber da lag auch noch der Kommandant, Kapitän Frater, den des schwarzen John Entersäbel durchbohrt hatte.

Er lebte noch. Er lebte sogar noch sehr. Er wand sich wie ein Wurm und heulte laut vor Schmerzen.

Weshalb nahmen sich die Matrosen seiner nicht an? sollten das alles solche mitleidlose Barbaren sein? Nein, sicher nicht, und es muß vielmehr gefragt werden: warum umstanden sie ihn nicht, warum ging jeder scheu an den sich in seinen Schmerzen Windenden vorüber, mit so auffallender Scheu?

Nobody ging hin, und als er den Verwundeten sah, da wußte er das Warum, und auch dem eisernen Detektiven überlief ein kaltes Grauen.

Nobody hatte schon schreckliche Verwundete genug gesehen, auf Schlachtfeldern und anderswo — besonders Granatsplitter richten Fürchterliches an, dann Bajonettstiche —— aber so etwas von einer Verwundung hatte Nobody denn doch noch nicht gesehen. Auch ihm sträubte sich das Haar vor Entsetzen.

Die breite Klinge des Entersäbels war durch den Unterleib gegangen, hinten in voller Breite wieder heraus, und wohl besonders beim Herausziehen hatte der Säbel den ganzen Leib vollends aufgeschlitzt, sämtliche Eingeweide lagen bloß, und nicht nur das, sie hingen heraus, der sich Windende zerrte sie ...

Doch genug! Kurz, so etwas Fürchterliches hatte auch Nobody noch nicht gesehen. Das Allerschrecklichste aber war, daß der Kapitän vollkommen bei Bewußtsein war, seine Schmerzen fühlte.

»Erbarmen, habt Erbarmen mit mir, schießt mir eine Kugel durch den Kopf!!«

So heulte er mit noch voller Lungenkraft.

Geschehen mußte etwas. Hier liegen bleiben konnte er nicht. Doch wie hier einen Verband anlegen, das wußte auch Nobody nicht.

Er winkte zwei Matrosen, stellte sie an, wie sie ihn aufzuheben hatten, möglichst gekrümmt, so ließ er den dem Tode geweihten Mann nach der Kajüte tragen, wo sich auch die noch immer gebundenen Offiziere befanden.

Was nun? Chloroformieren? Den Arzt . . .

Um Himmelswillen, der Transport war nicht geglückt, der Mann hatte keine Eingeweide mehr im Leibe!

»Habt doch Erbarmen mit mir— eine Kugel durch den Kopf!!« erklang es jammernd.

Und da geschah es. Nobody zog seinen Revolver und setzte die Mündung gegen die Schläfe des Jammernden.

Es knallte. Und der Schlaftrunk hatte gewirkt. Sanft war die Seele des Unglücklichen hinübergeschlummert in das Land, in dem es keine Schmerzen gibt.

Da richtete sich einer der gebundenen Offiziere etwas auf.

»Mörder!« hauchte er entsetzt. »Verruchter Mörder!!«

Der Mörder sagte nichts, als er die abgeschossene Patrone durch eine neue ergänzte und den Revolver wieder einsteckte.

Aber war das nicht ein Lächeln, welches dabei Nobodys Lippen umspielte? Jawohl, es war ein Lächeln — aber ein Lächeln des furchtbarsten Hohnes und der Verachtung.

Dann ließ er die Leiche hinaustragen und einstweilen im Kabelgat betten.

Wir hätten diese schreckliche Episode aus Nobodys Leben nicht so getreulich wiedergegeben, sie lieber ganz weggelassen, wenn sie nicht, wie schon erwähnt, noch später für ihn von so großer Bedeutung werden sollte. Auf etwas Aehnliches ist auch schon früher hingedeutet worden, mit der Bitte, der Leser möchte sich diesen Charakterzug Nobodys, seine Ansicht über so etwas merken.

Die schwere Arrestzelle für Offiziere war Nobodys nächstes Ziel. Schwer mag es schon jedem Kapitän werden, wenn er als Kommandant das Schiff übernimmt und diesen Raum inspiziert. Auch ein Offizier kann ja einmal in Eisen gelegt werden müssen. Hoffentlich nicht wegen einer Verfehlung gegen die Subordination, die das Allerstrengste notwendig macht, sondern er kann ja wahnsinnig geworden sein, oder nur im Wahnsinn hat er die ungeheuerliche Tat ausgeführt.

Den beiden Offizieren war vom Kapitän befohlen worden, ihren Kameraden, den sie aber schon nicht mehr als solchen betrachten durften, in Eisen zu legen, sie hatten den Befehl unbedingt ausführen müssen, und so wußte Nobody, wo er Leutnant Bekham zu suchen hatte.

Ganz hinten neben dem für die Kajüte bestimmten Proviantraum befand sich die eisenbeschlagene Tür mit doppeltem Sicherheitsschloß.

Nobody brauchte nicht erst nach dem Schlüssel zu fragen, dem Dietrich seines Taschenmessers konnten auch diese Schlösser keinen Widerstand bieten.

Ein kleiner Vorraum, noch eine Tür war zu öffnen, dann kam die eigentliche Arrestzelle. Sie enthielt nichts weiter als einen Tisch und ein kleines Sofa, vor dem zwei eiserne Stangen angebracht waren. An der oberen wurden die Hände, an der unteren die Füße angeschlossen, mit Laufringen an Ketten, welche noch ein Hinlegen auf das Sofa gestatteten, sowie am Tisch eine Beschäftigung wie Essen, Schreiben und dergleichen. Es ist eben doch ein Unterschied, ob ein Offizier oder ein gewöhnlicher Sterblicher in Eisen gelegt wird, und wurden die Ketten kürzer gemacht, die Laufringe unbeweglich, so fiel auch dieser Unterschied weg, der Offizier hatte vor dem Matrosen höchstens den weicheren Sitz voraus.

Sir Walter Bekham hatte als erster diese Zelle und die Ketten eingeweiht. Mit vor Erregung weit geöffneten Augen, die schon im Gesicht alles ablesen wollten, blickte der junge Mann dem Eintretenden entgegen.

»Sir Willcox, Sie — um Gott, was ist geschehen?!«

Während sich Nobody mit seinem Taschendietrich an den Schlössern der Fesseln zu schaffen machte, teilte er dem jungen Offizier mit fliegenden Worten alles mit.

Es war und blieb ein treuer Offizier seiner Königin — Meuterei! — stöhnend schloß er die Augen, bis er sich wieder aufraffte.

»Was tun Sie da?!« rief er heftig. »Wie können Sie mich befreien? Schließen Sie sofort meine Fesseln wieder!«

»Wollen Sie sich nicht erst ein wenig wundern, wie ich überhaupt noch imstande bin. Ihnen die Fesseln abzunehmen?«

Nochmals riß Sir Bekham die Augen weit auf.

»In der Tat — Sir Willcox — wie kommt es, daß man Sie verschont hat — daß Sie hier so eigenmächtig auftreten können?«

Nobody mußte nochmals schildern, jetzt aber mehr Bezug auf sich selbst nehmend. Er hatte sich mit den Meuterern solidarisch erklärt.

Und wie das heraus war, da benutzte der junge Offizier die Freiheit seiner Hände, um den Verruchten von sich zurückzustoßen.

»Nähern Sie sich mir nur, um mir wieder die Fesseln anzulegen, die ich jetzt wie meine Kameraden mit Ehren trage!« rief er leidenschaftlich.

»Sir Walter Bekham, nehmen Sie doch Vernunft an. Jetzt gilt es nicht, gebunden dazuliegen und stumpfsinnig das Schicksal über sich ergehen zu lassen, wie dasselbe kommen mag, oder Meuterer zu verfluchen, oder heldenhaft in den Tod zu gehen — sondern jetzt gilt es, der englischen Nation ein Kriegsschiff zu erhalten, wie ein solches noch nie das Wasser getragen hat, welches rund drei Millionen Pfund Sterling gekostet hat und welches in der Hand der Meuterer rettungslos verloren ist. Dies zu erreichen, das Schiff zu erhalten, es in noch brauchbarem Zustande wieder in einem englischen Hafen abzuliefern, die ganze Sache möglichst zu vertuschen — das ist mehr wert, als jetzt die Offiziersehre und allen anderen Patriotismus herauszustecken, das ist jetzt unsere hochheilige Pflicht, und dafür werden wir den Dank unserer Königin und der ganzen englischen Nation ernten!«

Das heißt, das ist nur der kurze Inhalt einer längeren Rede, welche Nobody in der engen Arrestzelle hielt, und nun wußte Nobody ja auch zu reden, es waren flammende Worte, die leise von seinen Lippen kamen — sofort hatte sich der Sinn des jungen Offiziers geändert.

Ja, das Riesenschiff brauchte einen nautischen Leiter, den konnte kein besonders ausgebildeter Steuermannsmaat ersetzen, das ganz neu erbaute Kriegsschiff besaß auch Vorrichtungen, welche, weil sie vor aller Welt als militärische Geheimnisse verschwiegen worden, nur den Offizieren bekannt waren — ja, der junge Offizier war bereit, sich scheinbar den Meuterern anzuschließen.

Natürlich stiegen ihm noch mancherlei Bedenken auf.

»Die Mannschaft wird unmöglich glauben können, daß ich, den sie als Offizier genau kennt, mich Meuterern anschließe.«

»Na, mein lieber Freund,« sagte Nobody gemütlich, »was Sie da vorhin begangen haben, weswegen Sie den Degen abgeben mußten und hier in Eisen sitzen, das ist auch nicht gerade mit einem treuen Offizier Ihrer Majestät vereinbar.«

»Das ist etwas ganz anderes!« fuhr Sir Bekham beleidigt auf. »Ja, indem ich gegen eine unwürdige Behandlung der Mannschaft protestierte, trat ich sogar für die Ehre Ihrer Majestät ein, und denken Sie denn etwa, mich hat es nicht einen furchtbaren Kampf gekostet, ehe ich ...«

»Nur ruhig, lieber Freund,« beschwichtigte Nobody den Aufgebrachten. »Natürlich ist ein kolossaler Unterschied dabei. Aber zwischen unseren Köpfen und Matrosengehirnen ist doch auch ein kleiner Unterschied. Die sehen das alles doch mit etwas anderen Augen an als wir. Kurz und gut, Sie haben für die Mannschaft kraftvoll Partei ergriffen, das wird man Ihnen nicht vergessen. Sie sind der Held des Tages, man wird Ihnen die Führung des Schiffes anvertrauen. Ihnen gehorchen — Sie haben es in der Hand, dieses kostbare Kriegsinstrument Ihrem Vaterlande zu erhalten.«

Wiederum war der junge Mann besiegt. Aber er hatte noch andere Bedenken.

»Sie haben Ihr Ehrenwort gegeben?«

»Nur dem schwarzen John.«

»Das ist gleich, Ehrenwort bleibt Ehrenwort. Wenn man mir das abverlangt — das tue ich nie!!«

»Hm.« Nobody griff in die Westentasche, brachte eine Rolle Kautabak zum Vorschein und biß davon ein Stück ab. »Gestatten Sie eine Frage, Sir Bekham: Glauben Sie nicht, daß mir mein Ehrenwort eben so heilig ist wie Ihnen das Ihre?«

Mit großen Augen blickte Bekham den sonderbaren Sprecher an.

»Allerdings, bisher habe ich nicht daran gezweifelt, aber ...«

»Sie können auch ruhig bei dieser Ansicht bleiben. Aber unter gewissen Verhältnissen kann man doch sein Ehrenwort brechen.«

»Nie — niemals!!« rief der junge Offizier mit Leidenschaft.

»Na, mein lieber Freund, lassen Sie nur mit sich handeln,« fuhr Nobody in seiner gemütlichen Weise fort, die manchmal so seltsam mit dem Inhalt seiner Worte kontrastierte. »Nehmen wir einen Fall an. Sie gehen mit Ihrer Geliebten im Walde spazieren. An einem Kreuzweg trennen Sie sich. Sie gehen geradeaus, Ihre Geliebte, die Sie dereinst auch heiraten wollen, geht links. Da kommt ein Räuber und setzt Ihnen die Pistole auf die Brust. ›Wohin ist Ihre Geliebte gegangen?‹ Sie sagen natürlich rechts. ›Auf Ihr Ehrenwort?‹ Na, was werden Sie da tun?«

»Einem Räuber gibt man kein Ehrenwort.«

»Tatatatata — reden Sie doch nicht. Sie scheinen noch keine Geliebte gehabt zu haben, wenigstens keine, von der Sie sich an einem Kreuzwege getrennt haben, und dann kam der Räuber mit der großen Pistole. Da bekräftigt man seine Lüge einfach durch sein Ehrenwort oder … man ist kein Ehrenmann. Ist es nicht so?«

Der junge Offizier wußte nichts mehr zu sagen. Es war auch eine, gar zu kitzlige Frage, die Nobody da in seiner Weise so ganz offen aufdeckte.

Da aber mit einem Male nahm Nobodys Antlitz einen ganz anderen Ausdruck an, seine Augen wurden tiefernst, und obgleich er nichts zu beschwören hatte, hob er doch die Hand wie zum Schwure, und feierlich erklang es in dem engen Raume:

»Sir Walter Bekham, hören Sie mich an! Heilig ist das Ehrenwort; es zu halten, ist eine heilige Pflicht. Aber es gibt eine noch heiligere Pflicht: das ist die Nächstenliebe. Um das Leben eines unschuldigen Menschen zu retten, bin ich jederzeit bereit, mein Ehrenwort zu brechen — ohne daß meine Ehre selbst dabei um ein Atom verringert wird — und hier handelt es sich um das Leben von 1200 Menschen. Denn es sind Meuterer. Sie haben ihr Leben verwirkt; aber verdient haben sie den Tod nicht. Sie sind unschuldig! Ja, sie sind unschuldig! Trotz alledem und alledem! Die meisten sind durch einen stärkeren Willen verführt worden, und was das bedeutet, verstehe ich am allerbesten zu beurteilen. Und auch die Aufwiegler sind zu entschuldigen. Nur das barbarische Verhalten des Kapitäns gegen die Mannschaft ist unentschuldbar. Ja, Sir Walter Bekham, für mich gilt es nicht, dieses kostbare Kriegsschiff zu retten — das ist nur von Eisen und Menschenwerk — sondern für mich gilt es, 1200 Menschenleben zu erretten, welche Gottes Odem in sich haben — für deren Errettung habe ich mein Ehrenwort in falscher Absicht gegeben, für deren Errettung vom Strange werde ich mein Ehrenwort brechen — so wahr ich an einen allmächtigen Gott und an eine ewige Gerechtigkeit glaube. Amen.«

»Well, in dieses Amen stimme ich auch einmal mit ein, so habe ich noch keinen Pfaffen sprechen hören.«

Nicht Sir Bekham hatte diese Worte gesprochen, sondern eine andere Stimme — Nobody fuhr herum, vor ihm stand der schwarze John.

Ihn auf der Stelle niederschlagen, das war das einzige, um die bösen Folgen dieses Belauschens zu verhüten. Nobody dachte nicht daran. Vielleicht hätte das nur noch bösere Folgen nach sich gezogen. Vielmehr gut, daß es so gekommen war. Und schon Johns Worte hatten ja verraten, daß in diesem Matrosenkittel ein Mann steckte, welcher von ganz besonderem Holze geschnitzt war.

»Ja, ich sprach aus ganzem Herzen.«

Der Matrose verzog keine Miene, trat sogar ganz geschäftsmäßig auf.

»Well, ich habe Ihnen ja schon meinen Beifall gezollt. Daß ein Sir Alfred Willcox, Champion der Königin, welcher dieses Kriegsschiff gehört, Waffenmeister des Hosenbandordens etcetera etcetera, nicht so ohne weiteres sich mit Meuterern verbündet, ohne einen Hintergedanken zu haben, das konnte ich mir überhaupt von Anfang an lebhaft denken.«

Von Nobodys Herzen fiel ein Stein, wohl nicht minder von dem des jungen Offiziers. Mit diesem Matrosen, der sich zum Tyrannen aufgeschwungen hatte, ließ sich famos unterhandeln, der war ja eine Zierde des ganzen menschlichen Geschlechts!

»Wie konnten Sie da annehmen, daß ich auf Seiten der Meuterer sein würde?«

»Nicht aus dem Grunde, weil ich glaubte, daß Sie so leichtsinnig mit Ihrem Ehrenworte umgehen. Ueber diesen Ihren vermeintlichen Leichtsinn haben Sie mir jetzt eine bessere Meinung beigebracht. Alle Hochachtung vor Ihnen, Sie sind mein Mann!«

»Danke sehr! Nun, aus welchem Grunde sonst die Sicherheit Ihrer Voraussetzung?«

»Weil ich schon in Ihrer Hand gelesen hatte.«

Aha, jetzt kam bei dem Matrosen wieder das Zigeunerblut zum Durchbruch!

»Was hatten Sie in meiner Hand gelesen?«

»Zeigen Sie mir diese noch einmal her, die rechte.«

Der schwarze John nahm die dargebotene Hand und spannte mit jenem eigentümlichen Griff die innere Fläche, daß die Linien in noch ganz anderer Weise hervortraten.

»Hier ist die Schicksalslinie, hier am Heimatsberge bricht sie plötzlich ab, um erst dahinter wieder zu beginnen, aber unter ganz anderen Verhältnissen, «sie werden Ihre Heimat verlieren, und das habe ich schon heute morgen aus Ihrer Hand gelesen, und da habe ich sofort gewußt, daß Sie einer der Unsrigen sein werden, hier auf diesem Schiffe, jetzt, durch uns werden Sie Ihre Heimat verlieren. Das steht auch noch viel deutlicher in Ihrer Hand geschrieben, ich kann es wie aus einem Buche lesen, kann es Ihnen aber nicht erklären.«

Nobody war äußerst betroffen. Der absolut bestimmte Ton, mit dem der Wahrsager gesprochen, war schuld daran, und dann ... Nobody hatte bisher noch nie an solch eine Handwahrsagekunst geglaubt, aber eigentlich nur aus dem Grunde, weil er sich noch gar nicht damit beschäftigt hatte, denn sonst ...

dieser sonst so praktische Detektiv hatte nun einmal Neigung zum Uebersinnlichen, was man so häufig beim großen Charakter findet, und gerade die letzte Zeit, die er zusammen mit Edward Scott verbracht, hatte ihn natürlich in alledem bestärken müssen.

Aber es liegt in der Natur des Menschen, alles zu bezweifeln, und so tat auch Nobody. Ueberdies konnte er gleich eine Probe machen.

»Das wäre England, das ich zu verlieren hätte.«

»Sicher.«

»Nun ist aber England . . . .«

» ... gar nicht Ihr Vaterland,« fiel ihm der Matrose ins Wort, »ganz richtig, das sehe ich hier sofort, Ihre Lebenslinie fängt auch nicht am Heimatsberge an. Ich sprach doch auch von Ihrer Heimat, und die ist jetzt doch wohl England. Kurz, selbst wenn wir jetzt nicht so zusammen verbunden wären, würde ich Ihnen nach Ihren Handlinien doch dringend abraten, in Ihre Heimat, also nach England zurückzukehren, es erwartet Sie dort etwas höchst Unangenehmes, wodurch Sie diese Ihre Heimat verlieren. Woran ich das erkenne, kann ich Ihnen nicht erklären, so wenig, wie man einem kleinen Kinde mit einem Male das Einmaleins beibringen kann, was unsereiner fehlerlos im Schlafe hersagen kann, und dieses Handlesen ist für uns Zigeuner das einfache Einmaleins. Also seien Sie versichert, Ihre jetzige Heimat zu verlieren. Aber ich kann Ihnen auch den Trost geben, daß Sie eine neue finden werden, in der Sie noch ganz anderen Ruhm und Ehre ernten werden, als in England.«

»In Australien?«

»So wörtlich steht nichts in der Hand geschrieben, aber jedenfalls wird es Australien sein.«

Nobody wollte sich nicht weiter beeinflussen lassen, er zog seine Hand zurück. Dafür aber streckte Sir Bekham die seine vor.

»Und ich? Was wird mein Schicksal sein?«

Der Matrose nahm sie und spannte die innere Fläche.

»Hm,« meinte er nach längerer Zeit, »das ist eine sehr glückliche Hand. Aber … was ist denn das? Leutnant Bekham, Sie eignen sich am allerwenigsten zum Kommandanten eines sozialdemokratischen Schiffes.«

»Das glaube ich wohl auch,« lächelte der englische Edelmann.

»Ich aber meine es noch ganz anders, als Sie es wohl auffassen. Haben Sie Anspruch auf irgendeinen Herrscherthron?«

»Ich? Nein,« lächelte Sir Bekham abermals. »So alt mein Adel auch ist, Anwartschaft auf den englischen Thron habe ich durchaus nicht, vor allen Dingen bin ich kein geborener Lord und Peer.«

»Es braucht ja auch nicht gerade der englische Thron zu sein.«

»Welcher denn sonst?«

»Ja, wenn ich das wüßte! Wenn ich nämlich wüßte, daß etwa mein Vaterland Australien noch einen Herrscherthron bekommen sollte, und Sie sollten ihn besteigen, so wäre ich zu allem fähig. Was für eine rote Narbe ist das hier?«

Auch Nobody sah sie, eine kleine, schon alte, aber blutrote Narbe, die sich mitten in der wohlgepflegten Hand des jungen Aristokraten zeigte.

»Die habe ich schon seit meiner Kindheit, woher, weiß ich gar nicht.«

»War die immer so rot?«

»Immer.«

»Und gerade hier endet Ihre Lebenslinie.. Das bedeutet, daß Sie dereinst im Purpur sterben.«

Jetzt war Nobody beruhigt. Weil die sogenannte Lebenslinie in einer roten Narbe verlief, deshalb mußte der Betreffende auch im Purpur sterben. Jawohl, das reimte sich recht hübsch zusammen — und zur Dichtkunst gehört eben auch Phantasie.

»Lassen wir diese Wahrsagerei, es kommt, wie's kommt,« sagte der schwarze John, des Offiziers Hand freigebend. »Wir haben jetzt anderes zu besprechen.«

Einen großen Erfolg hatte diese Wahrsagerei doch gehabt: sie hatte die drei menschlich näher gebracht, sie waren über ein phantastisch-wissenschaftliches Thema gleich vertraut miteinander geworden, jetzt war sofort eine völlig offene Aussprache möglich.

Wir fassen kurz zusammen, was noch hier in dieser engen Arrestzelle verhandelt wurde.

John Black behauptete, der jetzige Aufstand in Australien sei schon von langer Hand vorbereitet worden: am ersten Januar würden die vereinigten Kolonien als selbständige Republik ihre Unabhängigkeit erklären.

Vergebens versuchte Nobody, ihm die Unmöglichkeit solch eines Abfalls von England aus politischen Gründen begreiflich zu machen. Der Matrose konnte einen direkten Gegenbeweis bringen, der fast unwiderlegbar schien.

»Wir haben heute den 3. Januar, und soeben hat uns doch ein von Australien kommender Dampfer signalisiert, daß Australien seine Unabhängigkeit proklamiert hat.«

Davon, daß der Kapitän des Dampfers, der schon außer Sichtweite war, durch ein falsches Gerücht getäuscht sein konnte, wollte der Matrose nichts wissen. Er war eben in der Einbildung vollständig überzeugt, daß die australischen Kolonien bereits abgefallen seien, und wenn die anderen achthundert an Bord befindlichen Australier nicht von selbst derselben Ansicht gewesen waren, so hatte der schwarze John kraft seiner persönlichen Ueberlegenheit ihnen seine Ueberzeugung zu suggerieren gewußt. Und die englischen Matrosen waren durch die niederträchtige Behandlung empört worden, daß sie jetzt mit den Australiern gemeinsame Sache machten.

»Wir dampfen jetzt nach Sydney zurück,« erklärte der schwarze John weiter. »Das englische Geschwader hat Sydney bereits verlassen, das haben wir selbst gesehen, und ich weiß aus bester Quelle, daß es auch nicht wieder dorthin zurückkehren wird. Im Hafen von Sydney liegen gegenwärtig nur noch die fünf australischen Schiffe, welche dort immer stationiert waren, allerdings jetzt bemannt mit englischen Matrosen, aber diese Kriegsschiffe sind bereits von der Landbevölkerung genommen worden, mit List oder mir Gewalt. Diesen schließen wir uns an oder übernehmen vielmehr die Führung über dieses Geschwader, der neuen Kriegsflotte der Republik Australien.«

Dem phantastischen Matrosen erschien das alles so klar, so selbstverständlich, daß ein Widerspruch gar keinen Zweck gehabt hätte.

»Und wenn wir nun einem englischen Kriegsschiffe begegnen?«

»Sie meinen, ob wir den Kampf mit ihm aufnehmen? Nein, nicht eher, als wir von der Republik Australien als ihr Kriegsschiff anerkannt und bestätigt worden sind. Wir wollen uns keiner ungerechtfertigten Handlung schuldig machen.«

Noch angenehmer als Nobody mußte dem englischen Offizier diese Erklärung klingen.

»Und wenn wir ein englisches Kauffahrteischiff in Sicht bekommen?«

»Nun, was dann?« fragte der schwarze John entgegen, als ob er den Zweck dieser Frage gar nicht verstände.

»Im Kriegsfälle wird jedes Schiff der feindlichen Nation doch als gute Prise betrachtet, auf das sofort Jagd gemacht wird.«

»Ja, meine Herren, sind wir denn etwa Seeräuber?« lautete die stolze Antwort. »Wir befinden uns doch überhaupt gar nicht im Kriege. Der Abfall der australischen Kolonien vom Mutterlande kann doch ganz friedlich vor sich gehen und wird es hoffentlich auch sein. England erkennt eben Australien als selbständige Kolonie an.«

Das mußte den beiden doch noch angenehmer klingen. Nun wäre ihnen der schwarze John als Anführer der Meuterer nur noch die Erklärung schuldig gewesen, wie er denn die Wegnahme dieses englischen Kriegsschiffes rechtfertigen wolle, aber diese Erklärung gab er ihnen nicht.

Alle drei begaben sich in die Kajüte. Der schwarze John ließ die neunundzwanzig Offiziere befreien, ohne die nötigen Vorsichtsmaßregeln außer acht zu lassen, nahm ihnen vor allen Dingen vorher alle Waffen, ab, dann hielt er ihnen eine Rede, deren Inhalt seine oben geschilderten politischen Ansichten waren, darauf stellte er die Frage, wer von den englischen Offizieren zu den Meuterern oder vielmehr auf Seite der neuen Republik Australien übertreten wolle.

Allgemeines Schweigen. Diese Offiziere verstanden ja gar nicht, was der Matrose ihnen da erzählte; sie glaubten eben nur an eine Meuterei, an eine Tat des Wahnsinns, hielten sich für Gefangene der Meuterer, ihnen auf Gnade und Ungnade in die Hände gegeben.

Vor allen Dingen waren aller Augen starr auf Leutnant Bekham gerichtet.

»Ich habe nur eine Frage,« begann da der bisherige erste Offizier, der Kapitän-Leutnant. »Ich sehe einen unserer Kameraden frei an der Seite des Anführers der Meuterer stehen. Leutnant Sir Walter Bekham, machen Sie etwa gemeinsame Sache mit den Meuterern?«

»Er ist auf unserer Seite,« ergriff der schwarze John schnell für diesen das Wort.

»Ja,« setzte erst nachträglich der junge Leutnant hinzu, »ich bin entschlossen . . . .«

»Dann haben wir nichts mehr zu sagen,« wurde er von dem sich abwendenden Kapitän-Leutnant unterbrochen, und ebenso wendeten sich mit allen Zeichen der Verachtung auch alle anderen Offiziere von dem einstigen Kameraden ab.

Nobody als Champion der Königin stand ihnen als indirekter Offizier viel zu fern, deshalb beschäftigten sie sich jetzt gar nicht mit ihm.

Aber eben weil Sir Bekham hieraus erkannte, wie man ihm zutraute, er, der englische Offizier, könnte wirklich Hochverrat begehen und mit Meuterern gemeinsame Sache machen, eben deswegen verbot ihm sein Stolz, sich schon jetzt zu rechtfertigen. Diese Rechtfertigung war er von jetzt an nur noch seiner Königin, die ihm den Degen gegeben, oder ihrem Stellvertreter schuldig, nicht mehr diesen seinen Kameraden, denen bereits von den Meuterern der Degen abgenommen worden, und wenn es auch seine Vorgesetzten waren.

»Wollen die Herren Offiziere,« fuhr der schwarze John sehr höflich fort, »die Rückreise nach Australien mitmachen? Als Gefangene muß ich Sie allerdings behandeln, aber mit allen Ehren. Oder wollen Sie irgendwo an Land gesetzt sein? Das Ziel dürfte allerdings nicht zu weit außerhalb unserer Kurslinie nach Sydney liegen. Oder wollen Sie an Bord eines uns begegnenden Schiffes gebracht werden?«

Solch ein Entgegenkommen hätten die Offiziere, welche allen Grund hatten, die Rache der Matrosen zu fürchten, nicht erwartet. Dann aber waren sie sich sofort alle einig, sie wünschten an Bord des ersten ihnen begegnenden Dampfers gesetzt zu werden, und sei es ein Walfischfänger, der erst eine Fahrt nach der arktischen Zone machte. Das heißt, sie wollten eben so schnell wie möglich dieses schmachvolle Schiff verlassen.

Das geschah noch in derselben Stunde. Ein Frachtdampfer kam in Sicht, der sich dem Kriegsschiff als deutscher zu erkennen gab. Sein Ziel war ein Hafen von Neuseeland.

Zunächst wurde er befragt, woher er käme. Von der Ostküste Afrikas. Nein, einen australischen Hafen hatte er nicht angelaufen, nichts unterwegs von dem Aufruhr gehört, war überhaupt seit vier Wochen ohne jede Nachricht.

Schade! Nun, die Offiziere wünschten an Bord dieses Dampfers zu gehen. Es hatte sich ihnen noch ein Ingenieur, ebenfalls ein Offizier, beigesellt, alle übrigen Maschinisten waren Australier und hielten zu den Meuterern.

Die dreißig Offiziere wurden in Booten hinübergebracht. Eine Erklärung mußte doch erfolgen, und es war, als ob die Mannschaft des deutschen Dampfers eine schreckliche Kunde aus dem Jenseits vernähme, etwa vom bevorstehenden Untergang der Welt und von der Vernichtung der ganzen Menschheit.

Nur ein einziges Wort fiel.

»Dösköppe!« sagte ein deutscher Matrose, nichts weiter, dann gingen die Boote ohne Offiziere zurück.

Das Nächste war, daß die fünf Toten ein seemännisches Begräbnis finden sollten: der Kommandant, die beiden Matrosen, die von der Revolverkugel des einen Offiziers getötet worden waren, und die beiden anderen, denen der schwarze John seine unumschränkte Macht mit blutiger Strenge bewiesen hatte.

Hierbei nun fand eine Szene statt, welche noch einmal ausführlich geschildert werden muß, während sonst der Schluß des Kapitels mit summarischer Kürze behandelt werden soll.

Zum ersten Male betrachtete Nobody die noch nicht eingenähten Leichen genauer.

»Welche sind es, die von der Revolverkugel des Offiziers gleichzeitig tödlich getroffen wurden?« fragte er einen Unteroffizier.

»Der hier, der die Kugel durch den Hals bekam, ist Bob Archer. Gleich tot war er nicht, das Blut hat sich ihm wohl in die Luftröhre ergossen, und da ist er erstickt. Die Kugel ging hinten wieder heraus und traf den dahinterstehenden Fred Hawsky, der sich wohl gerade etwas gebückt hatte, ins rechte Auge. Mit dem war's natürlich gleich vorbei.«

Da schoß durch Nobodys Kopf wie ein Blitz eine Erkenntnis — er sah im Geiste wieder den schwarzen John auf dem Kanonenrohr sitzen, wie er den Matrosen aus der Hand wahrsagte — »du, Bob, du kriegst einmal was in den Hals, woran du erstickst, und du, Fred, du stirbst einmal an etwas im Auge, ich kann's ganz deutlich sehen, ins rechte Auge bekommst du's, und das dauert gar nicht so lange mehr ... «

Neben Nobody stand der schwarze John, beider Augen begegneten sich, und der schwarze John nickte phlegmatisch mit seinem Zigeunerkopfe.

»Ich hab's ja gesagt, es stand in ihrer Hand geschrieben, und ich habe mich noch nie geirrt. Daß es freilich so schnell kommen würde, hätte ich auch nicht geglaubt.«

»Ihr habt — Euch — noch — nie — geirrt?« brachte der sonst so eiserne Detektiv vor Erregung kaum heraus.

»Noch nie. Ich habe einmal ...«

Doch Nobody wollte nichts mehr hören, auch nicht wegen seines eigenen Falles, wie er seine Heimat verlieren sollte — stumm wandte er sich ab und ging davon.

»Wie's kommt, so kommt es.«

Aber in anderer Hinsicht sollte sich der zigeunerhafte Matrose als ganz falscher Prophet erweisen.

Noch an demselben Tage bezeugte vor dem Kriegsschiff, welches noch immer Flagge und Wimpel Englands führte, ein Dampfer seine Ehrfurcht, der soeben von Sydney kam.

Durch Signale wurden die Fragen gestellt, welche die Meuterer jetzt natürlich ausschließlich beschäftigten.

Nein, in Sydney wie in ganz Australien alles ruhig, die Empörung der Gemüter war schnell verpufft.

Der Schreck über diese Meldung war groß, war furchtbar. Man wollte es nicht glauben. Man mußte es schließlich glauben.

Im Laufe von sechs Tagen wurden noch viele andere Schiffe befragt, welche soeben von Sydney und von anderen australischen Häfen kamen, und sie meldeten übereinstimmend dasselbe.

Von einer Revolution oder etwas Aehnlichem auch keine Spur. Ein paar kleine Straßentumulte waren es gewesen, von betrunkenen Arbeitern arrangiert, nichts weiter. Im Hafen von Sydney lagen friedlich die australischen Schiffe, friedlich hatten sich einige englische Kriegsschiffe zu ihnen gesellt.

Und wenn sie es noch immer nicht glauben wollten, so mußten sie es, als sie den Hafen von Sydney vor sich liegen sahen.

Nichts als das Bild des tiefsten Friedens der Arbeit. Wenn dort setzt etwas Erregung herrschte, so entsprang die nur dem Grunde, daß man sich dort wunderte, warum der ›Manofwar‹ zurückgekehrt war. Von der Meuterei konnte man ja dort noch nichts wissen.

Die allergrößte Erregung aber herrschte an Bord des ›Manofwars‹ selbst.

Man versetze sich nur in die Lage der Mannschaft. Die Herren des kolossalen Kriegsschiffes waren jetzt vor aller Welt Ausgestoßene, Geächtete, von der Menscheit und von Gott Verfluchte!

Unter den Meuterern selbst brach Meuterei aus. Vor allen Dingen waren es die englischen Matrosen, welche die australischen mit wilden Vorwürfen überschütteten. Aber auch die Australier waren unter sich uneinig, einer beschuldigte den anderen.

Es kam zu blutigen Szenen, die auch Nobody nicht verhindern konnte, und einer der ersten Kugeln, die dabei gewechselt wurden, fiel der schwarze John zum Opfer.

Und es war, als ob sein Tod eine Sühne gewesen wäre. Wenigstens trat jetzt einige Ruhe ein, Nobodys Stimme drang wieder durch, es wurde beraten.

Was nun? Sich auf auf Gnade und Ungnade ergeben? Oder das ganze Schiff und sich selbst in die Luft sprengen? Oder irgendwo an einer wilden Küste landen, wenn nicht an der Australiens, dann an der Afrikas oder Amerikas, und sich dort als Farmer niederlassen? Oder Räuber werden? Oder so lange mit diesem gewaltigen Kriegsschiff ein Seeräuberleben in Saus und Braus führen, bis die Sache so oder so einmal ein Ende hatte?

Unsinn! Nobody gab den besten Rat.

»Wir gehen einfach nach Batavia. Dort lassen wir das Schiff im Stich und begeben uns an Land. Das neutrale Holland liefert Deserteure nicht aus, und Mörder sind wir nicht. Wollt ihr?«

Jubelnd wurde dieser Vorschlag angenommen. Man sah die Hoffnung, sich doch noch einmal rehabilitieren, als Amnestierte die Heimat wiedersehen zu können.

Sofort wurde wieder in See gestochen. Aber man hatte nur noch für wenige Tage Kohlen und Proviant.

Auch hier wußte Nobody Rat. Schon am nächsten Tage wurde der einsame Hafen Port Wall angelaufen, eine wichtige englische Kohlenstation.

Im Hafen lag nur ein englischer Kreuzer. Er wurde gänzlich ignoriert, und der Kreuzer, welcher bald erkannte, was für eine Bewandtnis es mit dem Panzer hatte, ließ ebenfalls gar nichts von sich hören, kein Offizier ließ sich sehen. Ebensowenig Schwierigkeiten machte die Hafenbehörde, als Nobody als Kommandant des Meutererschiffes einige tausend Tonnen Kohlen forderte. Es wäre vielleicht gar nicht nötig gewesen, daß er sofortige Bezahlung versprach. Gewalt geht vor Recht — besonders wenn aus den Luken achtzig Kanonenrohre hervorblicken.

Innerhalb weniger Stunden hatte die gesamte Mannschaft für vierzehn Tage Kohlen und frischen Proviant an Bord genommen. Nobody fragte nach dem Preis, stellte mit seinem Namen einen Scheck aus, der von dem Hafenkommandeur schweigend in die Tasche gesteckt wurde, und fort ging es wieder.

Während der Fahrt nach Batavia ereignete sich nichts Erwähnenswertes. Einmal tauchte ein englischer Kreuzer auf, der sich dem Meutererschiff an die Fersen heften zu wollen schien, doch verlor man ihn bald wieder außer Sicht.

Am zehnten Tage gegen Mittag erreichte man Batavia. Auf Reede verteilte Nobody die Schiffskasse, welche an barem Gelde 3000 Pfund Sterling enthielt, so daß auf jeden Mann zweieinhalb Pfund oder fünfzig Mark kam. Dafür legte Nobody einen von ihm über die gleiche Summe ausgestellten Scheck in die Kasse und übergab sie Leutnant Bekham.

Dann dampfte der ›Manofwar‹ ohne Lotsen in den eigentlichen Hafen. Wohl erregte das fremde Kriegsschiff, welches so ohne Anmeldung hereinkam, das größte Aufsehen; doch was kümmerte das die Meuterer?

Noch bevor irgendein holländischer Beamter an Bord gekommen wäre, hatte Leutnant Bekham schon möglichst dicht am Kai eine Ankerstelle ausgesucht, er gab sein letztes Kommando, welches die Anker fallen ließ, dann setzten die Matrosen von ganz allein sämtliche Boote aus, und wer es nicht erwarten konnte oder keinen Platz mehr zu finden glaubte, sprang über Bord und erreichte schwimmend das Land, holländischen Boden, der ihnen Freiheit versprach.

Von alledem wurde Nobody gar nicht mehr Zeuge. Mit einem Händedruck verabschiedete er sich von Sir Bekham, der ganz allein an Bord Zurückbleiben wollte, dann saß Nobody im ersten Boot, betrat als erster das Land und begab sich stehenden Fußes zum englischen Konsul, der unterdessen wohl schon von dem Meutererschiff gehört hatte, aber doch den ersten ausführlichen Bericht erhielt.

Wir wollen hier gleich kurz das Schicksal der 1200 Meuterer erledigen.

Einige von ihnen wurden noch im Laufe des Tages verhaftet, wurden aber gleich wieder freigegegeben. Holländischerseits lag gegen sie ja nichts vor, und es ist noch bemerkenswert, daß, als die Sache näher bekannt wurde, sie die Sympathie der Bevölkerung für sich hatten. Dreiviertel von ihnen wurde noch an demselben Tage für die holländische Fremdenlegion angeworben, welche zum Kriege mit Atschin gerade sehr notwendig Soldaten brauchte, die anderen fanden bald Arbeit und waren ebenfalls geschützt.

Im Hafen von Batavia lagen zwei englische Kriegsschiffe. Das eine gab alsbald, nach kurzer Verhandlung mit der holländischen Regierung, wobei aber wohl auch schon die englische telegraphisch mit eingriff, die Hälfte seiner Besatzung für den ›Manofwar‹ ab, und unter Zuhilfenahme von chinesischen Heizern wurde der Panzerkoloß nach dem nächsten englischen Kolonienhafen gebracht. Mehr brauchen wir hiervon nicht zu wissen, und Leutnant Bekhams Schicksal werden wir später erfahren.

Im Hause des englischen Konsuls wurde Nobody mit allen Ehren als Gast behandelt. Am dritten Tage bat der Konsul ihn höflich, aber doch als Beamter, ihn an Bord des englischen Kreuzers ›Viktoria‹ zu begleiten.

Nobody wurde in der Kajüte von Kapitän Hellesom empfangen.

»Sir Alfred Willcox, Baronet von Kent?«

»Ich bin es.«

Da legte ihm der Kapitän die Hand auf die Schulter.

»Auf telegraphischen Befehl der englischen Regierung, deren Untertan Sie sind: ich verhafte Sie im Namen der Königin.«

Nobody zuckte mit keiner Wimper.

»Ich habe es erwartet.«

»Ich bin beauftragt. Sie sofort nach England zu bringen.«

Nobody senkte nur bestätigend den Kopf.

»An Bord dieses Schiffes.«

»Ja.«

»Sie sind mein Gefangener.«

»Natürlich.«

»Ich muß — ich muß ...« schwer ward es dem Kapitän, es auszusprechen. »Ich muß Sie … fesseln.«

Da zuckte Nobody leicht zusammen, er verfärbte sich etwas, doch dann streckte er schon die Hände aus.

»Folgen Sie mir!«

Zwei stämmige Matrosen schlossen sich ihnen an, und es war die Strengarrestzelle für Offiziere, welche sie betraten, ebenfalls mit jener Schließvorrichtung versehen, hier nur kein Sofa, sondern eine harte Pritsche, und die Ketten so kurz, daß sie nur ein Sitzen, kein Liegen gestatteten.

»Sir Willcox, es tut mir wirklich leid,« sagte der Kapitän in zitterndem Tone.

Nobody blickte zurück, noch war die Tür offen, auf den Korridor drang ein Strahl goldenen Sonnenlichtes, und die beiden Matrosen sollten ihn nicht halten können, nicht die paar hundert Mann Besatzung, kein Mensch ... Nobody wandte den Kopf zurück, setzte sich, um sich Hände und Füße fesseln zu lassen.

»Herr Kapitän, tun Sie Ihre Pflicht.«

Viermal knackte es, dann schloß sich die eiserne Tür.

 

—————

 

 

IX.
Der Himmel stürzt ein!

 

Schon seit drei Monaten befand sich Nobody im Untersuchungsgefängnis zu London. Die Anklage lautete auf Hochverrat und auf Mord, ersterer begangen als Anführer von Meuterern an Bord eines englischen Kriegsschiffes, letzterer begangen an dem schwerverwundeten Kapitän Frater.

Wir können die täglich stattfindenden Gerichtsverhandlungen nicht verfolgen, wuchs das Aktenmaterial doch zu einer kleinen Bibliothek an, wir wollen auch nicht einer einzigen derselben persönlich beiwohnen.

Wir geben nur einen allgemeinen Ueberblick.

Als Hauptbelastungszeugen gegen den Angeklagten traten vor allen Dingen die dreißig Offiziere auf, ferner aber auch einige englische Matrosen und Unteroffiziere des ›Manofwar‹, die sich noch nachträglich aus irgendeinem Grunde ihrer Behörde in der Heimat zur Bestrafung freiwillig gestellt hatten.

Vorausgeschickt muß noch werden, daß Nobody stets allein vor die Richter geführt wurde, und sein und seines Verteidigers dringender Wunsch, mit dem ebenfalls unter der Anklage des Hochverrates stehenden Leutnant Sir Walter Bekham konfrontiert und zusammen verhört zu werden, fand niemals Berücksichtigung.

Wenn unser Nobody in dieser Hinsicht eines Schreckes fähig war, so mußte er von einem solchen erfaßt werden, als er erkannte, was für Feinde er in England und ganz besonders unter der englischen Aristokratie hatte. Alle Zeugen arbeiteten mit den Richtern gemeinschaftlich, um dem ehemaligen deutschen Prinzen, der sich aller seiner Ehren entäußert hatte, um dann als Detektiv durch seine eigene Kraft in England die höchste Ehrenstelle zu gewinnen, die Schlinge um den Hals zusammenzuziehen.

Das heißt, so augenscheinlich war das im Gerichtssaale nicht ersichtlich. Die unparteiische Gerechtigkeit wurde gewahrt, und wohl nicht nur scheinbar, sondern auch tatsächlich. Aber ... es war dieses Detektivs feiner Instinkt, der förmlich herausfühlte, wie sich alles gegen ihn verschworen hatte, um den Champion der Königin von seiner Höhe herabzustürzen, bis in die tiefste Tiefe hinab, und wenn er so sein Auge über die dichtgedrängt besetzten Galerien schweifen ließ, dann hörte er trotz der herrschenden Todesstille das ›Kreuzige, kreuzige ihn!!‹ des Volkes in seinen Ohren brausen.

Seine Sache stand schlimm, sehr schlimm, war ganz unhaltbar.

Vor allen Dingen wurde seine Verteidigung gar nicht verstanden. Denn hier kamen einmal Nobodys eigentümliche Charakterveranlagung und seine noch eigentümlicheren Anschauungen über Recht und Unrecht voll und ganz zum Ausdruck, und damals hatte es noch keinen Nietzsche gegeben, der durch seine Umwertung der Werte eine neue Moral ausgestellt, der das Wort ›Uebermensch‹ erfunden hatte, und schließlich darf vor Gericht so etwas gar nicht in Betracht gezogen werden, am allerwenigsten als ›mildernder Umstand‹. Sonst ginge ja die ganze Welt in Trümmer. Schlimm ist das aber für den, der von ganz allein auf solch einen himmelhohen Standpunkt gekommen ist.

»Gestehen Sie zu, sich den Meuterern von vornherein angeschlossen zu haben?« fragte der Richter.

»Ja. Aber nur scheinbar, um....«

Man ließ ihn gar nicht aussprechen.

»Haben Sie dem Anführer der Meuterer nicht sofort Ihr Ehrenwort gegeben, gemeinsame Sache mit ihnen zu machen?«

»Ja, aber unter der stillen Voraussetzung, dieses mein Ehrenwort gar nicht zu halten.«

Und Nobody schilderte weiter, wie er das meinte, suchte sich zu rechtfertigen. Bei Leutnant Bekham war ihm das damals auch gelungen, aber den hatte er auch unter vier Augen gehabt — hier im öffentlichen Gerichtssaale gelang ihm nicht, die Lauterkeit seiner Ansicht über ein Ehrenwort, das er gar nicht zu halten beabsichtigte, zu rechtfertigen; denn hier handelte es sich eben um eine geschlossene Menschenmasse, die von einem Gemeinsinn zusammengehalten wurde.

Für den, der tiefer denkt, wird dieser Unterschied wohl sofort verständlich sein.

Er wurde also überhaupt gar nicht verstanden, wohl von keinem einzigen.

»Das ist verächtlich, das offenbart Ihren ganzen Charakter,« sagte der Richter, und hiermit hatte er über Nobody das verdammende Urteil schon so gut wie gesprochen.

»Wenn Sie,« fuhr der Vorsitzende fort, »bereit waren, Ihr Ehrenwort zu brechen, um das wertvolle Kriegsschiff der englischen Nation zu erhalten, so mußte Ihre erste Pflicht sein, dafür zu sorgen, daß die Meuterer auch in die Hände der Gerechtigkeit geliefert wurden, und Sie haben gerade das Gegenteil erstrebt und erreicht.«

»Nein, meine erste Pflicht als Mensch war vielmehr, diese 1200 irregeführten Männer vor einer Bestrafung zu bewahren!!«

So hatte Nobody gerufen. Es läßt sich denken, daß auch dies nicht begriffen werden konnte. Wohl von einzelnen, moralisch hochentwickelten Menschenfreunden, aber doch nicht von der englischen Volksmasse, vertreten hier durch dieses zusammengepferchte Publikum, wobei noch der englische Patriotismus und Stolz in Betracht zu ziehen sind.

Und so ging es weiter. Dieser vereinten Volksmasse gegenüber wurde Nobody von seiner sonstigen Überredungskunst vollkommen in Stich gelassen, oder sie prallte eben an dieser Masse wirkungslos ab.

Zuletzt galt es als ausgemachte Sache, daß Nobody fähig gewesen wäre, sich einer Revolution anzuschließen, um darin eine führende, die erste Rolle zu spielen. Das läge nun einmal in seinem ganzen abenteuerlichen und bizarren Charakter. Nur die Verhältnisse hätten es verhindert; so hätte er die ganze Meuterei noch zu seinem eigenen Besten zu drehen versucht.

Und dann kam vor Gericht die Ermordung des Kapitäns Frater daran.

»Das war keine Ermordung, das war ...«

»Haben Sie dem noch lebenden Kapitän Frater nicht eine Kugel durch den Kopf geschossen?«

»Ja, um ihn von seinen....«

»Das ist Mord, mindestens Totschlag!«

»Das bestreite ich. Wenn Sie einen Menschen, wenn Sie Ihr eigenes Kind sich tagelang in schrecklichen Todesqualen winden sehen, etwa mit fürchterlichen Brandwunden bedeckt, rettungslos verloren — würden Sie da nicht Ihrem Kinde ein Tränklein eingeben, welches es sofort von allen Leiden erlöst?«

Das hatte NM gerade noch gefehlt, das schlug dem Fasse den Boden aus! Durch den ganzen Saal hallte ein einziger Schrei des Entsetzens, der Entrüstung.

Wir wollen hierüber nicht urteilen. Wir wollen nur einmal mit dem Kopfe von Nobodys Verteidiger denken, und der sagte sich, daß sein Klient ja von Sinnen sein müsse, so etwas hier öffentlich auszusprechen.

Dann sei hier nur noch darauf aufmerksam gemacht, daß die englische Nation äußerst bigott ist, sich streng an den Bibelglauben haltend —— und sonst hiermit genug davon.

Nur Nobody hatte noch nicht genug. Als der Schrei der namenlosen Entrüstung verklungen war, schaute er, die Augen oben nach den Galerien gerichtet, kopfschüttelnd um sich, und wer den deutschen Klassiker kannte, dem mochte in diesem Augenblicke der Vers einfallen:

»Der blinde König dreht sich um — Bin ich denn ganz allein?—«

... und dann setzte Nobody seine Ansicht hierüber weiter auseinander, indem er aufzählte, wieviele Menschen er schon mit Ueberlegung ins Jenseits befördert hatte, weil ihnen bei einer Krankheit oder Verwundung ja doch nicht mehr zu helfen gewesen sei, und es wäre ein edles Werk der Nächstenliebe gewesen, was er da getan hätte.

»Daß dies freilich nicht jeder Schwachkopf begreift, das glaube ich, das weiß ich, und auch nicht jeder ist würdig, solch eine Tat auszuführen. Aber ich, ich bin es, vor Gott und vor meinem Gewissen bin ich gerechtfertigt, eure Rechtfertigung brauche ich nicht —— und nun verurteilt mich!«

 

——-

 

Von Anfang an war Nobody als Untersuchungsgefangener mit schärfster Strenge behandelt worden. Die Fahrt nach England hatte er in Eisen gemacht, strenger kann doch eigentlich nicht der schwerste Verbrecher behandelt werden, und doch sollte es bei Nobody der Fall sein.

Das größte Untersuchungsgefängnis von London ist Newgate, mitten im Herzen der City gelegen, ein uraltes, massives Gebäude, eine finstere Zwingburg, noch heute umringt von einer mächtigen Mauer, auf dem Hofe finden noch heute die Hinrichtungen mittels des Galgens statt.

Der englische Championdetektiv kannte diese Zwingburg mit allen ihren Geheimnissen ja zur Genüge, und wohl gerade deshalb hatte man ihm als Verwahrsam eine Zelle in der dritten Etage angewiesen, aus der es nach menschlichem Ermessen, wenn der Inhaftierte keine eingeweihten Helfershelfer hatte, kein Entweichen gab.

Innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden war er zum ersten Male vor den Untersuchungsrichter gekommen, da war gleich der Fall mit dem den Meuterern gegebenen Ehrenwort verhandelt worden, auch sonst hatte Nobody gleich bei diesem ersten Male seinen Charakter und seine Anschauungen offenbart, und in Folge alles dessen mußte man auf diesen Untersuchungsgefangenen erst recht das schärfste Auge haben.

Mit einem Wort: Richter wie alle anderen Beamten und das ganze Publikum waren von vornherein der festen Ueberzeugung, daß ein Nobody, wenn er einmal sah, wie es mit ihm stand, keine Gelegenheit vorübergehen lassen würde, um sich der Untersuchungshaft und allen weiteren Folgen seiner Handlungen durch Flucht zu entziehen, und sei es auch nur, um seine Verteidigung in der Freiheit fortzusetzen.

Und nun kam alles in Betracht, was dieser Detektiv leisten konnte und schon geleistet hatte, und es wurde bedacht, daß dieser Mann sich gerühmt und auch schon bewiesen hatte, daß ihn keine Fessel, auch nicht die stärkste Felsenmauer halten konnte, und es wurde beim Treffen der Sicherheitsmaßregeln daran erinnert, was für ein Hypnotiseur dieser Mann war, wurde diese seine geheimnisvolle Kunst manchmal doch auch seitens der Polizei zu Hilfe genommen — man denke z. B. an den Fall damals mit dem Fremden, der auf der Straße plötzlich sein Gedächtnis verloren, da war auch Nobody als Hypnotiseur geholt worden -— und danach wurde die Behandlung dieses Untersuchungsgefangenen eingerichtet, seine Verpflegung geordnet.

Für gewöhnlich wird die Zelle eines Untersuchungsgefangenen von nur einem Wärter betreten, welcher ihm das Essen bringt, die Zelle reinigt usw. Die anderen Vorsichtsmaßregeln genügen. Nur bei rabiaten Häftlingen, die noch nicht gerade angeschlossen zu werden brauchen, denen aber alles zuzutrauen ist, hat der Wärter stets noch einen Begleiter. Nobodys Zelle wurde von vornherein von drei handfesten Wärtern betreten, bei denen sich Aerzte auch noch überzeugt hatten, daß sie keiner hypnotischen Beeinflussung unterlagen.

Doch dies war nur das eine dreiblättrige Kleeblatt, dessen Eintritt Nobody jede Minute erwarten konnte. Ferner erschienen bei ihm regelmäßig aller vier Stunden zwei speziell für das Newgate angestellte Detektivs, welche die Zelle mit fast mikroskopischer Genauigkeit untersuchten, indem sie z. B. die Eisengitter am Fenster tatsächlich mit der Lupe abspähten, ein zufällig am Boden liegendes Holzspänchen ebenfalls unter die Lupe brachten, ob es nicht mit irgendeinem Werkzeug aus dem Holzboden geholt sein könnte, und daß sie diese peinliche Untersuchung auf die ganze Zelle und auf alle anderen Gegenstände erstreckten, ist wohl selbstverständlich.

Also regelmäßig aller vier Stunden kamen diese beiden Spürhunde, daher auch um Mitternacht, dann mußte der Untersuchungsgefangene aufstehen, sich bis aufs Hemd entkleiden, alles, alles wurde untersucht, als ob dieser Inhaftierte fähig sei, sich aus den Halmen seiner Seegrasmatratze einen befreienden Strick zu drehen, und diese beiden Detektivs kamen auch noch außerhalb ihrer regelmäßigen Wachgänge, schon nach fünf Minuten konnten sie wiederkommen, und dabei wurden auch noch diese beiden von außen beobachtet, daß sie nicht etwa mit dem Untersuchungsgefangenen gemeinschaftliche Sache machten, freiwillig oder unfreiwillig.

Es können wirklich nicht alle die Vorsichtsmaßregeln, die man diesem Untersuchungsgefangenen gegenüber anwendete, aufgezählt werden. Erwähnt sei nur noch, daß ihm auch die Selbstbeköstigung abgeschlagen worden war. Ja, wohl erhielt er für sein eigenes Geld besseres Essen, aber dieses wurde nicht aus diesem oder jenem Hotel geholt, wie man es sonst auf Wunsch des Inhaftierten tut, wenn er dafür bezahlen kann, sondern die gewünschten Speisen wurden in der Anstaltsküche zubereitet, und dort machte man unserem Nobody jeden Bissen äußerst mundgerecht; Brot und Brötchen waren regelmäßig schon in feine Scheiben zerschnitten, und daß diesem Untersuchungsgefangenen ausschließlich gehackte oder feingewiegte Fleischspeisen serviert wurden, die der Engländer eigentlich gar nicht liebt, hatte gewiß auch seinen besonderen Grund; in solchen Speisen konnte auch nicht die dünnste Federspule mit einem Papierchen in die Zelle geschmuggelt werden.

Das Untersuchungsgefängnis steht natürlich unter einer Hausordnung, gesetzlich streng geregelt. Aber speziell steht es noch unter einem Hausmeister, welcher von diesem hier den Titel Lordmaster of Newgate führt. Es brauchte nicht gerade ein Lord zu sein — damals aber war es dennoch ein Lord, ein echter, schwerbegüterter Lord mit Sitz im Parlament — jedenfalls ein Zeichen, was für eine wichtige Stellung dieser Lordmaster of Newgate auch in der Oeffentlichkeit einnimmt. Es hängt dies mit den alten Traditionen des urkonservativen Englands zusammen, wo die Universität noch immer als ein Kloster betrachtet wird, wie z. B. in der Universität Oxford, wo der alte Professor, der das Amt hat, jeden Abend den Hauptgashahn abzudrehen, für diesen Griff alljährlich ein besonders Honorar von 200 Pfund Sterling erhält, deshalb bei Feierlichkeiten eine besondere Uniform trägt und deswegen noch eine Masse andere Privilegien hat —— und das Kostbarste dabei ist, daß das Universitätsgebäude heute überhaupt gar kein Gas mehr hat, alles elektrisch, aber der betreffende Professor geht noch immer allabendlich um zehn Uhr hinunter in den Keller und dreht in dem Schränkchen einen alten Hahn herum, wofür er noch immer jährlich seine 200 Pfund Sterling Extravergütung bekommt.

Das ist die respektierte Kraft der alten Urkunden, und in gewissem Sinne ist das auch ganz nett. Wohl dem, der so einen Gashahn hat!

Eine ähnliche Stellung nimmt auch der Lordmaster of Newgate ein. Er hat in der finsteren Zwingburg seine eigene Dienstwohnung, eine ganze Residenz. Wohnen tut er freilich nie darin. Alljährlich eine Zeremonie, ein paar Unterschriften, weiter nichts. Und dennoch, mit Amt und Würden haftet er dafür, daß kein Untersuchungsgefangener entspringt, mit Amt und Würden haftet er auch sonst für alles, was in Newgate Ungesetzliches passiert, und deshalb ist er auch kraft seines Amts und seiner Würden berechtigt, eigenmächtige Instruktionen zu erlassen, so weit sie nur nicht das Maß der allgemeinen Gerechtigkeit überschreiten. Er ist der Allgewaltige von Newgate.

Damals also war es ein wirklicher Lord. Wir haben einen Grund, seinen wirklichen Namen zu verschweigen —— nennen wir ihn Lord Parcel.

Nur diesem hatte Nobody seine so peinliche Ueberwachung zu verdanken. Im übrigen war von einer schlechten oder gar grausamen Behandlung keine Rede. Eigentlich hatte sich Nobody über nichts zu beklagen, soweit es wenigstens sein körperliches Wohl betraf. Nicht einmal das öftere Gewecktwerden war eine Qual, also nicht etwa zu vergleichen mit jener früheren Tortur, wo Sträflinge oder solche, denen man ein Geheimnis erpressen wollte, aller Viertelstunden aus dem Schlafe gerüttelt wurden. Wenn die beiden Detektivs außerhalb ihrer Zeit kamen, so hatte Nobody sicher mit offenen Augen im Bett gelegen, was außen durch das Guckloch beobachtet worden war, und so rücksichtsvoll war man mit allem, von einer Mißhandlung war natürlich keine Rede, in der Zelle fiel auch niemals ein barsches Wort, und wenn der Untersuchungsgefangene keine Bücher und kein Papier zum Schreiben erhielt, so war das doch etwas anderes, das gehört doch nicht direkt zum körperlichen Wohle des Menschen.

Weshalb er auch keine Bücher zum Lesen erhielt? Weil man es eben mit dem geriebenen Nobody zu tun hatte. Immer konnten die Bücher nicht in der Zelle bleiben, und wie leicht kann man durch Unterstreichen von einzelnen Buchstaben oder durch ein ähnliches Mittel eine Mitteilung hinaus in die Welt gelangen lassen, was nun freilich nicht geschehen durfte.

Insofern also hatte sich Nobody über nichts zu beklagen. Etwas anderes war es, was ihn am Herzen fraß, dem auf die Dauer auch seine eiserne Natur unterliegen konnte.

Das war, daß er seine Frau und Kinder noch nicht wieder zu sehen bekommen hatte und auch nicht zu sehen bekommen sollte.

Sonst wird den Untersuchungsgefangenen der zeitweilige Besuch ihrer Angehörigen nicht verwehrt, und sei es auch, bei gefährlichen Charakteren oder aus sonst einem Grunde, daß sie von dem Inhaftierten durch ein Gitter getrennt bleiben. Aber es kann verwehrt werden. Und Nobody wurde das Sehen seiner Angehörigen verwehrt. Eben weil es Nobody war. Wie leicht konnte er sich mit seiner Frau auf irgendeine Weise, die nur diesen beiden bekannt war, in eine heimliche Verbindung setzen, einen Fluchtplan deutlich verabreden, während die scharfsinnigsten Wächter dicht daneben standen! Es war eben Nobody, den man zu bewachen hatte.

Aber seinen Angehörigen zu schreiben und von ihnen schriftliche Mitteilungen zu erhalten, das konnte man ihm unter keinen Umständen verwehren, und von diesem Rechte hatte er sofort Gebrauch gemacht.

Er schrieb einen Brief, ermunternd, tröstend, seine zuversichtliche Hoffnung auf Freisprechung ausdrückend — wenn er auch selbst nicht daran glaubte.

Der Brief ging hinaus aus der Zelle, wurde allerdings behördlicherseits zuvor gelesen, doch sein Ziel mußte er erreichen, und die Antwort kam denn auch bald zurück.

Doch was war das? Das war nicht die Handschrift seiner Gattin, nicht die seines ältesten Knaben

— das waren die kalligraphischen Schriftzüge eines Bureauschreibers, und da stand es ja auch: auszüglich kopiert mit Genehmigung usw.

Jederzeit konnte sich der Untersuchungsgefangene beschweren. Selbst bei Nacht kam sofort ein Beamter als Stellvertreter des Lordmasters. Nobody erreichte nichts. Er bekam das eigentliche Handschreiben nicht, jetzt nicht und niemals, und ebenso wurde sein Brief kopiert, mit Weglassung von allem, was dem Prüfungskomitee nicht gefiel, ohne Angabe eines Grundes. Dazu hatte der Lordmaster of Newgate ein Recht, er hatte es befohlen, und damit basta. Höflich, aber auch aufs bestimmteste.

Und dabei blieb es. In Gegenwart der beiden Detektivs konnte Nobody mit einem Bleistift auf einem genau abgemessenen Stück Papier schreiben, so viel er wollte — der Brief wurde abgeschrieben, und was dem Prüfungskomitee nicht gefiel, wurde weggelassen. Denn wer wußte denn, ob er mit seiner Frau in gewöhnlichen Buchstaben und Worten nicht dennoch eine geheime Schrift verabredet hatte?

Deshalb mußten aber auch die Briefe der Lady Willcox und ihrer Kinder so umgeändert werden, und außerdem durfte sie nichts weiter schreiben als gewöhnliche Sachen, welche die Familie, den Haushalt und dergleichen anbetrafen.

Und durch diese letzte Abschließung, daß er nicht einmal mit Frau und Kinder direkt schriftlich verkehren konnte, war der Untersuchungsgefangene so gut wie lebendig begraben. Denn was waren ihm die vielen Beamten, die täglich in seine Zelle kamen? Fremde, überhaupt keine lebenden Menschen, sondern Maschinen.

Dem Anstaltsgeistlichen hatte er den Zutritt verweigert, seinen Verteidiger als einen Dummkopf, der ihn

nur noch mehr hineinriß, verabschiedet — wenn er es auch nicht war, so fühlte sich Nobody doch lebendig begraben.

Kein Zeichen aus der Außenwelt mehr, auch nicht das geringste.

»Wie steht es denn mit Leutnant Sir Walter Bekham?«

Das war die Frage, die er immer wieder stellte, zuletzt in flehendem Tone. Die Antwort wurde ihm verweigert.

Nochmals: Nobody fühlte sich lebendig begraben.

Dachte er denn an gar keine Flucht?

Das werden wir gleich aus seinem eigenen Munde erfahren.

 

—————

 

Die schwärzeste Finsternis herrschte in der engen, schwülen Zelle, und in dieser Finsternis erscholl ein leises Weinen, und dieses konnte von niemandem anders herrühren als von dem auf der Matratze liegenden Untersuchungsgefangenen.

Ja, Nobody weinte, weinte leise wie ein kleines Kind.

Auch er war ja nur ein Mensch, und was für ein hartgesottener Bösewicht muß das sein, der nicht mehr weinen kann.

Weshalb weinte er?

Er hatte an Freunde geglaubt, und wenn er so im Gerichtssaale die Galerien musterte und er so alle die Gesichter sah, in denen sich Neugier mit Entrüstung paarte, so hörte er fort und fort in seinen Ohren das »Kreuzige, kreuzige ihn!!« brausen.

Doch nein, deshalb weinte er nicht.

Heute, am hundersten Tage seiner Inhaftierung, hatte er wieder solch einen Brief erhalten, ein Briefchen von seinem kleinen Heinrich, der eben erst den Stift führen gelernt hatte — das Schreiben war von der steifen Hand kopiert worden, und doch war es ein Briefchen, wie eben nur ein Kind es schreiben kann, und an Stil und Ausdruck hatte man nichts geändert.

Der kleine Heinrich schrieb seinem Papa, daß der Papagei, den ihm Papa voriges Jahr zum Geburtstage geschenkt, gar kein richtiger Papagei sei, sondern es wäre eine Mamagei; denn er habe ein Ei gelegt, aber ausbrüten könne er es nicht, denn der Vogel habe es selbst gleich aufgegessen ...

Und noch leiser und doch noch herzerschütternder erscholl in der finsteren Zelle das Schluchzen und Weinen. Ja, hier brach langsam ein Herz.

Da verstummte es.

An der Tür im Schlosse hatte es geraschelt.

Und das konnten nicht die Wärter, nicht die Detektivs sein; die traten stets mit Absicht recht geräuschvoll ein.

Und da öffnete sich die Tür, schloß sich wieder. Nobody, der sich schon vom Lager erhoben, hatte es nicht sehen, wohl aber fühlen können, und ebenso, daß sich jetzt ein Mensch in seiner Zelle befand.

»Wer ist da?«

»Ein Freund,« erklang es leise mit zitternder Stimme zurück, die sich offenbar verstellte.

Lange blieb die Antwort aus. Und dann erklang es dort am Fenster, wo Nobody stand, ebenso leise und zitternd, aber auch seufzend, schwermütig:

»Ein Freund, ach, ein Freund! Ich habe keine Freunde mehr.«

»Mann — Sir Alfred Willcox — Nobody — freveln Sie nicht!«

»Freveln? Gegen was?«

»Gegen die Freundschaft als Gottheit — gegen Ihre Freunde.«

»Wo sind meine Freunde?« erklang es nach wie vor klagend vom Fenster her zurück.

»Sie können es nicht wissen. So erfahren Sie es denn: ganz England steht einmütig auf Ihrer Seite und fordert stürmisch Ihre Freisprechung.«

Diese leise gesprochenen Worte mußten wie ein Donnerschlag wirken. Am Fenster hörte man lange Zeit nur ein schweres Atmen, bis endlich auch Worte kamen.

»Es — ist — nicht — möglich! Wer sind Sie? Weshalb erzählen Sie mir solche Unwahrheit?«

»Ich bin Ihr Freund — auch ich zähle zu denen, die Sie freisprechen — lassen Sie sich das genügen — und ich spreche die Wahrheit.«

Da erwachte in dem Menschen, der noch die Augen voll Tränen hatte, wieder der nüchtern denkende Detektiv, der stets Gewißheit haben mußte.

»Ganz England auf meiner Seite? Im Gerichtssaal bin ich anderer Meinung geworden.«

»Es ist eine irrige Meinung. Ja, Sie haben Feinde genug, aber was sind die, welche den Gerichtssaal füllten, gegen die Millionen des englischen Volkes? Doch es ist sehr leicht, Sorge dafür zu tragen, daß die Zuhörerplätze nur an gewisse Personen vergeben werden. Die anderen müssen draußen bleiben.«

»Aaaahhh!«

Nobody hatte verstanden. Ein Himmelslicht war es, das sich in der finsteren Zelle plötzlich in sein Herz ergoß.

»Doch,« fuhr die fremde Stimme fort, »zeihen Sie nicht auch die Richter der Parteilichkeit, diese wollen und werden wie die Geschworenen nach bestem Gewissen urteilen. Und dann ist es für Sie zu spät. Sir Alfred Willcox, etwas geht doch noch über das geschriebene Recht — mein Gewissen spricht Sie frei

— deshalb komme ich, um Ihnen auch Ihre persönliche Freiheit anzubieten.«

»Sie wollen mich — befreien?«

»Ja.«

»Sie können mir alle verschlossenen Tore von Newgate öffnen und mich an allen Wachen vorbeiführen?« vergewisserte sich Nobody nochmals.

»Ich kann es.«

Da war es wie eine Bewegung, als ob sich dort am Fenster jemand hoch aufrichte, und schneidend, sogar höhnisch klang plötzlich Nobodys Stimme, die sich in der Finsternis vernehmen ließ:

»Herr, wer Sie auch sind — glauben Sie denn, mich, Nobody, könnte man auch nur eine Stunde hier festhalten? Sie glauben wirklich, ich hätte mich trotz aller Vorsichtsmaßregeln nicht schon längst befreit, wenn ich wollte? Aber ich will nicht! Gerechtigkeit will ich haben! Oder doch das Urteil will ich hören, das man über einen Mann zu fällen wagt, der nichts als seine Christenpflicht getan hat!«

Wohl schien der andere tief betroffen zu sein, doch er hatte auch sofort eine Antwort.

»Morgen wird das Urteil über Sie gesprochen.«

»Ich weiß es, und das eben will ich abwarten.«

»Hoffen Sie nicht etwa auf eine Freisprechung.«

»O nein, die gegen mich im Gerichtssaal herrschende Stimmung habe ich nun schon zu gut erkannt.«

»Auf mindestens zwanzig Jahre Zuchthaus können Sie sich gefaßt machen.«

»Dieses Urteil will ich erst vernehmen, als Beweis der größten Ungerechtigkeit.«

Jetzt mußte der andere endlich noch etwas anderes herausgehört haben.

»Und dann?

»Dann ist es immer noch Zeit, aus eigener Kraft den Weg zur Freiheit zu gewinnen. Denn in die Tretmühle lasse ich mich unschuldig nicht bringen. Nur mein Urteil will ich und soll alle Welt erst hören.«

Unterdessen hatten sich Nobodys Augen etwas an die Finsternis gewöhnt, und er sah die dunkle Gestalt, wie sie wie beschwörend beide Arme gegen ihn ausstreckte, und ebenso klang die Stimme:

»Sir, ich beschwöre Sie, lassen Sie es nicht zum Aeußersten kommen!!«

»Und was ist dieses Aeußerste?«

»Revolution! Oder doch Aufruhr! Oder doch blutige Zusammenstöße zwischen Volk und Militär! Denn das Volk fordert Ihre Freiheit und droht schon mit Gewalt. Nachdem alle Bürgschaften für Sie abgewiesen worden waren ...«

»Was für Bürgschaften?«

»Sprechen Sie doch nicht! Millionen über Millionen sind als Bürgschaft für Sie angeboten worden ...«

»Von wem?«

»Wer kann alle diese Namen aufzählen! Aus aller Welt liefen ja solche Angebote in Masse ein, besonders auch aus Amerika; die angesehensten Persönlichkeiten, darunter Fürsten, boten sich als Geiseln an, als Sicherheit, daß Sie nicht entfliehen würden. Als nun all dies nichts nützte, um Sie wenigstens vorläufig auf freien Fuß zu setzen, da wurde unter das englische Volk in Hunderttausenden, vielleicht in Millionen von Exemplaren eine Broschüre verbreitet ...«

»Was für eine Broschüre?« mußte Nobody immer wieder unterbrechen, und gleichzeitig wurde das Licht immer strahlender, welches sich in der finsteren Zelle ihm plötzlich ins Herz ergoß — und er hatte geglaubt, er hätte keine Freunde mehr! — er hätte Verzeihung bittend auf die Knie sinken mögen.

»Eine Broschüre, welche einfach ›Nobody‹ betitelt ist, in welcher der Charakter dieses Mannes, der Ihre, klargelegt wird, mit kernigen Worten, nein, mit göttlichen Worten, jeder Satz ist ein wuchtiger Keulenhieb gegen die menschliche Gesellschaft oder doch gegen die, die Sie zu verurteilen wagen ...«

»Von wem ist diese Broschüre verfaßt?«

»Das ist trotz der strengsten Nachforschung nicht herauszubekommen, er nennt sich auf dem Titel Justus ...

»Und um diese Revolution zu vermeiden, deshalb bietet mir der Lordmaster von Newgate in eigener Person meine Freiheit an?«

»Sie sagen es. Ich bin es. Ja, ich setze alles aufs Spiel. Aber in einem irren Sie sich doch. Durch eigenes Prüfen bin ich zu der Ansicht gekommen, daß Sie unschuldig sind, und finden unparteiische Richter Sie dennoch schuldig, so kommt es daher, weil sie sterbliche Menschen sind. Sie aber sind ein Uebermensch. Und dann ist mein Gewissen noch durch diese Broschüre zum Erwachen gebracht worden. — Und schließlich haben Sie auch recht — und warum verurteilen Sie mich? Sie, Sir Alfred Willcox, setzten Ehre und alles aufs Spiel, was Sie sich durch jahrelanges mühevolles Ringen erworben hatten, um 1200 braven, nur irregeführten Männern das Leben zu retten. Und ich soll ruhig zusehen, wenn ich durch Ihre Befreiung blutige Straßenkämpfe vermeiden kann? Nein, da opfere ich alles, ich öffne Ihnen die Tore von Newgate ...«

Mit immer flammenderen Worten hatte der Lord gesprochen, jetzt nahm seine Stimme wieder einen beschwörenden Ton an, und er sprach die Beschwörung auch aus, als er fortfuhr:

»Nochmals, Sir Willcox, ich beschwöre Sie: machen Sie Gebrauch von diesem Angebot, Ihre Freiheit auch auf unrechtmäßige Weise zu erlangen!!«

»Nein,« erklang es fast schroff zurück, »erst will ich mein Urteil hören.«

»Wenn Sie wüßten, wie weit die Gährung schon fortgeschritten ist, Sie würden nicht so sprechen. Und in dem Augenblick, da bekannt wird, daß Sie in Freiheit sind, wird sich diese Gährung legen.«

»Nein, ich will nicht befreit sein!! Mein Recht will ich haben, nichts anderes!«

»So wollen Sie sich von Dieben und Mördern befreien lassen?«

»Was?« stutzte jetzt Nobody. »Was sagten Sie da?«

»So ist es! Hören Sie mich an. Erst eine Woche ist es her, da wurden in einer Nacht überall rote Plakate angeschlagen, die Justizbehörde erhielt Drohbriefe mit demselben Inhalt, unterzeichnet von bekannten Verbrechern, deren Namen Sie recht wohl kennen ...«

»Und der Inhalt der Plakate und Drohbriefe?« unterbrach Nobody ungeduldig.

»Wenn Sie innerhalb dreier Tage nicht freigesprochen und freigelassen wären, würden die Unterzeichneten Sie mit Gewalt befreien und dann das ganze Newgate nebst dem Justizgebäude in die Luft sprengen!«

»Was für — Unterzeichnete Namen — waren das?« brachte Nobody vor Spannung etwas atemlos hervor.

»Sie kennen sie gut genug — es waren ihre Spitz- oder Verbrechernamen — der blutige Bill, der schwere Noll, Jack, der Leichenräuber, die beiden Zwillinge, der Pferdejim …«

Da brach Nobody in ein geräuschloses, aber herzliches Gelächter aus.

»Mylord, da sind Sie wohl in großem Irrtum. Können Sie wirklich glauben, daß diese notorischen Verbrecher, deren Bekämpfung und Vernichtung von jeher meine Lebensaufgabe war, mich befreien werden?!«

»O, Sir Willcox, so sehr Sie auch Menschenkenner sein mögen, in einer Beziehung kennen Sie die Menschen doch noch gar nicht! Es war allerdings die größte Freude dieser verbrecherischen Gesellen, ihren Todfeind eines Verbrechens angeklagt zu sehen, jetzt wäre es aber auch ihr größter Stolz, ihn durch List oder Gewalt seinen Richtern zu entrücken, allerdings vielleicht in der Hoffnung, ihn dann als ihren Spießgesellen zu benutzen. Und ich sage Ihnen, Sir Willcox, diese Bande beließ es nicht allein bei ihrer Drohung, nur durch einen Zufall entdeckte man noch rechtzeitig, daß dieses Gebäude schon unterminiert war, aber noch ganz frisch, schon war Dynamit gelegt worden, die Zündschnur konnte eben noch ausgedrückt werden, leider gelang es nicht, einen der Buben dabei zu fassen ...

Der Lord sprach noch weiter, doch Nobody hörte nichts mehr. Es kam über den eisernen Mann plötzlich wie eine Erstarrung, alles im Kopfe begann sich zu drehen.

Er, der Detektiv Nobody, sollte von Verbrechern befreit werden! Sie, seine Todfeinde, erklärten sich solidarisch mit ihm!

Wer kann es fassen? Es ist ein Geheimnis der menschlichen Seele damit verbunden. Der Mensch kann in Lagen kommen, in so furchtbare, daß es für sie keine Worte gibt. Sokrates befand sich in solch einer Lage, als er den Giftbecher trank — er mußte ihn trinken, freiwillig, es blieb ihm gar nichts anderes übrig —— aber weshalb, das kann kein Lehrer dem Schüler klarmachen, vorausgesetzt, daß der Gymnasiallehrer dieses Warum überhaupt selbst begreift.

Und dann konnte Nobody wieder hören, was jener sprach.

» ... und auch Ihre eigenen Freunde sind schon für Sie ins Unglück gegangen,« hatte der Lord soeben gesagt.

»Was?« schrak Nobody da auf. »Freunde sind schon für mich ins Unglück gegangen?«

»Ist der sogenannte Kapitän Flederwisch nicht einer Ihrer besten Freunde?«

»Kapitän Flederwisch? Was ist mit dem?!« stieß Nobody immer atemloser hervor.

»Nun, kurz nach jenem Dynamitanschlage wurde Ihre gewaltsame Befreiung auf andere Weise versucht, es war ein förmlicher Ueberfall, den eine Bande maskierter Männer auf dieses Gebäude bei Nacht machte, und trotz der doppelten Bewachung, die Newgate seither bekommen hatte, wäre es den Männern bald gelungen, alle Posten zu überwältigen, sich des ganzen Hauses zu bemächtigen, nur durch das zufällige Anrücken einer starken Patrouille wurden sie noch im letzten Augenblick zurückgeschlagen, nur drei wurden gefangen, alle anderen entkamen, aber sie waren unklug genug, eine direkte Flucht nach dem Orte einzuschlagen, wo sie sich in Sicherheit zu bringen hofften, und das war das torpedoähnliche Fahrzeug, die ›Wetterhexe‹, die gerade auf der Themse lag, nur dazu nach London gekommen, um Sie durch einen Gewaltstreich zu befreien. Die drei Festgenommenen waren der Kapitän Flederwisch und zwei Matrosen namens Jochen Puttfarken und Anok. Sie waren ihrer Tat und des Zweckes derselben sofort geständig, bedauerten nur das Mißlingen. Gegenwärtig in der zweiten Etage interniert, gleich unter Ihnen, erwartet sie eine schwere Strafe. Härter aber vielleicht ist noch das Schicksal, welches Kapitän Flederwisch dadurch über die ganze von ihm gegründete Kolonie heraufbeschworen hat. Er ist doch bekanntlich Besitzer der unter englischem Protektorat stehenden Schwefelinseln, im chinesischen Meere gelegen, woher er allein seine kolossalen Einkünfte bezieht. Damit ist es jetzt natürlich vorbei. Dort darf er sich nicht wieder blicken lassen, dieser sein Privatbesitz ist auf telegraphischem Wege bereits kassiert. Dann handelt es sich noch um die ›Wetterhexe‹ selbst. Es war sofort ein auf der Themse liegendes Kriegsschiff hinter ihr her, doch das Torpedofahrzeug war schneller. Außerdem wurde es ausgezeichnet gesteuert, und zwar will man auf der Kommandobrücke ein Weib gesehen haben, welches jedenfalls Kapitän Flederwischs Gattin gewesen ist, die ja eine russische Prinzessin sein soll. Diese, wie die ganze Besatzung, ist durch die geglückte Flucht der ›Wetterhexe‹ noch längst nicht in Sicherheit. Einen englischen Hafen darf sie natürlich nicht anlaufen, jedes englische Kriegsschiff, das die ›Wetterhexe‹ auf offener See erblickt, wird sofort Jagd auf sie machen, die Matrosen werden als Seeräuber behandelt ...«

Der Lordmaster war noch nicht fertig mit seiner langatmigen Rede. Doch Nobody hörte ihn schon längst nicht mehr. Nur ein einziger Gedanke war durch alles dies in seiner Seele ausgelöst worden, und diesmal war es nicht nur bei der Bewegung dazu geblieben, sondern diesmal war er wirklich auf die Knie niedergesunken und hatte anbetend die Hände erhoben.

»Und ich habe zu glauben gewagt, ich hätte keine Freunde mehr!!« erklang es schluchzend mit unterdrücktem Jubel in dem finsteren Raume, und es war ein Dankgebet.

»Und nun zum letzten Male hören Sie auf meine Warnung,« hörte er dann wieder sprechen. »Ich sprach vorhin von zwanzig Jahren Zuchthaus. Aber darin kann ich mich auch vollkommen täuschen. Es kann Sie auch dasselbe Schicksal wie das des unglücklichen Leutnants Sir Walter Bekham treffen.«

Schon war Nobody wieder auf seinen Füßen, mit klardenkendem Kopfe.

Endlich! Endlich nämlich sollte er etwas über den jungen Leutnant erfahren, über dessen Schicksal man ihn trotz all seines Drängens in Unkenntnis gelassen hatte; in diesem Falle hatte Nobody sogar flehen und bitten können, war er sich doch stark bewußt, daß er allein das Verhängnis dieses jungen, pflichtgetreuen Leutnants gewesen war, der sich sonst doch nimmermehr den Meuterern angeschlossen hätte, auch nicht nur zum Scheine. Hier war Nobody ganz einfach der Verführer gewesen, wenn auch kein böser, nicht einmal ein leichtsinniger.

»Was ist mit Sir Bekham?«

»Das Urteil ist gestern über ihn gefällt worden.«

»Wie lautete es?«

»Wegen des schlimmsten Hochverrats verurteilt zum Tode.«

Eine Pause trat ein. Man hörte nichts anderes als nur ein schweres Atmen.

»Mein Gott — mein Gott,« erklang es dann ächzend, »Sir Walter Bekham — zum Tode verurteilt — zum ehrlosen Tode durch den Strang!«

»Nicht durch den Strang. Sir Walter Bekham gehört einem der ältesten Adelsgeschlechter Englands an, und er ist Offizier; das Militärgericht urteilte ihn ab — er wird nach altenglischer Sitte seine Tat auf dem Schafott büßen — auf dem Bluthof des Towers, wo schon so mancher edle Sohn Englands sein Haupt auf den Block gelegt hat — schuldig, wie nur leider auch zu oft unschuldig.«

»Aber das Urteil ist noch nicht bestätigt!« stieß Nobody in furchtbarster Erregung hervor.

»Es ist bereits bestätigt.«

»Und die Hinrichtung ...«

» ... findet heute Mitternacht statt!«

Totenstille herrschte in dem finsteren Raume, und zu der Totenstille paßte das Glöckchen, welches jetzt zu schlagen begann, der einzige Ton, der regelmäßig aller Stunden von der Außenwelt an Nobodys Ohr gedrungen war, es hatte ihm stets gar lieblich geklungen, jetzt war es das Sterbeglöckchen, elfmal schlug es, Nobody zählte mit, und beim elften Schlage hatte sich sein eben noch bebendes Herz in einen starren Eisklumpen verwandelt, und ebenso kühl dachte jetzt sein Kopf.

Sein Entschluß stand fest. Aber Vorsicht, Vorsicht!! Der Lordmaster os Newgate wollte ihn nur befreien, um einer Empörung des Volkes zu begegnen, nichts weiter. Vielleicht handelte er auch im Einverständnis mit anderen, vielleicht sogar im Einverständnis mit Nobodys Richtern.

Und Nobody stellte seinem Retter — den er allerdings gar nicht gebraucht hätte — eine Falle, oder er wußte doch seine Absicht zu verhüllen, und daher war es auch Verstellung, wenn er sich jetzt wieder so erregt zeigte, während alles an und in ihm eisern geworden war.

»Mein Gott,« stieß er also in künstlicher Erregung hervor, »Sir Bekham zum Tode verurteilt — ohne Hoffnung auf Begnadigung — so könnte dies auch mein Los werden?!«

»Sehr, sehr leicht möglich.«

»Dann allerdings,« stieß Nobody immer heftiger hervor, »sterben will ich noch nicht — dann ist es zu spät, sich zu verteidigen — Mylord, dann nehme ich Ihre rettende Hand an — können Sie mich auch wirklich in Sicherheit …«

»Der Weg ist frei, alles ist vorbereitet, hier ist das Gewand eines Geistlichen, welches Sie …«

Ein donnernder Krach, daß die ungeheuer starken Mauern erbebten und die Tür aufsprang, gleich darauf ein näherkommendes Stimmengewirr, einige Schüsse ...

»Ich habe die Schlüssel!!« gellte eine Stimme.

»Nach Zelle 140 — im dritten Stock!!«

Das war Nobodys Zelle.

Noch standen die beiden wie angewurzelt, wie abwartend, ob sie unter den Trümmern zusammenstürzender Mauern begraben werden würden oder nicht.

»Sie haben sich durch eine Explosion doch noch Zugang verschafft, um Sie mit Gewalt zu befreien!« schrie da der Lordmaster entsetzt.

Da kam auch in Nobody wieder Leben, er hatte das faltige Gewand schon in der Hand, er brauchte es nicht, ließ es fallen und stürzte an dem Lordmaster vorbei zur Tür hinaus.

Der Korridor war durch Gas erleuchtet, und da kam ein halbes Dutzend Männer entlanggestürmt, wilde Gestalten, die Gesichter mit Ruß geschwärzt, nur bei einigen nicht, und nur den einen, der einen ausgeprägten Seemannsanzug trug, erkannte Nobody sofort ...

»Flederwisch!!« jauchzte er auf, und es war keine Unvorsichtigkeit von ihm, jetzt einen Namen zu nennen, hier brauchte nichts mehr verheimlicht zu werden.

»Alfred — Nobody — er ist es — wir haben ihn, wir haben ihn!!« erklang es jauchzend im Chor.

Nobody hatte eine Bewegung gemacht, als wollte er sich an des Freundes Brust werfen, er tat es nicht, jetzt war keine Zeit dazu.

Da fiel dicht neben Nobody ein Pistolenschuß: einer der berußten Gesellen hatte ihn abgefeuert, und fast gleichzeitig erlosch das Gaslicht: die undurchdringlichste Finsternis herrschte auf diesem Korridor und wohl im ganzen Gebäude.

Nobody brauchte hierfür keine Erklärung, er wußte, um was es sich handelte. Nobody kannte ja alle Tricks dieser Gesellen, die sich manchmal mit Vorliebe ihr Gesicht mit Ruß beschmieren, und plötzlich ging etwas in ihm vor sich, ein wilder Jubel bemächtigte sich seiner.

»Recht so, recht so!!« jauchzte er auf. »Hand in Hand!! Ich führe euch!! Wer losläßt und zurückbleibt, ist verloren!!«

Sie faßten sich Hand in Hand, und die menschliche Schlange, deren Kopf Nobody bildete, bewegte sich durch den stockfinsteren Korridor.

Mehr kann über diesen Fluchtweg kaum gesagt werden. Finster, alles stockfinster! Es ging Treppen hinab, wieder durch Korridore, in denen sich auch ein starker Gasgeruch bemerkbar machte, sie rannten gegen Wände und Ecken und mit dem Kopfe gegen Decken, sie stolperten und stürzten, aber mit unwiderstehlicher Kraft zog der Kopf den Leib der polternden Schlange nach.

Kein Schuß fiel mehr, und menschliches Stimmengewirr war nur noch hinter ihnen.

»Stiefel aus!« erscholl einmal leise das Kommando Nobodys.

Sie ließen einmal die Hände los, fanden sich wieder, und dann ging es auf lautlosen Sohlen weiter.

Da noch einmal ein Knall, dem ein Lustdruck folgte.

»Das war eine Gasexplosion — nevermind!«

Weiter ging es, besonders auch immer tiefer, Treppen hinab, und immer enger wurden diese, immer mehr mußten die menschlichen Glieder der Schlange sich bücken.

Da vor ihnen ein aufflammendes Lichtchen, eine menschliche Gestalt, ein entgeistertes Gesicht.

»Alle guten Geister, was ist …?«

Ein Faustschlag, und der Mann war stumm.

Und immer weiter und immer noch tiefer ging es hinab, und dann rauschte leise Wasser, ein übler Geruch machte sich bemerkbar, und da kam der Kopf und mit ihm die ganze Schlange zum Stillstand.

»Wir sind in Sicherheit,« ließ sich Nobodys Stimme vernehmen, und sie klang ganz heiser. »Wer uns von Newgate aus hierher folgen kann, oder wer uns hier findet, oder wer uns hier auch nur vermutet, der soll fernerhin mein Meister sein, dem ich gehorchen will, als Detektiv oder ... als Spitzbube. — Hat jemand Licht von euch?«

»Ich.«

Ein Streichholz flammte auf, dann eine Blendlaterne. Sie beleuchtete eine gemauerte Wölbung, die endlos lang hinlief, an beiden Seiten gemauerte und erhöhte Ufer, zwischen denen ein trübes, übelriechendes Wasser floß, breit genug, um ein ansehnliches Fahrzeug zu tragen.

»Ein Abfuhrkanal!« sagte ein berußtes Gesicht erstaunt.

»Bei Gottes Tod, wie kommen wir denn hierherein?!« setzte ein anderer schwarzer Mund noch erstaunter hinzu.

Ja, Nobody hatte ein Beispiel geliefert, daß er das labyrinthartige Gebäude der alten Zwingburg von Newgate so gut kannte wie — wie — ›wie seine Hosentasche‹. Es ist dies ein vulgärer Ausdruck, der gar nicht so viel sagen will. Schon mancher hat in seiner Hosentasche eine vergessene Geldmünze gefunden, vielleicht zu seiner größten Freude, und schon mancher hat im ganzen Hause einen Schlüssel gesucht, bis er ihn endlich in der eigenen Hosentasche fand.

Nobody aber mußte die Baulichkeiten wohl noch besser kennen als seine Hosentasche, besser als jeder andere Mensch, wenn er auch die alten und neueren Baupläne aufs eingehendste studiert hatte. Das hatte seine vorige Aeußerung gesagt: hierher könne ihnen niemand folgen, sie auch nur hier vermuten. Demnach konnte also auch keinem anderen überhaupt nur bekannt sein, daß es von Newgate aus einen Zugang in die unterirdischen Latrinenkanäle Londons gebe.

Denn ein Latrinenkanal war es, in dem sie sich befanden. Oder nennen wir ihn ästhetischer Abfuhrkanal. Wie jede Großstadt ist natürlich auch London unterirdisch mit solchen Kanälen durchzogen, und bei einer Stadt, die heute sieben Millionen Einwohner zählt, damals fast schon fünf Millionen, sieht dieses Netzwerk natürlich noch etwas anders aus, wobei die unästhetische Bemerkung noch erlaubt sein mag — für den ›Wissensdurstigen‹ wohl aber auch ganz interessant — daß in London schon seit vielen, vielen Jahren laut polizeilicher Vorschrift überhaupt kein einziges Haus, auch nicht die älteste Hütte, ohne Wasserklosett sein darf. Das Gegenteil davon als Großstadt ist Paris, wo in dieser sanitären Hinsicht schreckliche Zustände herrschen.

Hinwiederum ist London die einzige Großstadt, welche das Abfuhrwasser nicht auf Rieselfelder leitet, sondern es unbenutzt ins Meer oder zuerst in die Themse laufen läßt. Eigentlich sieht das dem sonst so praktischen Engländer gar nicht ähnlich. Aber einen besonderen Grund hat das doch. Das kann sich der reiche Engländer nicht nur leisten, sondern das hat für den sportliebenden Engländer auch einen direkten Vorteil. Daher nämlich der kolossale Fischreichtum der Themse, deshalb auch gehen die Seefische, besonders die Aale, zur Laichzeit die Themse hinauf, wegen dieses Latrinenwassers, in solchen Mengen, daß sich der, der diese Fischzüge und die Ausbeute der Netzfischer und Angler noch nicht gesehen hat, gar keinen Begriff davon machen kann. Man schöpft die fetten Aale mit Eimern heraus, die Hechte werden mit Gabeln gespießt.

Der geneigte Leser wird sich noch an ›Jack den Aufschlitzer‹ erinnern, auf den professionellen Mädchenmörder, den die Polizei niemals gefaßt hat. In den Zeitungen, d. h. in den deutschen, wurde damals oft die Vermutung ausgesprochen, daß der Mörder, der kurz nach dem Vollbringen seiner schauderhaften Tat stets wie durch Zauberei vom Boden verschwunden war, jedenfalls genau dieses unterirdische Latrinennetz Londons kenne und in dieses durch einen Schleusendeckel seinen Rückzug antrete.

Glaubt man wirklich, so schlau wäre nicht auch die englische Polizei gewesen, daß sie dann ihr Augenmerk nicht auch auf dieses unterirdische Kanalnetz gerichtet hätte? Die englischen Zeitungen sprachen solche Vermutungen gar nicht aus.

Nein, das geht nicht! Ganz undenkbar! Daß diese unterirdischen Kanäle ein Paradies für lichtscheues Gesindel oder gar ideale Schleichwege für Verbrecher werden können, dafür ist von allem Anfang Sorge getragen worden.

Das ganze Kanalsystem hat nur einen einzigen Ein- und Ausgang, bei Warwich, wo das Wasser eben in eine große Bucht der Themse fließt, diese Mündung wird bewacht, hier ist überhaupt eine großartige Anlage, wo das übelriechende Wasser ›entübelt‹ wird, so daß es durchaus nicht etwa die Themse verpestet. Nur von hier aus können Boote wie Fußgänger eindringen, tun es auch ständig, es gibt ja immer viele Reparaturen, das ganze unterirdische System steht überhaupt unter einer strengen Kontrolle, und wenn da etwa jemand von einem Hause aus durchbrechen wollte, das würde noch an demselben Tage bemerkt werden, ganz abgesehen davon, daß das nicht etwa so leicht ist, da kommen Verhältnisse in Betracht, die hier nicht erörtert werden können, technische, und dann ist es auch ganz ausgeschlossen, daß etwa die nach der Straße zu führenden Schleusen, oben durch die bekannten Schleusendeckel erkenntlich, als Durchschlupf benutzt werden können. Dazu sind sie schon viel zu eng.

Aber Nobody schien doch etwas mehr zu wissen, als die schwarzberußten Gesichter, die ganz außer sich waren, als sie sich plötzlich in solch einem Latrinenkanale sahen. Ja, für die wäre das allerdings etwas gewesen!

Nun, Nobody war nicht umsonst schon seit einigen Jahren Champion-Dektektiv, d. h. der erste Kriminalbeamte Englands, in dessen Hand selbst der Polizeidirektor von London ein gehorsames Werkzeug war — und wir kennen Nobodys Vorliebe für alles Unterirdische und alles andere, was sonst nur irgendeine Aehnlichkeit mit einem Tunnel oder einem Loche hat, schon zur Genüge — und Nobody hatte seine Zeit ausgenützt, hatte gearbeitet — hier nur nicht als Felsenmaulwurf, wie er sich selbst gern nannte, sondern eher als ... Kanalratte.

Nach dieser Einschaltung nehmen wir unsere Erzählung wieder auf.

»Ein Abfuhrkanal!!« hatte einer der schwarzberußten Gesellen erstaunt gerufen, als das Licht der Blendlaterne auf das trübe Wasser gefallen war, und noch ein anderer drückte sein Staunen aus.

»Abfuhr?« ließ sich da gleich noch eine dritte Stimme vernehmen. »Das ist keine Abfuhr, das ist doch pure Sch.... ja ja, nee nee.«

»Na, so ganz pur ist sie nicht,« korrigierte ein vierter, »sie ist verdünnt.«

Schnell wandte Nobody den Kopf dem ersten Sprecher zu, dann dem zweiten, er sah Matrosenanzüge, bei dem letzteren ein paar krumme Beine, so mächtig geschweift, wie sie, wie man zu sagen pflegt, polizeilich eigentlich verboten sein sollten, und er stieß einen unterdrückten Jubelruf aus.

»Nun ist es gut, nun ist alles, alles gut!«

Es war hier unten das erste- und das letztemal, daß er sich um seine Begleiter gekümmert hatte. Flederwisch hatte er schon vorhin gesehen, jetzt erkannte er Jochen und Anok — alles andere war ihm ganz gleichgültig, nur noch ein einziger Gedanke erfüllte sein fieberhaft arbeitendes Hirn: um Mitternacht besteigt er das Schafott!!

»Licht aus! Hand in Hand! Weiter! Wer vom Ufer stürzt, ersäuft! Keinen Aufenthalt!«

Als der Schwarzberußte ihm die Laterne nicht schnell genug ausblies, schlug Nobody sie ihm aus der Hand, als solle kein menschliches Auge dieses Reich der Ratten länger denn einen Moment zu schauen bekommen, aber die Laterne konnte nicht zu Boden gefallen fein, es hatte nicht geklirrt, jedenfalls hatte Nobody sie sich angeeignet.

Die Menschen, die Nobody wohl noch gar nicht überzählt hatte, bildeten wiederum eine Schlange und wurden von dem Kopfe fortgerissen, der entweder hier unten sehen konnte oder überhaupt gar keine Augen brauchte.

Der Uferweg war wohl breit genug, aber oft ging es um scharfe Ecken, einmal plätscherte es, ein

Angstschrei — Nobody hielt wirklich nicht an, doch die anderen hielten fest, der ins Wasser Gestürzte wurde als festes Glied des ganzen Leibes wieder herausgerissen.

Wie lange es so fortging, kann nicht einmal geschätzt werden.

»Alfred, hast du denn vorhin eine Tür geöffnet?« fragte Flederwisch einmal.

»Still, still, oder Gottes Tod über dich!!« wurde er angeherrscht, und immer heiserer wurde Nobodys Stimme. »Hier gibt es keine Türen, was wißt ihr Narren denn davon! Einsteigen!«

Sie wurden gezogen, sie bekamen einen schwankenden Holzboden unter die Füße — ein Fahrzeug.

Es bewegte sich, nur Nobody konnte ein Ruder führen.

»Wer hat Waffen?« erklang dann wieder seine heisere Stimme.

»Hier — hier — ein Revolver — hier Patronen.«

So erklang es durcheinander, eine unsichtbare Hand nahm das Dargereichte ab.

»Sind die Revolver in Ordnung?«

»Tadellos. Mit meinem habe ich erst gestern einen Konstabler angeschossen.«

»Und die Patronen?«

»Wir beziehen nur von Hudson & Kompanie en gros,« lautete die selbstbewußte Antwort.

»Flederwisch — Anok — Jochen — hier, nehmt — haltet die Patronen trocken, wir können sie vielleicht noch brauchen. Und nun noch Streichhölzer!«

Er erhielt sie von unsichtbarer Hand.

»Ja,« fing Flederwischs Stimme an, »wie sind wir denn eigentlich befreit . . . .«

»Still, sage ich dir!!« wurde er wieder von der kaum noch vernehmbaren Stimme angeherrscht. »Ich will nichts darüber wissen, ich will nicht eher, als bis ich ...«

Das andere verlor sich in einem unverständlichen Röcheln.

Wenn schon das halbe Dutzend fremder Männer, oder wieviel es nun sein mochten, die Nobody, obgleich ihr Todfeind, doch mehr dem Hörensagen nach als persönlich kannten, von einem Grausen erfaßt wurden, nur wegen dieser röchelnden Stimme, so noch mehr seine Freunde, die ihn so gut kannten. Was mußte der eiserne Mann während der Untersuchungshaft durchgemacht haben, daß er plötzlich gar nicht mehr zu erkennen war, weder an seiner Stimme noch in seinem sonstigen Benehmen.

Den eigentlichen Grund zu dieser überstürzenden Hast und furchtbaren Aufregung konnten sie ja nicht ahnen.

Plötzlich begann es in dem stockfinsteren Raume zu dämmern.

»Wir sind am Ziele,« sagte Nobody. »Flederwisch, Anok, Jochen, aussteigen! Hier auf den Uferrand! Und ihr anderen fahrt weiter! Hier sind noch drei andere Ruder. Ihr drängt euch durch das Gebüsch, welches dort vorn den Eingang verschließt, dann seid ihr auf der Themse. Zurechtfinden werdet ihr Banditen euch wohl sofort. Bringt euch allein in Sicherheit. Mit dem Boote macht, was ihr wollt. Marsch, vorwärts!«

Auch Nobody war wie seine drei Freunde schon ausgestiegen. Den anderen mußte dieser schnelle Abschied natürlich höchst überraschend Vorkommen.

»Aber — aber — Mister Nobody,« begann der eine stockend, »wir haben Euch doch ...«

»Marsch, fort, oder der Tod über euch, und ich spaße nicht!!« wurde er aufs grimmigste unterbrochen.

» … erst befreit, und nun ...«

Etwas lenkte Nobody doch ein.

»Ja, ihr seid wackere Burschen, und ich denke, wir werden noch nähere Bekanntschaft machen und gute Freundschaft zusammen halten.«

Wie es geklungen hatte! Wie eine Stimme aus dem Grabe. Die Banditen hatten nur eines herausgehört.

»Wenn ihr uns jetzt durchaus los sein wollt — ihr findet uns immer in unserem Schlupfwinkel, und der ist in ...«

»Vorwärts, vorwärts!« drängte Nobody wieder in seiner alten Weise; das Boot bekam einen Stoß, es schoß dorthin, wo etwas wie eine hellere Oeffnung schimmerte, war aber alsbald für die Augen der Zurückbleibenden verschwunden. Nur noch Zweige hörte man knacken.

Nobody blieb noch stehen.

»Die werden sich wundern,« hörten seine Begleiter ihn murmeln, »wo sie herauskommen, und es ist unmöglich, daß sie dieses Bassin wiederfinden, und gelänge es ihnen doch, so fänden sie eben nichts anderes als ein Fischbassin.«

In diesem Augenblicke donnerten die Kirchtürme Londons nacheinander zwei Schläge.

Eine Bewegung verriet, daß Nobody hastig zusammengefahren war.

»Halb zwölf! Um Mitternacht besteigt er das Schafott.«

»Wer?« fuhr Flederwisch auf.

»Leutnant Sir Walter Bekham.«

»Alle Wetter!!«

»Er wird geköpft, nicht gehangen — das ist das einzige, was ich ihm eingebracht habe.«

»Heute um Mitternacht?«

»Heute.«

Jochen Puttfarken war es gewesen, der diese Zeitfrage gestellt hatte.

»Na,« fuhr er im gemütlichsten Tone fort, »wenn er erst um zwölfe geköpft wird, da hat er ja noch eine halbe Stunde Zeit, es hat gerade halb gehauen.«

»Ja ja, nee nee,« mußte Anok die weise Bemerkung seines Kameraden bestätigen.

Nobody aber war durch diese Bemerkung aus seinem Brüten emporgerissen worden.

»Und in dieser halben Stunde müssen wir im Tower sein. Vorwärts, vorwärts, nach dem Tower!!«

Es ging wieder zurück, doch jetzt im Scheine der Blendlaterne, welche nichts weiter beleuchtete als das gemauerte Gewölbe und das trübe Wasser und ab und zu eine schnell verschwindende Ratte.

Hierbei, wenn unsere drei Freunde einmal vom Licht beschienen werden, sei noch bemerkt, daß Nobody als Untersuchungsgefangener nicht etwa einen Sträflingsanzug getragen hatte, sondern seinen eigenen, einen dunklen, und dasselbe galt von den drei anderen.

Flederwisch hätte schwören können, daß sie vorhin einmal, kurz ehe sie das Boot bestiegen, eine enge Tür passiert hatten, die von Nobody erst geöffnet worden war, doch hiervon war jetzt nichts zu bemerken. Sie waren schon wieder ein gutes Stück in das unterirdische Kanalnetz eingedrungen, und stetig in gleicher Höhe und Breite zog sich das Gewölbe hin.

»Nun sage aber einmal, Alfred,« begann Flederwisch unterwegs, »hattest du dich eigentlich mit den Banditen schon ...«

Er wurde dadurch unterbrochen, daß Nobody stehen blieb und ihn anblickte, und diese furchtbar ernsten Augen waren es, die ihm gleich das Wort in der Kehle stecken bleiben ließen.

»Ich bitte dich, Paul, sprich jetzt nicht mit mir,« sagte Nobody leise, und diesmal war seine Stimme fast flehend gewesen.

Nur noch ein kurzes Stück weiter, dann blieb er abermals stehen und begann unten an der Mauer einige Steine herauszuheben, die niemand für so lose eingefügt gehalten hätte.

Eine runde Oeffnung von nicht ganz einem Meter oder genau achtzig Zentimeter Durchmesser war bloßgelegt, der Anfang einer Röhre mit glatten Wänden, jedenfalls aus Gußeisen.

»Weißt du, Flederwisch, was das ist?«

Von seiner Schnelligkeit ließ Nobody nicht ab, aber es war keine Hast mehr dabei, und jetzt mit einem Male war seine Stimme sogar sanft geworden.

Flederwisch verneinte, mit sehr bedenklichen Augen in die finstere Röhre blickend, in der er allem Anschein nach seine mächtigen Schultern hineinzwängen sollte, vielleicht gar zu einem längeren ›Spaziergange‹.

»Das ist noch eine Röhre von der seinerzeit verunglückten Londoner Rohrpost. Ganz London ist noch damit durchquert, sechzehn Meter unter der Erde. Man hat die Röhren nicht wieder herausgeholt, es hätte sich nicht gelohnt.«

»So, hm. Und da wollen wir wohl....«

»Ja, diese Röhre müssen wir benutzen, sie ist kaum einen Kilometer lang, dann sind wir aber auch direkt am Ziele, im Tower. Doch ich kann nicht den Führer spielen, der auch nicht nötig ist, ich muß den Eingang wieder hinter mir zumachen und deshalb rückwärts kriechen. Jochen, Anok, wer von euch beiden braven Jungen will voranmarschieren? Es ist durchaus keine Gefahr vorhanden.«

»Keine Gefahr dabei?« meinte Jochen verächtlich. »Dann mag Anok auf dem Bauche voranmarschieren, aber die Beine recht stramm in die Höhe werfen.«

»Ja ja, nee nee,« sagte Anok und war schon auf Händen und Knien in dem Rohre verschwunden.

Dann folgte Jochen, dann Flederwisch, und letzterer konnte sich nicht einmal auf Händen und Knien aufrecht halten, mußte die Beine noch etwas ausstrecken und sich so fortschieben, wollte er nicht stecken bleiben.

Den Schluß bildete Nobody, der rückwärts einkroch, die anderen noch etwas warten hieß und erst die Steine wieder einsetzte.

»Nun vorwärts, so schnell wie möglich und dennoch mit Ruhe. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch dabei getrost unterhalten.«

Das ließen sich besonders die beiden Matrosen nicht zum zweiten Male heißen.

»Bist du schon einmal in Tower gewesen, Anok?« fing Jochen Puttfarken an. dem dieses Kriechen bei seinen Türkenbeinen am allerleichtesten fiel, vielleicht sogar Vergnügen machte.

»Im Tower? Ja ja, nee nee, aber damals bin ich von oben herum hineingegangen, von hier unten noch nicht.«

»Ich auch, aber von hier unten ist der Zugang viel besser. Von oben her kostet der Eintritt Sixpence, hier unten durch die Röhre kostet er nischt.«

»Warst du auch in der Schreckenkammer? Und wo die Maria Stuart gefangen gesessen getan hat?«

»Ich? Nee. Ich habe vom Tower überhaupt nichts weiter zu sehen bekommen als die Kneipe, da bin ich sitzen geblieben. Aber großartig ist der Tower doch, alles was recht ist.«

»Jochen Jochen Jochen Jochen!!!«

»Na, was denn?«

»Hier ist eine Ratte, ja ja, nee nee!!«

»Fang sie!«

»Ich habe sie gehascht, ja ja, nee nee!!«

»Beiß ihr den Kopf ab, mien Jung.«

»Jochen Jochen Jochen Jochen!!!«

»Na, was denn?«

»Hier ist schon wieder eine Ratte!!«

»Schlag sie tot, mien Jung.«

»Jochen Jochen Jochen!!!«

»Na, was denn?«

»Hier ist ein ganzes Rattennest, alles wimmelt drin, ja ja, nee nee!! Hörst du sie quietschen?«

Jetzt begann Jochen zur Abwechslung mit seinem Elefantenrüssel, den er dicht an Anoks Hinterteil hatte, laut an zu schnaufen.

»Was hast du denn, Jochen?« fragte Flederwisch, dem dieses Schnaufen ebenfalls auffiel.

»Herr Hauptmann, mein Vordermann riecht so aus dem Halse.«

Bei solch geistreicher Unterhaltung verging die Zeit in der engen Röhre schnell genug, und dann machte sich wieder Anok bemerkbar.

»Hier ist die Röhre alle, ich kann mit der Hand in das Wasser titschen, ja ja, nee nee.«

»Dann sind wir am Ziele,« ließ sich Nobodys Stimme zum zweiten Male vernehmen. »Wir müssen ins Wasser hinab, es ist reines Brunnenwasser und reicht nur bis zur Brust. Vorwärts!!«

 

 — — —

 

Der Tower! Die englische Bastille, an der Themse gelegen, ein Wirrsal von Gebäuden und Türmen, von einer Mauer umgeben, welche 2400 Meter im Umfang hat!

Wenn diese alten Mauern erzählen könnten!

Schon der Katalog, den man als Führer erhält, weiß auf historischer Grundlage von achtzehn Personen zu berichten, die hier auf unnatürliche Weise geendet haben — darunter auch die Söhne König Eduards, die im sogenannten blutigen Turm teils in ihren Betten erstickt, teils in einem Weinfaß ertränkt wurden — und da sind also noch nicht die dabei, die hier gesetzlicherweise auf dem Schafott hingerichtet worden sind. Und was sonst noch alles hinter diesen düsteren Mauern passiert sein mag, wer da noch alles geschmachtet und auf irgendeine Weise spurlos verschwunden sein mag, das entzieht sich eben der Historie. Jede Renovierung, Ausschachtung, Niederlegung einer Mauer, die im Tower vorgenommen wird, bringt neue geheime Gewölbe und Irrgänge und neue menschliche Gebeine ans Tageslicht, von denen man nicht weiß, wem sie angehört haben.

Eine öffentliche Hinrichtungsstätte ist der Tower nie gewesen. Nur fürstliches Blut durfte das Schafott beflecken. Der Delinquent kam durch das sogenannte Tränentor, das einzige, welches nach der Themse führt, jetzt aber zugemauert ist, mittels einer besonderen Gondel in den Tower hinein, wurde einstweilen im blutigen Turm untergebracht, bis er nach dem Schafott geführt wurde, das sich auf einem Hofe befand, der von den Mauern des blutigen und des Löwenturms gebildet wurde und noch gebildet wird, in welch letzteren wilde Tiere, besonders Löwen gehalten wurden, als Sehenswürdigkeit — vielleicht noch zu anderen Zwecken.

Und auch noch heute kann der Bluthof des Towers als Hinrichtungsstätte dienen, während sonst doch in England die Todesstrafe mittels des Galgens vollstreckt wird, was ja aber auch früher der Fall war. Nur der Hals von jenen, mit denen gekrönte Häupter an einem Tische gesessen, sollte mit keinem Stricke in Berührung kommen, — und genau so ist es noch heute.

Der englische Adel, die sogenannte Peerschaft mit ihren Unterabteilungen, bildet eine vollständig exklusive Gemeinschaft. Der englische Aristokrat kann wegen eines leichten Vergehens, Beleidigung, Prügelei und dergleichen, eine Polizeistrafe erhalten, aber er kann vor kein Geschworenengericht kommen. Ueber den Aristokraten urteilt nur der Präsident der Peerschaft, der eben dazu erwählt ist, über die Ehre des englischen Adels zu wachen, der Lord-Großhofmeister (Lord High Steward), der jedesmal ein eigenes Gericht zusammenruft, natürlich ebenfalls nur aus Peers und Lords und Baronen bestehend. Er verhängt die entehrenden Strafen, in seiner Hand liegt Tod und Leben.

Dann findet die Hinrichtung noch immer auf dem Bluthof des Towers statt. Heute ›soll‹ es der Tod durch Erschießen sein. Die kommandierten Schützen sind keine Soldaten, sondern ›sollen‹ sechs Lords oder Barone sein, in eine altertümliche Uniform gekleidet. Und das eben zeigt schon, daß man hier nur von einem ›soll‹ sprechen kann. Denn da wird kein Journalist eingeladen, da hat auch kein Staatsbeamter mehr mitzureden — der englische Adel ist eben ein exklusive Gemeinschaft, da wird alles fein säuberlich ›unter sich‹ abgemacht.

Innerhalb der letzten hundert Jahre ist nur über ein einziges Mitglied der englischen Peerschaft das Todesurteil gesprochen worden, Ende der fünfziger Jahre, ein gewisser Marquis Ferrers, der verschiedene Giftmorde auf dem Gewissen hatte. Das Urteil wurde an ihm auf dem Bluthof des Towers vollzogen, ganz im geheimen, nur durch einen Zufall erfuhr man, daß er nicht erschossen, sondern auf dem Schafott hingerichtet worden war, nicht mittels der Guillotine, nicht mit dem bei uns üblichen Beile, sondern mit einem Schwerte.

Hiermit sei der erklärenden Einleitung genug. Höchstens mag noch für einen aufmerksamen und kritischen Leser hinzugefügt werden, daß Sir Walter Bekham als Sir und Baronet zwar nicht zur englischen Peerschaft gehörte — das haben wir ihn selbst sagen hören, deshalb hatte er auch keinen Anspruch auf den Thron, während sonst jeder Baron bei dem Aussterben der jetzigen Königsfamilie zur Wahl in Betracht kommen kann, deshalb hat ein englischer Baron auch eine ganz andere Bedeutung als ein deutscher oder sonstiger, das ist auch der Grund, weshalb z. B. der deutsche Kaiser einen englischen Baron zu sich als Gast einladet, was viele so unverständlich finden. — Aber Sir Walter Bekham gehörte einer Unterabteilung der Peerschaft an, deshalb konnte nur diese über ihn urteilen. Nobody hingegen konnte als Ausländer niemals in die eigentliche Peerschaft ausgenommen werden, und wenn er der erste Herzog geworden wäre: das hätten nach den Adelsgesetzen erst seine Kindeskinder erreichen können: deshalb auch unterstand er dem bürgerlichen Gericht.

Blutrot vom Fackellicht war der Bluthof erleuchtet, mit blutroten Teppichen war das niedrige Schafott belegt, der Richtblock mit einem blutroten Tuche verhüllt, blutrot waren die Fackelträger selbst und die anderen gekleidet.

Doch wir können nur mit Augen sehen, welche keine Zeit mehr zu einer genaueren Betrachtung hatten. Es waren etwa ein Dutzend Männer, die sich in dem Hofe aufhielten, alle in altertümliche Kostüme gekleidet, an die Landsknechtzeit erinnernd, mit weiten Kniehosen und Schnallenschuhen, also alles blutrot. Nur einige waren ganz schwarz gekleidet, aber diese kamen gegen die roten Gestalten gar nicht zur Geltung, besonders auch, weil sie im Schatten der Mauer in einer Gruppe zusammenstanden.

Wie zeremoniell und geheimnisvoll es hier zuging, zeigte auch, daß sie sämtlich rote oder schwarze Masken trugen, welche das Gesicht total bedeckten. Daß man es hier aber nicht mit gewöhnlichen Fackelträgern und Henkersknechten zu tun hatte, das bewiesen die Diamantringe, welche an keiner einzigen der wohlgepflegten Hände fehlten. Von Waffen war nichts zu sehen.

Das war der erste Eindruck, den ein Beobachter bekam, und das mag und muß genügen.

Es ging schnell genug. Alles, was sonst nötig war, um der nachfolgenden Zeremonie des Schreckens vor Gott und einigen Menschen — die allgemeine Menschheit kam ja hier nicht in Betracht — die gesetzmäßige Kraft zu geben, mochte schon geschehen sein, das spielte sich jedenfalls alles dort drin in dem Turm ab.

Die Kirchen Londons huben an, nacheinander die Mitternachtsstunde zu verkünden. Jetzt kam auch die Westminsterabtei daran; mit dröhnendem Klange erscholl der erste Schlag, und in dem Augenblick, als der letzte verklungen war, öffnete sich in dem Blutturm eine kleine Tür.

Drei Männer schritten heraus. Der linke war rot gekleidet, der rechte schwarz, und des mittelsten altertümliches Kostüm war rot und schwarz gestreift.

Nur dieser trug keine Maske. Es war Sir Walter Bekham.

Man sah ihm nicht an, daß er seinen letzten Gang tat, daß nur noch sechs Schritte ihn vom Tode trennten. Er war vollkommen gefaßt, sein Gesicht zeigte sogar noch die Farben der Gesundheit.

Drei abgezirkelte Schritte, dann blieben die drei vor den drei Stufen stehen, welche zum Schafott hinaufführten.

Sir Walter Bekham, ungebunden, völlig frei, nicht gehalten, blickte zum Himmel empor, der mit blitzenden Sternen besät war.

»Ich habe nie um mein Leben gekämpft, sondern nur um meine Ehre,« erklang es laut und feierlich aus seinem Munde.

Daß dieser Ausspruch mit zu der Zeremonie gehörte, war zweifelhaft. Eine solche fand eigentlich gar nicht statt, keine Verlesung des Urteils, keine Abbitte des Scharfrichters, der übrigens noch gar nicht zu sehen war, kein Bibelkuß, gar nichts. Wie gesagt, dies alles mochte bereits im Innern des Turmes erledigt worden sein. Deshalb spielte sich auch alles so überaus schnell ab.

Nur drei Sekunden war der Delinquent so stehen geblieben, um jene Worte zu sprechen, dann setzte er in der Mitte seiner Begleiter seinen Weg fort, die Stufen hinauf, gleichzeitig erstiegen von der anderen Seite drei andere Männer das Schafott, sie trafen mit jenen in der Mitte zusammen, und da wurde auch schon ein purpurroter Mantel auseinandergefaltet und dieser dem Delinquenten, der dicht vor dem Richtblock stand, um die Schultern gelegt, wobei ausdrücklich betont werden muß, daß dies der einzige Mantel, der hier zu sehen war, sonst trug niemand einen solchen, weder einen roten noch einen schwarzen.

In diesem Augenblick, als der purpurrote, anscheinend sehr kostbare Mantel ihm um die Schultern geworfen wurde, schrak der sonst die größte Gelassenheit zur Schau tragende Delinquent etwas zurück, wollte plötzlich wie zusammenbrechen, alle Farbe verließ sein edles, männliches Antlitz, er ward totenbleich.

»So sterb' ich im Purpur, wie mir der schwarze John geweissagt hat,« flüsterten seine bebenden Lippen, aber in der herrschenden Todesstille vernehmlich bis in den fernsten Winkel des weiten Hofes.

Doch schon war der Schreck wieder vorbei, wohl sank der junge Mann auf die Knie nieder, aber nur, um sofort und gefaßt sein Haupt auf den Block zu legen — und da, mit seiner Plötzlichkeit, die niemand auch nur geahnt hätte, hatte der eine der sechs Männer auch schon ein mächtiges, blitzendes Schwert in der Hand, man wußte gar nicht, woher er es plötzlich bekommen hatte, schon hatte er es mit beiden Händen zum Schlage erhoben, weit nach hinten ausgeholt, es sauste durch die Luft …

Es war nur ein sehr leiser Schuß, man konnte eher an einen Peitschenknall denken — aber in dieser furchtbaren Todesstille wirkte er wie ein donnernder Kanonenschuß — mit einem Schmerzensschrei ließ der

Scharfrichter das Schwert, welches fast schon den Hals des Delinquenten berührt hatte, fallen, um mit einem zweiten Schmerzensschrei die eine zerschmetterte Hand mit der anderen zu fassen — und dann wurden die Untenstehenden, die in diesem Augenblicke überhaupt noch gar nichts dachten, von einem Wasserregen überschüttet, der nicht von dem wolkenlosen Himmel kommen konnte — und dann stand urplötzlich auf dem Schafott ein triefender Mann, der schon wegen seiner Kleidung nicht hierhergehören konnte — und dann hatte dieser den schwarz und rot gekleideten Delinquenten wie ein Kind auf seinen Armen und war mit ihm herab von dem Schafott, mitten zwischen den Umstehenden hindurch, um im Hintergründe des finsteren Hofes zu verschwinden — und dann leuchteten die Fackelträger dort hinten in ein Wasserloch, von dessen Vorhandensein diese Herren bisher noch gar nichts gewußt hatten, einfach aus dem Grunde, weil es bisher mit einem Deckel, der jetzt daneben lag, verschlossen gewesen war, dem bisher niemand Beachtung geschenkt hatte — und dann sahen die Herren einander an und fragten sich mit stummen Blicken, ob sie denn nicht nur träumten.

Nur der Scharfrichter wußte sofort ganz bestimmt, daß er nicht träume — das sagte ihm seine linke Hand, die von einer Kugel oder von sonst etwas zerschmettert worden war.

 

— — — — —

 

»Halt, steh, oder ich schieße!!!« schrie der Posten und riß sein Gewehr hoch, konnte aber nicht schießen, er hatte gar keine Patronen. Scharfe Patronen bekam er nur, wenn er einen Innenposten bezog.

So hoffte er noch auf fremde Hilfe.

»Haltet ihn, haltet den Reiter auf, er hat das Pferd gestohlen!!!«

Aber er schien kein Glück zu haben. Wenigstens bis er um die Ecke verschwunden, war der Pferdedieb noch nicht aufgehalten worden.

Die Londoner Spitzbuben wurden doch immer frecher. Jetzt stahlen sie schon aus dem Stalle der Hauptwache das Pferd eines Offiziers!

Neben der Münze und der Bank von England wird in London von Militär am schärfsten der Tower bewacht, weil hier die Kroninsignien, die königlichen Orden und andere Schätze aufbewahrt werden.

Die Hauptwache befindet sich, wie üblich, draußen am Towerplace, auf freier Straße.

Hier war es geschehen, 20 Minuten nach 12 Uhr nachts, wie das Protokoll dann meldete.

Der vor dem Tore der Hauptwache patrouillierende Posten hat auch den danebenbefindlichen Stall zu bewachen, in den die Offiziere ihre Pferde einstellen.

Plötzlich, als der Posten gerade am weitesten von der Stalltür entfernt gewesen, war diese von innen aufgestoßen worden, und — heidi! — schoß ein Reiter heraus, der sicher kein Offizier war, welcher sein eigenes Pferd geholt hatte, um einen nächtlichen Spazierritt zu machen, gleich vom Stall aus in tollster Karriere.

Der arme Kerl von Posten konnte nur melden, was er gesehen, und die schnell herbeigerufene Polizei konnte nur die Richtigkeit dessen konstatieren, was mittlerweile auch die Offiziere und anderen Soldaten erkannt hatten.

Die Hinterwand des Pferdestalles bildete die Mauer eines der vielen Höfe, die der Tower enthält. Oben war ein stark vergittertes Fensterchen, von dem zwei der starken Eisenstäbe zur Seite gebogen waren.

War es möglich, daß durch diese Oeffnung ein erwachsener Mensch schlüpfen konnte? Da konnte sich doch nicht einmal ein Kind durchzwängen! Und doch mußte der Dieb seinen Weg hier durch genommen haben, anders war es nicht möglich, vor zwei Stunden waren diese zwei Stäbe auch noch nicht so zur Seite gebogen gewesen, das wußte man ganz bestimmt.

Dann hatte man es eben mit einem jener professionellen Einbrecher zu tun, die von Jugend an systematisch zur menschlichen Schlange ausgebildet werden, um durch jedes Loch schlüpfen zu können, in das sie nur eben den Kopf hineinbringen.

Von Wichtigkeit war, daß dort oben der Kalk naß war. Der Einbrecher mußte unbedingt nasse Kleidung gehabt haben, das erkannte man auch noch aus anderen Spuren. Aber so naß war er nicht gewesen, daß er auch feuchte Fußspuren zurückgelassen hätte. Nur die Kleidung war naß oder doch feucht gewesen.

Wie war der Kerl so naß geworden?

Man kam nicht mehr weit mit dieser Untersuchung. Das gestohlene Pferd, das beste, welches im Stalle gestanden, trat ganz in den Hintergrund, als aus dem Innern des Towers das Gerücht drang, daß die Hinrichtung des Leutnants Sir Bekham unterbrochen worden sei, der Delinquent sei entführt worden — oder jedenfalls war dort drinnen irgend etwas Ungeheuerliches geschehen — und dann kam auch jetzt noch hierher die deutlichere Kunde, daß heute nacht in Newgate eine Explosion erfolgt sei, es war eingebrochen worden, man hatte Untersuchungsgefangene befreit, unter ihnen auch Nobody ...

»Dann war das auch kein anderer als Nobody!«

Wer es nicht rief oder zu rufen wagte, der dachte es sich.

Ja, aber der Pferdedieb Nobody ließ sich auch nicht aufhalten.

Ehe der Telegraph nach allen Himmelsrichtungen spielte, hatte der Reiter die Weichgrenzen Londons schon weit hinter sich, jagte mit verhängten Zügeln auf der direkt nach Maidstone führenden Landstraße dahin.

Was mag Nobody damals auf diesem nächtlichen Ritt durchgemacht haben!

Er sagt selbst, daß er wahnsinnig gewesen sei — obgleich er dabei ganz klar denken konnte.

Denn auch der Wahnsinnige kann ganz klar denken, ganz gewiß. Nur daß alles das, was er für Wirklichkeit hält, nur in seiner Phantasie besteht. Aber in dieser ist ihm alles ganz klar.

Man sieht wohl ein, wie schwer es ist, so etwas schildern zu wollen, es kann nur bei einem kümmerlichen Versuche bleiben, solche Gedanken schildern zu wollen.

Nobody glaubte ganz, ganz bestimmt, daß seine Befreiung vielen, vielen Menschen das Leben gekostet hätte. Schon die Explosion mußte großes Unheil angerichtet haben, dann hatten die eingebrochenen Verbrecher natürlich auch die Wächter niedergeschossen.

Dies alles war ja allerdings auch anzunehmen, aber Nobody glaubte in seiner Einbildung alles selbst gesehen, selbst miterlebt zu haben.

Kurz und gut, er war zum Mörder geworden, ein Spießgeselle jener Verbrecher, die ihn befreit hatten oder befreien wollten.

Dann mischte sich in seine Phantasien immer die langatmige Schilderung des Lordmasters mit ein, wie die ›Wetterhexe‹ von jedem englischen Kriegsfahrzeug fernerhin als Piratenschiff gejagt und behandelt werden würde — und dadurch entstand für Nobody die fixe Idee, daß es für ihn jetzt nichts anderes mehr gebe, als Seeräuber zu werden.

Es gibt ein altes, englisches Seeräuberlied, die Kinder singen es beim Spielen auf dem Ententeich, der immer wiederkehrende Refrain lautet:

»Gebt Feuer auf den Bauch,

Und unten auch!«

Mit dem Bauche ist der Schiffsrumpf gemeint, und dann noch unter der Wasserlinie treffen.

Dieses Lied sang der wilde Reiter ständig vor sich hin.

Jawohl, Seeräuber! Kampf gegen England auf eigene Faust! Leutnant Sir Bekham, den er bereits in Sicherheit wußte, machte selbstverständlich ebenfalls mit. Von Flederwisch, Turandot und allen anderen gar nicht zu sprechen.

Aber erst zu Frau und Kindern, um sie an sein vor Sehnsucht verschmachtendes Herz zu drücken. Und dann nahm er sie mit. Von Frau und Kindern trennte er sich überhaupt nie, niemals wieder. Ob seine Frau mitmachte? Ja, warum denn nicht? Aus der ehemaligen Wüstenräuberin wurde eben eine Piratin.

»Die Kanonen gerichtet,

Das Feldgeschrei sei:

Hoch lebe die Seeräuberei!!!«

Und dann wieder in wildem Jauchzen:

»Gebt Feuer auf den Bauch,

Und unten auch!«

Dabei also dachte er in seinen wirren Phantasien ganz klar, so z. B. auch an den kleinen Wolf, der mit seinen Kindern gleiche Erziehung erhielt, dem seine Gattin die zweite, oder man kann auch sagen, die erste Mutter geworden war.

Der geneigte Leser entsinnt sich dieses Knaben, den Nobody in der mexikanischen Wildnis fand, bei dem die Natur einmal den Beweis geliefert hatte, daß der Sohn eines Indianers und einer Weißen nicht immer ein brauner, schwarzhaariger Mestize zu sein braucht, dessentwegen Nobody ein Jahr geopfert hatte, um die Mutter zu finden, welche dann in Konstantinopel den blondlockigen Knaben als ihr Kind verleugnete.

Jawohl, der kleine Wolf mußte auch mit! Es sollte keine Trennung mehr geben, nur noch einen gemeinsamen Tod!

»Gebt Feuer auf den Bauch,

Und unten auch!«

Und dann kam in die wilden Phantasien wieder der Papagei dazwischen, der ein Ei gelegt und es selbst aufgefressen hatte...

Und da plötzlich flammte es vor Nobody am Horizont blutigrot auf.

»Hurra,« jauchzte der wilde Reiter auf, »die Sonne eines neuen Tages — ich begrüße dich als vogelfreier Bandit und Pirat — gebt Feuer auf den Bauch, und ... «

Das schäumeude Pferd machte unter der Faust seines Reiters einen Bocksprung.

Was war denn das? Dort lag doch Maidstone, und ging denn die Sonne jemals über Maidstone auf? Und überhaupt, man befand sich doch erst im April, und jetzt konnte es doch höchstens ...

Da zuckten Flammen aus der Röte empor, wie die Morgensonne sie nicht hat.

»In Maidstone brennt es!!«

Das schon fliegende Roß mußte sich vollends in einen Vogel verwandeln.

Und nach weiteren zehn Minuten kam dem Reiter die Erkenntnis.

»Mein Haus, es ist mein eigenes Haus, welches in Flammen steht!!« schrie er verzweifelt.

Weshalb die furchtbare Angst, die ihm die Brust zusammenschnürte?

Wohl muß jeder von einem gewaltigen Schreck befallen werden, wenn er nur hört, daß sein Haus brennt; aber Nobody war doch schon an andere Szenen gewöhnt, und er wußte seine Kinder doch im Schutze ihrer Mutter, dieser starken, kühnen Frau.

Aber es war nicht ein furchtbarer Schreck, sondern eine furchtbare Ahnung, die ihm die Brust zusammenschnürte.

Und diese Ahnung sollte nicht trügen.

Noch um eine Waldecke, dann lag seine Residenz vor ihm, der ganze Häuserkomplex war ein einziges Flammenmeer, nur der Turm des Herrenhauses stand noch.

Mit schrecklicher Deutlichkeit konnte Nobody in der zum Tage gewordenen Nacht alles erkennen, die einzelnen Vorgänge beobachten.

Auf dem Söller des Turmes befanden sich vier Personen, eine Frau und drei Kinder.

Noch war Nobody zu weit entfernt, um die Gesichtszüge unterscheiden zu können, aber wer sollte es anders sein als seine Frau und Kinder, und wahrscheinlich noch der kleine Wolf?

Die Frau rang die Hände, die Kinder liefen durcheinander.

»Spring, spring!!!« erklangen heisere Stimmen.

Eins der Kinder sprang denn auch herab, lange, blonde Haare flatterten nach. Es schien in einem Feuermeer zu verschwinden.

Die anderen sprangen nicht. Jetzt nahm Gabriele die beiden zurückgebliebenen Kinder auf den Arm. So stand sie, von blutigroten Rauchwolken umhüllt.

»Haltet aus, haltet aus, ich komme, ich komme!!« schrie der Reiter.

Ja, er ritt schnell — aber das Unglück ritt noch schneller.

Am Eingänge des Parkes brach sein Pferd tot zusammen — und drinnen im Park brach der brennende Turm zusammen.

 

— — — — — — —

 

Die Sonne hatte dazu geleuchtet, als die Männer mit langen Hakenstangen die noch brennenden Trümmer auseinandergerissen, bis sie eindringen konnten, wenn sie sich dabei auch Kleider und Füße und Hände versengten. Und dann verschleierte sich die Sonne, um das grausige Bild nicht zu sehen, wie dort der müde Mann mit seinen furchtbar verbrannten Händen die verkohlten, menschlichen Glieder zu ordnen suchte, und konnte nicht einmal die Sonne es sehen, die doch so manches Schreckliche auf der Erde täglich schaut, um wieviel weniger die umstehenden Menschen, denen dieser müde Mann stets ein gütiger Herr gewesen, und die Frau und die beiden Kinder, denen diese verkohlten Glieder noch vor zwölf Stunden ...

Genug! Scheu hielten sie sich seitwärts. Nicht einmal eines Schluchzens waren sie fähig.

Jetzt blickte der müde Mann mit leeren Augen um sich. Dann zog er langsam, schwerfällig seine verbrannte Jacke aus, breitete sie auf den Boden aus und legte hinein, was ihm das Feuer von seinem Glück noch übriggelassen hatte, wickelte die Jacke zusammen und wollte das Bündelchen aufheben.

Er konnte es nicht. Dem Manne, der sonst mit Zentnerlasten gespielt hatte, waren die wenigen Pfund plötzlich zu schwer.

Hilfesuchend blickten die leeren Augen um sich.

»Bertram!«

Die müde Stimme hatte wie ein leises Weinen geklungen, obgleich es doch kein Weinen war.

Ein alter Mann mit weißen Haaren näherte sich.

»Mein lieber Herr!«

Ach, wenn man doch in die geschriebenen Buchstaben Leben, Klangfarbe hineinlegen könnte! Aber der geschriebene Buchstabe ist tot!

»Es ist mir zu schwer — es ist zu viel darin!« sagte die gebrochene Stimme, welche ein Weinen war.

Ja, es war zu viel für ihn darin. Zu viel Glück — zu viel Unglück.

Der vor Altersschwäche zitternde Diener aber konnte das Bündelchen ohne Anstrengung aufheben.

»Wohin, lieber Herr?«

»Unter die Linde — wo sie immer so gern saß — wo wir so oft zusammen saßen — mit den Kindern — eine Schaufel ...«

Sie gingen hin nach der einsamen Linde, unter der die einfache Holzbank stand.

Der Greis, der jeden Sonntag in die Kirche ging, dachte nicht an einen Sarg, sagte nichts von einem christlichen Begräbnis.

Und Nobody?

An einer anderen Stelle seines Tagebuches erzählt er, was wir aber, wie vieles, nicht wiedergegeben haben, da nicht von besonderem Interesse, wie er einmal nach einem Brande in der Kirgisensteppe die verkohlte Leiche eines kleinen Kindes fand, und da ihm alles andere fehlte, wickelte er die kleine Leiche in seine Jacke, und so begrub er sie.

Vielleicht Ideenverbindung. Wer wußte denn, wie es jetzt in der Seele dieses Mannes aussah?

Bertram ging, um eine Schaufel zu holen. Als er zurückkam, war das Grab schon fertig. Ein Messer hatte Nobody nicht gehabt. Mit seinen Fingern hatte er die Erde aufgekratzt.

Der kleine Hügel wölbte sich.

»Laß mich allein, Bertram!« sagte die müde Stimme.

Der Alte humpelte davon. Auf der Hälfte des Weges blickte er noch einmal zurück.

Da saß sein Herr auf der Bank, vor sich den kleinen Hügel, so tief gebeugt, daß sich sein Kopf fast zwischen den Knien befand, und die schlaff herabhängende Hand hielt einen Revolver.

Da humpelte der Alte wieder zurück.

»Mein lieber Herr!«

Die ausdruckslosen Augen blickten auf.

»Was willst du, Bertram?«

»Hier ist ein Buch!«

Nobody ließ den Revolver fallen und nahm dafür das abgegriffene Büchlein, vorn mit einem goldenen Kreuz darauf, das Gold in der Tasche abgeschabt.

»Nicht wahr, mein lieber Herr?«

Ein Kopfnicken, und abermals humpelte der Alte davon, um nicht wiederzukehren.

Nur die erste Seite, nur den Deckel schlug Nobody auf. Da stand mit ungelenker Hand geschrieben, die Tinte schon längst verblaßt:

»Mein Trost in schweren Stunden.«

»Mein Trost in schweren Stunden,« wiederholte Nobody, nichts weiter, er blätterte nicht, las nicht, nur immer diese geschriebenen Worte.

So saß er eine Stunde. Dann stand er auf und sprach auf diesem Fleckchen Erde seine letzten Worte:

»Der Herr hat es gegeben, der Herr hat es genommen — der Name des Herrn sei gepriesen.«

Jetzt hatte die Stimme ganz anders geklungen, auch sein Gang war ein ganz anderer, als er nach dem rauchenden Trümmerhaufen zurückschritt.

»Wie kam es?«

Um Mitternacht war das Feuer ausgebrochen, im Erdgeschoß. Wie, wußte niemand. Der Lady und den Kindern war durch eine brennende Treppe der Rückzug abgeschnitten. Oder man hatte sie eben plötzlich auf dem Turm gesehen. Man hatte natürlich alles zu ihrer Rettung versucht. Umsonst. Auch die Leitern fingen Feuer. Unten wurden Tücher gespannt. Nur der kleine Wolf war gesprungen.

»Und?«

»Ein Wunder — Gott war mit ihm — obgleich der Knabe heftig aufschlug, ist er vollkommen unverletzt. Aber er hat vor Schreck die Sprache verloren. Das heißt, wohl nur vorübergehend.«

»Wo befindet er sich?«

»In dem vom Feuer verschont gebliebenen Hause des Verwalters.«

»Ich will ihn sehen.«

Aber dazu sollte es nicht kommen.

»Herr, Herr, es sind zwei Gendarmen da, sie fragen nach Sir Alfred Willcox, sie wollen Sie fangen!! Jetzt sind sie hinten auf dem Hofe.«

Wußten diese Leute bereits, daß ihr Herr der Untersuchungshaft entsprungen war? Wenn sie es nicht wußten, so ahnten sie es doch.

Und plötzlich flammten Nobodys Augen in altem Feuer auf, seine gebrochene Gestalt richtete sich hoch empor.

»Ein Pferd!«

»O, Herr, die Pferde sind alle.....«

»Nevermind. Sie werden mich nicht bekommen. Lebt wohl, meine Braven, wir sehen uns doch noch wieder, trotz alledem.«

Sprach's und wandte sich elastischen, schnellen Schrittes dem nahen Walde zu, aber ohne zu rennen.

Da kamen hinter der Mauerecke die beiden Gendarmen hervor, zu Fuß. Sie sahen ihn.

»Das ist er, das ist er!« rief der eine. »Nobody — Sir Alfred Willcox — im Namen der Königin ...«

Jetzt allerdings begann Nobody lange Sätze zu machen. Die beiden Gendarmen nahmen die Verfolgung auf; aber doch in verschiedener Weise.

Der eine war offenbar vom größten Diensteifer erfüllt, er schlenkerte seine langen Beine mächtig, der andere, der sich durch große Körperfülle auszeichnete, keuchte verdrossen hinterdrein.

»Wir hatten doch ausgemacht,« keuchte dieser letztere, »daß wir ihn ...«

»Ach was,« schrie der vordere, »tausend Pfund ist ein schönes Stück Geld. — Halt, oder ich schieße!!«

Aber Nobody hielt nicht, verlängerte vielmehr seine Sätze nur noch.

Da riß der erste Gendarm seinen Karabiner hoch und schoß. Im Feuer brach der Flüchtling zusammen.

»Getroffen, getroffen!!« jubelte der Gendarm. »Ja, es war aber auch ein Schrotschuß . . . . «

»Ein Schrotschuß?« wiederholte der Dicke in fragendem Tone.

Im übrigen läßt sich diese Szene gar nicht der Natur getreu schildern.

»Jawohl, ich hatte eine Schrotpatrone im Lauf, mache sie mir selber, nehme immer dreißig Rehposten. Ich habe ihn, ich habe ihn, die tausend Pfund Prämie sind mein!! Verflucht, das Luder lebt noch!«

Ja, das ›Luder‹ war wieder aufgesprungen, jagte mit ungeschwächten Sprüngen weiter, dem Walde zu.

Nochmals riß der lange Gendarm den Karabiner an die Wange, kam aber diesmal nicht dazu, ihn abzudrücken — plötzlich wurden ihm die langen Beine unter dem Leibe weggezogen, von vorn, er lag auf dem Rücken, und auf seiner Brust kniete sein Kollege, der dicke Gendarm.

»Eins — zwei — drei — vier — fünf,« begann dieser zu zählen, und so zählte er fort bis dreißig; aber nicht nur so harmlos, sondern er schlug dabei den Taktstock, das heißt, mit der Faust seinen Kameraden immer ins Gesicht.

» … achtundzwanzig — neunundzwanzig — dreißig — so, da hast du Lump deine dreißig Rehposten, nun verdaue sie. Bei mir hat sich's nun freilich ausgendarmeriert — macht nix.«

Mit diesen letzten Worten erhob sich der Dicke wieder, schnallte ab, zog den Waffenrock aus, warf alles hin, auch den Helm.

»So, jetzt bin ich Privatmann. Hemd, Hose und Stiefel sind mein Eigentum — und mein Herz auch. Bist du tot, Steffens? Nein. Schade! Dann laß dich pensionieren.«

Und der Dicke in Hemd und Hosen wandte sich und ging, ebenfalls dem Walde zu.

Ja, Nobody war wirklich getroffen worden.

Dort, wo er gestürzt, war Blut — die Blutspur führte bis zum Walde. Der Dicke verfolgte sie.

 

—————

 

»Wo ist Onkel Alfred?« fragte der blondlockige Knabe den alten Bertram.

»Ach, mein Junge, wer das wüßte! Tot ist er nicht, sonst hätte man ihn wohl gefunden. Er hält sich irgendwo versteckt.«

Der kleine Wolf hatte nur eins gehört.

»Tot?« fragte er erstaunt.

»Nun ja, der Gendarm hatte doch auf ihn geschossen! Wie leicht hätte er da getötet werden können!«

»Ach, Onkel Alfred kann doch gar nicht getroffen werden.«

»Freilich ist er getroffen worden, sogar mit Schrot.«

Mit einer spöttischen Bewegung warf der sechsjährige Knabe die langen Locken zurück.

»Nein, mein lieber Bertram,« sagte er in überlegenem Tone, »das weiß ich besser. Onkel Alfred kann überhaupt gar nicht getroffen werden, wenn jemand auf ihn schießt. Das ist doch Nobody, und ich habe doch selbst gesehen, wie Onkel Alfred jede Kugel mit dem Munde auffängt und sie verschluckt.«

Gott weiß, was für ein Kunststückchen Nobody da seinen Kindern einmal vorgemacht hatte.

»Aber er ist hingestürzt und hat geblutet,« mußte der Alte, der nicht so auf eine Kindesseele eingehen konnte, seine Ansicht verteidigen.

»Ach, das hat er doch alles nur so getan, um seine Verfolger irrezuführen und dann seine Spur um so leichter verbergen zu können. — Wo liegen denn Tante Gabriele, Heinrich und Alfred begraben?«

»Willst du nun endlich einmal hingehen an das Grab, Wolf?« fragte der Alte traurig.

»Ja, jetzt kann ich weinen.«

»Unter der Linde. Komm, Wolf, wir wollen

zusammen.....«

»Nein, ich will allein hin,« rief der Junge und war schon davongelaufen.

Kopfschüttelnd blickte ihm der der alte Bertram nach.

Ja, es war ein merkwürdiges Kind, der kleine Wolf.

Und etwas besonders Gutes war es nicht gewesen, was Sir Willcox da vor anderthalb Jahren mit von der Reise gebracht hatte, um es in sein Haus aufzunehmen.

Man wußte auch gar nicht, wo er den Jungen aufgegabelt hatte.

Ach, was hatte die Dienerschaft und die Nachbarschaft während der anderthalb Jahre nicht schon alles an diesem Jungen mit der blütenweißen Haut, die von keiner Sonne gebräunt werden wollte, und mit den schwarzen Augen und blonden Locken beobachtet, erlebt! Bücher könnte man darüber schreiben.

Nur einiges Wenige kann hier gleich aus der Mitte herausgegriffen werden, ohne Zusammenhang.

Der sonst so wilde, unbändige Junge hatte seine träumerischen Stunden. Die Frucht solch eines Nachdenkens war einmal ein Bogen gewesen, zum Schießen, mit einem Pfeil, vorn ein Nagel daran, aber so fest, überhaupt alles so wunderbar gearbeitet und geschnitzt ...

»Es ist kaum glaublich, wie sich so etwas vererben kann,« hatte man dann den gnädigen Herrn zu seiner Gattin sagen hören, was freilich von den Lauschern nicht verstanden werden konnte.

Der kleine Wolf allerdings bekam kein Lob gespendet, vielmehr von Onkel Alfred Wichse, und zwar tüchtige. Denn der Junge hatte sein geniales Meisterwerk dazu verwendet, um auf dem Hühnerhof sämtliches Federvieh zu erlegen, sogar die Tauben und Sperlinge hatte er mit seinem Pfeile vom Dache herabgeholt.

Die Waffe wurde ihm weggenommen, ihm verboten, sich jemals wieder solch einen Bogen zu machen, und er gehorchte stets.

Mit Ausnahmen. Oder sein guter Wille kam doch oft zu Fall, er unterlag nur zu leicht einer Versuchung.

So hatte der Förster ihn einmal im Walde beobachtet. Der Pilze suchende Junge war plötzlich zusammengezuckt, hatte sich geduckt, ein Bindfaden aus der Tasche, ein Messerchen, einen starken Zweig abgeschnitten, einen dünneren — eins, zwei, drei — der Bogen war fertig, und da lag auch schon das Eichhörnchen, und der Förster hatte gesehen, daß es eben von einem Zweige zum anderen gesprungen war. Mitten im Sprunge war es von dem primitiven Pfeile durchbohrt worden.

»Daß du mir nie wieder ein Messer in der Tasche hast!« hatte Onkel Alfred gedroht.

Als Wolf es brauchte, hatte er doch wieder eins in der Hand — aber er hatte gehorcht, er hatte es nicht in der Tasche getragen, sondern im Schaftstiefel.

Als einmal auf einer hohen Eiche das Nest eines Raubvogels mit Jungen erspäht wurde und Waldarbeiter mit unsäglichen Schwierigkeiten hinaufkletterten, fanden sie oben eine vollständige Wohnungseinrichtung, darin außer Schinken und Würsten eine ganze Waffensammlung von Messern und Revolvern und dergleichen. Nun wußte man, warum so viele Messer und andere Waffen im Hause verschwanden — Schinken und Würste nicht zu vergessen.

Der kleine Sünder mußte es vormachen, wie er da hinaufgeklettert war, und man mußte es gesehen haben, um es glauben zu können.

Ebenso gewandt war er in allen anderen körperlichen Uebungen, ohne sie doch eigentlich — wenigstens der Meinung der Diener nach — gelernt zu haben; besonders schien er auf dem Pferde geboren zu sein.

Einmal wurde er beobachtet, wie er durch den Wald schlich, rückwärts, große Männerstiefel an den Füßen. Die Diener ahnten nicht, was das bedeuten sollte — und Nobody erklärte ihnen nicht, wie der kleine Wolf wieder einmal etwas gestohlen hatte und auf diese Weise seine Spur verbergen oder vielmehr

bemänteln wollte. Das Rätselhafte aber war auch für Nobody, daß dieser sechs- oder damals fünfjährige Junge von solchen Indianerkniffen noch niemals etwas gehört hatte, wie er sich dann vergewisserte.

Ein offenkundiges Zeugnis von seinem indianischen Blute gab der Junge einmal, als sich der noch kleine Richard im Walde verlaufen hatte und Wolf seine Spur wie ein Jagdhund verfolgte, nur nicht mit der Nase, sondern mit den Augen, bis er ihn richtig gefunden hatte, und Nobody mußte gestehen, daß er das nicht besser fertig gebracht hätte.

Dann aber kamen noch andere Sachen vor, die dem Hauspersonal völlig rätselhaft, fast unheimlich erschienen, und die auch Nobody ganz perplex machten.

Zuerst hatte der gute Onkel den Stock nicht gespart. Das war auch sehr nötig. Der kleine Stromer war manchmal Tage und Nächte verschwunden gewesen, hatte sich im Walde herumgetrieben, und bei seiner Stehlerei hatte er es schon bis zu einem Pferde gebracht.

Die Stockprügel nahm der kleine Wolf ohne Mucken hin, und obgleich Nobody dafür sorgte, daß sie genügend schmerzten, verzog der Junge doch keine Miene dabei. Doch das findet man bei noch genug anderen Jungen — ein sicheres Zeichen, daß sie dereinst tüchtige Männer werden.

Schließlich sah Nobody ein, daß auf diese Weise bei dem Jungen nichts zu erreichen war. Seine Frau hingegen konnte den Ausbund mit einem Blicke lenken, und um ihr nicht wehe zu tun, sie nicht zu betrüben, unterließ er alles, und doch war ihm nur so schwer beizubringen gewesen, daß eben das Stehlen unrecht sei.

»Warum haust du mich denn gar nicht mehr, Onkel?« fragte er eines Tages betrübt. »Ach, bitte, lieber Onkel, haue mich doch wieder jeden Tag, das tut so hübsch weh.«

Nobody soll über diese Erklärung förmlich erschrocken gewesen sein. Und bald gab der kleine Wolf noch eine andere Erklärung, was er damit gemeint hatte.

Der kleine Richard hatte sich in den Finger geschnitten und schrie mörderlich. Da nahm der nur wenige Wochen ältere Wolf mit einem verächtlichen Gesicht dasselbe Messer und brachte sich, ehe man ihn daran hindern konnte, über den ganzen Arm hinweg eine lange, tiefe Schnittwunde bei.

Für die Diener mußte das natürlich etwas Unbegreifliches sein. Das war ja gar kein Mensch, vor allen Dingen kein Kind — wirklich, dieser Junge hatte, wie man sagt, entweder etwas zu wenig oder zu viel. —

Und jetzt, nach der schrecklichen Katastrophe, hatte der kleine Wolf wieder einmal eine Probe von seinem rätselhaften, unberechenbaren Charakter gegeben.

Schon daß er allein von dem brennenden Turm herabgesprungen war, nicht wartend, bis erst die anderen gesprungen waren, diese in den Flammen zurücklassend, fand man unbegreiflich. Denn an Tante Gabriele und seinen Spielkameraden hing er mit einer rührenden Treue, die sogar etwas Hündisches an sich hatte, indem er zum Beispiel früher, wenn er nur die Gelegenheit dazu gehabt, sich heimlich des Nachts vor die Tür des Schlafzimmers der Lady gelegt hatte, und ähnliches mehr, welche unempfindsame Treue er auch ihren Kindern gegenüber bewies.

Doch davon ganz abgesehen. Obgleich neben dem Sprungtuch mit fürchterlicher Wucht aufschlagend, hatte ihm der Sturz doch nichts geschadet. Nur die Sprache hatte er verloren. Er hatte sich doch dabei etwas weggeholt. Teilnahmlos hörte er, daß die Lady und seine Spielkameraden den Tod in den Flammen erlitten hätten.

Da aber mit einem Male zeigte sich, daß der Knabe dennoch sprechen konnte, wenn er nur wollte. Aber er wollte nicht. Und scharf beobachtende Leute versicherten, daß der Junge überhaupt ganz bei vernünftigen Sinnen sei.

Aber das Grab wollte er nicht besuchen.

»Ich kann ja doch nicht weinen,« sagte er leichthin.

Sonst aber konnte er bei Gelegenheit genau so weichherzig sein wie früher.

Wer löste dieses Rätsel? Was war mit dem Knaben vorgegangen?

Wir nehmen unsere Erzählung wieder auf, bemerken aber noch, daß den Kindern von der Untersuchungshaft des Vaters nichts gesagt worden war, und der kleine Wolf hatte längere Zeit gebraucht, um durch Fragen, die er recht geschickt zu stellen wußte, alles herauszubringen, d. h., es sich selbst verständlich zu machen, was ja für solch ein Kind nicht so leicht ist.

Nun wußte er alles, und nun hatte er zu Bertram gesagt, jetzt könne er wieder weinen, jetzt wolle er auch das Grab besuchen, und er war allein gegangen.

Aber er weinte nicht auf dem kleinen Grabhügel unter der Linde. Vielmehr machte er ein recht vergnügtes Gesicht.

»Das ist ja gar nicht Tante Gabriele und Alfred und Heinrich, die im Turme verbrannt sind und hier begraben liegen, das sind ja ganz andere, warum soll ich denn da weinen?«

Eine Pause des tiefsten Nachdenkens.

»Nur Onkel Alfred darf's wissen.«

Wieder eine Pause.

»Ich muß Onkel Alfred suchen, damit er weiß, wo Tante Gabriele und Alfred und Heinrich sind, sonst denkt er ja, sie wären wirklich tot und er hätte sie begraben.«

Und der sechsjährige Junge, der das Blut eines Häuptlings der wegen ihrer Wanderlust bekannten Schwarzfußindianer in seinen Adern hatte, wanderte hinein in die weite Welt, seinen Onkel zu suchen, um ihm das Geheimnis zu offenbaren, das man ihm anvertraut und das er bisher so treu in seiner kleinen Brust bewahrt hatte.

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