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Wolfgang Borchert in neuer Sicht

Internationale wissenschaftliche Konferenz in Hamburg



Die Internationale Wolfgang Borchert Gesellschaft veranstaltete gemeinsam mit dem Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg und dem Wolfgang Borchert Archiv vom 23. bis 26. November 1995 eine wissenschaftliche Konferenz zum Thema »Wolfgang Borchert in neuer Sicht«. Die ausgezeichnet organisierte und sich regen Zuspruchs erfreuende Veranstaltung unternahm den Versuch, von unterschiedlichen Positionen her neue Zugänge zum Werk des früh verstorbenen Dichters zu eröffnen.

   Der Einstiegsvortrag von J. Brockington (Kalamazoo/USA) beschäftigte sich mit Möglichkeiten und Formen der Hoffnung in der Literatur der Nachkriegsgeneration. Am Beispiel Borcherts untersuchte Brockington vor allem die Rolle des Negativen in der unmittelbaren Nachkriegsliteratur. Ausgangspunkt für ihn war die auffällige Diskrepanz zwischen den euphorischen Äußerungen in der zeitgenössischen Publizistik und der Literatur der jungen Generation, »die durch eine grundsätzliche Negativität geprägt« sei. Beispielhaft stellte Brockington die Multifunktionalität »des Negativen« in den Texten Borcherts heraus. Im Negativen manifestiere sich die Anerkennung des Abgewertetseins des Alten und damit berge es die Chance für das Neue.

   Eine ganz andere Sicht auf die Schriften Borcherts entwickelte J. Ph. Reemtsma (Hamburg) in seinem Beitrag Wolfgang Borchert - Generation ohne Abschied. Ausgehend von seiner Lesart des Stückes »Draußen vor der Tür« kam Reemtsma zu dem Ergebnis, dieser Text liefere »die Formeln und Bilder, mit denen sich ein deutsches Publikum von seiner Vergangenheit lossagen konnte, ohne die Frage nach Verantwortung und Schuld stellen, geschweige denn beantworten zu müssen«. Neben Borcherts Stück rückte Reemtsma die programmatischen Texte »Generation ohne Abschied« und »Das ist unser Manifest«. Diese präsentierten ebenfalls »ein Lebensgefühl ohne Reflexion, ohne die Chance zur Distanz«. Sie seien charakteristisch »für das Ineinander von Bruch und Kontinuität, das Den-Krieg-Satthaben einer- und die Weigerung über seine Wirklichkeit nachzudenken andererseits«.

   Der »weitaus größte Teil des handschriftlichen Nachlasses« von Borchert besteht aus Briefen und Gedichten. Dies hat G. Burgess (Aberdeen/Großbritannien) in seinem Vortrag Ein Dichter im Werden. Unveröffentlichte Briefe und Lyrik aus den Jahren 1939-1947 thematisiert. Es ließe sich »ganz eindeutig« beweisen, daß sich Borchert »der literarischen Traditionen - der deutschen sowie der ausländischen - durchaus bewußt war, in denen er und gegen die er schrieb«. (Im Herbst 1996 erscheint bei Rowohlt »Wolfgang Borchert. Briefe, Gedichte, Dokumente.«)

   Ebenfalls dem bisher unveröffentlichten Werk Borcherts, vor allem dem Frühwerk, widmeten A. M. Dées de Sterio (Luxemburg) und H.-G. Winter (Hamburg) ihre Beiträge. De Sterio untersuchte Wolfgang Borcherts ethische und politische Reifung: Etappen und Stationen in seinem unveröffentlichten Jugendwerk. Anhand der frühen Texte von »Yorik, der Narr« bis zu »Gedichtband« zeigte de Sterio den literarischen Weg Borcherts, der den mitunter widersprüchlichen Reifungsprozeß des Dichters widerspiegele. Winter ging in seinen Untersuchungen zu Wolfgang Borcherts Eintritt in das literarische Feld 1940-1946 den Verbindungen zwischen dem Frühwerk und der späteren Prosa nach und warf die Frage nach dem »Habitus« auf, der »inneren Haltung«, aus der heraus Borcherts Texte geschrieben seien.

   B. Clausen (Hamburg) wandte sich dem frühen Borchert-Erfolg zu und sah in der »nachhaltigen Opferstilisierung Borcherts ein strukturelles Merkmal der frühen Rezeption«.


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   Das Stück »Draußen vor Tür« war auch Gegenstand der Beiträge von H.-U. Wagner (Bamberg), M. Schmidt (Kleinmachnow) und E. Warkentin (Edmonton/Kanada). Wagner stellte das Hörspiel in den Kontext der Heimkehrer-Hörspiele der unmittelbaren Nachkriegszeit.

   Für Schmidt war die Frage nach dem Umgang mit der Schuld in Borcherts Text wichtig - Schuld als sittliche und dramaturgische Kategorie. Warkentin hingegen untersuchte Komödienelemente in Wolfgang Borcherts »Draußen vor der Tür« und kam zu dem Ergebnis, das Stück enthalte »mehrere gekonnte komische Elemente«. Zu diesen zählte Warkentin »die komische Figur, die Nebeneinanderstellung der Realität und der Unrealität, die Satire, das Absurde und Groteske und das Wortspiel«.

   B. Mirtschev (Sofia/Bulgarien) stellte Untersuchungen zur Konfliktgestaltung in den Werken Wolfgang Borcherts vor und versuchte, Grundmuster aufzuzeigen. K. Csúri (Szeged/Ungarn) referierte über Semantische Feinstrukturen. Über einige literaturäthetische Aspekte der Kompositionsform bei Wolfgang Borchert. Der Problematik Borchertscher Sprachverwendung wandte sich H. Ohde (Hamburg) zu. »1945 oder die neue Sprache« - Zu Wolfgang Borcherts Sprachclichés und Sprachverwendung war der Titel seines Beitrags. Auch J. Kohn (Szombathely/Ungarn) befaßte sich mit Borcherts Umgang mit der Sprache. Er untersuchte Ausdrucksformen der inneren Wirklichkeit bei Wolfgang Borchert. Die Multivalenz von »und« in der Erzählung »Die Hundeblume«.

   Geboren 1921 in Hamburg. Hamburg und ein Lebenslauf betitelte K. Jarchow (Hamburg) seinen Beitrag, der den Beziehungen Borcherts zu seiner Heimatstadt nachfragte.

   Das interessante Rahmenprogramm der Konferenz fand gleichfalls große öffentliche Resonanz. Den >Prolog< bildete am 23. November 1995 eine Lesung mit Peter Rühmkorf, dem ersten Borchert-Biographen, der aus seinem neuen Tagebuch »TABU« las. Theo Elms (Nürnberg) referierte am zweiten Abend über »Draußen vor der Tür«. Geschichtlichkeit und Aktualität Wolfgang Borcherts. Den >Epilog< bildete eine Lesung von Borchert-Texten in den Hamburger Kammerspielen unter dem Titel »Die Professoren wissen auch nix«.

   Wie die Konferenz zeigte, wußten die Professoren doch eine ganze Menge.

   Der Band mit den Tagungsbeiträgen wird voraussichtlich im Herbst 1996 im Dölling & Galitz Verlag, Hamburg erscheinen.

Marianne Lüdecke


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