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Märchen in Erziehung und Unterricht heute

Herbsttagung der Europäischen Märchengesellschaft (EMG) in Weingarten



Wir und unseresgleichen waren diesmal etwas entthront - wir, das heißt Erwachsene, die das Märchen lieben und das Jahr über pflegen und jeweils gegen Ende September auf den EMG- Kongressen miteinander die schöne Bestätigung erfahren für eine historische Tatsache, die im allgemeinen Bewußtsein noch immer weitgehend in Vergessenheit geraten ist: Märchen sind ursprünglich vor allem Geschichten für Erwachsene.

    Doch - so Prof. Kristin Wardetzky in ihren Eingangsworten - die Kinder sind heute die eigentlichen Träger der Märchentradition. Ihr Interesse garantiert deren ungebrochene Popularität. Diesmal also waren Kinder und Jugendliche an der Reihe als Märchenrezipienten, wie die Fachleute das Gegenüber von Erzählern und Autoren, Hörer und Leser also, nennen.

    Der klassische, von der Tradition vorgeprägte Typus des Märchenvermittlers für Kinder ist eher die Erzählerin, die ohne pädagogisches Rüstzeug im privaten Bereich die Kleinen um sich schart, als der Lehrer im Klassenzimmer. Doch soll das Märchen in seiner ursprünglichen Form in den Kindern weiterleben, so muß die außerhäusliche Erziehung häusliche Defizite ausgleichen. Daher also Aktualität und Dringlichkeit des Themas Märchen in Erziehung und Unterricht heute. Schon einmal, vor zwölf Jahren, hat die EMG sich mit einem Kongreß speziell an Pädagogen gewandt und damit nicht nur in die Praxis der Märchenvermittlung auf allen Ebenen gewirkt, sondern zur KIärung der theoretischen Positionen in der Didaktik beigetragen. Das war auch mit diesem Kongreß wieder das Ziel der Ausrichter Helga Zitzelsperger und Prof. Kristin Wardetzky. Die fruchtbare Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Weingarten war unter vielen Aspekten unverzichtbar. Insbesondere genoß es wohl jeder Kongreßteilnehmer, einmal für ein paar Tage in den schönen Räumen des historischen Kloster-Ensembles Lernender zu sein.

    Kind und Märchen - ein selbstverständliches Gespann seit den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm. Und es sei vorweg gesagt: Auch wenn es vor allem um die Vermittlung des Lehrstoffes Märchen ging, so erfuhr man doch unerwartet vieles und schön Formuliertes über das Märchen allgemein. Und auch über das Kind war Grundsätzliches und Erhellendes zu hören und damit über den Menschen schlechthin.

    Ein Kongreß also keineswegs nur für Pädagogen. Vor allem aber waren es Lehrer und Erzieher aller Sparten, denen Gelegenheit geboten wurde, sich die Kompetenz der Fachleute zu Nutze zu machen. Seit eh und je ist es Sache des Zufalls bzw. individueller Neigung, ob ein Lehrmtsstudent während seines Studiums der Gattung Märchen begegnet bzw. didaktische Anstöße zu seiner Vermittlung bekommt; nach wie vor steht es in seinem Belieben, ob Märchen einen Platz in seinem Unterricht haben. Deshalb wurde auch von den Referenten des Kongresses immer wieder die Festschreibung des Themas Märchen in den curricularen Lehrplänen gefordert. Kognitiv und affektiv, diese polaren Vermittlungs- und Rezeptionsweisen wurden in vielen Vorträgen gewichtet und ausbalanciert.

    Theoretisch und praktisch also - diese Prinzipien bestimmten auch weitgehend den Tageslauf der Kongreßteilnehmer. Die Fülle der Plenums- und parallelen Nachmittagsvorträge, ausführlich umrahmt von Musik, war so überwältigend, daß ständige Präsenz schwer zu verkraften war. So war das Plenum zumeist etwas ausgedünnt und kaum je seinem Wortsinn genügend halbwegs vollzählig. Die Qual der Wahl also schon am Vormittag eines Kongresses, die überließe man lieber den Ausrichtern und ihrer Sachkompetenz. Viele Theorien, viele didaktische Modelle - das klingt nach, womöglich verwirrendem, Methoden-Pluralismus. Davon war jedoch lediglich in den didaktikgeschichtlich orientierten Referaten die Rede (Prof. Helmut Fischer, Dr. Bernd Dolle-Weinkauff, Dr. Monika Born).

    Die Sammlung der Brüder Grimm wurde frühzeitig kanonisiert als kindergeeigneter Lesestoff und in den Dienst der Gesinnungsbildung gestellt; Dornröschen, Der Froschkönig usw. wurden als Sprachmaterial fürs Lesenlernen, zu Übungsstoff für Rechtschreibung und Grammatik aufbereitet. Der deutschtümelnde Ansatz, die Diffamierung der Nachkriegszeit, ideologiekritische Textanalyse usw. - das sind tempi passati.

    Vor diesem bunten Hintergrund zeichnet sich die moderne Märchendidaktik in relativ klaren Umrissen ab: Im Mittelpunkt aller Pädagogik steht das Kind. und jede Interaktion zwischen ihm und dem Märchen wird von seinen entwicklungsbedingten Möglichkeiten bestimmt. Daraus ergeben sich für die verschiednen Altersstufen unterschiedliche Ansätze, an die Märchen kreativ-spielerisch oder kognitiv-interpretatorisch heranzuführen, Kopf und Herz sollen jedoch - in altersgemäßer Gewichtung und Abfolge - immer beteiligt sein (Prof. Gerhard Haas). Prof. Kaspar Spinner fügte dem die aktive Imagination hinzu, ein Akt des Sich-Einhausens in das Märchen. Er riet zur Vorsicht mit verbindlichen Deutungen im Unterricht: Märchen sind Model-


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le zur Lebensbewältigung. Ihre Gestalten sind offen und fordern zu eigener konstruktiver Geistestätigkeit heraus - ein Therapeutikum gegen Zerstreuung und passives Konsumieren. Die Märchen sind von ihrer vielschichtigen Genese her keine unantastbaren Gebilde, sie fordern zu kreativem Weiterspiel heraus und bieten so postmoderne Ästhetik im besten Sinne, wenn die Gefahr beliebiger Verfügbarkeit durch verantwortungsvolle Pädagogik vermieden wird.

    Auch Prof. Heinz Albert Heindrichs definierte den gesamtkulturellen Ort des Märchens und die Verantwortung des Märchenvermittlers in einer postmodernen Welt der Medien, der Zerstreuung, des Konsums und betonte insbesondere den völkerverbindenden Aspekt: Gerade auch unter Kindern helfen Märchen, Brücken zu schlagen.

    Eine Einführung in die Waldorfpädagogik, bezogen auf das Märchen, gab Dietrich Esterl. In schöner Kontinuität, unabhängig von den diversen Windrichtungen des Zeitgeistes, hat hier die entwicklungsspezifische Beschäftigung mit Märchen immer ihren festen Platz gehabt. Das Kind, das wunderbare Wesen, und seine seelischen Bedürfnisse sind auch in der Waldorfpädagogik Ausgangspunkt aller Überlegungen.

    Und noch ein Weiteres ist allen Methoden gemeinsam: Im Zentrum und vor allen Aktivitäten des Hineingehens in die Geschichte, dem Malen, Spielen, Weiterspinnen, steht das in seiner unzerpflückten Ganzheit erzählte oder vorgelesene Märchen. Zaubermärchen sind Reifungsgeschichten und damit in einem höheren Sinne a priori pädagogisch. Dieser philosophische Ansatz der Erziehungswissenschaft bildete die Basis elicher Referate. Märchen führen Kinder zum Verständnis für den Wirklichkeits- und Wahrheitsgehalt symbolischer Sprache und bereiten damit den Boden für Religion und Poesie. Sie geben Lebenshilfe und bieten Orientierungsmodelle, einen Fundus an archetypischen Bildern, die später mit der eigenen Biographie aufgefüllt werden können - wie Prof. Hubertus Halbfas in seinen Ausführungen eindrucksvoll darlegte.

    Ging es in allen Vorträgen um die fiktive Märchenwelt und ihr reales Gegenüber, eben das Kind, so fragte Katalin Horn nach den märchenimmanenten Erziehungsmaßnahmen, denen Held und Heldin ausgesetzt sind. Da geht es keineswegs koedukativ zu, vielmehr werden von den pädagogischen Instanzen geschlechtsspezifisch sehr unterschiedliche Lehren erteilt.

    Auch das kindgerechte Bearbeiten von Märchentexten mit pädagogischen Zielen gehörte zum Thema des Kongresses. Dr. Walter Scherf zeigte in seinem Eingangsreferat exemplarisch an einigen Märchen, wie bereits beim Märchensammler bzw. -erzähler eigene unverarbeitete Kindheitskonflikte Auswahl und Gewichtung der Motive bestimmten.

    Prof. Heinz Rölleke verfolgte die Redaktionsarbeit der Brüder Grimm an ihrer Sammlung hin zu einem (möglichst) kinderstubenreinen Erziehungsbuch.

    Dr. Sabine Wienker-Piepho untersuchte die Rezeption der Kinder- und Hausmärchen im 19. Jahrhundert im Ausland am Beispiel des alten und ewig jungen Kardinalvorwurfs gegen die Märchen, der Grausamkeit.

    Daß an den Nachmittagen eine breite Palette von Aktivitäten praxisnaher Anregungen und Methoden zur Märchenvermittlung im Unterricht aller Stufen angeboten wurde, von der Sonderpädagogik über den Kindergarten bis zum Gymnasium, versteht sich bei diesem Kongreßthema von selbst. Vor allem zum eigenen Erzählen wurde Mut gemacht, und so ergänzten die Erzählerinnen und Erzähler ihre traditionellen Märchenrunden diesmal zumeist explizit mit einem Gespräch über ihre Erfahrungen beim Erzählen vor Kindern.

    Auch wer übrigens nicht von vornherein einen breiten Bogen um die Verbindung von Kind, Märchen und den modernen Medien der bewegten Bilder macht, konnte Fachleute treffen, die Rede und Antwort zu diesem brisanten Thema standen und einschlägige Erfahrungen weitergaben.

Helga Volkmann


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