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Aspekte jüdischer Erfahrung

6. Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft



Vom 21. bis 23. November fand in Mainz die Jahrestagung 1996 der Anna-Seghers-Gesellschaft statt, zu der ein wissenschaftliches Symposium und eine Mitgliederversammlung gehörte.

    Die Frage nach jüdischer Erfahrung und ihrem literarischen Niederschlag, gerichtet an eine Autorin, die sich über ihre Herkunft aus einem bürgerlichen Elternhaus deutscher Juden wenig geäußert hat, und gerichtet an ein Werk, das jüdisches Schicksal nur ausnahmsweise, vor allem in der Erzählung Post ins gelobte Land (1943/44), zur Hauptsache gemacht hatte: Diese Frage führte zu »einer nicht leichten Spurensuche«, wie der bisherige Vorsitzende Dr. Martin Straub bei der Begrüßung vermutete. In West und Ost war die Beschäftiung mit dieser Problematik Ausnahme geblieben. Andererseits zeigte schon die Eröffnung, auf der der Oberbürgermeister Herman-Hartmut Weyl die Ehrenbürgerin von Mainz würdigte, beträchtliches öffentliches Interesse. In seinem Festvortrag »Das jüdische Mainz im Zeichen der Emanzipation und Gleichberechtigung« umriß Dr. Anton Maria Keim aus großer Vertrautheit das jüdische Umfeld, in dem die Dichterin aufwuchs. Er sah die Zeit zwischen der Öffnung des Ghettos 1798 und dem Bau der prächtigen Neuen Synagoge (1912) »als stadtgeschichtliche Epoche von Bedeutung«. Prof. Dr. Wolfgang Benz (Berlin) gewichtete anders. Er sah die »kulturelle Identität der deutschen Juden im Zeitalter der Emanzipation [...] vom Diktat der Assimilation bestimmt.« »Tatsächlich wurden die Anstrengungen zur Assimilation aber nicht honoriert. Die jüdische Erfahrung als Deutsche von Goethes Gnaden blieb von der Ausgrenzung bestimmt, wie sie sich nicht erst - dort aber definitiv - in Theresienstadt und Auschwitz manifestierte.« Die Diskussion war eher ein tastendes Befragen als ein Bestreiten solcher Endgültigkeiten. Näher an die Biographie der Schriftstellerin kam Prof. Dr. Hans Otto Horch, Aachen, mit seinen »Anmerkungen zur Heidelberger Dissertation von Ladislaus Radvanyi über den Chiliasmus« [Lehre von der Erwartung des Tausendjährigen Reiches Christi auf Erden nach seiner Wiederkunft vor dem Weltende (Offenbarung 20,4f.) - Anmerk. d. R.]. Radvanyi, der sich später Johann Lorenz Schmidt nannte, heiratete 1925 Netty Reiling, bevor sie die bekannte Dichterin Anna Seghers wurde. Seine Dissertation biete einen »ausgezeichneten Beleg für die Faszination, die seit dem Ersten Weltkrieg von Konzepten chiliastischen, apokalyptischen, utopisch-messianischen Denkens ausging«. Es bliebe eine Aufgabe, den Niederschlag solcher Gedankengänge im Werk von Anna Seghers zu suchen. Daß man sich dem stellt, hatte ein Jahr zuvor während der Jahrestagung 1995 in Potsdam Prof. Dr. Helen Fehervary (Ohio) gezeigt, als sie über »Die Seelenlandschaft der Netty Reiling, die Stimmen der Jeanne d'Arc und den Chiliasmus des Kommunarden Laszlo Radvanyi« gesprochen hatte (abgedruckt in Argonautenschiff 5).

    Literarisches Umfeld kam mit dem Bericht des Mainzer Professors Dr. Dieter Lamping von der »Darstellung von Juden in der deutschen Nachkriegsliteratur« in Sicht, wobei er sich der Problematik bewußt war, »Nachkrieg« bis in die 60er Jahre reichen zu lassen und lediglich die westdeutsche Literatur in Betracht zu ziehen. (Eigentlich wäre das im Titel zu vermerken.) Das Thema würde, so Lamping, »von nicht-jüdischen Autoren nur zögerlich aufgriffen. Kaum ein nicht-jüdischer Autor hat es jedoch so oft bearbeitet wie Alfred Andersch; keiner ist dafür auch ähnlich scharf kritisiert worden.« Das tat Lamping nun nicht, sondern würdigte eingehend den Roman Efraim (1967) als wichtigen Beitrag zum Verständnis jüdischer Existenz nach dem Völkermord.

    Direkt der Namenspatronin der Gesellschaft wandten sich die Hamburgerin Dr. Marie Haller-Nevermann und der Berliner Emeritus Prof. Dr. Frank Wagner zu - allerdings mit konträren Auffassungen. Frau Haller-Nevermann trug aus einer gerade abgeschlossenen Dissertation Ergebnisse von »Untersuchungen zur Bedeutung jüdischer Traditionen und zur Thematisierung des Antisemitismus in der Prosa von Anna Seghers« vor. Ausgangspunkt war die Feststellung, daß die Abwendung der Dichterin von jüdischen Bindungen und deren Konsequenzen »bislang weder von den Biographen noch von der Sekundärliteratur angemessen untersucht worden« ist. Sie wertete sie als »wohl grundlegendsten Lebensbruch«. »Im Seghers'schen Werk lassen sich hermetische Verengung (in der Figurengestaltung), Verdrängung (des jüdischen Themas) und Verharmlosung (des Antisemitismus) feststellen.« Sie exemplifizierte ihre Thesen an der Szene mit dem Flüchtling Georg Heisler und dem jüdischen Arzt Dr. Löwenstein im Siebten Kreuz.

    Frank Wagner sprach zum Thema »Anna Seghers' Positionsbestimmungen n Mexiko 1941 - 1946« anhand der wichtigen Publizistik und des Erzählwerkes, besonders der Erzählung Der Ausflug der toten Mädchen. Die Autorin hätte sich prinzipiell mit dem Antigermanismus auseinandergesetzt und verneint, daß die Deutschen besonders für den Faschismus disponiert seien. Im Gegensatz zu Haller-Nevermann betonte er bei der weltanschaulichen Entscheidung der Autorin


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den Aufbruch zu neuen Ufern, zu Internationalismus und Engagement für soziale Gerechtigkeit. Sie hätte sich als deutsche Internationalistin verstanden. An den gleichzeitigen Erzählungen wäre abzulesen, wie tief sie vom innerdeutschen Terror, vom Völkermord, von der Deportation der Mutter betroffen gewesen sei.

    Dr. Mario Keßler (Potsdam) referierte abschließend über »Sozialisten jüdischer Herkunft zwischen Ost und West: Josef Winternitz, Bloch, Hans Mayer, Kantorowitz und Leo Kofler«. »Ihre eigenständigen Auffassungen vom Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft gerieten zunehmend in Widerspruch zum bürokratischen Sozialismusmodell der SED-Führung.« Sie »sahen schließlich keine Möglichkeit« mehr, im Osten Deutschlands zu bleiben.

    Die Referate werden im Argonautenschiff 6 abgedruckt. Vorzüglich paßten die begleitenden Veranstaltungen zum Tagungsthema: Der Auftritt vom Leverkusener »Klezmer-Chai-Ensemble«; der Filmvortrag von Prof.Dr. Alexander Stephan (Florida): »Im Visier des FBI. Deutsche Exilschriftsteller in den Akten amerikanischer Geheimdienste«; Renate Leopolds Stadtführung »Magenza - das jüdische Mainz«; die von Hans Berkessel geleitete Exkursion zum ehemaligen KZ Osthofen mit der Ausstellung »Rheinland-Pfalz: Die Zeit des Nationalsozialismus«.

    Auf der Mitgliederversammlung wurde Barbara Prinsen-Eggert, Mainz, zur neuen Vorsitzenden gewählt.

Frank Wagner


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