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Die Aktualität Alfred Döblins
Aspekte seiner gegenwärtigen Rezeption

XI. Internationales Alfred Döblin-Kolloquium in Leipzig vom 11. bis 13. Juni 1997



Das alle zwei Jahre - wechselweise im Ausland und in Deutschland - von der Internationalen Alfred Döblin-Gesellschaft organisierte wissenschaftliche Kolloquium wurde diesmal in Leipzig ausgetragen. In den Räumen des Deutschen Literaturinstituts trafen sich nun zum elften Mal Döblin-Forscher und Mitarbeiter an der Werkausgabe Alfred Döblins aus Deutschland, den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Großbritannien, Spanien, Frankreich, Nordamerika und Kanada, um, 40 Jahre nach dem Tod des Berliner Schriftstellers, in einem dichten zweitägigen Programm über »Die Aktualität Alfred Döblins. Aspekte seiner gegenwärtigen Rezeption« zu diskutieren. Konzipiert, organisiert und geleitet wurde das Kolloquium von Matthias Prangel, der an der Rijksuniversiteit Leiden lehrt und seit 1993 Präsident der IADG ist. Finanziell unterstützt wurde die wissenschaftliche Tagung von der Siemens AG, München.

   Bewährt hat sich das Soziokulinarium' am Vorabend der Tagung, bei dem sich die Teilnehmer - unter ihnen auch einige neue Mitglieder der Gesellschaft - im Ratskeller Leipzig kennenlernen und begrüßen konnten. Dies bot auch die Möglichkeit, im persönlichen, ungezwungenen Gespräch über den Stand der eigenen Arbeiten zu berichten und aktuelle Forschungsfragen zu formuieren - was nicht zuletzt auch der Diskussion im Arbeitsteil' der Tagung zugute kommt.

   Eröffnet wurde das Programm am nächsten Morgen mit einem brillianten Vortrag des Münsteraner Germanisten Ernst Ribbat (Alfred Döblin: Heine redivivus. Über das Verhältnis von Aktualität und Literatur), der im Heine-Jubiläumsjahr in Anbetracht beachtlicher Reaktualisierungserfolge zum 200. Geburtstag Heinrich Heines der Frage nachging, warum diese Popularität Alfred Döblin versagt bleibt, trotz vieler Parallelen sowohl in der Lebensgeschichte als auch im Werk.

   Sabine Kyora (Universität Bielefeld) widmete sich anschließend der Rezeption Alfred Döblins in der DDR-Literatur seit 1980 und belegte die These, daß der antifaschistische Humanist Döblin nicht verrufen' genug war, um dezidiert neben der offiziellen Linie gelesen zu werden.

   Als Vertreter der Empirischen Li-teraturwissenschaft knüpfte Gebhard Rusch (Gesamthochschule Siegen) an seinen Vortrag auf dem letzten Döblin-Kolloquium in Leiden 1995 an und stellte die ersten Ergebnisse einer »Explorationsstudie« vor, die »Die literarische Wirklichkeit Alfred Döblins 1997« untersuchte. Rusch fächerte dabei den Begriff literarische Wirklichkeit' in mehrere Dimensionen auf: Wissen, Images, Konsumebene (Auflagen, Ausleihfrequenzen, Grade der Institutionalisierung, Internet), Schulunterricht, Präsenz in Anthologien, Lehrbüchern etc. Mit Hilfe ausgefeilter Fragebögen wird beispielsweise die »Präsenz« eines Autors (Wissen, Image) im Verhältnis zu anderen »Relationsautoren« ermittelt. Im Falle Döblins klaffen, wie zu vermuten war und empirisch ansatzweise von Rusch nachgewiesen wurde, literarhistorische Bedeutung und ökonomischer Erfolg sowie öffentliche Aufmerksamkeit weit auseinander.

   Ein Modell, wie »Alfred Döblin in der Schule« erfolgreich vermittelbar sei, stellte der Pädagoge Peter Bekes (Gymnasium Hattingen) vor: Häppchenweise' biete sich die Lektüre des »Berlin Alexanderplatzes« im Deutschunterricht an, wobei abwechselnd gemeinsam in der Schule und allein zu Hause gelesen werde und die Reihenfolge der Vorlage keineswegs zwingend sei. Eigene textbezogene kreative Schreibversuche (z.B. Geräusche auf einem verkehrsreichen Platz der Stadt beschreiben) steigerten nicht nur die Motivation der Schüler, sondern schärften zugleich den Blick und das Interesse dafür, wie der Text gemacht sei.

   Einen weiteren wichtigen Beitrag zum Rahmenthema lieferte Matthias Prangel, der die Fernsehverfilmung von Alfred Döblins Kriminalstudie »Die beiden Freundinnen und ihr Giftmord« (Drehbuch: Knut Boeser; Regie: Axel Corti ; Produktion 1978) analysierte. Die Tagungsteilnehmer hatten zuvor die Möglichkeit, den mehrmals im deutschsprachigen Fernsehen ausgestrahlten zweistündigen Film in einer Videoaufzeichnung zu sehen.

   »Alfred Döblin als politischer Autor 1914« war das Thema des Kölner Germanisten und Döblin-Herausgebers Erich Kleinschmidt, der eine bisher unveröffentlichte (und unvollständige) Groteske Döblins vom August 1914 als primäre poetische Reaktion des Autors auf den Kriegsausbruch interpretierte und in den Kontext bereits bekannter Texte stellte.

   Einen weiteren, bisher unbekannten Artikel Alfred Döblins aus dem Jahr 1926 (»Berlin im Dezember«) stellte der Döblin-Generalherausgeber und langjährige Vizepräsident der IADG, Anthony W. Riley (Kingston/Kanada), den Tagungsteilnehmern vor.

   Die Leipziger Germanistik vertrat Klaus Schuhmann, der die »Zertrümmerung der Person« in Brechts »Mann ist


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Mann« und Döblins »Berlin Alexanderplatz« verglich.

   Zwei Doktorandinnen untersuchten schließlich die Wirkung Döblinscher Romane auf das Werk jüngerer Autoren: Anne Kuhlmann (Köln) verglich Döblins »November 1918« mit Holger Teschkes »Berliner November«, Teresa Delgado (Berlin) stellte Döblins »Amazonas«Trilogie Hubert Fichtes »Explosion. Roman der Ethnologie« gegenüber.

   Die ausländische Germanistik wurde außerdem vertreten durch Dietmar Voss (Universität Salerno), der sich dem Thema »Grammatik der Steine' und implizite (imaginative) Poetik im Werk Döblins« widmete. Ferner durch Roland Dollinger (Bronxville), der sich überzeugend dem schwierigen Thema »Masochismus bei Alfred Döblin« stellte, und Helmut Pfanner (Nashville), dem Vizepräsidenten der IADG, der unter dem Titel »Entfesselter Prometheus« die Eroberung Südamerikas aus der Sicht Alfred Döblins skizzierte.

   Alle Vorträge des Leipziger Kolloquiums sollen wieder von Gabriele Sander (in Zusammenarbeit mit Ira Lorf) ediert und im Peter Lang Verlag (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte) publiziert werden.

   Die Wuppertaler Germanistin konnte in Leipzig den im Mai 1997 erschienenen Band »Internationales Alfred Dö-blin-Kolloquium Leiden 1995« (Bern u.a.: Peter Lang; = Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte. Bd.43) vorstellen, der nicht nur die Referate des letzten Döblin-Kolloquiums zum Thema »Alfred Döblin im Licht neuerer literaturwissenschaftlicher Positionen« versammelt, sondern darüberhinaus auch eine »Bibliographie der Neuerscheinungen zum Werk Alfred Döblins ab 1990« (Primär- und Sekundärliteratur) enthält, die Gabriele Sander auf Wunsch der IADG verfasst hat. Damit ist endlich ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand möglich.

   Das wissenschaftliche Programm der Tagung wurde ergänzt durch eine zwei-stündige öffentliche Abendveranstaltung mit den Döblin-Preisträgern des Jahres 1995, Katja Lange-Müller und Ingo Schulze, die im Vortragssaal des Deutschen Literaturinstitutes am 12. Juni unter dem Titel »Schreiben im Zeichen der Großstadt und Alfred Döblins« stattfand. Ingo Schulze stellte zunächst seinen Döblin-Vortrag, den er anläßlich der Döblin-Preisverleihung 1997 an Ingomar von Kieseritzky und Michael Wildenhain im Mai in Berlin gehalten hatte, zur Diskussion. Anschließend las er einen Abschnitt aus »33 Augenblicke des Glücks«. Katja Lange-Müller bot eine längere Passage aus dem Text »Spannungen - Menschen - In der Stadt« ( aus: »Das Vergängliche überlisten. Selbstbefragungen deutscher Autoren«. Hg. v. Ingrid Czechowski. Leipzig: Reclam 1996), die sie neu überarbeitet hatte. Ingo Schulze schloß mit einer Zugabe, einem unveröffentlichtenText, der während seines jüngsten Amerika-Aufenthaltes entstanden ist. Die daran anschließende anregende Diskussion mit den Autoren rundete den Abend ab.

   Auf der Mitgliederversammlung der IADG, die am Rande des Kolloquiums am 12.Juni stattfand, trat Barbara Köhn (Sorbonne/Universität Rennes), langjähriges engagiertes Vorstandsmitglied und Vizepräsidentin der IADG zurück, um der italienischen Germanistin Eva Banchelli (Universität Bergamo) Platz zu machen: Die nächste Tagung der IADG soll in Bergamo Ende Mai 1999 stattfinden. Eva Banchelli wurde einstimmig gewählt, der Präsident, die Schatzmeisterin und die übrigen Vorstandsmitglieder wurden einstimmig wiedergewählt.

    Das XII. Döblin-Kolloquium am Ende des Jahrtausends soll sich dem Rahmenthema »Zivilisations- und Rationalitätskritik« widmen.

Alexandra Birkert


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