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Teil eines größeren Ganzen

Literaturgeschichtsforschung und literarische Gesellschaften in Westfalen



Die Großen hatten ja nie zu klagen. Die Droste, Grabbe, Freiligrath – um sie rankten sich schon immer die Blüten der Forschung. Große Ausgaben, Forschungsstellen, Kommentare, Forschungsbeiträge die Menge, sorgfältig bibliographisch registriert und in Jahrbüchern vernetzt – rastlos hat die Wissenschaft ediert, analysiert und dokumentiert. Das alles ließ und läßt nichts zu wünschen übrig, schafft mustergültiges Grundlagenwissen, und jeder, der auf solchen Forschungspfaden wandelt, kann sich glücklich schätzen, findet er doch in den entsprechenden Anlaufstellen wie etwa der Droste-Forschungsstelle in Münster, dem Lippischen Literaturarchiv in Detmold oder den Landesbibliotheken (Detmold, Dortmund, Münster) nicht nur das Material vorbildlich aufbereitet, sondern auch konzentriertes Expertenwissen vor.

   Anders sah es jedoch lange Zeit mit den vermeintlichen poetae minores aus. Sie sind in Westfalen erst in den letzten eineinhalb Jahrzehnten aus ihrem Schattendasein herausgetreten. Seit dieser Zeit meldete die regionale Literaturforschung ein berechtigtes Interesse auf Förderung an. Warum, wurde gefragt, floriert die historische, nicht aber eine literarische Landeskunde zumal nicht einmal ausgemacht ist, ob literarische Quellen nicht ebensogut (vielleicht sogar besser?) Historie transparent machen als historische. Da die Historiker die Literatur als Teilbereich ihres Faches weder forderten noch förderten, war Selbsthilfe gefragt. Hier waren es vor allem auch die literarischen Gesellschaften, die die Initiative ergriffen.

   Der Nachholbedarf war – was die »kleinen« Autoren angeht – nicht zu übersehen. Die Lektüre von Renate von Heydebrans Untersuchung »Literatur in der Provinz Westfalen 1815-1945. Ein literar-historischer Modellentwurf« (Münster 1983) machte deutlich, wie groß das Forschungsfeld war, das noch brachlag; Forschungen freilich, die hinsichtlich ihrer Arbeitsintensität eher abschreckten, hat doch die regionale Literaturforschung ihr Terrain viel breitflächiger abgesteckt als die traditionelle Germanistik. Sie geht nicht mehr vom »hohen« Literaturbegriff


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aus, sondern bezieht Literatur in all ihren Schattierungen mit ein, vom gelehrten Traktat bis zum trivialen Poesiealbumvers.

   Zunächst galt es freilich – in Westfalen wie auch anderswo -, den Mitte der 60er Jahre neu etablierten Zweig der regionalen Literaturforschung vom Ruch provinzieller Verengung und ideologischer Vereinnahmung zu befreien. Die Disziplin als solche war nicht unbelastet und litt noch immer an den Folgewirkungen von Josef Nadlers »Literaturgeschichte der deutschen Stämme und Landschaften« (1. Aufl. 1912-28, 3 Bde.; 4. Aufl. 1938-41, 4 Bde.), die Literatur aus ihrer Bluts- und Stammesbedingheit erklärt hatte und eben deshalb für die Rassenpolitik des Nationalsozialismus (besonders auch in Westfalen) so attraktiv war. Heutige literarische Landeskunde ist dagegen in der Nähe zur Mentalitäts-, Kultur- und Sozialgeschichte angesiedelt und begreift sich als Ergänzung der traditionellen Germanistik. Ihr Vorteil ist, daß sie vieles genauer in den Blick nehmen kann, das ansonsten in der großen' Literaturgeschichte untergeht – der überschaubare Raum wird zum Modell, um literarhistorische Zusammenhänge aufzuzeigen und kritisch zu hinterfragen.

   Nachdem bei der Erforschung der westfälischen Literatur jahrzehntelang Flaute geherrscht hatte, kann heute auf eine Vielzahl von Untersuchungen und Projekten verwiesen werden, die die Literatur vor Ort grundlegend neu darstellt und bewertet. So enstanden in den letzten Jahren mehrere Kompendien mit nordrhein-westfälischen Schriftstellerporträts bzw. -kurzvorstellungen (u.a. »Literarische Porträts. 163 Autoren aus Nordrhein-Westfalen«, hg. von Peter K. Kirchhof, Düsseldorf 1991; »Literatur von Nebenan 1900-1945. 60 Portraits von Autoren aus dem Gebiet des heutigen Nordrhein-Westfalen«, hg. von Bernd Kortländer, Bielefeld 1995), NRW-Literatur-Adreßbücher und -Schriftstellerverzeichnisse, Autoren-Reader und dickleibige Anthologien (wie vierbändig, davon drei erschienen: »Literatur in den Rheinlanden und in Westfalen - Literatur in Nordrhein-Westfalen. Texte aus hundert Jahren in vier Bänden«, hg. von Joseph A. Kruse, Norbert Oellers und Hartmut Steinecke, Frankfurt a.M./Leipzig 1995ff. oder »Westfälische Erzählungen. Von Peter Hille bis Ernst Meister«, hg. von Dieter Sudhoff, Bielefeld 1995), eigene Reihen mit Textsammlungen westfälischer Autoren sowie Textauswahlbände. Zeitlich parallel wurden Dokumentations- und Arbeitsstellen u.a. zu Ernst Meister, Peter Hille und der lange Zeit verdrängten jüdischen Autorin Jenny Aloni (1917-1993), die noch kurz vor ihrem Tode sowohl mit dem Meersburger Droste-Preis als auch mit dem westfälischen Droste-Preis ausgezeichnet wurde, ins Leben gerufen. Vieles ist unmittelbar miteinander vernetzt. Eine neue Aloni-Werkausgabe ist beispielsweise im engen Kontext mit dem 1995 von Hartmut Steinecke gegründeten Jenny-Aloni-Archiv an der Universität Paderborn zu sehen, das durch einen Förderverein unterstützt wird. Dem Beispiel folgend hat sich die unlängst gegründete Thomas-Valentin-Gesellschaft das Ziel gesetzt, eine Gesamtausgabe dieses Autors zu realisieren; fast zeitgleich mit ihrer Gründung legte die Gesellschaft ein Valentin-Lesebuch vor, gleichsam ein Pilotprojekt für die projektierten "Gesammelten Werke". Die Hertha-Koenig-Gesellschaft hat in ihre Satzung das Ziel aufgenommen, die ins Stocken geratene Wiederveröffentlichung von Texten Hertha Koenigs weiterzuführen. Eine im Aufbau befindliche Levin-Schücking-Gesellschaft in Soegel verfolgt die Absicht, das neu eingerichtete Schücking-Museum zu unterstützen.

Annette von Droste-Hülshoff
Annette von Droste-Hülshoff (1797-1848)

   In Zeiten knapper Kassen wird de Gründung einer literarischen Gesellschaft als legitimes Mittel angesehen, um Fördergelder zu akquirieren. Die Gesellschaften treten dabei einerseits mit dem Rechtsstatus eines "e.V." auf, müssen sich andererseits jedoch nicht dem Ballast institutioneller Reglementierungen in Form von Haushaltsplänen, Budgetierungen usw. unterwerfen. Zugleich wurden die literarischen Gesellschaften für die – in Westfalen sehr engagierten und literarischen Belangen gegenüber aufgeschlossenen – Stiftungen zu ebenso verläßlichen wie kompetenten Ansprechpartnern.

   Als weiterer Förderer der inzwischen 16 literarischen Gesellschaften Westfalens tritt seit 1990 der Landschaftsverband Westfalen-Lippe auf. Im Sinne einer »Literaturgeschichte von unten« hat der Landschaftsverband in seinem (vom Verf. des vorliegenden Artikels geleiteten) neugegründeten »Referat Literatur« verschiedene Projekte durchgeführt, von denen an erster Stelle ein umfangreiches »Westfälisches Autorenlexikon« zu nennen ist. Das Lexikon bietet in der Form einer Bio-Bibliographie erstmals eine systematische, ins Detail gehende Aufarbeitung der westfälischen Literatur vom Jahre 1750 bis in die Gegenwart. Das vierbändige Lexikon, dessen dritter, ca. 1000 Seiten umfassender Band inzwischen abgeschlossen ist, stellt etwa 1.600 Schriftsteller vor, führt ca. 16.000 Titel an und


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umfaßt insgesamt rund 3.000 Seiten. Parallel zum Autorenlexikon entstand die wissenschaftliche Reihe »Literatur in Westfalen. Beiträge zur Forschung« (bisher drei Bände), die Themen behandelt wie vergessene Schriftsteller, Leseforschung und Kulturforschung, Frauenliteratur, Bibliographische Arbeiten, Forschungsberichte, Kinder- und Jugendbuch. Weiterhin führt das Referat Ausstellungen durch, so zu Julius Schwering, dem Nestor der westfälischen Literaturgeschichtsforschung, 1990 eine Wanderausstellung zur Lese- und Buchkultur mit dem Titel »Als Westfalen lesen lernte«, 1992 eine Gedenkausstellung über den 1892 in Münster geborenen späteren Schwabing-Dichter Peter Paul Althaus. In diesem Jahr zeigte das Referat im Rahmen des westfälisch-flämischen Kulturaustausches eine Ausstellung zum Thema Kinder- und Jugendbuch mit dem Titel »Die Lust, Nein' zu sagen« (Katalog 525 S.). Die Organisation des Droste-Jahres 1997 mit über 350 Veranstaltungen war ein weiterer Arbeitsschwerpunkt. Er schloß die Erstellung eines umfangreichen Programmbuches und die westfalenweite Vernetzung von Progammpunkten mit ein. Im Zusammenhang mit dem Droste-Jahr entstand eine eigene Wanderausstellung mit dem Titel »Ich, Feder, Tinte und Papier. Ein Blick in die Schreibwerkstatt der Annette von Droste-Hülshoff.«

   Die genannten Arbeiten wären ohne die Mithilfe der literarischen Gesellschaften Westfalens nicht zu realisieren gewesen. Als Instanzen der Vermittlung, die zwischen »Forschung und Vergnügen« (Renate Grundmann) angesiedelt sind, haben diese Literaturgesellschaften durchaus nichts mit den »Clubs der toten Dichter« zu tun (wie »Focus« spöttelte), denen es um das Aufpolieren von Heiligenscheinen geht; sie haben vielmehr wesentlich dazu beigetragen, Versäumnisse der Forschung wettzumachen, der Öffentlichkeit Forschungsergebnisse bekannt zu machen und weitere Forschungen zu ermöglichen.

   Die Literaturgesellschaften hatten die Initiative ergriffen, weil offensichtlich ein Handlungsbedarf bestand, der durch andere Institutionen (z.B. die Universitäten) lange Zeit nicht abgedeckt war. Daß dabei nicht alles streng reglementiert abläuft und ein freies Spiel der Kräfte waltet, erweist sich nicht als Nachteil. Die literarischen Gesellschaften bauen auf Eigeninitiave und ehrenamtliches Engagement auf, und was dabei – unter dem Strich – herauskommt, ist allemal beachtlich. Es ging und geht den Gesellschaften dabei in der Regel nicht allein um das »Andenken« jenes Autors, dessen Namen man adoptiert hat, sondern allgemein um die Förderung von (westfälischer) Literatur und die der Gegenwartsliteratur im besonderen. So ist etwa die Augustin-Wibbelt-Gesellschaft nicht nur zu einem Awalt des niederdeutschen Dichters Augustin Wibbelt (1862-1947) geworden, sondern bezieht das gesamt Spektrum der niederdeutschen Literatur – bis hin zu Sprachexperimenten von Gegenwartsautoren – mit in ihre Arbeit ein. Die Christine-Koch-Gesellschaft hat ihr allgemeineres Anliegen "Förderung der Literatur im Sauerland" gleich im Untertitel ihres Namens verankert.

   Was die zahlreichen Aktivitäten angeht, gilt es freilich zu differenzieren, nach Anspruch und Zielen einer Gesellschaft, nach ihrer Größe, auch nach ihrer Mitgliederzusammensetzung. Viel hängt auch vom Namenspatron einer Gesellschaft ab. War er ein verkanntes Genie wie Grabbe, mit dem sich nur wenige identifizieren können, oder ist die Leitfigur eine Annette von Droste-Hülshoff, zu der Personen ganz unterschiedlicher Prägung eine nahezu verwandtschaftliche Bindung verspüren?

   Ebenso wichtig ist, welches »Außenbild«, welches Image eine literarische Gesellschaft anstrebt; ein Programm mit wissenschaftlichem Zuschnitt stößt sicherlich in akademischen Rängen auf Achtung, vermag auch nach außen hin

Literarische Gesellschaften in Westfalen

Jenny-Aloni-Gesellschaft
Bökerhof-Gesellschaft
Deutsche Gesellschaft zum Studium des Western
Annette-von-Droste-Gesellschaft
Forum Vormärz Forschung
Grabbe-Gesellschaft
Peter-Hille-Gesellschaft
Inklings-Gesellschaft
Jung-Stilling-Gesellschaft
Christine-Koch-Gesellschaft
Hertha-Koenig Gesellschaft
Ernst-Meister-Gesellschaft
Nyland-Stiftung
Thomas-Valentin-Gesellschaft
Friedrich-Wilhelm-Weber-Gesellschaft
Augustin-Wibbelt-Gesellschaft

Weitere Gesellschaften in Nordrhein-Westfalen
Eichendorff-Gesellschaft
Paul-Ernst-Gesellschaft
Europäische Märchengesellschaft
Gustav-Freytag-Gesellschaft
Grimmelshausen-Gesellschaft
Heinrich-Heine-Gesellschaft
Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft
Agnes-Miegel-Gesellschaft
Marcel Proust Gesellschaft
Friedrich-Spee-Gesellschaft
Rheinische-Adalbert-Stifter-Gemeinschaft


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zu glänzen, mag aber die reinen Literaturliebhaber verschrecken und sie von einer Mitgliedschaft abhalten. Für manche Gesellschaften wie die Peter-Hille-Gesellschaft, die sich ganz überwiegend aus Mitgliedsbeiträgen und Spenden finanziert, ist jedoch eine große Zahl von Mitgliedern existenznotwendig, ein Kreislauf also mit eigenen Gesetzen. Hier mußte jede Gesellschaft ihre Linie selbst finden. Es ist dennoch wünschenswert (und inzwischen Standard), daß der wissenschaftliche Anspruch des Programms gesichert bleibt, keine »Kaffeekränzchen-Mentalität« einzieht.

   Vierzehn westfälischen literarischen Gesellschaften haben sich 1992 – nach dem Muster des Dachverbandesliterarischer Gesellschaften in ganz Deutschland der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften mit Sitz in Berlin – zu einer eigenen Arbeitsgemeinschaft, der Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften Westfalens (ALG-Westfalen) zusammengefunden. Diese Arbeitsge-meinschaft kümmert sich um ganz praktische Dinge. Sie hilft, die Arbeit der Gesellschaften effizienter zu gestalten, Neues zu unterstützen und Erfahrungen auszutauschen. Bei der Gründung neuer Gesellschaften leistet sie Geburtshilfe. Die Arbeitsgemeinschaft ist kein »e.V.«, sondern ein loser Interessenzusammenschluß, der über keinen eigenen Finanztopf verfügt, was auch gut ist, weil so einer Konkurrenzsituation vorgebeugt wird. Wohl aber hilft die ALG-Westfalen bei der Frage, wie man an Förderung herankommt. Nicht zuletzt geht es auch um Öffentlichkeitsarbeit, um Werbung und um den Abbau von Unkenntnis gegenüber Wesen und Zweck von literarischen Gesellschaften.

   Die Geschäftsstelle der »Arbeitsgemeinschaft Literarischer Gesellschaften Westfalens« befindet sich beim genannten Landschaftsverband Westfalen-Lippe. Dieser hat zwar kein neues Förderkonto für die Arbeitsgemeinschaft eingerichet, stellt jedoch im Rahmen seiner Möglichkeiten Mittel aus bereits bestehenden Fonds (u.a. Druckkostenzuschüsse, Denkmalschutz, Museumsausstattung) zur Verfügung. Außerdem »sponsort« er ein jährliches Treffen der Vorsitzenden der Gesellschaften, bei dem diese über die Arbeit ihrer Gesellschaft berichten. Bei diesen Treffen kommt es zu einem ebenso regen wie effektiven Gedanken- und Informationsaustausch.

Christian Dietrich Grabbe
Christian Dietrich Grabbe (1801-1836)
Im Hintergrund das Bruchhaus in Detmold

   Seit den achtziger Jahren ist ein Aufschwung hinsichtlich der Aktivitäten der Literarischen Gesellschaften in NRW zu registrieren. Er dokumentiert sich in Neugründungen oder der Neukonzeption bzw. Wiederbelebung literarischer Jahrbücher, aber auch in einem vergrößerten Veranstaltungsprogramm, Kongressen und Tagungen. Zu den von literarischen Gesellschaften intensivierten Aufgaben gehören weiterhin: editorische Arbeit, bibliographische Berichterstattung hinsichtlich eines oder mehrerer Autoren, Organisation von wissenschaftlichen Vorträgen, Kongressen, Autorenlesungen und Rezitationsabenden, Stiftung von bzw. Mitarbeit bei der Vegabe von Literaturpreisen (so ist ein Vertreter der Droste-Gesellschaft sowohl in der westfälischen als auch in der Meersburger Jury vertreten; ein Grabbe-Preis wurde von der Grabbe-Gesellschaft neu ins Leben gerufen), Gestaltung von Jubiläen (im Droste-Jahr 1997 war naturgemäß die Droste-Gesellschaft aktiv), Durchführung von Forschungsvorhaben (z.B. durch angegliederte AB-Maßnahmen). Die Droste-Gesellschaft hat sich als Initiator der bedeutenden Münsterer »Lyriker-Treffen« einen Namen gemacht, die inzwischen allerdings vom Literaturverein Münster durchgeführt werden. Binnen kurzer Zeit – die Gründung erfolgte 1989 – hat die Ernst-Meister-Gesellschaft die Forschung wesentlich belebt. Editionspläne, die auf der Auswertung des Nachlasses (400 Bücher mit handschriftlichen Notizen Meisters, 40.000 Manuskriptseiten) aufbauen, warten auf ihre Verwirklichung. »Der Nachlaß Meisters bietet Arbeitsmaterial für Generationen von Wissenschaftlern«, faßt Prof. Dr. Theo Buck, Vorsitzender der Gesellschaft, zusammen, ein Statement, das sich angesichts schrumpfender Mittel fast bedrohlich ausnimmt. Die größte in NRW beheimatete literarische Gesellschaft ist mit über 2000 Mitgliedern die Europäische Märchengesellschaft, die seit 1956 auf Kloster Bentlage in Rheine ihren Sitz hat.

   Ein wichtiger Punkt im Programm der literarischen Gesellschaften betrifft die Erhaltung von Gedenkstätten. Die »Bökerhof«-Gesellschaft im ostwestfälischen Brakel hat beispielsweise maßgeblichen Anteil am Aufbau eines Bökerhof-Museums, das, obwohl es ganz versteckt auf dem Lande liegt, zu einem Publikumsmagneten geworden ist. Die genannte Gesellschaft widmet sich nicht einem einzelnen Autor, sondern literarischen Strömungen, die an jenem Ort zu Beginn des 19. Jahrhunderts glücklich kollidierten (Bökendorfer Romantiker-


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kreis; die Märchen- und Volkslied-Sammlungen der Brüder Grimm; Annette von Droste-Hülshoff). Weitere literarische Gedenk- und Erinnerungsstätten liegen gleich vor der Haustür des Bökerhofes, z.B. das Geburtshaus Friedrich Wilhelm Webers in Nieheim-Alhausen. Das Haus wurde 1953 für Besucher geöffnet und seitdem von mehr als 100.000 Interessierten besucht, jährlich sind es etwa 3.000, darunter viele Driburger Kurgäste (über Webers Bedeutung als Autor, Arzt und Politiker informiert das 1994 zum 100. Todestag von der Friedrich-Wilhelm-Weber-Gesellschaft herausgegebene Buch »Friedrich Wilhelm Weber. Arzt, Politiker, Dichter«). Das nicht weit entfernte Wasserschloß Thienhausen war einst für viele Schriftsteller und Künstler eine »Herberge der Gerechtigkeit« und wurde als solche im gleichnami-gen Roman Levin Schückings verewigt.

   Das Peter-Hille-Haus in Erwitzen wurde durch das Engagement der Hille-Gesellschaft und durch öffentliche Mittel und Stiftungsgelder zu einer Begegnungs- und Hille-Dokumentationsstelle ausgebaut. Der »Hausherr« Helmut Birkelbach, gleich-zeitig Herausgeber der »Hille-Blätter« und der »Hille-Post«, ist, wie er tiefstapelnd einräumt, schon zufrieden, wenn »die Leute weggehen und sagen: Ich möchte mal wieder richtig schön lesen«: »Ich versuche, die Leute bei dem abzuholen, was sie früher gelesen haben, im Lesebuch, Lustiges und Bedenkliches«. Birkelbachs ehrenamtliches und ambitioniertes Tun hat sich offensichtlich herumgesprochen. Inzwischen sind es die unterschiedlichsten Besuchergruppen, die sich zu Führungen anmelden. Um seinen Gästen zumindest ein Minimum an weiterführender Literatur an die Hand zu geben, hat Birkelbach thematisch sortierte "Hille-Lesebogen" konzipiert, die im Hille-Haus preisgünstig zu erwerben sind.

Handschrift Ernst Meisters
Handschrift Ernst Meisters:
»Sage vom Ganzen...« © Rimbaud Verlag

   Die Peter-Hille-Gesellschaft unternimmt außerdem jährlich mehrtägige Exkursionen, bei denen sie auf den Spuren anderer Dichter wandelt. Solcher Literaturtourismus liegt im Trend, wie sich nicht zuletzt an den Exkursionen zeigt, die im Droste-Jahr von verschiedensten Organisationen – nicht nur literarischen Gesellschaften – angeboten wurden. Die Christin-Koch-Gesellschaft machte sich gleich mit einer ganzen Bus-Karawane auf, um die wenig bekannten Droste-Stätten im Sauerland aufzusuchen. Mit großem Erfolg, denn die Gesellschaft sah sich durch die gestiegene Nachfrage veranlaßt, die Exkursionen bald darauf ein zweites Mal stattfinden zu lassen.

Ernst Meister (1911-1979)
Ernst Meister (1911-1979)

   Literarische Spaziergänge sind inzwischen fester Bestandteil von Stadt-Führungen geworden. Die Gedenkstätten im literarischen Detmold zu Grabbe, Freiligrath, Weerth, Malwida von Meysenbug, Theodor Althaus liegen beispielsweise nur einen Steinwurf auseinander und läßt sich so bequem »im Paket« – unter sachkundiger Führung der Grabbe-Gesellschaft – erwandern. Das Rüschhaus bei Münster, in dem Annette von Droste-Hülshoff zwanzig Jahre, von 1826 bis 1846, geradezu armselig lebte, ist eines der wenigen noch in ihrer Ursprünglichkeit erhaltenen deutschen Dichterdomizile. Hier befindet sich gleichzeitig die Geschäftsstelle der Droste-Gesellschaft, die im Hause und auf dem Vorplatz "open air" ihre Veranstaltungen anbietet.

   Das Rüschhaus zählt jährlich etwa 20.000 Besucher. In der benachbarten Wasserburg Hülshoff, dem Geburtshaus der Dichterin, sind dagegen kaum noch Droste-Erinnerungen zu sehen. In Gründung befindet sich ein eigenes »Westfälisches Literaturmuseum«, für das der Kreis Warendorf das Haupthaus des ehemaligen Rittergutes Nottbeck zur Verfügung stellt. Unter Betreuung des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe wird dort die Geschichte der westfälischen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart dokumentiert. In Dauer- und Wechselausstellungen werden Sonderaspekte wie »Die Literarische Moderne in Westfalen, Mundartliteratur, Literarische Zeitschriften und Verlage« aufgearbeitet und präsentiert. Das Haus soll insbesondere den Aktivitäten der Literarischen Gesellschaften offenstehen, sowohl für Tagungen wie auch als Stätte, an der sich die Gesellschaften publikumswirksam vorstellen können.

   Die westfälischen literarischen Erinnerungsstätten und ihre Geschichte wurden im Rahmen eines Projektes des Referats Literatur aufgearbeitet. Gemeint ist die Publikation »Dichter-Stätten-Literatouren« (Verf. Walter Gödden/Iris Nölle-Hornkamp) aus dem Jahre 1992. Die Publikation behandelt rund 400 Autoren und stellt 250 Orte und literarische Schauplätze (Dichter-Geburts- und Wohnhäu-


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ser, Dichter-Denkmäler, Straßenbezeichnungen, Gedenktafeln, literarische Schauplätze) vor. Das Kapitel über Münster umfaßt allein 20 Seiten, auf denen in dichter Folge Schriftstellergenerationen Revue passieren, die sich persönlich kannten oder einander beeinflußten: Johann Georg Hamanns Zeit in dieser Stadt, Goethes dortige unliebsame Stippvisite, der Kreis um die Fürstin Gallitzin, der vom Sturm- und Drang- zum Erbauungsschriftsteller avancierte Friedrich Leopold von Stolberg, Annette von Droste-Hülshoff, Levin Schücking, Peter Hille, die Brüder Hart oder, im weiteren Umland, Hölderlins Kuraufenthalt in Bad Driburg, Hoffmann von Fallerslebens Wanderungen durch Westfalen und seine Tätigkeit als Bibliothekar auf Schloß Corvey, Rilkes Besuche bei der selbst schriftstellerisch tätigen Hertha Koenig auf Gut Böckel in Bieren/Rödinghausen, Else Lasker-Schülers Kinderjahre auf dem Gut ihrer Großeltern in Geseke, Heines westfälische Reiseimpressionen in »Deutschland ein Wintermärchen«, die mit Unna und Paderborn zu tun haben – solche Aspekte waren weithin in Vergessenheit geraten bzw. wurden erstmals recherchiert. Bei einer solchen Bestandsaufnahme stellte sich insbesondere die Frage, warum es besonders die Heimatdichter waren, die mit Nachrufen in Stein und Bronze verewigt wurden, weniger aber die engagierten Schriftsteller. Es wäre in dieser Hinsicht einmal dringend geboten, die Geschichte der Straßennamen kritisch zu durchforsten. Viele Straßen sind noch immer nach nationalsozialistischen Dichtern benannt oder nach einem völkischen Autor wie Hermann Löns.

   Unmittelbar zum Tragen kam die Arbeit der ALG-Westfalen bei dem vom Landschaftsverbandangestoßenen Projekt »Westfälische Dichterstraßen«. Der erste, schon bald nach Erscheinen vergriffene Band, stellte eine Literaturroute vor, die die ostwestfälischen Dichterstätten (Friedrich Wilhelm Weber, Peter Hille, Bökendorfer Märchenkreis) miteinander verbindet. Die Beiträge wurden von den beteiligten Gesellschaften selbst verfaßt. Nicht minder erfolgreich war der vom Landschaftsverband herausgegebene Reiseführer »Die Droste unterwegs« (1996), der – ein halbes Jahr nach Erscheinen – in dritter Auflage vorliegt.

   Das literarische Leben vor Ort – soviel sollte deutlich werden – steht und fällt mit der bestehenden institutionellen Infra- und Förderstruktur. Besonders in Westfalen haben sich in dieser Hinsicht nahezu mustergültige Konstellationen herausgebildet. Als vorteilhaft wirkt sich dabei aus, daß innerhalb der fördernden politischen Institution eine Einrichtung besteht, die selbst in der Literaturforschung aktiv ist: Aufgrund dieser Erfahrungen wird der Landschaftsverband im Jahre 1998 eine Literaturkommission für Westfalen ins Leben rufen, die – ein vergleichbares Modell zur ALG-Westfalen – Forscher zusammenführt, die auf dem Gebiet der westfälischen Literaturforschung und -vermittlung aktiv sind.

Walter Gödden


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