N S C H O - T S C H I

Nscho-tschi

Ich befand mich zu meinem Erstaunen in einem gemachähnlichen, viereckigen Raume, dessen Seiten aus steinernen Mauern bestanden. Es erhielt sein Licht durch die Eingangsöffnung, welche durch keine Türe verschlossen war. Mein Lager befand sich in der hintern Ecke. Man hatte da mehrere Grizzlybärenfelle übereinander gelegt und eine sehr schöne indianische Santillodecke über mich gebreitet. In der Ecke neben der Tür saßen zwei Indianerinnen, jedenfalls mir zur Pflege. (...) Die junge war schön, sogar sehr schön. Europäisch gekleidet, hätte sie gewiß in jedem Salon Bewunderung erregt. Sie trug ein langes, hellblaues, hemdartiges Gewand, welches den Hals umschloß und an der Taille von einer Klapperschlangenhaut als Gürtel zusammengehalten wurde. (...) Ihr einziger Schmuck bestand aus ihrem langen, herrlichen Haare, welches in zwei starken, bläulich schwarzen Zöpfen ihr weit über die Hüften herabreichte. Dieses Haar erinnerte mich an dasjenige von Winnetou. Auch ihre Gesichtszüge waren den seinigen ähnlich. Sie hatte dieselbe Sammetschwärze der Augen, welche unter langen, schweren Wimpern halb verborgen lagen, wie Geheimnisse, welche nicht ergründet werden sollen. Von indianisch vorstehenden Backenknochen war keine Spur. Die weich und warm gezeichneten, vollen Wangen vereinigten sich unten in einem Kinn, dessen Grübchen bei einer Europäerin auf Schelmerei hätte schließen lassen. (...) Die feingeflügelte Nase hätte weit eher auf griechische als auf indianische Abstammung deuten können. Die Farbe ihrer Haut war eine helle Kupferbronze mit einem Silberhauch. Dieses Mädchen mochte achtzehn Jahre zählen, und ich wäre jede Wette darauf eingegangen, daß es die Schwester Winnetous sei. (...)
Kurze Zeit darauf kam Nscho-tschi mit einer tönernen Schüssel und einem Löffel. Sie kniete neben meinem Lager nieder und gab mir löffelweise zu essen, wie einem Kinde, welches noch nicht selbständig essen kann.

Karl May, "Winnetou I"
Die Zeichnung stammt von Otto Krauskopf (1891 - 1971), dem Großvater des KMG-Mitgliedes Peter Krauskopf.

© by Peter Krauskopf


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