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Der Dukatenhof.

Erzgebirgische Dorfgeschichte.VonKarl May.Mit sechs Illustrationen.

Titelvignette
Graz und Wien.Verlagsbuchhandlung „Styria“.
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Alle Rechte vorbehalten.

       

„Typograph“-Maschinensatz.———k. k. Universitäts-Buchdruckerei „Styria“ in Graz.

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Illustration Seite (3)

1. Der Köpfle-Franz.

Die steile Bergstraße hinauf schob sich mit langsamen, schildkrötenartigen Bewegungen eine so eigentümliche Figur, daß ein Unbekannter sie von Weitem wohl kaum für ein menschliches Wesen gehalten hätte. In der Nähe aber erkannte man die seltsame Gestalt als einen Mann, welcher sich mühsam mit den Händen fortschieben mußte, weil ihm die Beine gänzlich fehlten.

Der mit einer alten, vielfach ausgebesserten Jacke bekleidete Körper war durch Riemen in einem aus starkem Holze gefertigten Rollkasten befestigt; den nach vorn tief niedergebeugten Kopf bedeckte ein ungewöhnlich breitkrempiger Filz, dessen ursprüngliche Form und Farbe wohl schon seit Jahren in Sturm und Regen verloren ging; über dem Rücken hing ein umfangreicher schmutziger Leinwandsack, jedenfalls bestimmt zur Aufnahme von allerhand Geschenken, denn das ganze Äußere des Unglücklichen ließ vermuten, daß er zu denjenigen Beklagenswerten gehöre, welche mit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse lediglich auf die Mildtätigkeit ihrer Nebenmenschen angewiesen sind. Und diese Mildtätigkeit schien sich in dem vorliegenden Falle als fruchtbar erwiesen zu haben: der Sack war trotz seiner Größe wohlgefüllt, und seine Schwere veranlaßte -

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veranlaßte den Träger, öfter auszuruhen, als es trotz seiner Gebrechlichkeit sonst wohl der Fall gewesen wäre.

Nach langer Anstrengung endlich oben auf der Höhe angekommen, hielt er tief atmend still und ließ den Blick hinab in das jenseitige Tal gleiten, in welchem sich eines jener armen Gebirgsdörfer hinzog, deren Bewohner meist nur durch die schwachen Fäden einer wenig lohnenden Industrie mit der Außenwelt in Verbindung stehen. Die Abgeschlossenheit ihrer geographischen Lage äußert einen unleugbaren Einfluß auf alle ihre äußeren und inneren Verhältnisse und erhält den Charakteren eine Naturwüchsigkeit, welche unter der dichter gesäten Bevölkerung des platten Landes sehr bald verloren geht.

Vor ihm, da, wo die Straße sich wieder abwärts neigte, stand ein ziemlich neues zweistöckiges Gebäude, über dessen Eingangstür in goldenen Lettern die Inschrift: „Zur Bergschenke“ erglänzte. Vor dem Hause hielt eine leichte Kalesche, und aus dem Innern derselben tönte ein mehrstimmiges schallendes Gelächter durch die geöffneten Fenster.

Der Ermüdete schien die Stimmen zu kennen; er erhob bei ihrem Klange lauschend den Kopf, und nun waren seine bisher unter der breiten Kopfbedeckung verborgen gewesenen Züge zu erkennen — Züge, wie man sie unter dem alten Hute gar nicht erwartet hätte, so kontrastierend mit seiner übrigen Erscheinung, so intelligent, wäre man fast zu sagen versucht, wenn nicht ein undefinierbares Etwas in dem Gesicht, ein eigentümliches gebrochenes Licht des großen dunklen Auges dieser Bezeichnung widersprochen hätte.

„Aha, der Baron und der Zettelkramer! Ganz gewiß wollen die hinunter zum —“ Er drängte den Namen, welchen auszusprechen er schon im Begriff gestanden hatte, wieder zurück. Der unterbrochene Gedankengang hatte schlummernde Geister in ihm erweckt; sein Auge loderte plötzlich in wildem Feuer; seine Hände erhoben wie drohend die Stemmhölzer, mit deren Hilfe er sich fortgeschoben hatte, und jenes unbestimmbare Etwas zuckte jetzt gehässig über das vorhin so ruhige und unbewegte Angesicht. „Nur zu, nur zu, nur immer zu! Ihr seid zwar Spitzbuben, das weiß ich; ihr vernichtet

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die Güter, saugt die Bauern aus und bringt ehrliche Leute mit euren Zetteln um Hab’ und Eigentum, arbeitet mir aber in die Hände, und darum hab’ ich alleweil Freude, wenn ich euch zu sehen bekomme!“

Er rollte sich die kurze Strecke bis zur Schenke weiter. Bei dem Fuhrwerk angekommen, hielt er überrascht an. „Was?! Das ist ja dem — — na, dem sein Brauner, der ihm hundertzwanzig Dukaten bar gekostet hat! Wie kommt der Gaul zum Baron? Da hat es wieder ’mal eine Wette gegeben oder ein kleines Spielchen bei verschloss’ner Tür. Nur zu, nur immer zu, denn so ist’s mir grad recht! Ihr würgt ihn langsam ab und ich geb’ ihm den Gnadenstoß. Ich hab’ noch niemandem was zuleid getan, aber für den gibt’s keine Gnade und kein Erbarmen; für den gibt’s auch kein Mitleid und keine Barmherzigkeit, denn er ist mein Teufel gewesen, so lang und so weit ich zurückdenken kann. Jetzt werde ich hineinfahren zu den beiden. Ich will ’mal sehen, wie sie mich wieder verschimpfieren werden!“

Er schob sich hierauf in den Flur des Hauses, und von da durch die glücklicherweise nur angelehnte Tür in die Gaststube hinein.

Da saßen die drei Männer, welche des Betrachtens in psychologischer Beziehung wohl wert waren. Der erstere war der Wirt, eine untersetzte behäbige Gestalt, deren Gesichtszüge einen nicht üblen Eindruck gemacht hätten, wenn sie nicht durch den Ausdruck der List und Verschlagenheit sozusagen verunziert worden wären. Er qualmte aus einer Meerschaumpfeife mit einem mächtigen Kopf. Der zweite war ein kleines dürftiges Männchen mit einem abstoßenden Sperbergesicht und einem blauglasigen Zwicker auf der Nase. Der dritte, von breit und hochgebauter, beinahe hünenhafter Figur, hatte einen großen eckigen Kopf mit einem Gesicht, als wäre es mit dem Beile aus Holz roh zugehackt worden.

Als dieser letztere den Ankommenden bemerkte, schlug er ein widerwärtiges, schallendes Gelächter auf und rief:

„Alle Teufel, was ist denn das für eine armselige Kreatur, welche es da wagt, sich uns vor die Augen zu schieben? So etwas habe ich, bei meiner Seele, noch niemals gesehen!“

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„Ja,“ meinte der Kleine, „solche Geschöpfe sollten von der Polizei angehalten werden, anderen Leuten fern zu bleiben!“

„Laßt’s gut sein, ihr Herren!“ sagte der Wirt in beschwichtigendem Tone. „Es ist der Köpfle-Franz, ein gar nicht schiefer Kerl.“

Der Unglückliche hatte diese Worte über sich ergehen lassen, ohne mit der Wimper zu zucken.

Jetzt fragte der Lange:

„Ein wunderbarer Name! Wie kommt der Mensch dazu?“

„Er hat ihn wegen einer Geschicklichkeit, welche er besitzt“, antwortete der Wirt. „Der Franz ist ein Zeichner, der sich sehen lassen darf. Wenn man vor ihm steht, und er nimmt den Stift in die Hand, so ist er halt der wahre Künstler. Keiner bringt die Köpfe so sauber, so gut und so richtig wie er. Er zeichnet nichts als Köpfe, und wenn er einen abmalt, so ist man getroffen grad wie man leibt und lebt. Darum heißt er ja eben der Köpfle-Franz.“

„Das machst du mir nicht weis! Wenn er das fertig brächte, so stände es besser mit ihm.“

„Sie glauben’s nicht? So werd’ ich’s Ihnen beweisen. — Franz, willst du mich abzeichnen, so wie ich jetzt hier sitze, mit der Tabakspfeife im Mund? Du sollst ein gutes Bier bekommen und noch fünf Groschen extra darauf!“

„Warum denn nicht? Das Bier soll mir recht sein, denn ich hab’ grad den richtigen Durst, und das Geld ist alleweil am notwendigsten zu brauchen. Bleib sitzen, ich werde gleich fertig sein!“ antwortete der Krüppel.

Er schob sich an den nächsten Stuhl, nahm den Sack vom Rücken, öffnete ihn und zog eine sorgfältig eingewickelte Papierrolle hervor. Sie enthielt sein Zeichenmaterial. Der Wirt richtete sich erwartungsvoll in Positur, brachte die neue Meerschaumpfeife in das gehörige Licht, und kaum waren einige Minuten vergangen, so hielt er die fertige Bleistiftskizze in der Hand.

„Franz,“ rief er befriedigt, „so gut wie heut’ hast du mich noch niemals getroffen! Hier sind die fünf Groschen, und von wegen dem Bier, da sollst du zwei Seidel haben statt nur eins!“

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„Zeig her, Bergwirt“, meinte der Kleine. „Wenn er heute wirklich so eine gute Hand hat, so soll er mich auch abkonterfeien. Wahrhaftig, besser bringt’s der größte Künstler nicht zuweg! Guck her, Baron! — Franz, willst du meinen Kopf auch zeichnen?“

„Meinetwegen, wenn’s dem Herrn Bankier recht ist! Hab’ grad noch zwei Papiere, für Sie und den Herrn Baron eins!“

„Gut“, entschied dieser. „Ich sehe, daß du kein dummer Kerl bist. Sollst mich also auch ’mal zeichnen, und wenn ich mit dir zufrieden bin, so bekommst du einen ganzen Taler!“

Er hatte erwartet, daß dieses Gebot den armen Teufel in Staunen versetzen werde; dieser aber nahm mit der gleichgültigsten Miene den Bleistift wieder zur Hand und führte denselben mit einer Sicherheit über die Blätter, als handelte es sich um die allereinfachste Strichübung.

Als die Köpfe ihre vollständige Schattierung erhalten hatten, übergab er sie den beiden Männern.

„So! Die Gesichter sind getroffen“, sagte er. „Wenn man solche Herren zu Papier bringt, muß man sich schon besser Mühe geben als bei gewöhnlichen Leuten.“

Die Arbeit war sehr gut gelungen; der Baron gab ihm den versprochenen Taler und auch der ‚Bankier‘ entschloß sich zu einem gleichen Honorar.

„Kannst’s immer nehmen, Franz“, ermunterte er; — „wir sind ja Leute, die es haben! Nicht wahr, Bergwirt?“

Der Gefragte nickte zustimmend und klopfte dabei mit einem verschmitzten Lächeln an seine eigene Tasche.

„Das wollt’ ich meinen! Wir haben wohl alle drei nicht nötig, mit dem Pfennig zu fuchsen, denn so lange es in der Welt noch Dumme gibt, braucht kein Gescheiter fürs bißchen Münze zu sorgen!“

„Hast recht“, lachte der Riese. „Und die Dummen werden ja niemals alle; wenn es mit einem zu Ende geht, so kommt dafür ein ganzer Güterzug voll anderer wieder an. Heut’ wird hier bei Euch ein Gäns’rich gerupft.“

„Kann mir’s denken, wer es ist. Hab’ ja auch schon genug Federn von ihm. Aber die schönste Feder, die er gelassen hat, war doch der Braune draußen.“

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„Ja, ja, Alter, das war ein Meisterstück von uns dreien. Halt’ nur dein Hinterstübchen immer parat; gib unsere Karten nicht an andere Leute. — Weißt du vielleicht, wer alles zum Dukatenhof geladen ist?“

„Die ganze Nachbarschaft. Die Kleinen bleiben unten in der Stube und die paar Großen kommen hinauf ins gute Zimmer. Geld gibt’s da oben mehr als genug. Heute abend komme ich auch hin; beim Begräbnis freilich kann ich nicht mit sein, weil die Wirtin drunten ist.“

„Da kommst du natürlich hinauf zu uns! Wir legen eine kleine Bank, und du — na, du wirst ja sehen, wie es paßt; der Dukatengraf kann dir deinen Stall auch mit bauen helfen.“

Der Köpfle-Franz schien wenig oder gar nicht auf diese Reden zu achten. Er hatte sein Geld eingesteckt, sein Bier getrunken und griff eben zum Sack, um sich zu verabschieden, als sich vom Tale her das Geläute von Glocken vernehmen ließ.

„Was?“ rief der Baron Genannte. „Schon so weit? Da haben wir über der Malerei die Leiche ganz vergessen und können uns nun sputen, wenn wir den Zug noch sehen wollen. — Vorwärts, Kollege!“

Der Kleine setzte den blauen Zwicker fest und erhob sich.

„Als ob ein Leichenzug so ganz was grausam Sehenswertes wäre!“ meinte Franz gleichgültig. „Von meinetwegen mag sterben wer da will, ich laufe keinem nach. — Wer wird denn hinausgetragen?“

„Das ist’s ja eben, was ich dir sagen wollte“, antwortete der Wirt, welcher sich anschickte, die beiden Gäste an den Wagen zu begleiten. „Ich habe es nur über den Bildern ganz und gar vergessen. Die Dukatenbäuerin ist tot; sie hat vor ihrem Ende gar viel nach dir gefragt und fast gar nicht ersterben können, weil du nicht dagewesen bist.“

Er verließ das Zimmer und bemerkte infolgedessen die außerordentliche Wirkung nicht, welche seine Worte auf den Frager hervorbrachte. Dieser starrte mit dem Ausdruck des höchsten Schreckes im erbleichten Angesicht und weit aufgerissenen Auges nach der Stelle, auf welcher der Berichterstatter -

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Berichterstatter gestanden hatte; kein Glied seines Körpers regte sich; keine Miene bewegte sich; er schien bei der Kunde von dem Tode der Dukatenbäuerin selbst zur Leiche geworden zu sein. So blieb er eine ganze Weile wie leblos auf einem und demselben Fleck, bis sich endlich die furchtbare Beklemmung mit einem tiefen, röchelnden Atemzuge aus der zusammengepreßten Brust rang:

„Die Anna ist tot — der Anna läuten sie — die Anna wollen sie begraben? — Nein, nein, die Anna ist nicht tot, die Anna kann nimmer sterben, die Anna darf nicht begraben werden! Ich leid’ es nicht, daß ihr sie einscharrt, ich leid’ es nicht! Fort, fort — ich will sie sehen; ich muß sie festhalten; ihr dürft sie mir nicht nehmen!“

Der Schreck war verschwunden, dafür aber eine Angst über ihn gekommen,die alle seine Nerven und Sehnen anspannte und ihm den hellen Schweiß aus den Poren trieb, noch ehe seine Glieder zu irgend einer Anstrengung gelangt waren. Er warf sich den Sack über die Schulter, griff zu den beiden Stemmhölzern und arbeitete sich mit einer Geschwindigkeit hinaus auf die Straße, um die ein vollständig Gesunder ihn hätte beneiden können; dann ging es, ohne auf die Zurufe des Wirtes zu hören, in fliegender Hast an diesem vorüber und die Straße hinab, auf welcher das Geschirr des Barons in kurzem Trabe bereits dahinrollte.

Man konnte von der Höhe den Zug sehr deutlich beobachten, wie er sich von dem unteren Ende des Dorfes nach dem in der Mitte desselben befindlichen Kirchhofe bewegte.

Zur Beobachtung der Einzelheiten allerdings hätte man sich in größerer Nähe befinden müssen, und da gab es nicht bloß zu sehen, sondern auch zu hören, denn gar manches bedeutsame Wort flog unter den Leuten hin und zurück, welche sich zu beiden Seiten des Weges, den das Trauergeleit einschlagen mußte, aufgestellt hatten.

Allen voran wurde nach schöner alter Sitte das mit schwarzem Flor umhangene Kreuz getragen, hinter welchem in einzelnen Paaren die männliche Schuljugend folgte, begleitet von den Lehrern und dem Ortsgeistlichen. Dann kam der reich mit Kränzen und Girlanden geschmückte, von sechzehn

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Männern getragene Sarg, dem sich nach den nächsten Verwandten der Verstorbenen eine lange Reihe von Bekannten anschloß.

Natürlich richtete sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer vor allen Dingen auf die Hinterlassenen der Toten. Es waren dies nur zwei Personen, welche nebeneinandergingen, der Dukatenbauer und seine Tochter.

Der erstere mußte schon durch seine äußere Erscheinung auffallen. Er war ein hoch und kräftig gebauter Mann im Ausgang der Fünfzigerjahre; seine ganze Haltung zeigte den selbstbewußten, unlenksamen Charakter, durch den er selbst über den häuslichen Kreis hinaus gefürchtet und — gemieden war. Keine Träne stand in seinem Auge; kein Zug der Trauer war in seinem harten, finsteren Angesicht zu bemerken; an der Schleife seines Hutes glänzten wie immer die sechs blanken Dukaten; wie immer hing ihm statt der Uhrkette die lange Dukatenschnur um den Hals, und wie immer reihten sich an der Weste und dem offenstehenden Rocke an Stelle der Knöpfe Dukaten an Dukaten. Er hieß Graf, wurde allgemein der Dukatengraf genannt und wollte auf diesen Beinamen, welcher sein größter Ruhm und Stolz war, nicht einen Augenblick verzichten, auch nicht für diese Stunde, in welcher jeder andere den irdischen Flimmer von sich geworfen hätte, um auch an seinem Kleide zu zeigen, daß er die Macht eines höheren Geschickes anerkennen müsse.

Auch das Mädchen an seiner Seite hatte keine Tränen. Aber, das sah man auf den ersten Blick, sie fehlten nur, weil sie bisher zu reichlich geflossen waren. Es trug das mit den schweren Flechten umwundene Köpfchen tief gesenkt; die sonst so rosigen Wangen waren erbleicht und die gefalteten Hände drückten sich auf die Brust, als müßten sie das schmerzerfüllte Herz vor dem Zerspringen bewahren. Aller Augen wandten sich mit Unwillen vom Vater weg auf die Tochter, und dann gab es keinen Blick, in welchem nicht das innigste Mitleid und die wärmste Teilnahme zu lesen gewesen wären.

Es war das erste Mal, daß eine Leiche ohne Gesang durch das Dorf getragen wurde, aber die Tote hatte es ausdrücklich so gewollt. Ihr Leben war ein stilles gewesen;

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sie hatte im stillen gewirkt und gelitten; im stillen wollte sie nun auch beerdigt sein. Nur draußen am offenen Grabe sollte man ihr einen Vers singen, einen einzigen Vers; den hatte sie sich selbst gewählt und noch in ihrer letzten Stunde beim Pfarrer bestellt. War sie dabei vielleicht von dem Wunsche geleitet worden, im Tode ein mahnendes Wort an das Gewissen ihres Gatten zu richten, da sie im Leben es niemals hatte wagen dürfen?

Wenigstens richteten sich die Blicke unwillkürlich auf ihn, als sich auf dem Kirchhof der Kreis um den geöffneten Sarg geschlossen hatte und nach der bekannten Melodie die ernste Erinnerung erklang:

„O Ewigkeit, du Donnerwort,

O Schwert, das durch die Seele bohrt,

O Anfang sonder Ende.

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

Vielleicht schon morgen oder heut’

Fall’ ich in deine Hände.

Mein ganz erschrock’nes Herz erbebt,

Daß mir die Zung’ am Gaumen klebt.“

Das Kind der Verstorbenen kniete an der Seite des Sarges und hatte in wortlosem Schmerze den Kopf in das Kleid der toten Mutter gehüllt. Der Dukatenbauer stand aufrecht daneben; sein Auge ruhte nicht auf den Zügen, die er jetzt zum letzten Male sehen durfte, sondern er begegnete mit zornigem Ausdrucke den auf ihn gerichteten Blicken der Anwesenden. Die Adern seiner Stirn traten dunkler und deutlicher hervor; die Lippen preßten sich kräftiger aufeinander und die Hände hoben sich langsam, wie bereit zur Abwehr der Beleidigung, die er in den Gesang und in die Blicke legte.

Als der letzte Ton verklungen war, trat der Geistliche zu Häupten der Verstorbenen und begann seine Rede; aber er nahm nicht, wie sonst üblich, ein Bibelwort zum Thema derselben, sondern es diente ihm der soeben gesungene Vers dazu. Auch das hatte die Tote gewollt und ihr Wille mußte befolgt werden. Der Pfarrer war im weiten Umkreise als einer der besten Redner bekannt; er hatte schon oftmals harte Seelen auf das tiefste erschüttert, und man ahnte, daß er sich heute eine ähnliche Aufgabe gestellt hatte.

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Trotz des milden, linden Tones, in welchem der greise Seelsorger sprach, fühlte auch der Dukatengraf diese Absicht. Sein Stolz bäumte sich dagegen auf; die Falten, welche sich ihm von Schläfe zu Schläfe zogen, wurden immer tiefer und drohender, und als der Redner bei dem Schwerte anlangte, „das durch die Seele bohrt“, und die Absicht vermuten ließ, jetzt sich an diejenige Seele zu wenden, welche der Toten im Leben am nächsten hätte stehen sollen, da war es mit seiner Geduld zu Ende. Den abgenommenen Hut sich auf den Kopf setzend, ergriff er die Hand der Tochter und sagte so laut, daß alle es hörten:

„Komm, Emma, wenn’s so lauten soll, da haben wir hier nichts mehr zu suchen! Ich danke für Ihre Rede, Herr Pfarrer; bezahlt hab’ ich sie, aber brauchen tu ich sie nicht! Der Dukatengraf weiß ganz von selber, was er zu tun und zu lassen hat, und Sie werden wohl noch erfahren, was für ein Unterschied zwischen Leichenrede und Strafpredigt ist!“

Emma erschrak im höchsten Grad über das Tun ihres Vaters; sie zog ihre Hand aus der seinen und wandte sich zum Sarge zurück.

„So bleib, wenn dir’s gefällt; ich habe nichts dagegen!“ sprach er, indem er sich von dem Grabe wegwendete.

Die Nahestehenden wichen scheu vor ihm zurück; er schritt mit trotzig zurückgeworfenem Kopfe zwischen ihnen hindurch und verließ den Kirchhof.

Draußen kam eben der Wagen des Barons dahergerollt.

„Willkommen, Herr Baron! Sie wollen wohl zu mir?“ fragte er diesen.

„Natürlich! Wir müssen Ihnen doch unser Beileid über den Verlust —“

„Schon gut! Halb so viel ist auch genug! Und wenn Sie sich wundern, mich hier zu sehen statt drin bei den anderen, so sollen Sie unterwegs den Grund erfahren. Darf ich aufsteigen?“ —

Sein Verhalten hatte die ganze Versammlung in eine unbeschreibliche Verwirrung gebracht, und nur einer war es, der seine Fassung bewahrte, der Geistliche. Er suchte zunächst das Mädchen zu beruhigen, welches jetzt laut schluchzend auf

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der Erde lag; dann winkte er dem allgemeinen Ausdrucke der Entrüstung Schweigen und setzte, als die nötige Stille wieder eingetreten war, die unterbrochene Rede weiter fort.

Ein Begräbnis wie das heutige hatte noch niemals stattgefunden, aber es war auch noch niemals eine Predigt gehalten worden wie die gegenwärtige, und als am Schlusse das Gebet gesprochen war, da wußte jeder, daß er diesen Tag im ganzen Leben nie vergessen werde.

Der Sarg sollte nun geschlossen werden, und schon griff man zum Deckel, da zog ein lauter, angstvoller Ruf die allgemeine Aufmerksamkeit nach dem Eingange hin.

„Halt, halt,“ klang es, „Ihr dürft sie nicht einscharren; ich muß die Anna sehen; sie lebt; sie ist nicht tot!“

Es war der Köpfle-Franz. Trotz aller Eile war es ihmerst jetzt gelungen, die Trauerstätte zu erreichen, und mit Aufbietung seiner letzten Kräfte arbeitete er sich den breiten Kirchhofsgang hinauf, bis in die Nähe des Sarges. Er hatte den Hut verloren; die langen Haare hingen ihm in wirren Strähnen um den Kopf; auf Stirn und Wangen stand der Schweiß in großen Tropfen; seine Augen glühten wie im Fieber; sein Atem flog und seine Hände bebten, als er die schwarzen Bretter erfaßte, um sich an ihnen aufzurichten.

Kein Mensch trat ihm hindernd entgegen. Sie alle kannten die Geschichte des unglücklichen Mannes; sie alle wußten, daß niemand die Verstorbene so sehr im treuen Herzen getragen hatte wie er, daß ihr Tod, außer ihrem Kinde, keinem so nahe gehen mußte wie ihm, und so störten sie ihn nicht in seinem Verlangen, die leblose Hülle zu sehen.

„Anna, wach auf!“ rief er mit zitternder Stimme. „Der Franz ist da, der Grunert-Franz, der mit dir reden will! Ich weiß, du bist nicht tot, du wirst mich hören!“

Sein Auge suchte das erblichene Angesicht der Leiche; es fiel auf den regungslosen Kopf mit dem vor der Zeit ergrauten Haare, den eingesunkenen Augenhöhlen, den eingefallenen Wangen, den hippokratischen Zügen, und wandte sich dann mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke auf die Umgebung.

„Hab’ ich’s nicht gesagt? Die Anna ist nicht tot, die

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Anna kann mir nicht sterben! Das hier ist dem — na, dem seine Frau; das ist die Bäuerin von dem — na, dem Hof da draußen; die kann immer tot sein; die könnt ihr immer begraben, denn sie ist seine Frau gewesen. Aber die Anna, die ist mein; die hab’ ich bei mir zu Haus viel hundertmal; die lass’ ich mir nicht nehmen!“

Er schob sich von dem Sarge zurück und gewahrte nun erst Emma, welche unter herzbrechendem Weinen die erschütternde Szene beobachtet hatte.

„Wer bist denn du?“ fragte er sie. „Dich hab’ ich noch gar nicht gesehen! So wie du sah die Anna aus, als sie zum ersten Male ins Dorf gekommen ist, grad so wie du. Aber du bist sie nicht, du bist — geh weg“, unterbrach er sich, indem es wie Haß in seinen Augen aufblitzte; „ich könnte dir gut sein, grad wie der Anna, aber ich mag von dir nichts wissen. Die Anna hatte blaue Augen, du aber, wenn du auch weinst, ich sehe es doch, du hast Dukatenaugen!“

Er nahm die unentbehrlichen Hölzer, welche er vorhin von sich geworfen hatte, wieder von der Erde auf, lenkte um und schob sich, ohne die Versammlung weiter zu beachten, wieder von dannen.

Sein Weg führte ihn das Dorf hinauf; die Straße war ziemlich menschenleer, und die wenigen Personen, welche ihm begegneten, bemerkte er kaum. Nur allein mit seinen Gedanken beschäftigt, lenkte er endlich in einen engen Seitenpfad ein, welcher zu einer Stelle führte, wo abseits von den übrigen Gebäuden ein kleines, einstöckiges und außerordentlich vernachlässigtes Häuschen stand. Es war sein Eigentum und seine Wohnung.

Er hielt still, sah sich scheu nach allen Seiten um, und da er niemanden gewahrte, der seine Worte hören konnte, murmelte er halblaut:

„Das ist dem Köpfle-Franz sein Dukatenhof. Aber der Franz ist gescheiter als der — der — der andere. Wenn die Leut’ wüßten, daß der arme Krüppel bloß dann ein Bettler ist, wenn er mal nach Hause kommt, so würd’ mein Kachelofen —“

Er hielt vorsichtig inne, denn er war im Begriff gewesen, sein kostbarstes Geheimnis in den Wind zu plaudern. Nachdem -

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Nachdem er, um sich zu überzeugen, daß alles in Ordnung war, die Runde um das Häuschen gemacht hatte, zog er einen riesigen Schlüssel aus der Tasche und näherte sich der Tür. Das Schloß war so hoch, daß er es grad noch zu erreichen vermochte; er öffnete, schob sich in den engen dunklen Flur und schloß dann hinter sich wieder sorgfältig zu.

Die Hütte hatte zur ebenen Erde drei Räume: den Flur, einen kleinen Stall und die Wohnstube. Er öffnete mit einem zweiten Schlüssel die zu der letzteren führende Türe und verriegelte auch diese dann von innen mit einer Bedachtsamkeit, als hätte er ungewöhnliche Schätze zu verbergen. Da die Läden zugemacht waren, so herrschte vollständige Dunkelheit um ihn her, bis er ein Feuerzeug hervorsuchte und mit Hilfe desselben ein kleines Lämpchen anzündete, dessen ungewisser Schein wenigstens eine Art von Dämmerung hervorbrachte.

In dieser traten eine Anzahl von Köpfen gespenstisch hervor, welche rings an den weißgetünchten Wänden angebracht waren; sie stellten alle ohne Ausnahme in den verschiedensten Ausdrücken und Schattierungen ein und dasselbe Mädchen dar, und wer Emma vorhin auf dem Kirchhof gesehen hatte, dem mußte die Ähnlichkeit dieser Kopfzeichnungen mit ihr sofort in die Augen fallen.

Er hatte den Sack abgelegt, die Stemmhölzer bei Seite geworfen und kroch nun in einer Weise auf den Händen in der Stube herum, die ihm das Ansehen eines hilflosen vierfüßigen Tieres gab, dem die Hinterbeine gelähmt sind. In einer Ecke des ärmlichen Gemaches befand sich ein äußerordentlich anspruchsloses Lager, bestehend aus einem Haufen dürren Laubes, über welchen eine alte Decke gebreitet war. Er wühlte einige Zeit darin herum und brachte endlich zwei lange starke Kerzen zum Vorschein. Mit diesen näherte er sich einem niedrigen Tischchen, dessen Platte aus zwei Teilen bestand, deren obere zurückgeschlagen werden konnte. Zu beiden Seiten desselben war eine Drahttülle angebracht, in welcher er die Kerzen befestigte und dann mit Hilfe der Lampe anbrannte. Dann zog er ein Tuch aus dem Tischkasten, breitete es über die Platte und schlug die Klappe zurück. An der einen Seite der Klappe war ein in Öl gemaltes Porträt angebracht, welches

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den nämlichen Kopf darstellte, der in so vielen Variationen an die vier Wände gezeichnet war.

Er hockte sich vor dem Tische nieder und richtete sein Auge mit warmem innigen Blicke auf das Gemälde. So saß er lange, lange Zeit still und im Anschauen versunken. Seine Züge waren jetzt frei von jenem störenden Ausdrucke und sprachen von nichts als von einer tiefen Verehrung.

„Du hast mich wieder, meine Anna!“ flüsterte er endlich glücklich. „Bin lange fort gewesen, nicht wahr? Aber brauchst keine Sorge zu haben, es ist mir gut gegangen, besser noch als andere Male. Hab’ wieder in der großen Stadt gemalt, wo die schöne Galerie ist mit den vielen Bildern, und wo sie mich immer anschauen wie ein Wundertier, wenn ich die vornehmen Leute zeichne, die da aus- und eingehen. Und denk’ dir nur, der König war auch da mit seiner Frau und vielen anderen Herren und Damen, Fürsten und Grafen, Ministern und Generälen; die haben mit mir gesprochen. Ich hab’ sie zeichnen müssen in ihrer Wohnung, alle miteinander. Da hat’s Geld gegeben, wie ich dir noch niemals so viel mitgebracht hab’. Laß dir’s zeigen! Kassenbilletts, Gold und Silber, aber ich hab’ mir’s umwechslen lassen zu lauter Dukaten.“

Er bog sich zu dem Rollkasten nieder, und nun zeigte es sich, daß dieser einen Doppelboden hatte. Zwischen diesem befand sich ein Schubfach, welches er hervorzog. Neben mehreren Malerrequisiten und sonstigen Dingen, die man dem unscheinbaren Bettler nicht zugetraut hätte, lagen hier mehrere sorgfältig in Papier gewickelte Rollen, welche er öffnete, um die Goldstücke in dem Scheine der Kerzen glänzen zu lassen.

„Siehst du, wie viel?!“ lachte er glücklich. „Sie sagen hier, ich wäre verrückt, weil du nicht meine Frau geworden bist; aber ich bin gescheiter als sie alle, und wer der Reichste ist im Dorf, das wird sich schon auch noch zeigen! Es hat noch keiner von ihnen in der Zeitung gestanden, mich aber haben sie in Dresden hineingesetzt. Warte, ich will dir’s ’mal vorlesen!“

Er nahm ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Fache und schlug es auseinander.

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„So, hier steht’s! Ich habe dir’s mitgebracht, damit du auch wissen sollst, was sie dort von mir sagen.“

Zwar nicht fließend, denn dazu hatte er die Schule nicht gehabt, aber doch ohne besondere Fehler las er folgende Zeilen ab:

„Seit einigen Tagen ist wieder wie schon einige Male früher jener seltsame Besucher unserer Bildergalerie zu bemerken, welcher nicht nur die Augen durch sein körperliches Unglück auf sich zieht, sondern auch durch eine seltene Begabung für das Porträtzeichnen das lebhafteste Interesse aller derer erweckt, die den mehr als bescheidenen Mann in der ihm stillschweigend eingeräumten Ecke haben hocken sehen. Leider scheint der Unglückliche infolge trüber Lebenserfahrungen, über welche er ein beharrliches Schweigen bewahrt, geistig gestört zu sein, was ebenso wie sein Alter eine Ausbildung, respektive Ausnutzung seines Talentes zur Unmöglichkeit macht; doch äußert sich diese Störung in einer andere durchaus nicht belästigenden Weise und hat jedenfalls ein Wesentliches zu der Teilnahme beigetragen, welche ihm sogar von hoher und Allerhöchster Seite entgegengebracht worden ist. Wie wir vernehmen, hat er trotz seiner mehr als zu geringen Courfähigkeit das Glück gehabt, die Majestäten zeichnen zu dürfen; die meisten der Hofchargen haben sich diesem Akt der Mildtätigkeit angeschlossen, und wenn man aus sicherer Quelle erfährt, daß einer unserer reichsten englischen Sommergäste ihm eine kleine Familienskizze mit fünfzig Talern honoriert hat, so liegt darin keineswegs eine Beruhigung für uns, sondern vielmehr eine Aufforderung, ihn auch weiteren Kreisen aufs wärmste zu empfehlen.“

„Siehst du?! Was da steht, ist alles wahr, nur das von wegen dem Geist nicht. Ich kann doch nichts dafür, daß ich anders rede als diese Leute und daß sie zu mir niederschauen müssen, wenn sie mich ansehen. Der König hat gar gemeint, er wolle für mich sorgen und deshalb an meine Behörde schreiben lassen, ich aber hab’ mir das verbeten, denn wir haben’s noch lange nicht nötig, uns ins Armenhaus stecken zu lassen, ich nicht und du erst recht nicht! Wer weiß, ob der König immer so viel Dukaten hat wie wir!“

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Die Erwähnung der verhängnisvollen Münzsorte gab seinen Gedanken eine andere Wendung.

„Und der — der — na, du weißt schon, wen ich meine, der auch nicht! Mit dem geht’s immer mehr bergab; er spielt und kauft Papiere von dem Zettelkramer, die ’mal nichts wert sein werden, und nachher — nachher wird der Dukatenhof mein, denn der Baron bekommt ihn nicht, dafür will ich schon sorgen! Ich hab’ dich nicht haben sollen, weil ich arm gewesen bin, und der — — der war reich. Da hab’ ich einen Schwur darauf gesetzt, daß der Hof mein wird, und jetzt, jetzt bin ich ebenso schwer und noch schwerer wie der damals war. Und wenn du das nicht glaubst, so will ich dir’s beweisen. Wir wollen wieder ’mal zählen!“

Er kroch zu dem alten unförmlichen Kachelofen, unter welchem ganze Stöße von Zeichnungen lagen, die immer nur den einen Kopf behandelten. Er räumte sie zur Seite, und wer nach kurzer Zeit an dem verschlossenen Laden gehorcht hätte, dem wäre es bei scharfem Gehör vielleicht gelungen, einen Klang zu erlauschen, der mit der Ärmlichkeit der halb verfallenen Hütte nur schwer in Harmonie zu bringen war. —

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2. Aus vergangener Zeit.

„Auff dem Hoff ißt gesessen eyn Herr von Stiegelitz, so beynahe achtzig Jahre alt gewessen ißt, und hat gehabt eyn so überaus rothe Nasen, weyl er den Safft geliebt hat, so auß dem Faß gelauffen kompt. Daherohalben ißt ihme der Beyttel klein geworden, und besagter Stiegelitz hat sich unbesehen müssen nach eyn Käuffer für das Gut. Da kompt eyn Wachtmeister, so unter dem Wallenstein gedient, Graff geheissen, und indeme derselbe Schwedenfeynd den Hoff kaufft, nimpt er eyn Geldkatzen vom Leib and wirft darauß eyn überauß mächtigen Hauffen Dukkaten auff den Tisch, so mann zu Kemnitz im Lande Hungarn schlägt. Solch Gewechs ist gewessen eyn allermassen köstlich Artzneyen für dem alten Herrn seyn trukken Kehlen, und hat selwiger Wachtmeister von diesser Stundt geheissen der Dukkatengraff. Hab ihn auch noch gekannt, indem er meyn zweitte Leich gewesen ißt, so ich eyn Parentation gegeben hab.“

So lautet eine Stelle aus den chronikalischen Aufzeichnungen, welche noch heute auf dem Pfarramte einzusehen sind. Der Wachtmeister ist gestorben; eine ganze Reihe seiner Nachkommen sind ihm gefolgt, aber Name und Vermögen haben sich erhalten und fortgeerbt von Kind auf Kindeskind. Die Dukatengrafen haben stets mit Stolz auf ihre Vorfahren

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zurück- und auf ihre Nebenmenschen herabgeblickt, sind nie umgänglich gewesen und haben auch niemals für irgend jemanden Freundschaft und Vertrauen gezeigt.

Nur Heinrich Graf, der letzte von ihnen, machte eine Ausnahme von dieser Regel.

Da draußen in dem kleinen einstöckigen Häuschen wohnte eine arme Taglöhnerswitwe, die zu den Arbeiterinnen des Dukatenhofes zählte und in der freien Jahreszeit sich ihren Unterhalt mühsam mit Spitzenklöppeln verdiente. Sie hatte nur einen einzigen Sohn, der ein aufgeweckter munterer Junge war, der ärmste im Dorfe, aber der erste in der Schule. Gegensätze berühren sich. Heinrich, der Sohn des Reichsten im Orte, aber der letzte auf der Schulbank, war selten zu Hause zu treffen, sondern kroch mit dem Grunert-Franz unter dem niederen Strohdach des Häuschens herum, wo sie allerhand Romane spannen, oder strich mit ihm durch Feld und Wald, eine Tätigkeit, zu welcher er die meiste Lust besaß. Der Arme half dem Reichen im Lesen und Schreiben, und dieser brach dafür dem Hungrigen sein Butterbrot.

Die Knaben wurden Jünglinge. Sie waren die beiden hübschesten Burschen auch über das Dorf hinaus, und gar manches Mädchen blickte nach ihnen, wenn sie des Sonntags miteinander zum Tanz kamen. Die blanken Dukatenknöpfe standen dem Heinrich zum Entzücken, und wer nun gar die kostbare Uhrkette sah, die er so gern im Schein der Lichter flimmern ließ, der verzieh es ihm, daß er noch immer wie in den Kinderjahren die meiste Zeit im Walde stak und sich wenig um den Hof bekümmerte. Er brauchte ja nicht nach dem Brot zu arbeiten wie andere, und die Hirsche, Rehe und Hasen sind für jedermann gewachsen.

Der Franz konnte zwar keine dukatenen Ketten und Knöpfe aufzeigen, ja, er hatte nicht einmal eine Uhr, denn alles, was er erübrigte, das gab er seiner Mutter, die nun alt geworden war und nichts mehr verdienen konnte; — aber er war so nett und bildsauber, fast noch hübscher als der Heinrich. Und dazu war er so klug und gescheit, daß selbst der Schulmeister gesagt hatte, er könne ihm nichts mehr lehren, besonders im Zeichnen. Daß er zuweilen des Nachts mit einem Päckchen über die

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Grenze schlich, das konnte ihm niemand übelnehmen; der liebe Gott hat nicht befohlen, daß der Tabak auf der einen Ackerfurche mit acht Kreuzern bezahlt werden soll, wenn er auf der andern nur einen Groschen kostet, und wer als armer Handarbeiter für eine alte Mutter zu sorgen hat, der muß dahin gehen, wo man ihn am besten bezahlt — so dachte man wenigstens allgemein.

Eine gab es, die ihm ganz besonders zugetan war, die Marie auf dem Dukatenhof. Sie war eine vater- und mutterlose Waise, aber ein schmuckes und ordentliches Mädchen, an dem man schon seine Freude haben konnte. Wer weiß auch, was geworden wäre, denn der Franz war gar lieb und freundlich mit ihr, so daß es manche heimliche Neiderin gab; doch da trat ein Ereignis ein, durch welches ihre Hoffnung, und nicht bloß die ihrige, zu nichte gemacht wurde.

Es hatte nämlich seit einiger Zeit sowohl der Wilddiebstahl als auch die Schmuggelei in der Gegend so überhand genommen, daß die Regierung sich genötigt sah, dem gesetzwidrigen Treiben durch scharfe Maßregeln entgegenzutreten. Das Forst- und Grenzpersonal wurde durch Militär verstärkt, und der dieses kommandierende Offizier nahm sein Quartier im Dorfe, da es ziemlich in der Mitte der Operationslinie lag. Er war der älteste Leutnant der Armee, hatte es während der Befreiungskriege vom Soldaten bis zur gegenwärtigen Charge gebracht, konnte aber auf weiteres Avancement nicht rechnen, und da er partout nicht aus dem Dienst scheiden und um eine Zivilanstellung einkommen wollte, so pflegte man ihn zur Lösung von Aufgaben der vorliegenden Art zu verwenden. Und dazu war er allerdings auch gerade der rechte Mann, das sollte sich bald zeigen.

Ein Leutnant ist im Gebirge ein gar vornehmer Herr, und niemand wagte es, ihn in Logis zu nehmen. Der Dukatengraf aber hatte nicht nur den Mut, sondern auch die Räumlichkeiten dazu, und so zog denn der alte Leutnant mit Sack und Pack und mit Weib und Kind bei ihm ein. Er mochte sich von den beiden letzteren nicht trennen. Und das konnte ihm auch gar niemand übel nehmen, wie alle Jungburschen wenigstens in Beziehung auf die Tochter sofort einsahen. Sie hieß

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Anna und war in allem das gerade Gegenteil von ihrem Vater. Er war Soldat durch und durch, kurz angebunden und hielt es nicht für nötig, sich populär zu machen; man nannte ihn grob und stolz und ging ihm aus dem Wege. Dies geschah natürlich am sorgfältigsten von denjenigen, die seine amtliche Tätigkeit zu fürchten hatten.

Ganz anders aber verhielt man sich zu den beiden Frauen, die mehr als er mit den Leuten in Berührung kamen und sich sichtliche Mühe gaben, den Eindruck zu mildern, welchen die Rauheit des Leutnants hervorbrachte. Bald waren sieallgemein beliebt, und Anna, mit der sich kein hiesiges Mädchen messen konnte, hatte im Fluge die Herzen der männlichen Jugend erobert.

Bei dem gesunden Sinne der einfachen Menschen wurde sie durch diese Eroberungen nicht belästigt, und nur einer hielt sich für berechtigt genug, ihr seine Zuneigung offen zu zeigen — Heinrich. Sein Vater, der alte Dukatenbauer, hatte, obgleich der Leutnant augenscheinlich nicht mit großer Habe gesegnet war, nicht das mindeste gegen die Neigung seines Sohnes einzuwenden, vielmehr tat er sein möglichstes, dem Stammbaum der Dukatengrafen ein so vornehmes Blatt beifügen zu dürfen. Er ließ seinen Reichtum im hellsten Lichte spielen, machte den Gästen ihren Aufenthalt so angenehm wie möglich und benutzte dann einmal eine Gelegenheit zu einer leise anspielenden Frage.

„Hätte nichts dagegen, Graf, wenn Euer Sohn was taugte! Ihr seid ein gemachter Mann und ich auch; wir könnten uns zusammenschicken. Aber ich hab’ den Heinrich auf dem Korn, Ihr werdet schon wissen weshalb; und die Anna scheint ihm nicht nachzulaufen. Schlagt Euch also den Gedanken aus dem Kopf!“

So lautete die unverblümte Antwort des Leutnants.

Der Bauer nahm seinen Sohn vor, erreichte aber bei dessen eigenwilligen Charakter nichts weiter, als daß Heinrich einen Haß auf den Vater des Mädchens warf, den er sich aber nicht anmerken ließ. Er besaß ein leidenschaftliches Naturell und gehörte zu denjenigen Menschen, die durch eine Weigerung nur hartnäckiger werden und dann um jeden Preis zum Ziel

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zu gelangen suchen. Daß Anna ihn nicht lieb haben konnte, hielt er gar nicht für möglich. Er war gewohnt, bewundert zu werden, und sah in ihrer Zurückhaltung nur die natürliche Wirkung des Respektes, welchen sein Reichtum ihr einflößen mußte. Bei nächster Gelegenheit wollte er sich ihre Zusage holen, und dann war der Leutnant gezwungen, nachzugeben.

— — — — — — — — — — —

Es war an einem Novemberabend. Noch lag kein Schnee, aber der Winter hatte seine Nähe schon längst durch starke Nachtfröste verkündigt, und wen nach eingebrochener Dunkelheit nicht die Notwendigkeit hinaus ins Freie trieb, der zog es vor, in der wohlerwärmten Stube zu bleiben. Um diese Zeit galt es für die Beamten und das Militär ganz besonders wachsam zu sein, da durch den hartgefrorenen Boden das Wildern und Paschen erleichtert wurde, indem nämlich niemand Gefahr lief, sich durch zurückgelassene Fußspuren zu verraten.

Franz war wie gewöhnlich bei Heinrich auf dem Dukatenhof. Die Bewohner desselben hatten sich alle außer dem Leutnant in der Wohnstube des Bauers zusammengefunden und kürzten sich die Zeit durch allerlei Unterhaltung.

Als es zehn Uhr schlug, erhob er sich, um nach Hause zu gehen. Marie, welche genau wußte, wann er sich zu verabschieden pflegte, war vor einigen Minuten in die Küche gegangen und trat ihm draußen im Flur entgegen.

„Franz!“ sagte sie

„Ach so! Dich hab’ ich ganz vergessen. Gute Nacht!“ antwortete er.

„Franz!“ wiederholte sie

„Was noch?“

„Darf ich dir was sagen?“

„Warum denn nicht? Ich werde wohl hören, was.“

„Du bist jetzt ganz anders geworden als sonst.“

„Anders? Das denkst du bloß! Ich wüßte doch nicht, inwiefern ich anders sein sollte! Wie war ich denn früher und wie bin ich jetzt?“

„Geh, Franz! Du weißt, daß ich das nicht sagen kann. Aber ich wollte, wir wären wieder allein auf dem Dukatenhof!“

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„Ist dir vielleicht der alte Kommandant nicht recht?“

„Der schon! Aber —“

„Aber —?“

„Ich darf’s nicht sagen, Franz!“

„So sag’ es mir ein andermal, wenn du darfst. — Gute Nacht, Marie!“

„Gute Nacht!“

Die Worte des Mädchens hatten ihren Eindruck auf den jungen Mann doch nicht verfehlt. Langsam und gesenkten Hauptes schritt er über den Hof und blieb, am Tore angelangt, stehen, um noch einen Blick über das Gebäude zu werfen. Da oben hinter dem kleinen Dachfenster flammte ein matter Lichtschein auf. Er wußte, von wem er herrührte. Sie wollte allein sein, weil ihr das Herz wehe tat. Sie litt nicht allein. Auch er fühlte seit einiger Zeit eine Bitterkeit in seinem Innern, die ihm allen Frohsinn, alle seine sonstige Heiterkeit raubte. Hatte ihn doch die Mutter schon öfters gefragt, was ihm fehle, und er hatte zu dieser Frage geschwiegen, denn die einzige Antwort hätte doch nur die sein dürfen, welche ihm vorhin auch von Marie geworden war: Das kann ich dir nicht sagen!

Er ging weiter und war dabei so in Gedanken versunken, daß er die leisen Schritte nicht vernahm, welche ihn zu erreichen strebten. Erst als eine leichte Hand sich auf seine Schulter legte, bemerkte er, daß er nicht allein war.

„Herr Grunert —!“

Er wandte sich um und trat überrascht einen Schritt zurück, als er bei dem Sternenschimmer des unbewölkten Firmaments Anna, die Tochter des Leutnants, erkannte.

„Sie sind es?“ fragte er verwundert.

„Ja!“ klang es mit ungewisser Stimme. „Ich muß Ihnen etwas sagen; aber kommen Sie von der Straße weg dorthin in den Schatten. Es darf mich niemand bei Ihnen sehen, und ich glaube, Sie werden beobachtet.“

Sie schlüpfte über den Weg hinüber unter einige Bäume, welche an der andern Seite der Straße standen.

Er folgte ihr erwartungsvoll; es war ihm so eigentümlich wie noch nie, so beklommen, und doch hätte er vor Freude laut jauchzen mögen.

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„Ich werde beobachtet?“ fragte er. „Wer soll mich denn beobachten, und wehalb?“

„Das darf ich Ihnen nicht sagen —“

Es war sonderbar, auch aus ihrem Munde klang diese Antwort.

„Sie dürfen nicht? Aber vorhin wollten Sie mir doch was sagen.“

„Eine Bitte ist es, die ich aussprechen möchte. Wollen Sie mir dieselbe erfüllen?“

„Gern, o wie gern! Ihnen könnt’ ich nichts abschlagen!“

„So gehen Sie jetzt schlafen, wenn Sie nach Hause kommen. Gehen Sie nicht weiter!“

Er stutzte. — „Warum?“ fragte er dann.

„Weil Sie sich sonst in eine große Gefahr begeben.“

Das helle Dachfenster war ihm auch hier sichtbar; aber seine Gedanken waren jetzt ganz andere als vorhin. Er hätte die gegenwärtige Minute um keinen Preis der Welt verkauft. Die Tochter des Offiziers war ihm heimlich nachgekommen, um ihn zu warnen. Er war ein einfaches, ungebildetes Dorfkind, aber er sagte sich, daß sie sich zu dieser Warnung nur nach einem Kampf mit ihrem Gewissen habe entschließen können, und dieser Kampf, er hatte seinetwegen stattgefunden, seinetwegen, der es niemals gewagt hätte, aus freien Stücken mit dem Mädchen nur zu sprechen.

„Und ich soll wohl nicht in Gefahr sein?“ fragte er leise und mit stockendem Atem.

„Nein“, klang es zögernd und ebenso leise.

„Warum nicht?“

Sie schwieg; dann bot sie ihm die Hand. „Gute Nacht!“

Er ergriff die kleine Hand und hielt es fest. Er wußte nicht, woher ihm so plötzlich der Mut kam, aber er fragte dringender: „Warum nicht, Anna?“

„Weil ich es nicht will. Also Sie bleiben zu Hause?“

„Soll ich nur die Wahrheit sagen?“

„Ja!“

„Ich darf nicht zu Hause bleiben, nun erst recht nicht; das bin ich den anderen schuldig. Aber Gefahr gibt’s jetzt keine mehr für mich, Anna.“

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„Ist das auch wahr?“

„Ja!“ versicherte er einfach, aber sie hörte es dem Klange dieser kleinen Silbe an, daß die Warnung ihren Zweck erreicht hatte. „Und nun möcht’ ich gern auch bitten!“

„Sprechen Sie!“

„Seien Sie mir nicht bös wegen — wegen —“

Er stockte. In diesem Augenblicke erschien ihm das, was er vorher wirklich für kein Unrecht gehalten hatte, erst im wahren Lichte.

„Ich bin Ihnen nicht bös“, erklärte sie. „Aber tun Sie es nie wieder, bitte, bitte! Wollen Sie mir das versprechen?“

Er streckte ihr beide Hände entgegen.

„Ich versprech’s, Anna, ich versprech’s zehnmal, hundertmal, tausendmal, aber Sie müssen auch Franz zu mir sagen!“

Wieder schwieg sie. Er hielt ihre Hände gefaßt und lauschte auf die Erfüllung seines Wunsches.

„Gute Nacht, Franz!“ flüsterte sie endlich mit fast ängstlicher Stimme.

„Gute —“

Er vollendete den Gruß nicht, denn vor ihnen tauchte in diesem Augenblick eine dunkle Gestalt auf, die sich längs dem Zaun unbemerkt in ihre Nähe geschlichen hatte.

Es war Heinrich.

Er sprach kein Wort; der Grimm raubte ihm das Vermögen dazu. Aber er erhob den Arm, und von der geballten Faust mit aller Wucht gerade an der Schläfe getroffen, stürzte Franz zusammen.

Anna sah es nicht; sie war, sobald sie den Dukatenprinzen erblickte, heftig erschrocken davongeeilt.

Dieser folgte ihr. Er wußte nicht, was er getan hatte; die Überlegung war ihm vollständig verloren gegangen, so daß er gar nicht an die Möglichkeit dachte, daß der Geschlagene tot sein könne.

Ohne die Fliehende erreicht zu haben, gelangte er in sein Zimmer, wo er in sinnloser Wut auf und nieder rannte.

War sein Blut einmal in Aufregung gebracht, so pflegte es sich nicht so schnell wieder zu beruhigen; jedes neue Wort, jeder neue Gedanke brachte die Wogen in neue Wallung. Er

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öffnete einen Schrank, nahm eine Büchse nebst Schießbedarf daraus und schlich sich hinunter auf die Straße.

Franz war fort.

„Hab’ mir’s doch gedacht, daß er nicht zum Tode getroffen war. Aber das tut nichts; sterben muß er dennoch! Er hat mir ja gesagt, daß es heute ein Unternehmen gibt, und ich weiß den Ort, wo er vorüberkommen muß!“

Das Gewehr über die Schulter werfend, eilte er nach dem Walde.

Franz war nur betäubt gewesen und bald wieder zu sich gekommen. Er raffte sich empor und ging nach Hause, wo er des Vorkommnisses mit keinem Worte erwähnte. Nach kurzer Zeit verließ er das Häuschen vorsichtig wieder und schritt eilenden Laufes wie Heinrich dem Walde zu.

Jedenfalls war Anna Zeugin einer dienstlichen Unterredung bei ihrem Vater gewesen, und aus ihrer Warnung ging hervor, daß heute ein Schlag gegen die Schmuggler geführt werden sollte. Obgleich das Militär noch nicht seit langem in der Gegend war, hatte der Scharfsinn des Leutnants doch schon die meisten der Personen erraten, welche bei dem verbotenen Grenzhandel eine hervorragende Rolle spielten, und seine Anordnungen mit solcher Umsicht zu treffen gewußt, daß mehrere von ihnen bei der Tat getroffen und in das Gefängnis geliefert worden waren. Ging das noch eine Weile so fort, so mußte das einträgliche Geschäft in ein langes und nachteiliges Stocken geraten, und die Schleichhändler sahen sich zu ernsten Maßregeln genötigt. Man beschloß, die gefährlichen Einzelfahrten aufzugeben und den Transport der hochbesteuerten Güter nur in größeren und wohlbewaffneten Trupps vorzunehmen. Auf diese Weise war die Sicherheit größer, denn man konnte es mit dem Grenzpersonal aufnehmen und es im Notfalle sogar auf einen wirklichen Kampf ankommen lassen. So war es schon einige Mal zu ernsten Zusammenstößen gekommen, bei denen es auf beiden Seiten Verwundete gegeben hatte. Heute sollte ein Hauptcoup vorgenommen werden, und da der Offizier darüber unterrichtet zu sein schien, so war anzunehmen, daß es in den Reihen der Schmuggler einen Verräter geben mußte. Sie mußten noch rechtzeitig gewarnt

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werden; — und daher strebte Franz in heftigem, dabei aber behutsamen Laufe dem Orte zu, welcher als Versammlungspunkt dienen sollte.

Dort angelangt, fand er noch niemand vor. Sich stets nur hart am Boden fortbewegend, rekognoszierte er die Umgebung und überzeugte sich auf diese Weise, daß auch die Gegner noch nicht eingetroffen waren.

Unter einem dichten Tannengebüsch Schutz suchend, wartete er nun mit ängstlicher Spannung auf das Nahen der Seinigen.

Er hatte nicht lange so gelegen, als er eilige Schritte vernahm. Die Person, von welcher sie herrührten, konnte wohl kaum zu einer der beteiligten Parteien gehören, sonst wäre von ihr mehr Bedacht darauf genommen worden, ungehört zu bleiben. Sie mußte gerade an dem Versteck Franzens vorüber, und dieser erkannte zu seinem lebhaften Erstaunen Heinrich, der in seiner leidenschaftlichen Erregung nicht daran dachte, jedes Geräusch so viel wie möglich zu vermeiden. Das Gewehr auf seinem Rücken ließ vermuten, daß er es auf einen Pirschgang abgesehen habe. Franz hatte damit nichts zu tun und hielt es nach dem Geschehenen und in Rücksicht auf den Zweck seines Hierseins auch gar nicht für geraten, seine Anwesenheit zu erkennen zu geben.

Nach einem kurzen Lauschen schritt Heinrich auf eine dunkle Föhrengruppe zu, hinter welcher er verschwand.

Nach einigen Minuten gewahrte Franz einen neuen Ankömmling, welcher sich aber so unhörbar herangeschlichen hatte, daß der verborgene Lauscher ihn erst bemerkte, als er bereits in der nächsten Nähe seines Versteckes stand. Er trug die gewöhnliche Werktagskleidung der hiesigen Landbewohner, hohe Schaftstiefel, Lederhosen und eine kurze Jacke; doch erkannte Franz trotz dieser Verkleidung den Leutnant. Er stand ihm schon so nahe, daß er ihn mit der Hand hätte ergreifen können. Natürlich aber unterließ er dieses gefährliche Experiment und wartete leise atmend und jede Bewegung vermeidend ab, was der alte Soldat tun werde.

Seine Geduld sollte nicht zu lange auf die Probe gestellt werden. Der Offizier legte die Hand an den Mund und ließ einen Laut hören, welcher dem Rufe des Uhus gleichen sollte,

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von dem Kenner aber augenblicklich als Nachahmung erkannt werden mußte. Das war jedenfalls ein Zeichen für die in der Nähe versteckten Soldaten.

Es wurde ihm augenblicklich eine Antwort zu teil, aber nicht eine solche, wie er sie erwartet hatte, sondern eine so fürchterliche, daß das Entsetzen darüber Franz sofort aus seiner liegenden Stellung in die Höhe riß. Ein Schuß krachte drüben aus den Föhren hervor; der Leutnant griff konvulsivisch mit den Armen in die Luft, wurde von der Gewalt, welche das tödliche Blei ausübte, um sich selbst gedreht und brach dann zusammen.

Wer hatte das getan? Franz fragte nicht; er wußte es, denn ihm war auf einmal alles klar. Er warf keinen einzigen Blick hinüber nach der Stelle, wo er den mörderischen Strahl hatte aufblitzen sehen, er kniete neben dem Gefallenen nieder, um zu untersuchen, ob er tot oder nur verwundet war.

Da rauschte es heftig durch das niedere Geäst, und eine Anzahl von Männern stürzten herbei. Sobald sie die Gruppe erblickten, warfen sie sich auf Franz und rissen ihn empor. Es waren Soldaten.

„Der Leutnant ist es; der Mensch hat ihn erschossen!“ rief der von ihnen, welcher den Toten zuerst erkannte.

„Bindet ihn; schnürt ihn zusammen, daß er sich nicht rühren kann!“ rief es im Kreise.

Franz remonstrierte gegen diese Maßregel und suchte ihnen den wahren Sachverhalt darzustellen; sie aber hörten nicht auf seine Verteidigung und wollten nichts anderes von ihm wissen, als wo er die Büchse hingeworfen hatte.

„Ich habe nicht geschossen“, versicherte er; „ich habe kein Gewehr gehabt! Wer’s gewesen ist, das habe ich nicht gesehen, sondern nur den Blitz da drüben in den Kiefern!“

„Ausrede!“ rief der Unteroffizier, welcher das Wort genommen hatte. „Wir werden das Gewehr schon noch finden, und dann wird es sich wohl zeigen, daß es dir gehört!“

Er untersuchte seinen regungslosen Vorgesetzten und entschied dann:

„Er ist tot, auf der Stelle tot gewesen. Wir müssen ihn hier liegen lassen bis zur gerichtlichen Feststellung des

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Tatbestandes. Ich transportiere mit drei Mann den Gefangenen in die Stadt und mache Anzeige, der Sergeant mit den übrigen bleibt hier, um dafür zu sorgen, daß alles genau so bleibt, wie wir es gefunden haben. Der Ort wird von Posten umstellt. Die Pascher werden ebenso wie wir den Schuß gehört haben und davon bleiben, aber wir müssen auch alles sonstige andere zu vermeiden suchen, wodurch irgend eine Spur verwischt werden könnte.“

Es wurde dieser Anordnung sofort Folge geleistet. Man schloß einen weiten Postenkreis um den Schauplatz des Mordes, und, nachdem der Unteroffizier befohlen hatte, auf jeden zu schießen, welcher auf dreimaliges Anrufen nicht antwortete, ließ er von seinen drei Leuten den Gefesselten in die Mitte nehmen und marschierte, das Gewehr schußfertig in der Hand, mit ihnen ab.

Die Kunde, der Grunert-Franz habe den Leutnant erschossen, weil er von ihm beim Schwärzen ertappt worden war, verbreitete sich schon am frühen Morgen wie ein Lauffeuer durch die ganze Gegend, und wer es nur möglich machen konnte, der eilte zur Stelle, um Zeuge von dem Aufheben der Leiche zu sein.

Der Staatsanwalt war schon vor Tagesgrauen unter Gendarmeriebegleitung angekommen, trotzdem er sich die Zeit genommen hatte, den Gefangenen erst aufzusuchen. Dieser hatte ihm den Vorgang wahrheitsgetreu berichtet und nur verschwiegen, was in Beziehung auf den Dukatenprinzen zu sagen gewesen wäre. — Der gewissenhafte Beamte richtete seine Rekognoszion nach diesem Bericht ein und mußte allerdings bemerken, daß unter dem tief herabhängenden Tannicht zur Zeit der Tat jemand gelegen haben mußte, wie das Geknicktsein mehrerer Zweige und deren noch frische Bruchstellen bewiesen. Auch der Ort, an welchem der Schütze gestanden hatte, wurde gefunden, doch waren die in dem verdorrten Heidelbeergesträuch befindlichen Spuren nicht von der Art, daß ein weiterer Anhalt genommen werden konnte; ebenso wie der auf dem Moose entdeckte Pfropfen, da er aus Werg bestand, nur dazu diente, die Aussage über die Richtung des Schusses zu bestätigen.

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Trotz diesen Umständen und dem für ihn sprechenden Eindruck, welchen Franz während der Verhöre auf den Untersuchungsrichter machte, mußte die Anklage aufrecht erhalten werden, da die Verdachtsmomente zu dringend erschienen und er ganz besonders über den Zweck seines nächtlichen Waldbesuches sich nicht aussprechen wollte.

Eine lange Reihe von Monaten umschlossen ihn die Mauern des Gefängnisses, ehe es zur richterlichen Entscheidung kam. Der gewandte Verteidiger stützte sich zumeist auf einen Umstand, welchem bisher nicht die gehörige Beachtung geschenkt worden war: Man hatte die Kleider des Angeklagten mit Blut bespritzt gefunden; dies konnte nur dadurch möglich sein, daß er im Augenblick des Schusses sich wirklich in der nächsten Nähe des Ermordeten befunden hatte, und da erwiesen war, daß der Schuß aus ziemlicher Entfernung abgefeuert war, so konnte er unmöglich der Mörder sein. Er wurde wegen mangelnder Brweisgründe freigesprochen und durfte seine Haft verlassen. — — — — — — — — —

Es war an einem dunklen Abend, als er das heimatliche Dorf wieder betrat und seine Schritte nach dem Häuschen richtete, in welchem, wie er wußte, man seiner Rückkehr harrte. Wenn alle ihn verurteilten, zwei taten es nicht: Die Mutter, weil sie an ihr Kind glaubte, und der Heinrich, welcher seine Unschuld kannte. Wem der Schuß eigentlich gegolten hatte, das wußte Franz; aber er brachte den jähzornigen Charakter Heinrichs und die an jenem Abende stattgefundene Überraschung in Rechnung, und da er trotz seiner persönlichen Überzeugung den Mörder mit juristischer Sicherheit nicht bezeichnen konnte, so hatte er über Heinrichs Anwesenheit im Walde geschwiegen und gab sich noch jetzt der Hoffnung hin, daß trotz dem Vorgefallenen, ja gerade wegen dewegen, sobald der Dukatenprinz sich dankbar erweisen wollte, die alte Freundschaft sich von neuem befestigen werde.

Er fand die Tür verschlossen. Sie war für den, welcher mit der Vorrichtung vertraut war, auch von außen zu öffnen. Er entfernte mit der untergeschobenen Hand den Riegel und trat ein.

„Mutter?“ rief er, in der Stube angekommen, wo es vollständig finster war.

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Er erhielt keine Antwort und griff daher zu Lampe und Feuerzeug. Als der Schein der ersteren den Raum erhellte, gewahrte er eine lang ausgestreckte Gestalt, welche, von einem weißen Tuche überdeckt, auf dem Lager ruhte.

Die Leuchte entfiel seiner Hand, und mit einem leichten Aufschrei warf er sich über die Tote hin.

Da trat jemand vorsichtig tappend durch den Eingang.

„Die Tür steht offen! Ist jemand hier?“ fragte eine männliche Stimme.

„Ja!“ antwortete Franz mit unterdrücktem Schluchzen.

„So bist du’s selber?“ Es war der Ortsvorsteher. „Ich hab’ heute vom Amt die Nachricht erhalten, daß du kommst, und wollte nur sehen, ob du auch schon da bist. Wirst wohl gefunden haben, wie’s zu Hause steht … Und wenn du etwa nicht weißt, wer schuld dran ist, so will ich dir’s sagen: Du hast sie auf deinem Gewissen!“

Franz war nicht schwach. Er hatte die lange Kerkerhaft mutig ertragen; jetzt aber war es nicht nur finster in der Stube, jetzt war es auch finster in ihm. Es war kein stechender, kein brennender, es war ein tauber, dumpfer Schmerz, welcher sich seiner bemächtigt hatte. Ohne zu wissen, wozu und wohin, wankte er aus dem Hause und das Dorf hinab.

Bei den Bäumen angekommen, in deren Schatten das Verhängnis ihn erfaßt hatte, lehnte er sich müde an einen der Stämme und gedachte des Glückes, welches damals den Pulsschlag seines Herzens verdoppelte. War sie noch hier? Oder hatte sie den Ort verlassen, welcher so traurige Erinnerungen für sie haben mußte?

Er schritt dem Dukatenhof zu, um sich diese Fragen beantworten zu können. Er hatte nichts Böses getan, und niemand konnte es ihm verwehren, wenn er Zutritt nahm wie früher.

Unter dem Tore traf er auf Marie, welche eben im Begriffe stand, den Hof abzuschließen. Es war schon spät.

„Marie, du? Guten Abend!“ grüßte er.

„Franz! Wahrhaftig, es ist der Franz!“ rief sie, und schon rollten ihr auch die Tränen aus den Augen. „Willkommen wieder daheim! Haben sie dich endlich losgeben müssen?“

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„Endlich!“ seufzte er tief auf.

„Warst du auch schon zu Hause?“

„Ja!“

„Du armer, guter Kerl, wie magst du da erschrocken sein!“

„Ist hier alles daheim?“

„Alles.“

„So laß mich ein!“

„Franz, wirst du mir bös sein?“

„Warum?“

„Weil ich dich bitte, lieber wieder fortzugehen. Oder warte ein wenig hier außen, bis ich gleich wiederkomme. Ich werde dir alles erzählen!“

„Warten? Warum? Sag’s gleich!“

„Die zwei Dukatenmänner sind nicht gut auf dich.“

„So!“ dehnte er. „Weshalb denn?“

„Weil — weil — du weißt es ja!“

„Sag’s lieber; ich will’s hören!“

„Weil – weil der alte Soldat erschossen worden ist!“

„So!“ dehnte er wieder, diesmal aber heiser und tief grollend. „Weiter nichts?“

„Und weil — er hat nichts davon gesagt, sondern ich denke mir’s nur — von wegen der jungen Bäuerin.“

„Der Heinrich hat geheiratet?“

„Hast du noch nichts davon gehört?“

„Nein! Wer ist die Frau?“

„Du kennst sie auch. Die Anna.“

„Die Anna?“ Das Blut stockte ihm in den Adern, und hastig fragte er: „Welche Anna?“

„Dem Leutnant seine.“

Er sagte nichts, aber er legte seine beiden Arme um den Torpfeiler und preßte den Kopf an die kalten Steine.

Sie faßte ihn an, denn sie sah, daß er im Begriffe stand, zusammenzubrechen.

„Franz, was ist mit dir? Komm, laß die Säule los; ich werd’ dich schon halten!“

Er antwortete nicht. Es war ihm, als hätte ein Keulenschlag seinen Kopf getroffen; er wollte sprechen, aber er brachte

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es nur zu einem unartikulierten Laut, der sich mit einem fast tierischen Klange aus der zusammengeschnürten Brust emporrang.

„Franz, ich bitt’ dich, red’, sag’ nur ein Wort! Nachher wird es dir wieder leicht.“

Die eine seiner Hände löste sich vom Pfeiler und legte sich auf ihren Kopf. Sie fühlte die Eiseskälte derselben selbst durch das Haar hindurch.

„Marie — — — —!“

Sie konnte sich nicht länger halten und schlug inbrünstig die Arme um ihn.

„Laß doch gehen, Franz! Ich habe dich ja lieb, mehr als mein Leben!“

„Ich weiß! Du bist die einzige, die nicht an mir gezweifelt hat, und das werd’ ich dir niemals vergessen. Sogar die Mutter hat’s geglaubt, was die Leute geredet haben, sonst hätt’ ich sie heute nicht tot gefunden. Marie, du weißt’s nicht, wie mir ist, hier und hier,“ — er deutete nach der Stirn und dem Herzen — „meine Seele ist weg und meine Gedanken sind alle; es ist grad, als ob ein Mühlrad mir durchs Leben gegangen wäre.“

„Das wird wieder anders, Franz, wenn nur mal die ersten Tage vorüber sind! — Aber wo willst du denn bleiben? Zu Hause bei der Leiche kannst du doch nicht sein!“

„Wo anders? Wer soll den Mörder in die Stube nehmen?“

„O, wenn ich doch nur nicht Dienstbote wäre, ich ließe dich nimmer fort. Geh doch ’mal zum Herrn Pfarrer! Der weiß in allem Rat und wird auch für dich sorgen.“

„Ich gehe nach Hause. Bei der Leiche, da ist mein Platz; zur Leiche, da gehöre ich hin, denn ich bin auch tot!“

Er ging. Das sich ängstigende Mädchen wollte ihn noch zurückhalten, aber er wehrte ihr ab:

„Brauchst keine Sorge zu haben, Marie! Es ist mir wüst im Kopf, aber ich weiß schon noch, was ich tu. Schlaf’ wohl!“

„Gute Nacht, Franz, und laß dir das Herz doch wieder leichter werden!“

Sie blickte ihm nach, so weit sie bei der Dunkelheit es

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konnte, und schloß das Tor nicht eher zu, als bis der Klang seiner Schritte vollständig verhallt war.

In das Haus zurückgekehrt, traf sie auf den jungen Bauer, welcher im Begriffe stand, die Wohnung durch den hinteren Ausgang zu verlassen. Er hatte die hohen Stiefel an und trug einen langen, unter einem Tuche verborgenen Gegenstand in der Hand.

Sie wußte, daß es zum nächsten Mittag Wildbret geben würde.

Franz hatte die Straße nicht weit verfolgt; es trieb ihn unwiderstehlich, das, was er gehört hatte, mit eigenen Augen zu schauen. Er bog um das Gut herum und schlich sich durch den Garten nach dem Hofraum, nach welchem die hinteren Fenster der Wohnstube führten. Nur mit seinen trüben Gedanken beschäftigt, gewahrte er nicht, daß eine Gestalt ihm folgte, die ihn bei dem Übersteigen des Zaunes bemerkt hatte.

Die Stube war erleuchtet, und am Tische saßen zwei mit Näharbeit beschäftigte Frauen. Er trat näher, er mußte sie deutlich sehen, sie, an die er gedacht hatte zu jeder Stunde seines einsamen Gefängnislebens.

Man rückte drinnen die Lampe, und ein heller Lichtstrahl glitt über ihn dahin. Jetzt erst erkannte sein Verfolger, wen er vor sich hatte. — „Der Franz!“ murmelte er. „Er ist wieder da — sie haben ihn freigegeben! Er will die Anna sehen. Nun weiß er, daß sie meine Frau geworden ist und wird mich verraten! — Soll ich ihn jetzt wegputzen?“

Er nahm das Tuch vom Gewehr und legte an; aber nach einigen Augenblicken ließ er die Waffe wieder sinken. — „Nein, der Dukaten-Heinrich ist nicht so dumm, daß er sich einstecken läßt und nachher seinen Kopf hergibt! Ich weiß was Besseres, wie man den Franz zum Schweigen bringt.“

Es war ein teuflischer Gedanke, der ihn erfaßt hatte. Das Terrain war von dem Hofe nach dem Garten zu ansteigend, und in der Nähe des Fensters lagen die abgesägten Stämme zweier starker Nußbäume, die man ihres Alters wegen vor kurzer Zeit gefällt hatte. Jetzt hatte die eigene Schwere sie noch nicht zu tief in den Boden gedrückt, und es bedurfte also nicht mehr als Manneskraft, einen von ihnen ins Rollen

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zu bringen. Einmal in Bewegung gesetzt, mußte er bis an die Mauer rollen und den dort stehenden Beobachter unbedingt treffen.

Ahnungslos, welch eine furchtbare Gefahr ihm drohe, hing dieser mit dem Auge an dem lieblichen, jetzt aber tiefblassen Gesichte der so heiß Geliebten. Was hatte sie bewogen, dem Mörder ihres Vaters ihre Hand zu geben? War es vielleicht die Liebe gewesen? Er konnte keinen andern Grund finden, er konnte überhaupt gar nicht sinnen und denken, er fühlte nur, daß es finster in ihm wurde, finsterer noch als es vorhin gewesen war …

Da vernahm er hinter sich lautes Getöse, unter welchem der Boden erzitterte, — rasch drehte er sich um — ein schmetternder Schlag gegen die Mauer ließ das Haus erbeben — ein furchtbarer, markerschütternder Schrei erschallte durch die Nacht — die Tat war geschehen.

Der alte Dukatenbauer drin in der Stube fuhr, von dem Lärmen aus dem Schlummer geweckt, von seinem Großvaterstuhle empor; auch die beiden Frauen waren, auf das heftigste erschrocken, in die Höhe gesprungen; das Gesinde, welches sich vor kurzem erst zur Ruhe begeben hatte, eilte herbei, und auch Heinrich erschien unter der Tür.

„Was ist denn hier unten los bei euch?“ fragte er. „Das war doch grad, als ob’s ein Erdbeben gegeben hätte!“

„Es war nicht bei uns, es war draußen im Hofe“, lautete die Antwort.

„So müssen wir nachsehen. Brennt rasch die Laterne an!“

Man folgte dem Gebote und eilte dann hinaus; ein entsetzlicher Anblick bot sich den Leuten.

Zwischen dem zurückgeprallten Klotze und der Wand lag in einer rauchenden Blutlache ein menschlicher Körper, dem die Beine bis herauf an den Leib vollständig zermalmt worden waren.

„Was ist hier geschehen? Wer ist der Mann?“ fragte der Bauer.

Heinrich nahm dem Knecht die Laterne aus der Hand und leuchtete dem Verunglückten in das Gesicht.

„Der Franz ist’s, der Grunert-Franz!“ rief er verwundert.

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„Was hat der hier gewollt? Ist er denn wieder los vom Amt?“

„Den hat das Holz erschlagen. Er ist ihm zu nahe gewesen, und da hat es ihn mit fortgerissen“, sagte der alte Bauer. „Spannt rasch ein Pferd vor den Wagen und fahrt nach dem Doktor. Vielleicht ist er noch nicht tot!“

„Der Franz? Mein Herrgott, ist das wahr?“ rief Marie, indem sie die anderen zurückdrängte. „Ja, er ist’s! — Franz, Franz, was ist mit dir geschehen? O, wärst du doch nach Haus gegangen!“

Sie warf sich ungeachtet des fließenden Blutes über ihn hin und wehrte die Arme zurück, welche sie von ihm wegziehen wollten.

Auch Anna war mit nach dem Hofe geeilt. Als sie den Namen des Zerschmetterten nennen hörte, riß es ihr die Hände nach dem Herzen. Nur ein leiser Wehelaut entrang sich ihren Lippen, aber es wurde ihr dunkel vor den Augen; die Gestalten der Umstehenden verschwanden in wirbelnden Nebeln; sie wankte und glitt langsam an dem Hause nieder.

Heinrich sah sie liegen. Er faßte sie, zog sie empor und hastete ihr zu:

„Was ist denn das mit dir? Hat dich wieder ’mal der Herzwurm angebissen? Dem Franz ist nichts als sein Recht geschehen. Sie haben ihn losgelassen, weil er sich aufs Leugnen gelegt hat; aber wer Menschenblut vergießt, des Blut wird auch vergossen — so steht es in der Bibel, und was die sagt, das ist wahr … Geh du hinein, du bist uns hier nichts nütze!“

Er führte sie in die Stube, wo sie kraftlos in den Sessel sank. Das Gesicht in die Hände vergrabend, legte sie den Kopf auf den Tisch und ließ den Tränen freien Lauf, die sich zwischen den Fingern Bahn brachen und schwer und langsam auf die Diele niedertropften. Ihr blühendes Leben war seit Monaten schon welk geworden, und heute, heute hatte es den schwersten Schlag erhalten.

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3. Ein Gottesgericht.

Ganz am oberen Ende des Dorfes lag ein kleines Häuschen, einstöckig wie das des Köpfle-Franz, und nur mit Stroh gedeckt; aber es war sauber gehalten, und die Fenster, durch welche das Licht hinaus auf die Straße blitzte, weil die Läden noch nicht geschlossen waren, zeigten kein einziges Fleckchen, welches die Glasscheiben getrübt und verunziert hätte. So blank und reinlich wie diese waren, sah es im ganzen Stübchen aus. Die heute erst frischgescheuerte Diele war mit grünen Tannenzweigen belegt, Tisch, Bänke und Stühle bis aufs Weiß gerieben; die Kacheln des altertümlichen Ofens, in welchem ein lustiges Feuer knisterte, glänzten wie Email, und das blecherne Kochgeschirr flimmerte wie feines Silber aus der Ecke hervor.

Dieser Nettigkeit entsprach auch das Äußere der Frau, welche am Klöppelkissen saß und mit emsigen geschickten Fingern die zierlichen Hülsen erklingen ließ. Sie war nicht mehr jung; zahlreiche graue Fäden durchzogen das früher dunkle Haar, aber es lag doch noch wie Jugend auf ihren weichen, regelmäßigen Zügen, und die Wangen zeigten noch immer eine leichte Röte als den Widerschein der Jahre, die nichts von Falten und Furchen wissen.

An der Wand über dem Tische hing das Bild des Heilandes in einfach vergoldetem Rahmen, und auf der andern Seite

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zwei Köpfe, welche mit Bleistift auf gewöhnliches weißes Schreibpapier gezeichnet waren. Sie stammten von dem Köpfle-Franz und trugen in gotischen Buchstaben die Unterschrift „Karl“ und „Marie“.

Die Frau war die einstige Magd auf dem Dukatenhof und hatte zu ihrer Hochzeit ihr Bild und dasjenige ihres Bräutigams vom Köpfle-Franz als Angebinde erhalten.

Sie ließ plötzlich die Arbeit ruhen und horchte nach der Tür. Ein Mann trat ein, der, das Alter abgerechnet, dem Bilde an der Wand aufs Haar ähnlich sah. Er grüßte freundlich:

„Guten Abend, Mütterle! Da bin ich schon! Heute ist Sonnabend, da ist die Arbeit früher alle.“

„Guten Abend, Vater!“ dankte sie. „Ich hab’ nicht gedacht, daß du schon jetzt zu Hause sein wirst. Die Erdäpfeln sind noch nicht ganz fertig, aber sie werden gleich kochen!“

„Schadet nichts! Ich schmauche derweil ein wenig meine Pfeife. Schon gut; ich bring’ die Stiefel schon ganz selber herunter!“

Sie leistete ihm beim Ausziehen Hilfe, legte einiges Holz im Ofen nach und kehrte dann zu ihrer Klöppelei zurück. Er hatte auf der Bank Platz genommen, stopfte sich mit behaglicher Bedächtigkeit die Pfeife und blies dann den Rauch des anspruchslosen Krautes mit einer Miene von sich, welche auf einen ganz außerordentlichen Genuß schließen ließ.

„Hast’s schon gehört, Marie?“ fragte er.

„Was denn?“

„Hm! Ich sehe es schon, du weißt noch nichts, sonst hättest du’s in den fünf Minuten, die ich hier bin, schon längst vom Herzen ’runter.“

„Ich bin heute gar nicht ins Dorf gekommen, sondern bloß bis hin zum Wassertrog. — Was gibt’s denn so grausam Neues?“

„Es ist nicht bloß eine, es sind zwei Posten, die ich bringe, die eine vom Dukatengraf und die andere vom Pascherkönig. Denk’ dir nur, Mutter: der Dukatenbauer hat gestern abend die Emma verspielt!“

„Verspielt? Wie denn? So was ist doch gar nicht möglich!“

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„Freilich ist’s möglich! Er hat wieder ’mal mit dem Baron und dem Zettelkramer droben bei dem Bergwirte gesessen, und als das Geld alle gewesen ist, da haben sie zuerst um die neue Kutsche und nachher um die letzte Ernte und endlich um die Emma gespielt.“

„Das ist doch fast gar nicht zu glauben! Es kann doch niemand sein eigen Kind verspielen!“

„Das kommt nur drauf an, wie’s ausgemacht ist. Der Zettelkramer hat die Kutsche, der Bergwirt die Ernte und der Baron die Emma, die nun seine Frau werden muß.“

„Mein Gott, das arme Kind kann mich grad dauern. Von einem so gotteslästerlichen Handel hat man doch noch nie gehört! Ich bin nur begierig, wie lange es der Heinrich noch treiben wird! Nun hat er doch geprahlt mit seiner Staatskarosse! Und die Ernte, die ganze mühsame Ernte! Was er gehabt hat, das muß doch nun bald alle sein, und man möchte sich nur wundern, wo er’s noch immer hernimmt!“

„Ja, man glaubt’s aber auch nicht, was in so einem Gut alles steckt! Man soll niemanden etwas Böses gönnen, aber wenn’s mit dem ein Ende nimmt, so hat er’s selbst verschuldet und vielleicht auch verdient.“

Sie nickte zustimmend und mit ernster werdendem Gesicht. Noch niemals war ein Wörtchen über ihre Lippen gekommen, aber sie wußte, daß an jenem für den Köpfle-Franz so verhängnisvollen Abend der junge Bauer nicht mehr im Hause gewesen war; sie hatte ihn mit dem Gewehr fortgehen sehen, und doch war er gleich da gewesen, als das Unglück geschehen war. Damals hatte es eine schwere Zeit für sie gegeben; aber sie wollte jetzt nicht daran denken, und fragte sie dann:

„Und die andere Neuigkeit?“

„Auf dem Pascherkönig seinen Kopf sind dreihundert Taler Prämie gesetzt worden. Denk dir nur, wenn man sich die verdienen könnte!“

„Den fangen sie nicht, sonst hätten sie ihn schon längst. Kein Mensch weiß, wer er eigentlich ist, nicht ’mal seine eigenen Leute. Er ist bald da, bald dort, und hat niemals dieselbe Figur —“

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Sie wurde unterbrochen. Es klopfte laut an das Fenster, und eine jugendliche, frische Stimme rief:

„Guten Abend, Vater; guten Abend, Mutterle!“

„Der Wilhelm, der Wilhelm ist’s!“ riefen beide auf das freudigste überrascht, indem sie von ihren Sitzen aufsprangen und nach der Tür eilten.

Dort trat ihnen der Unerwartete mit herzlichem Gruß entgegen. Er trug eine Soldatenuniform mit Unteroffiziersabzeichnung.

Den Quersack, welchen er auf der Schulter gehabt hatte, beiseite stellend, umarmte und küßte er die Eltern herzlich und meinte dann: „Nicht wahr, das kommt unverhofft? Ich hatte euch doch geschrieben, daß ich erst zu Weihnachten kommen darf!“

„Freilich! Hast wohl Urlaub?“

„Hm, so halb und halb; aber das darf ich euch nur heimlich sagen!“

Er schob sie auf ihre Sitze zurück, zog sich selbst einen Stuhl herbei, sah sich vorsichtig in der Stube um und berichtete dann mit gedämpfter Stimme:

„Ich soll den Schmugglerkönig fangen!“

„Den Schmugglerkönig? — Du?“ — fragte sein Vater erstaunt.

„Ja, ich!“ nickte er.

„Das klingt absonderlich! Wie kommst denn du dazu?“

„Das ist nämlich so gewesen: Es ist seit Menschengedenken hier an der Grenze noch nicht so zugegangen wie jetzt; die Schwärzer treiben ihr Geschäft ja ganz ins große und so öffentlich, als hätte ihnen kein Mensch was dagegen zu sagen. Drum hat der König wieder Militär hergelegt, grad wie damals vor vielen Jahren, wo der Pate den Leutnant erschossen haben soll. Aber das hat nichts geholfen, weil die Packläufer einen Hauptmann haben, der schlauer ist als die Beamten und Soldaten alle miteinander; der bringt ein Abenteuer nach dem andern fertig; in allen Blättern und Schriften wird über ihn gelesen, — ich glaube, er liest’s auch selber mit. Jetzt haben sie gar einen Preis auf seinen Kopf gesetzt; aber ich hab’ gemeint, das hilft auch nichts, denn das Militär

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kennt die Gegend nicht, und mit den Aufsehern ist’s fast ebenso. Da muß einer her, der alle Schliche und Wege genau weiß und ihnen aufpaßt, ohne daß sie’s ahnen. Das hab’ ich ’mal gesagt und der Herr Hauptmann hat’s erfahren. Denn sein Bruder ist im Ministerium, und so ist’s von einem zum andern gegangen, bis ich plötzlich zum Oberst mußte. Der hat mir Urlaub auf unbestimmte Zeit gegeben und ein Schreiben, welches ich hier beim Amt und beim Grenzkommandanten vorzuzeigen habe. Nun ziehe ich die Montur aus und gehe spazieren; kein Mensch wird denken, weshalb ich eigentlich zu Haus bin, und wenn das Glück gut geht, will ich den König schon erwischen. — Seht her!“

Er öffnete den Quersack und zog zwei Revolver hervor.

„Die hab’ ich mitbekommen, weil ich kein Seitengewehr und keine Flinte tragen darf. Es ist mir auch verboten, mich mit einem Grenzer oder Soldaten sehen zu lassen, weil die Schwärzer sonst Verdacht bekommen könnten.“

Die Mutter sah zwar mit besorgtem, aber auch stolzem Auge auf ihren Sohn. Sie wußte, daß seine Vorgesetzten sehr viel auf ihn hielten, und wenn sie auch erkannte, daß ein Vorhaben wie das seinige ihn in große Gefahren bringen konnte, so fühlte sie sich doch gehoben durch die Ehre, welche in dem ihm gewordenen Auftrage für ihn lag.

Der Vater aber schüttelte bedenklich den Kopf und sprach:

„Du bist mir zu Haus willkommen, Wilhelm, aber stell’ dir die Sache nur nicht leichter vor als sie ist. Wenn es herauskommt, was du willst, so kann dir’s sehr leicht an den Kragen gehen. Ich glaube, auf zehn Leute ist jetzt hier bei uns einer zu rechnen, der den stillen Handel treibt, und du machst dir auf Lebenszeit die ganze Gegend zum Feind!“

„Laß nur gehen, Vater. Ich werd’ die Sache schon so andrehen, daß niemand etwas vermutet. Und an die dreihundert Taler mußt du doch auch mal denken!“

„Das schon!“ schmunzelte er. „Es wäre ganz hübsch, wenn die hier auf den Tisch zu liegen kämen, aber das wird wohl seine gute Weile haben. Die dich herschicken, sind ganz gewiß sehr kluge Herren, aber wie’s hier zugeht, das wissen sie doch so richtig nicht. Denk’ dir nur, wie’s vorige Woche

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gewesen ist! Da droben an der Maut gibt’s mitten in der Nacht auf einmal ein Getrappel; die Wache kommt heraus und sieht acht Reiter vor dem Hause halten, mit Gewehren in der Hand und die Pferde mit hohen Packen beladen. — Was Verzollbares? fragt der Offizier. — Ja, antwortete der vorderste. — Was denn? — Für fünftausend Taler feine Ware; aber kriegen tut Ihr nichts dafür als bloß die Ehre, mit dem Pascherkönig geredet zu haben! — Und wie er das sagt, da lacht er laut und galoppiert mit den anderen davon, daß die Funken fliegen. Der Offizier hat den Mund aufgerissen und sich halbtot geärgert. Und am andern Morgen da fehlen hier im Dorf acht Pferde, bei dem Dukatengrafen zwei, beim Richter zwei und die anderen bei vier kleinen Bauern. Die haben sie heimlich aus den Ställen gezogen und drüben im Kaiserlichen noch gleich am andern Tag verkauft, wie sich herausgestellt hat. Solche Dinge werden jetzt gewagt … Dein Pate, der Köpfle-Franz, hat die Schule für dich bezahlt, so daß du schon was gelernt hast, Wilhelm; du bist kein dummer Kerl; — aber den König, den fängst du schon nicht!“

„Wart’s ab, Vater! Es ist mir doch auch keine Schande, wenn es mir nicht gelingt. Weißt du was? Ich werd’ den Paten um Rat fragen. Den halten die Leute für dumm und nicht richtig im Kopf; aber er ist gescheiter als sie alle miteinander.“

„Tu’s! Man sagt ja, daß er früher auch mit über die Grenze gegangen ist; vielleicht kann er dir auf den richtigen Sprung helfen.“

„Ist er denn jetzt daheim?“

„Ja“, antwortete die Mutter. „Gesehen habe ich ihn zwar noch nicht, aber ich weiß, daß er da ist. Zum heutigen Tage bleibt er niemals außen, denn da jährt sich’s grad, daß sie ihn da draußen im Walde bei dem Leutnant gefangen haben. Was er da zu Haus vornimmt, das hat noch niemand gesehen; ich selber bin einige Male an seinem Laden g’wesen, aber er hat kein Licht in der Stube gehabt. Vielleicht findest du ihn um zehn Uhr da unten beim Dukatenhof.“

„Ich werde nachschauen. Aber sag’, Mutter, warum kauert er denn eigentlich die wenigen Tage, die er im Dorf ist,

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grad stets Punkt zehn Uhr abends dort unter den alten Bäumen?“

„Das kann ich auch nicht sagen. Der Dukatengraf hat’s nicht leiden wollen und gar mal Anzeige bei dem Richter gemacht; aber er hat nichts ausrichten können, weil dem Franz nichts Unrechtes nachzuweisen war.“

„Wie geht’s denn mit dem Bauer?“

„Immer weiter bergunter. Denk’ dir nur, gestern hat er sogar die Emma verspielt“!

„Die Emma? Wie meint ihr das; wie ist das zugegangen?“

„Sie muß den Baron heiraten; der hat sie gewonnen.“

„Der Baron?“ Er sprang vom Stuhle auf und blickte die Sprecherin erschrocken an.

„Ja, der Baron. Der hat ihm schon manch schönen Taler aus der Tasche gezogen und nimmt ihm nun auch noch die Tochter weg, damit er mal gleich den ganzen Hof bekommt.“

„Nein, der nimmt sie nicht weg, das weiß ich besser! Er tut nur so, als wollte er sie haben, damit er dem Bauer desto tiefer in den Kasten greifen kann. Kein Mensch kennt ihn; niemand weiß, woher er eigentlich stammt; er verführt die Bauern und schlachtet nachher die Güter aus, und der Zettelkramer, der Agent, der den Leuten seine schlechten Aktien aufbindet und dann ins Fäustchen lacht, der hilft ihm dabei. Und der Bergwirt, der ist der dritte im Bund. Er hat erst nichts gehabt, gar nichts, — und jetzt spielt er den großen Mann, natürlich nur mit fremdem Geld, welches ihm beim Spiel immer nur grad in die Hände läuft. Ich glaub’, er weiß auch mehr von der Schwärzerei als mancher andere.“

„Das sagen sie alle im Dorf. Und noch eins: Kein anderer ist der Schmugglerkönig als der Baron. Das ist ein schlimmer Gesell, und man kann es ihm schon zutrauen.“

„Da soll er sich nur inachtnehmen vor mir. Und die Emma bekommt er nicht, dafür werd’ ich schon sorgen. Ich will gleich einmal mit ihr reden!“

Er befand sich in einer Aufregung, für welche den Eltern die Erklärung mangelte; und noch ehe sie ihn weiter fragen oder am Gehen hindern konnten, hatte er die abgelegte Mütze wieder ergriffen und war verschwunden.

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Raschen Schrittes durcheilte er das Dorf und beachtete die ihm Begegnenden so wenig, daß er auch das Mädchen nicht bemerkte, welches mit einem gefüllten Kruge in der Hand aus dem Gasthof trat und überrascht stehen blieb, als er an ihr vorüber ging.

„Wilhelm, bist du’s?“ rief sie ihm nach.

Bei dem Klange dieser Stimme hemmte er sofort seinen Lauf.

„Emma! Schau, wie gut sich das trifft! Ich wollte zu dir“, sagte er.

„Ich dachte schon, du kennst mich nicht und willst gar nichts mehr von mir wissen, weil du mich nicht hast ansehen wollen. — Grüß Gott, Wilhelm!“ Sie reichte ihm die freie Hand und fragte dabei: „Hast wohl Urlaub?“

„Ja. Ich bin erst seit einer Viertelstunde zu Hause.“

„Wie lange bleibst du hier?“

„Das weiß ich nicht. Bei uns heißt’s: bis auf Ordre. Hast Bier geholt?“

„Ja, zum Abendbrot. Sie warten schon und ich muß mich sputen. Geh du derweil in den Garten; ich werd’ nicht lange aus sein!“

„Gut; aber sag’ mir erst, was das ist mit dem Baron! Die Mutter hat mir’s gleich erzählt und da habe ich es nicht aushalten können und bin sofort nach dem Dukatenhof gelaufen.“

„Hör’, Wilhelm, diese Sache ist nicht gut vom Vater. Ich habe heute gar viel geweint und ihm schöne Worte gegeben, aber es will nichts helfen. Auf morgen über acht Tage soll die Verlobung sein.“

„So!“ antwortete er. „Und du wirst dann Ja sagen?“

„Sprich nicht in dieser Weise, Wilhelm! Du weißt, wie lieb ich dich habe, und es ist gut, daß du da bist, sonst hätt‘ ich gar nicht gewußt, was ich vor Angst und Bange tun soll. Nun aber können wir uns bereden, und was du mir sagst, das werd’ ich machen, denn den Baron, den kann ich nicht leiden, und seine Frau mag ich erst recht nicht werden.“

Sie hatten den Hof erreicht. Da gab Wilhelm ihr die Hand und sagte:

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„Du bist grad so wie früher noch, und sollst’s auch nimmer bereuen. Der Leutebetrüger soll mit dir gar nichts zu schaffen haben, und ich werde schon noch was finden, wie ich ihm an den Kragen komme. — Aber jetzt geh nur hinein! Ich werde im Garten warten.“

Sie trennten sich. Er ging den Zaun entlang, sprang dann über diesen weg und legte sich trotz der schon ziemlich strengen Jahreszeit unter den weitgreifenden Ästen eines dickstämmigen Nußbaumes nieder.

Er mochte ungefähr eine Viertelstunde gelegen haben, da hörte er jemanden mit leisen Schritten quer über das Feld kommen und am Zaun stehen bleiben.

Was wollte der Mann hier? Wilhelm lief Gefahr, bemerkt zu werden. Schon entschloß er sich, den Ort behutsam zu verlassen, um ein besseres Versteck aufzusuchen, als er auch vom Hofe her Schritte vernahm, die ihn veranlaßten, seine jetzige Stellung nur dahin zu ändern, daß er sich so eng wie möglich an den Stamm schmiegte.

Der Nahende war kein anderer als der Dukatenbauer selbst. Er erkannte ihn sofort an der langen breiten Gestalt und dem eigentümlichen Klingen der Uhrkette, welches durch das Aneinanderschlagen der Dukaten verursacht wurde. Graf ging gerade auf die Stelle zu, an welcher jener sich niedergekauert hatte. Sie mußte also vorher genau bestimmt worden sein und vielleicht schon öfters zu ähnlichen geheimen Zusammenkünften gedient haben.

„Ist wer da?“ fragte er mit gedämpfter Stimme, aber bei der ringsum herrschenden Stille konnte Wilhelm die Worte recht gut vernehmen.

„Ja, ich bin’s!“ antwortete es.

„Nun?“

„Es ist alles in Ordnung. Aber der Händler verlangt das ganze Geld in barer Münze und auch die alte Schuld dazu. Es wäre zu viel diesmal, als daß er es ohne Zahlung riskieren könnte, sagt er.“

„Ich weiß es schon, — er soll alles haben! Heute steht mein ganzer Reichtum auf dem Spiel; drum seid fein hübsch vorsichtig, bis ich komme! Hier ist der Zettel. Steck ihn ins Loch!“

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Er reichte etwas über den Zaun hinüber und kehrte dann, während der andere sich entfernte, nach dem Wohnhaus zurück.

Dort stieg er die Treppe empor und trat in das Zimmer, welches ausschließlich nur für seinen Gebrauch bestimmt war und zu dem kein Mensch außer ihm jemals Zutritt bekam. Einen Schreibsekretät von einer Arbeit und Form, welche auf hohes Alter schließen ließen, öffnend, setzte er sich vor diesem nieder, zog ein Buch hervor, schlug es auf und begann die auf den Blättern befindlichen Zahlenreihen zu überrechnen. Sein schon sonst so strenges Gesicht verfinsterte sich mehr und mehr, und als er auch die letzte beschriebene Seite geprüft hatte, erhob er sich, ließ die geballte Hand dröhnend auf die Notizensammlung fallen und murmelte ingrimmig zwischen die Zähne:

„Alle, alle ist’s mit mir! Kein Stein, kein Ziegel von dem Dukatenhof ist mein. Ich bin kaput; ich bin bankerott; — ich muß gehen und vor dem Amt erklären, daß ich nichts mehr hab’! Daran ist niemand schuld als der Baron, der Bergwirt und der Agent, dieser Heimtücker, der einen durch seine blaue Nasenquetsch anstarrt wie die Klapperschlange den Vogel, so daß man nicht anders kann, als man muß zu ihm hin!“

Der Grimm trieb ihn mit großen Schritten in der Stube hin und her. Plötzlich aber blieb er stehen.

„Nein, noch ist nicht alles verloren; noch gehört der Dukatenhof mir, und meine Knöpfe und Ketten darf ich behalten. Der Baron hat ja die Emma gewonnen! Damit hat er meinen Schaden gewollt, aber es wird mir nur zu Nutzen sein, denn er darf doch seinen eigenen Schwiegervater nicht vom Hof jagen. Und darauf brauch ich mich nicht mal ganz allein zu verlassen. Ich hab’ heut’ alles auf die letzte Karte gesetzt, und wenn’s gelingt, so ist der Gewinn grad so groß wie aller Verlust bisher. So köstlich und teuer ist noch niemals ein stilles Gut über die Grenze geschafft worden wie heute, und es muß gelingen, denn ich hab’ es schlau genug angestellt, daß wir nicht erwischt werden. Die Grenzer sind falsch berichtet und werden zwei Stunden weit von hier auf uns warten, während wir grad vom Dorf aus über die Berge gehen. Das Geld dazu hab’ ich mit großer Mühe zusammengebracht;

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aber ich kann es schon daran wagen, denn es kommt doppelt wieder zurück!“

Er öffnete ein verborgenes Fach des Sekretärs und zog einige Pakete und Beutel hervor.

„So, jetzt kann’s losgehen. Die Kapuze hab’ ich im Wald; aber die Gewehre müssen wir heute fortlassen, weil wir so schon fast über unsere Kraft zu tragen haben.“

Er schloß das Möbel wieder zu, verlöschte das Licht und stieg hinab. Mit den Jahren überlegter geworden, verließ er das Haus nicht durch die Hoftür, wie es früher stets geschehen war, sondern er ging durch den Stall in die Scheune und trat durch den hintern Ausgang in den Garten.

Hier blieb er zunächst eine Weile stehen, um sich zu überzeugen, daß niemand zugegen sei, der ihn bemerken konnte. Früher war er nur aus Neigung zuweilen durch den Forst gestrichen, um irgend ein Wild abzulauern; die Verluste im Spiel aber hatten ihn auf den Gedanken gebracht, sie durch einen lohnenden Nebenerwerb auszugleichen, — aus dem Wilderer war ein Schmuggler geworden, und zwar ein Schmuggler, der es, ganz seinem Charakter angemessen, nicht auf gewöhnlichem Wege versuchte, sondern kühn und gewalttätig sich den Gesetzen entgegenstellte und es in kurzer Zeit so weit gebracht hatte, daß der Name, welchen er sich beilegte, ebenso bekannt war, wie seine Person in ein undurchdringliches Dunkel gehüllt blieb.

Durch die nächtlichen Abenteuer war sein Auge für die Finsternis geschärft worden, und so bemerkte er, daß er nicht allein war. Jener Stamm, welcher den Köpfle-Franz zum Krüppel gemacht hatte, war damals wieder in seine frühere Lage zurückgebracht worden; der Bauer hatte ihn aber nie verarbeiten lassen, obgleich der Bedarf dazu stets gewesen war; es hatte sich etwas in seinem Innern gesträubt, die Säge an das Holz zu legen, und so nahmen die beiden Stämme nach so langen Jahren immer noch dieselbe Stelle ein, welche sie früher innegehabt hatten. Auf ihnen saßen zwei Gestalten.

Er mußte wissen, wer sie waren, und schlich sich näher. Es gelang ihm, unbemerkt von ihnen soweit an sie heranzukommen, -

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heranzukommen, daß er sie nicht nur erkannte, sondern auch jedes ihrer Worte verstehen konnte. Er erlauschte folgendes:

„Nein, Emma, mit Gewalt ist hier nichts auszurichten, denn dein Vater ist ein harter Mann, den der Widerstand nur noch strenger machen würde. Im ersten Augenblick hätte ich gleich alles niederschlagen mögen, aber als ich hernach hier saß und auf dich wartete, da hab’ ich mir’s recht überlegt und bin dabei ruhiger geworden.“

„Und was soll ich denn tun?“

„Du mußt Ja sagen. Die Zeit ist zu kurz, als daß wir bis dahin einen andern Ausweg finden könnten; die Verlobung ist ja noch lange nicht die Hochzeit. Bis die herankommt, wird der liebe Gott schon helfen!“

„Da hab’ ich wohl auch noch ein Wort mit zu sagen!“ donnerte es da hinter ihnen.

Sie sprangen erschrocken empor und sahen sich um.

„Der Vater!“ rief Emma entsetzt.

„Ja, der Vater ist’s, du ungeratene Dirn! Gleich gehst du hinein in die Stube, sonst werd’ ich dir den Weg dazu weisen!“

Hier gab es keine Weigerung. Sie entfernte sich.

„Und du, was tu ich denn eigentlich mit dir?! Also ein harter Mann bin ich? Ja, die Emma ist wohl ein wenig weicher als ich; das will ich schon glauben. Mach, daß du fortkommst von hier, du unnützer Bub, und suche dir deine Liebste im Armenhaus, aber nicht auf dem Dukatenhof! Und das will ich dir noch sagen: Wenn du dich hier nur wieder blicken läßt, so ist’s um deine Knochen geschehen. Merk dir’s! — Und nun marsch fort!“

„Herr Graf,“ entgegnete ruhig der junge Mann, „Sie sind jetzt nicht in der Stimmung, daß ich Ihnen auf alles richtig antworten könnte, aber erstens kann ich vielleicht beweisen, daß ich kein unnützer Bub bin, und dann ist’s mir um meine Knochen noch niemals bange gewesen. Und wenn nun gar der Rock darüberhängt, den ich heute anhabe, so will ich keinem raten, sich an mir zu vergreifen! Ich geh, aber —“

Er sprach nicht weiter, — ein schallender Schlag hatte ihn mitten in das Gesicht getroffen. — „So, da hast’s, was

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ich von deinem bunten Flicken halte! Und nun mach schnell, sonst kommt noch mehr!“

Wilhelms Hände ballten sich zusammen; er machte Miene, sich auf den Bauer zu stürzen. Aber mit Aufbietung seiner ganzen Selbstbeherrschung trat er um mehrere Schritte zurück und sagte:

„Nein, Dukatenbauer, ich werd’ mich an Ihnen nicht vergreifen, denn Sie sind Emmas Vater! Und ein königlicher Unteroffizier, der Ehre im Leibe hat, weiß schon noch, wie er auf andere Weise zusammenkommt mit — mit — —“

„Nun — mit — mit wem denn, wenn ich fragen darf, Herr königlicher Feldmarschall?“ höhnte der Bauer.

„Schon gut! Die Ohrfeige kommt mit auf die Rechnung, die ich Ihnen vielleicht bald zu machen habe! — Gute Nacht, Dukatengraf!“

Er drehte sich um und ging, aber nicht durch den Garten, sondern er nahm seinen Weg durch das offene Haus; das war er sich und seiner Kleidung schuldig.

Es kostete Wilhelm nicht wenig Mühe, die in ihm herrschende Aufregung zu bezwingen und seine Gedanken von dem letzten Ereignisse weg auf die vorher belauschte Unterredung zu wenden. Er hatte zu handeln, und alles Persönliche mußte deshalb zunächst in den Hintergrund gewiesen werden.

Sein Weg führte ihn nach dem Häuschen des Köpfle-Franz. Dort angekommen, sah er durch eine dünne Spalte des Ladens, daß noch Licht in der Stube war. Er klopfte an.

„Wer ist da draußen?“ fragte es von innen.

„Ich bin’s, der Wilhelm! Darf ich herein, Pate Franz?“

„In meine Stube darf niemals kein Mensch nicht — auch du nicht; weißt’s ja!“

„Laß mich nur heute ein, Pate! Ich hab’ dich was zu fragen.“

„Frag’ morgen, wenn du mich auf der Straße siehst!“

„Es muß heute noch sein!“

„Ist’s so notwendig?“

„Ja! Die Mutter hat auch gesagt, ich solle zu dir gehen.“

Das schlug durch. Was niemand bei ihm erreichte, das

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war der Marie möglich. Er konnte ihr niemals vergessen, was sie nach jenem Abend an ihm getan hatte. Sie war von dem Dukatenhof fortgegangen und monatelang unter Sorge, Angst und Bangigkeit seine Pflegerin gewesen. Und als es seiner starken Konstitution gelungen war, die körperlichen Folgen der furchtbaren Verwundung zu überwinden, da hatte sie nicht mehr von ihm gehen wollen. Aber trotz der Störung, die sein Geist erlitten hatte, erkannte er doch, daß er ein solches Opfer niemals vergelten konnte; er nahm es nicht an und vermochte sie später sogar, ihrem jetzigen Manne ihre Hand zu reichen. Darum sagte er jetzt:

„So warte; ich komme hinaus. Ich wollte sogleich fort; da kannst du’s draußen sagen!“

Das Licht erlosch, und bald befand sich Franz vor dem Hause, dessen Eingang er wieder verschloß.

„Nun, was gibt’s? Ich denke, du bist in Garnison?“ fragte er den Unteroffizier.

„Ich bin heute nach Hause und will dir sagen, weshalb.“

Er überzeugte sich erst, daß kein Lauscher in der Nähe war, und stattete dann seinen Bericht ab, dem er auch das auf dem Dukentenhof Erfahrene beifügte. — „Aber, Pate, du darft niemandem wieder sagen, was ich dir vertraut habe!“ schloß er seine Rede.

Franz antwortete nicht. Er schien entweder in tiefes Nachdenken versunken zu sein oder mit einem Entschlusse zu ringen.

„Also, dem — dem, na, dem seine Tochter willst du zur Frau haben?“ fragte er endlich.

„Ja. Sie ist so gut, gar nicht wie ihr Vater, sondern grad wie ihre Mutter, die Anna.“

„Wie ihre Mutter? Wilhelm, die war nicht gut, die ist nicht gut geblieben; die ist falsch und treulos gewesen; von der mag ich nichts hören. Aber die Anna, die ist brav, und wenn die Emma so ist, da — da —“

Er hielt inne; es war doch ein Kampf, der sich in seinem Innern vollzog.

Wilhelm störte ihn nicht; er kannte seine Weise.

„Da — da, ja, da sollst du sie haben“, rang es sich endlich wie ein schwer gewordener Entschluß von den Lippen

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des Krüppels. „Die Anna wird Freude darüber haben, und die Marie, die soll ihren Sohn glücklich sehen. Ja, Wilhelm, du sollst die Emma haben. Als du zur Welt kamst, da hielten sie alle schon den Grunert-Franz für verrückt und lachten über ihn, aber dein Vater und deine Mutter, die sagten: Nun soll er grad Pate werden bei dem Jungen! — Die Verwandten haben’s nicht gewollt, aber sie haben’s doch durchgesetzt. Ich mußte das Glaubensbekenntnis sagen, und dann bin ich Pate gewesen. Schau, Wilhelm, das vergess’ ich ihnen nicht und dir auch nicht, und drum wird die Emma deine Frau!“

„Das wird aber nicht so schnell gehen, Pate, und jetzt denk’ ich auch nur an die Geschichte mit dem Schmuggel.“

„Es wird schon gehen, Wilhelm, denn der Köpfle-Franz weiß schon, was er sagt! Aber ja, der Schmuggel! — Weißt du was?“

„Nun?“

„Der — der — na, der ist der Pascherkönig!“

„Franz!“ rief der junge Mann.

„Schrei nicht so laut! Du hast’s schon selber auch gedacht; es ist dir nur schwer geworden, dran zu glauben. — Und den willst du fangen?“

„Höre, Pate, das ist eine schlimme Sache! Du bist klug, viel klüger als ich und die Leute hier denken, — komm, gib mir guten Rat!“

Wieder dauerte es lange, ehe eine Antwort erfolgte. Die Liebe zu Wilhelm trat mit Forderungen an Franz heran, welche an seinen bisherigen Plänen mächtig rüttelten.

„Recht hast du schon, der Köpfle-Franz ist gescheiter als sie alle“, nickte er endlich. „Er sieht, was kein anderer sieht, und weiß auch von dem Grenzhandel mehr als sie denken. Wenn ich dir nun sagen könnte, wo der Zettel zu finden ist!“

„Das weißt du?“ fragte der junge Mann erstaunt und begierig zugleich.

„Ich hab’s erlauscht einmal in der Nacht; es war derselbe Jahrestag wie heute, — du brauchst nicht zu wissen, wo ich da gewesen bin. Aber unterwegs, da hab’ ich ausgeruht, und wie ich so ruhig und still da sitze, da kommt einer und nachher

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wieder einer und kurze Zeit darauf der dritte; sie alle greifen an den Baum, machen Zündholzfeuer, sehen was Weißes an, was sie wieder zurückstecken, und gehen nachher fort. Ich hab’ gewartet, bis keiner mehr gekommen ist, und nachher die Sache genau untersucht.“

„Und was ist es denn gewesen?“

„Es ist mir allweil niemals eingefallen, jemandem etwas davon zu verraten, aber du, du sollst es wissen. Grad am Born hinauf muß man nach dem Walde gehen; da stehen erst Dornbeer und Erlen; nachher gibt’s lauter Tannen, bis drei Lärchen kommen, rechts vom Wasser, und die mittelste von ihnen, das ist die richtige. Sie hat zwei Ellen über der Erde einen kurzen dünnen Aststumpf, der aber nicht natürlich, sondern nachgemacht ist. Man kann ihn herausdrehen, und dann ist das Papier im Loch zu finden.“

„Warum wird es hineingesteckt?“

„Weil der — der, na, der König niemandem vorher wissen läßt, wo in der Nacht das Stelldichein ist; auf diese Weise kann es nicht verraten werden. Erst auf dem Zettel ist der Ort und auch die Zeit zu lesen, wo die Pakete zu finden sind.“

„Ich danke schön, Pate; — gute Nacht!“

Er war fort, ehe Franz nur noch ein Wort sagen konnte.

Es hätte allerdings noch gar viel zu besprechen gegeben, aber nun er wußte, wo das Papier zu finden war, war keine Minute Zeit zu verlieren; eiligen Laufes kehrte er zunächst zu den Eltern zurück.

Diese wußten von seinem Verhältnisse zu Emma nichts und hatten sich seine schnelle Entfernung nicht erklären können. Jetzt erwarteten sie den Grund zu erfahren, sahen sich aber getäuscht.

„Was ist denn los? Was willst du denn mit den Dingern?“ fragte die Mutter, als er sofort nach seinem Eintreten nach dem Quersack griff und die Revolver herausnahm.

„Seht, wie rasch das geht“, antwortete er, nach den Patronen greifend. „Ich bin noch kaum einige Stunden hier und weiß schon, wer der Pascherkönig ist!“

„Wer denn, und woher hast du’s erfahren?“

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„Das kann ich noch nicht sagen. Ich muß gleich wieder fort. Heute gibt’s ein Kapitalgeschäft, und ich werd’ ihn dabei erwischen!“

„Tu’s nicht, Wilhelm! Bleib zu Haus; es ist zu große Gefahr dabei, und du mußt dich doch auch erst anmelden!“ riet der Vater, welcher mit ängstlicher Scheu dem Laden der ihm fürchterlichen Waffen zusah.

„Ich weiß ja noch gar nicht, wie’s gehen wird! Erst muß ich erfahren, wo die Pascher zu finden sind, und wenn ich dann noch Zeit habe, so laufe ich um Hilfe. Ich will nur gleich das Schreiben einstecken, das ich vorzuzeigen habe. Legt nur den Schlüssel auf die Tür, wenn ich spät wiederkommen sollte. — Gute Nacht!“

Vor dem Hause angekommen, lenkte er von der Straße ab gleich nach dem Walde ein. Es war ihm jeder Schrittbreit so wohlbekannt, daß er trotz der Dunkelheit und dem Umstande, daß er keinen der zahlreichen Feldwege einschlug, sondern quer über Feld und Wiesen lief, den Forst doch grad bei der Stelle erreichte, wo das Wasser aus den Büschen ins Freie trat.

Bisher hatte er wenig darauf geachtet, den Schall seiner Schritte zu dämpfen; nun aber war Vorsicht nötig, obgleich er sie nur insoweit anwandte, als sie die Schnelligkeit des Vorwärtskommens nicht beeinträchtigte. Es war ihm nämlich ein Gedanke aufgestiegen, der ihn trieb, den Baum so bald wie möglich zu erreichen. Immer den Bach entlang, wand er sich durch die Erlen, schlüpfte dann, nur auf den Tastsinn angewiesen, durch das Tannendunkel und stand endlich tiefatmend vor den Lärchen.

Mit beiden Händen den Stamm der mittleren untersuchend, fand er die Worte des Paten vollkommen bestätigt. Der Aststummel ließ sich wie eine Schraube herausdrehen, in der hinter ihm befindlichen Vertiefung stak ein Papier.

Er faltete es auseinander, setzte ein Streichholz in Brand und las bei dessen Schein: „11Uhr — Mordloch.“

Nachdem er einige Sekunden angestrengt gelauscht hatte, ob sich auch niemand nahe, machte er abermals Licht und untersuchte den Zettel und den umliegenden Boden.

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Trotz der Weichheit des Mooses war in dem letzteren nicht die leiseste Spur eines andern Fußeindruckes als des seinen zu bemerken, und das Papier zeigte eine Reinheit, Schärfe und Neuheit der Falten, welche es nicht gehabt hätte, wenn es schon durch mehrere Hände gegangen wäre. Seine Hoffnung hatte sich erfüllt; — es war jetzt erst neun Uhr; die Pascher pflegten wohl erst später nach der Ordre ihres Anführers zu sehen, und er war also der erste, welchem sie in die Hände geraten war. Er zog sein Notizbuch hervor, nahm den Stift zur Hand und schrieb in der Dunkelheit einige Worte auf ein leeres Blatt, welches er dann abriß, zusammenlegte und in das Astloch steckte. Dann drehte er den Stummel wieder ein und begab sich, einen Umweg einschlagend, von der Stelle fort.

Noch aber hatte er keine große Strecke zurückgelegt, als er den Schritt wieder anhielt. Er hatte sich noch eines Besseren besonnen.

Das Mordloch war diejenige Stelle, an welcher einst der Leutnant erschossen worden war; sie hatte von diesem Verbrechen ihren Namen erhalten. Aus dem, was Wilhelm bisher erlauscht und von Franz erfahren hatte, ließ sich vermuten, daß dort die Waren direkt an den Pascherkönig abgeliefert wurden, und es sprachen Gründe dafür, daß dies nicht in Gegenwart derer geschah, welche bestimmt waren, die Pakete weiter zu transportieren. Die berüchtigte Schlauheit des Anführers legte vielmehr den Gedanken nahe, daß er die Träger der einen Strecke nicht mit denen der andern in Berührung kommen ließ; er hielt sich selbst stets im Dunkel und hatte seine Maßregeln jedenfalls so getroffen, daß seine Untergebenen nicht nur sich untereinander so wenig wie möglich kennen lernten, sondern auch bei der Übernahme und Bezahlung der Konterbande nicht zugegen sein konnten.

Darauf stützte Wilhelm seinen Plan. Kehrte er jetzt zurück, um Anzeige zu machen, so war es fraglich, ob die Betreffenden auch anzutreffen waren; mit den zwei Revolvern aber fühlte er sich dem Pascherkönig gewachsen, und wenn dieser wirklich identisch mit dem Dukatengrafen war, so stellte sich das Bild Emmas schützend vor den Vater, welchen das Herz gern

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schonend behandelt hätte, obgleich das Gewissen ihn schonungslos verurteilen mußte.

Er kehrte zu den Lärchen zurück und versteckte sich in deren Nähe so, daß er die Stelle vollständig zu übersehen vermochte. Je länger es dauerte, ehe er den ersten nahen hörte, desto sicherer wurde er, daß noch niemand das Papier gelesen hatte.

Endlich huschte jemand herbei; — der Schein eines Zündholzes flackerte auf, und Wilhelm blickte in ein wohlbekanntes Gesicht. Es war ein Nachbar seines Vaters. In wenig Augenblicken hatte er sich wieder entfernt, und zwar in der Richtung, welche auf dem falschen Zettel angegeben war.

Die für den Lärchenbesuch bestimmte Zeit schien gekommen zu sein, denn es erschien jetzt einer nach dem andern, und jeder beobachtete dasselbe Verfahren.

Wilhelm kannte sie alle. Der heutige Transport mußte allerdings bedeutend sein, denn erst der sechzehnte Mann schien den Schluß zu bilden. Es waren lauter Bewohner der Umgegend, und der heimliche Beobachter mußte im stillen seinem Vater, welcher ihn vor der Feindschaft dieser Leute gewarnt hatte, recht geben.

Als niemand mehr kam, erhob er sich und schlug die Richtung nach dem Mordloch ein. Es war kein weiter Weg, welchen er zurückzulegen hatte; aber das Fortkommen wurde durch den dichten Baumwuchs sehr erschwert, und es verging daher geraume Zeit, ehe er in die Nähe des Zieles gelangte.

Indem er sich jetzt vorsichtigen Fußes zwischen den Stämmen weiterschlich, hörte er zur Seite ein Rascheln der Zweige. Er blieb stehen, ließ den Mann an sich vorüberschlüpfen und folgte ihm dann nach. Fast kam es ihm so vor, als war er derselbe, welcher am Zaune des Dukatenhofes gestanden hatte.

Es konnte nur noch eine ganz geringe Strecke bis zum Stelldichein sein, als eigentümliche Laute ihn veranlaßten, den Schritt wieder zu hemmen. Ein Schrei erscholl, so heiser und kurz, als kam er aus einer festzugeschnürten Kehle.

Dann ließ sich eine hohnlachende menschliche Stimme vernehmen. „Ja, schrei nur; es soll doch nichts helfen! Heute

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ist der Jahrestag, daß du den Leutnant erschossen hast, und ich bin dafür eingesteckt worden. Dann bin ich alle Jahre des Nachts zur selbigen Stunde hergekrochen und habe den Geist des Ermordeten gebeten, mir zu helfen in meiner Rache, und nun hat er dich hergebracht und in meine Hand gegeben gerade an der Stelle, wo du mich hast zu Tode bringen wollen.“

Ein tiefes, schweres, röchelndes Stöhnen unterbrach ihn.

„Gib dir keine Mühe, loszukommen. Die Beine sind auf dem Dukatenhof, aber die Hände hab’ ich noch, und wen der Köpfle-Franz festnimmt, der wird alleweil nimmer frei. Deine Frau ist tot und du mußt ihr nach; und wenn du zehnmal der Schmugglerkönig bist, du bist doch auch noch ein anderer, du bist der — der — na, du weißt schon, wen ich meine, der mir das Herz aus dem Leib gerissen hat und mir das Leben vergiftet bis auf den heutigen Tag. Pass’ auf, jetzt geht’s mit dir zu Ende!“

Er stand im Begriffe, den unter ihm Liegenden mit einem letzten Druck zu erwürgen, aber es kam nicht dazu. Eine kräftige Faust packte ihn von hinten und riß ihn von seinem Opfer zurück, und zu gleicher Zeit flammte mit bleichem Licht ein blanker Messerstrahl durch das Dunkel. Der Mann, welcher an Wilhelm vorbeipassiert, war seinem Hauptmann zu Hilfe geeilt, doch kam die gezückte Waffe nicht zum tödlichen Stoß, denn auch er wurde ergriffen und von seinem Opfer fortgeschleudert.

„Weg mit dem Messer, sonst helf’ ich nach?“ rief Wilhelm, der die Situation sofort erfaßt hatte.

Der Mann gehorchte nicht, warf sich im Gegenteil mit dem Messer auf ihn.

Wilhelm trat rasch zur Seite; sein Schuß blitzte auf, und die Hand des andern sank, die Waffe fallen lassend, zerschmettert nieder.

Bei dem Pulverdampf waren die blanken Knöpfe seiner Uniform zu erkennen; der Mann stieß einen unterdrückten Schmerzensruf aus und eilte fliehend von dannen. Als Wilhelm sich umwandte, sah er nur noch den Köpfle-Franz.

„Wo ist der Pascherkönig, Pate?“ fragte er.

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„Fort!“ lachte der Gefragte. „Das kannst du dir doch denken!“

„Ich muß ihm nach —“

„Halt, warte erst!“ riet Franz, ihn beim Arme haltend. „Sieh daher!“

Unter den Föhren, von wo aus einst der verhängnisvolle Schuß gefeuert worden, lag eine ganze Reihe mächtiger und wohlgeschnürter Pakete.

„Ich hab’ mir’s gedacht“, sagte Wilhelm. „Aber wie kommst du hierher und in den Kampf mit dem Pascherkönig?“

„Heute bin ich wie alle Jahre hier, wenn’s auch niemand zu wissen braucht. Da hab’ ich alles gesehen, — die Leute, welche die Bündel brachten und dann wieder gingen, den Mann, der das viele Geld bekam, und den — na, den Pascherkönig, der nachher auf mich gestoßen ist und hat mich umbringen wollen. Aber da ist er an den Unrechten gekommen, denn wenn der andere nicht gekommen wäre, so hätt’ es keine Minute länger mit ihm gedauert … Nun aber ist er ausgerissen. Er hat deine Montur gesehen und gedacht, das ganze Militär ist da.“

„Warte, bei dem Gedanken wollen wir ihn gern lassen“, lachte Wilhelm und brannte in unregelmäßiger Pausenfolge noch einige Schüsse ab.

Sodann lud er wieder und reichte einen der Revolver dem Paten.

„Hier, Franz, nimm, daß du dich wehren kannst, denn du mußt dableiben als Wache für die Päcke! Ich aber muß wissen, wo der Pascherkönig ist; ich spring’ ihm nach.“

„Dableiben, das will ich schon; aber sag’ mir nur, wie ich dies kleine Ding allweil anzupacken habe!“

Wilhelm erklärte ihm flüchtig die Handhabung der Schießwaffe und entfernte sich dann. Er wußte, daß er dies wohl wagen durfte, denn von den Schmugglern war keiner zu erwarten, und allen anderen Fährlichkeiten gegenüber hatte der furchtlose Franz nicht die mindeste Bangigkeit. Wohin er seine Schritte zu lenken habe, das wußte Wilhelm ganz genau. Der Pascherkönig nahm jedenfalls an, daß er erkannt worden war und daß man sofort nach seiner Wohnung eilen werde,

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um dort auszusuchen und ihn nach Umständen festzunehmen, und deshalb war er ganz gewiß bestrebt, sie noch vor seinen Verfolgern zu erreichen. Darum durchschritt Wilhelm den Wald in gerader Richtung auf den Hof zu, ging, dort angekommen, nach der hinteren Seite des Hauses und nahm sich vor, den Bauer unter allen Umständen gleich als Schmugglerhauptmann anzureden; nach dessen Verhalten wollte er dann in Beziehung auf Emma auch das seinige einrichten.

Diese Voraussetzungen zeigten sich als ganz richtig. Durch den würgenden Druck von Franzens Händen fast zur Besinnungslosigkeit gebracht, hatte der Dukatengraf nicht die Geistesgegenwart gehabt, welche notwendig war, die Lage der Sache sofort zu begreifen. Er hielt sich wirklich von Militär und Grenzjägern überfallen und sah es als eine ganz besonders glückliche Fügung an, daß er ihnen entkommen war. Erst als er aus dem Walde in das freie Feld gelangte, gönnte er sich einen Augenblick Ruhe, um Atem zu schöpfen. — „Verloren, alles verloren“, murmelte er, ingrimmig die Fäuste ballend. „Das viele Geld ist hin, die köstlichen Pakete sind fort; ich bin zum Bettler geworden, grad wie der Grunert-Franz. Und wenn mir nun noch der Klotz über die Beine geht, so schnalle ich mich in den Rollkasten und fahre mit ihm im Lande herum zum Köpflemalen. So weit hat’s der Dukatenbauer gebracht, und es ist nur noch tausend Wunder, daß mich keiner von den vielen Schüssen getroffen hat, die sie mir nachgeschickt haben. Und das hab’ ich alles dem Buben zu verdanken, dem Wilhelm, der mir vom Garten weg nachgeschlichen ist, um Rache an mir zu nehmen. Er hat den Handel belauscht und hernach die Buntröcke herbeigeholt. Ich hab’ ihn gleich an der Stimme erkannt, und er mag sich nur hüten, daß er mir nicht einmal im Weg steht, sonst ist’s aus mit ihm! — Auch der Franz, der Krüppel, der elende, hat sich vor lauter Rachsucht hinausgeschleppt. Hätt’ ich ihn nur gleich erschlagen!“

Er warf die Hände drohend nach rückwärts und schritt dann dem Dorfe zu. — „Ich muß mich sputen, daß ich nach Haus komme, sonst sind sie eher da und nehmen mich vom Feld weg! Ich gehe zu Bett, und nachher kann mir niemand

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etwas anhaben. Aber durchs Dorf gehe ich nicht, damit ich nicht gesehen werde!“

Dieser Umweg war die Ursache, daß er später auf dem Hofe ankam als Wilhelm. Er sah die Möglichkeit ein, daß die gefürchteten Verfolger schon eingetroffen sein konnten, und gebrauchte daher bei seiner Annäherung die äußerste Vorsicht. In kriechender Stellung legte er den Weg durch den Garten zurück, und bei den beiden Stämmen angekommen, strengte er die ganze Schärfe seines Gesichts und Gehörs an, um zu erfahren, ob Gefahr für ihn vorhanden sei.

„Hab’ mir’s doch gleich gedacht“, bemerkte er in sich hinein; „dort lehnt einer am Fensterladen, grad da, wo damals der Franz gestanden ist. Der hat es klug angefangen, daß ich nicht zur Tür hinein kann; und die Scheune, die hat der Knecht beim Schlafengehen verschlossen.“

Nach kurzer Überlegung beschloß er, zunächst nachzuforschen, mit wie viel Gegnern er es zu tun hatte; das Weitere konnte sich erst nachher ergeben. Sich mit der ganzen Körperlänge immer hart am Boden haltend, kroch er langsam vorwärts, und es dauerte bei dieser mühsamen Fortbewegung sehr lange, bis er die Umgebung abgesucht hatte und nun einen Entschluß fassen konnte. Er kehrte zu den Stämmen zurück.

„Es ist der Bub, der Wilhelm, und er ist ganz allein. Die anderen stecken sicher draußen und haben den Hof umzingelt. Ich muß hinein, und ich weiß, wie ich’s zustand bringe. Wart’, Spion, du stehst mir recht, — grad so recht wie damals der Franz, dein Pate, und diesmal soll es nicht bloß die Beine kosten! Der Franz ist nicht richtig im Kopf, — was der sagt, das gilt nicht vor Gericht, — und du, du sollst den Weg zum Amt schon gar nicht finden!“

Damit ein zweites Unglück verhütet wurde, hatte man den Stämmen hölzerne Keile als Unterlagen eingeschoben. Der Dukatengraf bewegte sich lautlos an die Vorderseite des ersten Klotzes und strengte alle seine Kräfte an, sie zu entfernen. An dem einen Ende gelang ihm das nach langer, vergeblicher Mühe; an dem andern aber war es nun leichter, denn der Stamm hatte jetzt den festen Halt verloren und konnte schon durch einen einigermaßen kräftigen Stoß aus dem Gleichgewicht -

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Gleichgewicht gebracht werden. Anstatt diesen Stoß von der Gartenseite vorzunehmen, bückte sich Graf nach dem zweiten Keile nieder — ein fürchterlicher Schrei erscholl durch die Nacht — ein dumpfes Rollen ließ den Boden erzittern — ein schmetternder Schlag machte das Haus erbeben, grad wie in jener entsetzlichen Nacht, nur daß der Schrei heute vor dem Anprall erfolgte — dann herrschte auf kurze Zeit eine lautlose Stille über dem verhängnißvollen Orte …

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4. Gesühnte Schuld

Der Winter war schon längst vergangen; der Frühling hatte seine Blütenflocken bereits verschneit, und es war Sommer geworden. In dem niederen Lande hatte man die Getreideernte bereits eingeheimst, im Gebirge aber wogte das goldene Ährenmeer noch über die Felder, und nur hier oder da lag auf der Sonnenseite der Sommerroggen auf der Stoppel, um einige Tage gehörig nachzutrocknen.

Es war Sonnabend, aber nicht ein so kühler und düsterer wie der im vorigen November, dessen Andenken noch nach so langer Zeit unter den Bewohnern die Frische seiner Farben nicht verloren hatte. Die Sonne war längst hinter den nächtlichen Bergen verschwunden, aber es lag noch immer warm und wohlig auf Wald und Feld, auf Flur und Dorf, und die Leute saßen nach eingenommenem Abendbrot vor ihren Türen, um sich den heimlichen Regungen hinzugeben, welche das Scheiden eines freundlichen Tages in jedem empfänglichen Menschenherzen hervorruft.

Aus dem Forste trat ein junger Mann, der die hellen, munteren Augen liebevoll über das vor ihm liegende Tal gleiten ließ. — „Grüß Gott, du altes, gutes Nest da unten!“

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rief erfröhlich. „Da bin ich endlich und werde nun auch nicht gleich wieder fortgehen!“

Es war Wilhelm. Der bekannte Quersack auf seiner Schulter ließ schließen, daß er wie damals aus der Garnison zurückkehrte.

Gar nicht weit von ihm war trotz der vorgerückten Stunde eine weibliche Gestalt noch im Klee beschäftigt. — „Wer ist denn das? Ich glaube gar, die Emma! Sie holt Futter für morgen früh. Das ist doch Arbeit für das Gesinde und nicht für die Tochter! Und warum hat man denn den Wagen nicht genommen?“

Er schritt den Rain entlang und schlich sich vorsichtig bis hart an sie heran. Sie merkte sein Kommen nicht. Die Hände von hinten über ihre Augen legend, fragte er mit verstellter Stimme:

„Sage, wer ist’s?“

„Wilhelm“, antwortete sie.

„Erraten! — Willkommen, Emma! Wie geht’s?“

Ihre Augen waren gerötet, und an den Wimpern glänzte es feucht; sie hatte geweint.

„Willkommen, Wilhelm! — Du fragst, wie es geht? Hast du denn noch nichts davon gehört?“

„Was ist’s, von dem ich gehört haben soll? Ich glaub’ gar, du weinst! Ist bei euch wieder was Ungutes passiert?“

„Es ist nichts Neues, und du weißt es noch nicht, nur weil du so weit von hier gewesen bist. Der Dukatenhof ist weg!“

„Das ist doch nimmer möglich! Hat dein Vater ihn verkauft?“

„Nein, noch schlimmer! Das Gericht hat ihn genommen; übermorgen ist die Versteigerung.“

„Schau, das ist bös! Was sagt dein Vater dazu?“

„Der sagt nichts, gar nichts. Er sitzt von früh bis abends droben in seiner Stube, starrt vor sich hin und spricht kein Wort. Und wenn ich auf ihn rede, so antwortet er nicht, sondern nimmt mich nur immer bei der Hand und blickt mich an mit Augen, mit solchen Augen — ach, es ist zum Herzbrechen!“

Sie legte ihren Kopf an seine Brust und schluchzte laut.

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Auch er war tief bewegt, und seine Stimme zitterte, als er nach einer stummen Pause fragte:

„Kannst du dir denken, wer schuld ist an dem Unglück, Emma?“

„Wer?“ fragte sie.

„Ich!“

„Du?“ — Sie blickte unter Tränen erstaunt zu ihm empor.

„Ja, ich! Wenn ich den Pascherkönig nicht hätte fangen wollen, so wäre gar nichts von alledem passiert. Aber die Prämie hat mir in die Augen gestochen, und nachher — nachher habe ich sie doch nicht haben mögen!“

„Das hat doch nichts mit dem Vater zu schaffen!“

Er schwieg.

Sie ahnte nichts von dem wahren Sachverhalt und fuhr zögernd fort:

„Und die Geschichte von dem Leutnant und dem Köpfle-Franz hast du wohl auch noch nicht gehört?“

„Daß der ihn erschossen haben soll? Warum soll ich das noch nicht gehört haben? Das weiß doch hier jedes Kind!“

„Nein, es ist anders gewesen! Jetzt ist der richtige heraus, der’s getan hat.“

„Ist’s wahr?“ klang es überrascht und erfreut. „So ist der Pate endlich gerechtfertigt! Wer ist’s gewesen?“

„Ach, Wilhelm,“ schluchzte sie mit erneuter Heftigkeit, „nein, das kann ich dir gar nicht sagen!“

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„Warum?“

„Es ist so fürchterlich, und ich, ich konnte es gar nicht glauben. Ich habe geweint Tag und Nacht und mich vor den Leuten versteckt, als ob ich’s selbst gewesen wäre.“

Er ließ erschrocken seinen Arm von ihr gleiten, denn ihm ahnte, was ihr das Sprechen so schwer machte.

„Sag’s nicht, Emma, sag’s nicht; ich werd’s auch so erfahren!“ rief er aus.

„Siehst du,“ jammerte sie, als sie sich von ihm losgelassen fühlte, „daß du nun gleich auch nichts mehr von mir wissen magst! Und ich kann doch nichts dafür!“

Sie verbarg ihr Gesicht in die Schürze und wendete sich von ihm ab.

„Emma, bleib da“, bat er. „So habe ich’s nicht gemeint! Es ist ja nur der Schreck gewesen, nichts anderes. Komm her und sei ruhig; du weißt doch, daß ich dich lieb habe und niemals von dir lassen werde!“

Er nahm sie wieder an sich und zog ihr die Hände vom Gesicht. Erst jetzt bemerkte er, wie blaß und leidend das geworden war, und mit inniger Teilnahme küßte er ihr die Tränen aus den Augen.

„Auch nicht, wenn — wenn der Vater in — in das Zuchthaus muß?“ forschte sie stockend.

„Auch dann nicht, das darfst du sicher glauben! Aber vielleicht kommt’s nicht so weit. Wissen’s denn die Leute und schon die auf dem Gericht?“

„Ja, der Vater hat sich doch selbst angezeigt! O, Wilhelm, diese Zeit werd’ ich nimmer vergessen! Das kam alles Schlag auf Schlag: erst das Unglück mit dem Klotz, nachher die Anzeige wegen des Mordloches; dann nahm uns der Agent die Ernte, und das Vieh mußte deshalb aus dem Stall; nun ist der ganze Hof verloren, und wer weiß, was alles noch weiter folgen kann!“

„Daß es so schlimm steht, hab’ ich mir nicht gedacht! Ich bin damals gleich wieder fort, und von den Eltern habe ich keinen Brief erhalten. Aber sei doch ruhig; der liebe Gott wird schon helfen, daß es besser geht als wir jetzt denken. — Komm, nimm den Korb; wir wollen nach Hause gehen!“

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Er half ihr die Last aufnehmen, und dann schritten sie langsam dem Dorfe zu.

„Ich bin später eingetroffen, als ich eigentlich wollte“, begann er, um ihren Gedanken eine andere Richtung zu geben; „aber ich war drüben im Bad, weil ich den König gern sehen wollte.“

„Ist er da?“

„Ja. Die Königin gebraucht die Kur; das hast du wohl auch schon gehört, und heute hat er sie besucht, um einige Tage bei ihr zu bleiben. Der Ort war voller Menschen, die von allen Seiten herangekommen sind grad wie zum Jahrmarkt, und die Herrschaften sind Arm in Arm durch das Volk gegangen und haben im ganzen Gesicht gelacht vor Freude, als die Hüte und Mützen ringsum in die Höhe geflogen sind und alles Vivat gerufen hat.“

Er erzählte weiter, und es gelang ihm, sie in eine weniger traurige Stimmung zu versetzen.

Bei dem Dukatenhof angekommen, hemmten sie ihre Schritte.

„Wie lange bleibst du jetzt da?“ erkundigte sich Emma.

„Für stets.“

„Ist’s wahr?“ rief sie erfreut. „Gehst nicht wieder fort?“

„Wenn du mich nicht fortschickst, nein! Meine Zeit ist um, und ich mag nicht weiterdienen. Zwar hat es mir ganz gut gefallen, und ich bin auch vorgerückt; darum haben sie mir viel zugesprochen, daß ich bleiben soll; aber die Eltern brauchen mich notwendiger als der König. Ich könnte wohl eine gute Versorgung haben, doch das liegt noch weit im Feld, und hier wird sich wohl auch was für mich finden. — Wenn du in Not und Sorgen bist, so mag ich nicht fort sein, sondern will bei dir bleiben!“

„Dir kann’s ja nimmer fehlen! Du bist ein tüchtiger Bauer; das ist besser als Soldat, und dann hast du ja auch den Anteil von den Paketen, die du damals den Paschern abgenommen hast. Das ist ein schönes Stück Geld, denn der Köpfle-Franz hat seinen Pack nicht annehmen wollen und dir überlassen, nicht wahr?“

„So ist’s. Aber es geht mir auch wie ihm: ich mag’s

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nicht haben. Zwar ist’s kein Sündengeld, aber es brennt mir in der Hand und wird nie Segen bringen. Der, dem’s gehört, soll’s wieder haben!“

„Kennst du ihn denn?“

„Ich werde es schon erfahren. Und nachher —“

„Geh fort!“ unterbrach sie ihn. „Der Vater! Mach schnell,“ fügte sie ängstlich hinzu, „sonst sieht er dich!“

Wilhelm drehte sich ruhig und ohne ein Zeichen des Schreckens nach dem Eingang um. Dort erschien ein Mann, dem ganz wie dem Köpfle-Franz die Beine fehlten, welcher wie dieser auch den Oberkörper in einen Rollkasten geschnallt hatte. Der schwarze dichte Bart war lange Zeit nicht verschnitten worden, hing ihm fast bis auf die Brust herab und bildete einen höchst auffallenden Kontrast zu dem schneeweißen Kopfhaar, welches sich lang und glatt über den bleichen hohläugigen Schädel legte.

Es war der Dukatengraf; eine einzige Nacht hatte sein Haar gebleicht; eine einzige Nacht hatte ihn aus der Höhe, in der er sich wähnte, in die Tiefe gerissen.

Sein Auge hatte die Gruppe erfaßt.

„Bleib’ stehen, Wilhelm, brauchst dich nicht zu fürchten, denn ich kann dir nichts mehr anhaben!“ sagte er. Er schob sich mit den beiden Hölzern, welche er gerade wie der Köpfle-Franz in den Händen hielt, herbei und wandte sich an Emma: „Ich werde jetzt meine erste Ausfuhr machen, nicht mit der Staatskarosse und nicht mit dem Braunen, den mir der Baron abgenommen hat, sondern hier auf dem Bußwagen, den ich mir wohl erworben habe. Laß die Tür offen; ich werde erst spät wieder zu Haus sein!“ Dann legte er das Holz auf die Erde und hielt dem jungen Manne die Rechte entgegen: „Wilhelm, du hast ’mal zu mir gesagt, daß die Ohrfeige, die ich dir gegeben habe, mit auf die Rechnung kommen soll. Sie hat nicht drauf gestanden; sie konnte nicht drauf stehen, und darum hast hier meine Backe oder meine Hand. Schlage zu oder, wenn du mir verzeihen willst, so reich’ mir deine Hand.“

Der Angeredete war so erschüttert von der Demut des einst so stolzen und selbstbewußten Mannes, daß er kaum

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zu reden vermochte. Er gab ihm beide Hände und antwortete: „Herr Graf, ich habe Ihnen ja längst verziehen; Gott gebe, daß ich es Ihnen beweisen kann!“

„Das kannst du, Wilhelm. Sei gut gegen die Emma und verlaß sie nicht, wenn ich fort sein werde! Sie ist besser als ihr Vater, tausendmal besser, und Ihr werdet glücklich miteinander sein … Jetzt aber muß ich fort. Geht nur immer hinein in die Stube, und du, Wilhelm, grüße mir auch deine Mutter, die Marie; ich bin nicht wert, daß solch Gesinde in meinem Haus gewesen ist!“

Vier Augen blickten ihm nach, als er sich nun mühsam und unbeholfen entfernte, aber die Tränen, welche sie füllten, ließen seine Gestalt ins undeutliche fließen. Emma schluchzte laut und krampfhaft und Wilhelm hatte sich an den Zaun gelehnt, als müßte er gegen die auf ihn einstürmenden Gefühle eine feste Stütze suchen.

Graf schob sich das Dorf hinauf. Auf beiden Seiten der Straße eilte der Ruf von Haus zu Haus: „Der Dukatenbauer kommt; paßt auf! Wo wird er hinfahren?“ Er nickte still grüßend nach rechts und links und verfolgte unbekümmert um die ihm in einiger Entfernung nachkommenden Neugierigen seinen Weg bis an das Haus des Köpfle-Franz.

Tür und Läden waren geschlossen. Er klopfte an.

„Wer ist draußen?“ fragte der Besitzer des Häuschens von innen.

„Mach auf, Franz; ich bin’s, der Heinrich!“

„Welcher Heinrich?“

„Nun, der — der — der vom Dukatenhof.“

„Bleib draußen! Bei mir darf niemand herein, und du erst gleich gar nicht!“

„Mach’ nur auf. Ich hab’ dir etwas zu sagen!“

„Sag’s andern! Von dir mag ich nichts hören!“

„Du wirst schon hören wollen; es ist etwas von der Anna.“

„Von der Anna? Was denn?“

„Laß mich nur erst ein, dann werde ich es dir sagen.“

„Geh fort! Von dir mag ich nichts wissen, auch über die Anna nicht.“

„Es sind zwei Briefe von ihr, die ich dir bringe!“

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„Zwei Briefe? Wer hat sie geschrieben?“

„Sie selbst. Bitt’ schön, laß mich ein!“

„So komm!“

Die Tür wurde geöffnet. Im Flur war es dunkel, aber in der Stube brannten die beiden Kerzen zu Seiten des Tisches, und ihr Schein fiel verklärend über das aufgeschlagene Bild der Verstorbenen.

Es war ein wichtiger, ein großer, ein entscheidender Augenblick für die beiden Männer, welche sich jetzt in dem ärmlichen Raume gegenüberstanden oder vielmehr gegenüberkauerten. Die Augen des Köpfle-Franz funkelten glühend und voll unsagbaren Hasses auf den Zerstörer seines Lebensglückes, und es zuckte über seine Gestalt, als müßte er sich beherrschen, um nicht über ihn herzufallen.

Aber je länger er ihn betrachtete, desto mehr verschwand der drohende Ausdruck seines Gesichtes; die Hände entballten sich, und in ruhigerem Tone erklang es:

„Komm näher; hast nichts zu fürchten!“

Grafs Auge fiel auf das Bild.

„Darf ich hin?“ fragte er.

„Ja; aber nicht angreifen!“

Er schob sich an den Tisch; aber nicht lange hatte sein Blick auf den bekannten Zügen geruht, so wandte er das Angesicht zur Seite und ließ den Kopf zur Erde sinken.

Franz näherte sich ihm. „Hast du sie denn lieb gehabt?“ fragte er.

„Lieb gehabt?“ fragte Graf erstaunt. „Nein, nicht lieb gehabt hab’ ich sie, sondern wahnsinnig bin ich vor Liebe gewesen, sonst wäre ich doch nicht das, was aus mir geworden ist! Aber sie hat mich nicht leiden mögen all ihr Leben lang, und da bin ich immer mehr auf die schlechte Seite gefallen; das Herz ist mir versteint, und ich habe nur Gefallen gefunden an dem, was andere Leute verdrossen und geärgert hat.“

„Sie hat dich nicht leiden mögen?“ ertönte es hastig und mit zitternder Stimme.

„Nein, niemals, bloß weil sie dich lieb hatte.“

„Mich lieb gehabt? Aber sie ist doch deine Frau geworden!“

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„Weil sie gemußt hat. Als ihr Vater tot war, hat ihr die Mutter in den Ohren gelegen, weil der es um die Versorgung zu tun gewesen ist. Und ich, ich hab’ alles hervorgesucht, um ihren Willen zu brechen. Ich hab’ gesagt, daß ich im Mordloch gewesen bin und gesehen habe, daß du ihren Vater wirklich erschossen hast, und daß ich gegen dich zeugen und schwören wollte, wenn sie nicht meine Frau werde. Das alles hat geholfen. Um dich zu retten, hat sie endlich Ja gesagt.“

„Um mich zu retten —!“ jauchzte Franz. Seine Liebe hatte im Laufe der Jahre eine vollständig ideale Richtung genommen; er dachte nicht an die bodenlose Schlechtigkeit, welche in dem Verhalten Heinrichs gelegen, dachte nicht daran, daß gerade dieser Beweis von Liebe ihn um ihren Besitz gebracht hatte, — er fühlte nur die furchtbare Last von sich genommen, welche der Gedanke auf ihn geworfen hatte, ihr Herz hätte dem Dukatengrafen gehört. Unter ihrem Druck hatte er mehr gelitten als unter der äußeren Verstümmlung; sie hatte auch die Kräfte seines Geistes gebrochen und ihn zu dem „Verrückten“ gemacht, der von den Unverständigen verspottet und von den Einsichtsvollen bemitleidet wurde.

„Ja, nur um deinetwillen. Sie hat mir das auch nie verschweigen mögen. Wenn du unter den Bäumen gelegen bist, so hat sie im Garten gestanden und hat geweint und nach dir hingeblickt, und wenn du auf Reisen gewesen bist, so ist sie an dein Haus gegangen und hat stundenlang vor deiner Tür gesessen. Ich hab’s nicht leiden wollen, aber sie ist mir immer wieder entschlüpft, und da ihr euch dabei doch nie getroffen und gesprochen habt, so bin ich endlich auch darüber still geworden.“

Franz atmete förmlich jedes dieser Worte von den Lippen des Sprechers; seine Züge wurden hell und immer heller, und in tiefen Stößen drang der Atem aus seiner sich erleichternden Brust.

„Da ist sie doch immer mein geblieben!“ rief er mit freudestrahlendem Angesicht.

„Ja. Ich habe sie um ihr Glück betrogen, und dabei ist mir alles zum Unheil ausgefallen. Auf dich wollte ich schießen

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und ihren Vater habe ich getroffen; nachher sollte dich der Klotz tot machen, aber du bist —“

„Der Klotz? Der ist nicht von selber auf mich gerollt?“

„Nein; das muß ich dir alles sagen, denn deshalb bin ich ja heute zu dir gekommen. Ich habe ihn fortgerollt, damit er dich hat treffen sollen.“

„So ist’s doch wahr, was ich mir kaum habe denken können, weil’s gar so grausig schlecht gewesen ist! O du doppelter und dreifacher Mörder, du bist doch ein wahrer Teufel in Menschengestalt und solltest gerade von unten auf gerädert werden!“

„Franz, das bin ich ja auch schon! Siehst’s nicht? Und in meinem Alter hat das mehr zu bedeuten als damals, wo du noch jung gewesen bist. Seit ich die Schule verlassen hab’, ist mir der Glaube an Gott abhanden gekommen, — jetzt aber weiß ich, daß es wirklich die Gerechtigkeit gibt, die in der Bibel steht: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Dir hab’ ich die Füße genommen, nun sind mir die meinen auch zermalmt; und dasselbe Holz hat’s getan, das ich auf dich gestoßen habe! Der liebe Gott hätte vielleicht noch Nachsicht gehabt mit mir, — aber weil ich auch den Wilhelm hab’ zerschmettern wollen —“

„Auch den Wilhelm? Geh fort, Graf, geh, ich kann’s nicht länger hören! Ich hab’ vorhin gesagt, daß du in meiner Stube alleweil nichts zu fürchten hast, — drum geh, mach schnell zur Tür hinaus, daß ich mein Wort nicht breche!“

„Nein, Franz, laß mich nur da, denn du mußt alles wissen! Meinetwegen magst du auf mich schlagen wie du willst, ich nehm’ es ruhig hin, wenn ich dir nur beichten darf, was ich an dir verbrochen habe! … Hast’s nicht gehört, daß ich mich schon beim Gericht angezeigt hab’ wegen des Leutnants? Ich braucht es nicht zu tun, aber du sollst gerechtfertigt sein … Sie haben mich bloß deshalb noch nicht abgeholt, weil ich bisher krank gewesen bin und nicht ausreißen kann. Wenn meine Buße hier zu Ende ist, werde ich mich gefangen geben. Heute bin ich bei dir; morgen geh ich in die Kirche; übermorgen lass’ ich mich aus dem Dukatenhof weisen und Dienstag fahre ich mit meinem Karren nach dem Zuchthaus. Ich will alles tun und alles tragen, denn ich hab’s

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verdient, und die Emma — ach Gott, mein Kind, mein gutes, liebes, unschuldiges Kind!“

Es wurde still in dem Raume. Der eine hatte ausgekämpft und beugte sich unter den Konsequenzen seiner Taten. In dem Innern des andern tobte der Kampf noch fort, er war jetzt erst von neuem ausgebrochen und versetzte die Fluten seiner Seele in einen Aufruhr, der unmöglich in wenigen Minuten zu bezwingen war.

„Und noch eins muß ich dir gestehen“, fuhr der Dukatenbauer endlich fort. „Damals, als du aus meinem Hof geschafft warst und krank zu Hause lagst, wo die Marie dich pflegte, da ist die Anna alle Tage gekommen und hat nachgefragt, wie’s mit dir steht. Nachher hat sie ein Schreiben gemacht an dich, das die Marie dir hätte geben sollen, aber ich bin darüber geraten und hab’ ihr’s konfisziert. Hier ist’s. Ich hab’ in tausend Nächten darüber gesessen und hab’s mit Grimm und Ärger immer wieder lesen müssen.“

Franz griff begierig nach dem Papier; es war zerknittert und beschmutzt und mußte allerdings viel in Gebrauch gewesen sein. Die Nähe des Lichtes suchend, saugte der ungeübte Leser die Worte langsam von dem Zettel, wiederholte jeden Satz, bis er ihn seiner Seele einverleibt fühlte, und als er zu Ende war, wandte er sich mit zuckenden Lippen zu dem Nebenbuhler:

„Schau, Graf, die Stöße dort unterm Ofen, das alles ist nur ihr Bild, nur immer wieder ihr Kopf. Ich hab’ gebettelt und gehungert, um Papier zu haben, hab’ Tag und Nacht und Jahre lang gesessen, ehe ich ihn ähnlich brachte, aber ich gebe all die Bilder hin für diesen einen Brief, und den bekommst du nicht wieder, der geht alleweil mit mir ins Grab.“

„Du sollst ihn auch behalten, dafür hab’ ich ihn hergebracht. Hier ist noch einer. Den hat sie geschrieben gleich vor dem Tode. In ihrer letzten Stunde mußte ich ihr versprechen, daß ich ihn dir selber bringen wollte. Es ist geblieben bis heute, — warum, das kannst du dir denken.“

„Zeig her!“

Er war nur kurz, aber sein Inhalt brachte einen tiefen Eindruck, eine außergewöhnliche Wirkung auf Franz hervor.

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Mit geschlossenen Lidern lehnte er an der Wand; die widerstreitenden Empfindungen seines Innern gingen in bald zornigen, bald milderen Zügen über sein matt erleuchtetes Gesicht. Minute um Minute verrann; die Lichter brannten herab; zischend und flackernd verlöschte eines nach dem andern; es wurde dunkel in der Stube, und noch immer regte er sich nicht.

Endlich, endlich klang ein langer schwerer Seufzer durch die Stille.

„Heinrich!“ hauchte er.

„Franz?“ antwortete der andere.

„Ich hab’ dir vergeben!“

„Franz, ist’s möglich, ist’s wahr?“

„Ja! Die Anna hat’s gewollt; in dem Brief, da steht’s geschrieben, und da will ich’s auch tun. Wir sind Freunde gewesen von Jugend auf bis an den Tag, wo meine Liebe zu ihr uns getrennt hat; meine Liebe zu ihr soll uns nun in unseren alten Tagen auch wieder zusammenführen. Sie hat dir vergeben in ihrer Todesstunde, — ich will auch alles vergessen und nimmer wieder davon reden, so lang ich noch lebe!“

„Gib mir deine Hand darauf, Franz!“

„Die sollst du haben, aber nicht hier, wo meine Flüche über dich zum Himmel gestiegen sind, hier ist’s nicht heilig genug dafür; komm mit!“

Sie verließen das Haus.

Längst schon war es Nacht geworden und tiefe Ruhe lag über dem Dorfe. Schweigend folgte Heinrich seinem Führer, welcher denselben Weg nahm, den Graf vorhin heraufgekommen war. Die Schenke wurde zugeschlossen und der letzte Gast, welcher sie verließ, kam ihnen mit langsamen Schritten entgegen. Als er die beiden außergewöhnlichen Gestalten bemerkte, blieb er stehen und sagte zu ihnen:

„Das ist ja der Köpfle-Franz mit dem Dukatengrafen! Ich bin schon oft bei dir gewesen, Franz, hab’ aber nicht hinein gekonnt.“

Es war der alte Ortsvorsteher.

„Ist auch nicht nötig. Zu mir braucht niemand zu kommen, du auch nicht“, antwortete Franz.

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„Ich wollte dir nur sagen von wegen damals, als ich dich bei deiner toten Mutter traf, daß ich dir unrecht getan habe.“

„Das brauchst du mir nicht zu sagen, das hab’ ich schon ganz von selber gewußt. Der Franz hat damals ohne dich fertig werden müssen, er braucht dich heute auch nicht. Mach, daß du nach Haus kommst!“

Die Begegnung mit dem Manne, der dem Trostbedürftigen einst so hart entgegengetreten war, hatte seine jetzige Stimmung wie eine Entweihung berührt. Er entfernte sich, so schnell es seine Gebrechlichkeit gestattete.

Bei der Kirche angekommen, lenkte er nach dem Gottesacker ein, dessen Tür niemals verschlossen war. Heinrich folgte ihm. Er wußte nun, wohin der Weg gehen sollte, es war derselbe, welchen er auch unternommen hätte, wenn er allein von seinem bisherigen Feinde zurückgekehrt wäre.

Das Grab war trotz der Dunkelheit rasch gefunden; der feine Duft der Reseda zeugte davon, daß der Hügel in liebevoller Pflege stand.

„Komm her, Heinrich!“ begann Franz. „Ich habe mich von der Toten gewandt, weil sie die Dukatenbäuerin war; das hat sie nicht verdient, und darum werd’ ich’s wieder gut machen. Bleib drüben; sie soll mitten zwischen uns sein. So, und nun reich’ mir deine Hand herüber, und sie mag hören, was ich dir alleweil sage. Was du an uns getan hast, das ist so gut als hättest du’s niemals getan. Es wird kein Mensch jemals davon ein Wort aus meinem Mund hören. Wir wollen nun wieder Freunde sein, uns Liebes und Gutes erzeigen und immerfort so handeln, daß sie mit uns zufrieden ist. — Und nun, Heinrich, nun wollen wir beten!“

„Franz, warte noch!“ Man hörte es der Stimme an, in welcher Bewegung sich der Sprecher befand. „Wir dürfen nicht heimlich beten, sondern laut. Ich hab’s heute tun wollen auch ohne dich, und daß du mit dabei bist, das soll’s nicht anders machen. Als ich krank und zerschlagen im Bette gelegen bin, da hab’ ich das Buch vor mir liegen gehabt und das Lied auswendig gelernt, das sie sich zum Begräbnis bestellt hat.

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Es soll dereinst auch bei dem meinigen gesungen werden. Und jetzt, jetzt will ich davon beten!“

Er faltete die Hände. Es war heute ein Tag der Sühne, und eine Sühne sollte es auch sein, die er jetzt an dem Orte brachte, wo sich sein Hochmut gegen die Stimme des göttlichen Wortes empört hatte. Wolken verhüllten das Firmament, nur hier und da blickte aus dem unendlichen Raume ein Stern vorübergehend zwischen ihre zerrissenen Schleier hindurch; schwarz und gespenstisch ragte die Kirche in die Nacht empor; die Lüfte schwiegen, kein Laut ließ sich hören; kein Lebenszeichen drang über die alten halb zerfallenen Kirchhofsmauern herein zu den beiden Männern. Da rasselte es plötzlich wie rollendes Eisen im Innern des Thurmes; die Kirchenuhr hatte ausgehoben; ihre vom Roste zerfressene Maschinerie erzitterte, krachte und stöhnte unter der Schwere der Gewichte, und mit tiefen mahnenden Schlägen ertönte die zwölfte Stunde durch das Tal. Als der letzte Ton verklungen war, begann der Dukatengraf:

„O Ewigkeit, du Donnerwort,

O Schwert, das durch die Seele bohrt,

O Anfang sonder Ende.

O Ewigkeit, Zeit ohne Zeit,

Vielleicht schon morgen oder heut’

Fall ich in deine Hände.

Mein ganz erschrock’nes Herz erbebt,

Daß mir die Zung’ am Gaumen klebt.“

So wenig sich Franz um die Leute zu bekümmern pflegte, er hatte doch von dem Verhalten Heinrichs an dem Grabe Annas gehört, und darum wußte er, was das Lied in der jetzigen Stunde bedeuten sollte. Der heutige Tag hatte die Versöhnung zu schnell von ihm gefordert, als daß sich nicht ein Rest des alten langgenährten Hasses in irgend einem Winkel seines Herzens hätte verbergen können; aber was davon ja noch übrig geblieben war, das wurde durch die Erschütterunmg des gegenwärtigen Augenblickes gelöst und wich der tiefen Reue des einst so harten, jetzt aber schwer getroffenen Sünders.

Dieser fuhr nach einer kurzen Pause fort:

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„Wach’ auf, o Mensch, vom Sündenschlaf.

Ermunt’re dich, verlor’nes Schaf,

Zu einem neuen Leben.

Wach’ auf, denn es ist hohe Zeit,

Und dich ereilt die Ewigkeit,

Dir deinen Lohn zu geben.

Zeig’ reuig deine Sünden an,

Daß dir die Gnade helfen kann!“

„Amen!“ erscholl es von vier Lippen; Franz reichte seine Hand zum zweiten Male über das Grab hinüber, indem er sagte:

„Das Lied hat nur dir gegolten, Heinrich, aber es hat auch mich getroffen. Du hast deine Sünden angesagt, und darum soll dir auch die Gnade helfen. Was das sagen soll, das wirst du bald von mir hören. Jetzt aber bitte ich, geh, Heinrich! Laß mich allein hier bei der Anna. Was zermalt gewesen ist in mir, das ist heute plötzlich heil geworden, aber mein armer Kopf ist’s nicht gewöhnt und muß hier ruhen, bis er’s ertragen kann. — Schlaf wohl!“

„Gute Nacht! Segne dir’s Gott tausendmal, was du heut’ an mir getan hast. Ich vergesse dir’s nimmer!“

Er verließ den Kirchhof.

Als Graf den Hof erreichte, fand er das Tor noch offen. Emma hatte auf ihn gewartet und Wilhelm befand sich bei ihr. Sie hatten Sorge um ihn gehabt und waren ihm nun behilflich, die Treppe hinauf in seine Stube zu kommen.

Dort blieb der junge Mann bei ihm zurück.

„Ich möchte Sie gern was fragen, Herr Graf,“ begann er, als Emma sich entfernt hatte, „und darum bin ich so lange auf dem Hof geblieben. — Darf ich?“

„Frag’ nur immer, Wilhelm! Wenn ich kann, so werde ich dir gern Bescheid sagen.“

„Sie haben nun wohl auch davon gehört, daß ich für die Pakete, die ich damals im Walde fand, Geld bekommen hab’. Das mag ich nicht behalten! Ich hab’s zwar nicht gestohlen, aber ich hab’s doch mit Gewalt dem abgenommen, der’s für die Ware gegeben hat. Nun möcht’ ich’s wohin

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legen, wo der es finden kann, dem’s gehört. Darf ich Ihnen den Ort sagen, damit Sie mir der Zeuge sind, wenn es vielleicht einmal nötig sein sollte?“

„Wilhelm, du bist ein braver Mensch, das sehe ich jetzt schon wieder. Mit dem Schweigen über die beiden Leute, die du damals getroffen hast, da sollst du deinen Willen haben, aber das Geld, das behalte in Gottes Namen. Den du meinst, der nimmt es doch nicht wieder, und weil du es hast, grad erst recht nicht. Und wenn du die Emma wirklich lieb hast, so kannst’s doch wohl gebrauchen!“

„Ist’s denn auch wahr, daß ich sie nehmen darf? Sie ist das Kostbarste, was ich nächst den Eltern habe, und wenn sie meine Frau ist, so soll es sicher keinen andern geben, der Ihnen ein guter Sohn ist so wie ich!“

„Ja, du sollst sie haben, hier meine Hand darauf! Ich denke, daß du sie nichts entgelten läßt von dem, was an dem Vater nicht recht gewesen ist.“ — —

Seit langen, langen Jahren war es heute das erste Mal, daß Heinrich sich mit der Genugtuung zur Ruhe legte, welche die Erfüllung einer Pflicht als Segen mit sich bringt. Sein Schlaf war fest und ungestört, und als er erwachte, fühlte er sich nicht nur körperlich gestärkt, sondern auch innerlich befestigt, und die Zukunft erschien trotz ihrer schweren Schatten ihm nicht so dunkel wie vorher.

Als er das Fenster öffnete, um die frische, würzige Morgenluft hereinstreichen zu lassen, gewahrte er den Köpfle-Franz, welcher das Dorf herabkam und Miene machte, zu passieren, ohne hereinzukommen. Er winkte ihm.

„Nachher!“ rief der aufs neue gewonnene Freund über den Zaun herüber. „Ich muß zum Bad!“

Es war Sonntag, und als die Glocken zur Kirche läuteten, folgte auch einer, der seit fast einem Menschenalter nicht in seinem Stuhle gesehen worden war, ihrem Ruf.

Die Augen der Anwesenden waren mehr auf ihn gerichtet als auf den Pfarrer; er aber schien dies nicht zu bemerken, sondern lauschte den Worten des Geistlichen, der den seltenen Zuhörer gar wohl bemerkt hatte und, von der Änderung des Sinnes überzeugt, gar manchen tröstenden und erhebenden -

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erhebenden Wink einfließen ließ, von welchem in dem Konzept seiner Rede nichts zu lesen gewesen war.

Als der Dukatengraf nach Hause kam, fand er zwei Gäste vor, die eben aus dem leeren Stall traten. Es war der Baron mit dem Agenten. Sie hatten wegen der morgenden Versteigerung einen Rundgang durch den Dukatenhof unternommen und begrüßten ihn in einer ganz andern Weise als es früher geschehen war. Wilhelm hatte ihren Begleiter gemacht.

„Guten Morgen, Dukatengraf!“ meinte der Baron. „Wo hast du heute deine Kette gelassen? Und an dem Rock hier sind doch schwarze Knöpfe!“

„Die Dukaten habt ihr und die schwarzen Knöpfe habe ich. Wollen sehen, wer das Seine am längsten behält,“ antwortete er ruhig.

„Oho, bist du heute patzig! Aber wahr ist’s, die Dukaten haben wir und auch noch mehr dazu. Schau her!“ Er zog ein Portefeuille aus der Tasche und entnahm dem mehrere kleine, sorgfältig eingeschlagene Päckchen. „Das ist der Preis für den Dukatenhof, der morgen unser wird. Du warst kein dummer Kerl, aber gekauft haben wir dich doch, und wenn das Gut zerschlagen ist, so sind wir fertig und versuchen’s wo anders mit einem noch Gescheiteren.“

„Das könnt ihr tun, wenn ihr den Hof auch wirklich bekommt. Jetzt aber bin ich noch hier, und die Straße da draußen ist euer. Macht, daß ihr miteinander hinauskommt!“

„Gut, du sollst deinen Willen haben, Dukatenmann; aber morgen hörst du auch den unserigen, und dann ist’s umgekehrt!“

Mit stolzen, selbstbewußten Schritten ging er davon.

Auch der Agent hatte nach einer Brieftasche gegriffen und sie geöffnet. Ohne ein Wort des Abschiedes konnte er unmöglich den Platz verlassen. Er trat hart an Graf heran, hielt ihm das geöffnete Notizbuch vor die Augen, blinzelte ihn höhnisch durch den blauen Klemmer an und fragte:

„Sehen Sie diese Ziffern, Herr Graf? Das ist bei Heller und Pfennig, was Sie im Spiel zum Fenster hinausgeworfen haben und von uns natürlich aufgefangen worden ist. O, wir führen sehr genau Buch, und wenn Ihnen an diesen Notizen

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gelegen ist, so will ich sie Ihnen zur Verfügung stellen. Sie können sich die Zeit damit vertreiben, wenn diese Ihnen jetzt wegen des Leutnants etwas lang gemacht wird! Und was — —“

Er konnte seine Abschiedsrede nicht vollenden, denn Wilhelm hatte ihn bei der letzten Wendung beim Kragen genommen und brachte ihn mit solcher Geschwindigkeit vor das Tor hinaus, daß sogar der Klemmer von dem gewaltsamen Fortschritt ergriffen wurde und bis vorn auf die Nasenspitze rutschte. Ihn wieder an den gehörigen Ort zurückschiebend, schickte sich der kleine Mann zu einer ernsten Verwahrung gegen ein so summarisches Verfahren an; der Baron aber ergriff ihn am Arm, zog ihn lachend mit sich fort und sagte: „So ist dir’s recht geschehen, Kleiner! Du brauchtest mit deinem Näschen nicht so lang da drin herumzuschnobern! Aber nimm dir’s nicht zu sehr zu Herzen. Heute mir, morgen dir!“

Auf dem Rückwege vom Tore bemerkte Wilhelm ein mehrfach zusammengeschlagenes Papier, welches an der Erde lag. Es mußte bei der ungewöhnlich raschen Beförderung dem Agenten aus der Brieftasche gefallen sein. Er nahm es auf und schlug es auseinander. Es war ein Blatt aus einer fremden Zeitung, zeigte ein längst vergangenes Datum und enthielt neben gerichtlichen Ankündigungen und einem Börsenkurszettel nur wertlose Annoncen.

Schon wollte er es wegwerfen, als sein Gesicht auf einmal einen ganz andern, gespannten Ausdruck annahm.

„Steht was wichtiges drin?“ fragte Graf.

„Was sehr Wichtiges. Das müssen wir uns mal genau ansehen und überlegen. Kommen Sie herein!“ —

Auch den Nachmittagsgottesdienst besuchte Graf. Als er sich der Kirche näherte, bemerkte er vor dem Pfarrhof eine zweispännige Kutsche; der livrierte Kutscher saß in stolzer Unbewegleichkeit auf dem Bock, den Peitschenschaft auf dem rechten Knie, und ein ebenso gekleideter Diener stand am Schlage. Obgleich aus dem Geschirr zu ersehen war, daß der Pfarrer vornehmen Besuch hatte, lenkte der Bauer doch an der Kirche vorüber und auf die Wohnung des Geistlichen zu.

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Dort angekommen, fand er außer dem ihm wohlbekannten Direktor des nahen Bezirksgerichtes eine Dame und einen Herrn vor, deren Äußeres so respekteinflößend war, daß er sich augenblicklich unter einer Entschuldigung zum Verlassen des Zimmers anschickte; der Pfarrer aber hielt ihn davon zurück.

„Bleiben Sie, Graf; Ihr Kommen stört uns nicht!“ versicherte er, indem sein Auge teilnahmsvoll die verkrüppelte Gestalt des Ankömmlings überflog. Auch die drei anderen ließen ihre Blicke mit mitleidigem Interesse auf ihm ruhen. — „Was bringen Sie mir?“

„Es sind zwei Bitten, mit denen ich komme, Her Pfarrer; aber weil Sie nicht allein sind, so weiß ich nicht, ob ich sie sagen darf.“

„Sprechen Sie immer, wenn es nicht etwas nur unter vier Augen zu Verhandelndes ist!“

„Eigentlich wär’s wohl so etwas; aber ich hab’ Sie nicht unter vier Augen beleidigt, und so kann ich auch jetzt öffentlich darüber sprechen. Sie wissen wohl noch alles, wie es dazumal beim Begräbnis meiner Frau gewesen ist. Ich war ein harter, gotteslästerlicher Mensch, der sich aus dem lieben Gott nichts machte und keinem Menschen was zu lieb und gut gehalten hat. Ihre Rede wollte mich im Herzen packen; darum habe ich sie abgeschüttelt und bin davongelaufen. Aber dem da droben bin ich doch nicht ausgerissen, sondern er hat mich festgehalten und mir den verdienten Lohn gegeben. Da sehen Sie, Herr Pfarrer, was aus dem stolzen Dukatenbauer geworden ist, ein armseliger, elender Vogelscheucher, der sich kaum noch über die Straße schleppen kann und der nun gar noch im Zuchthaus sterben und verderben wird. Aber ehe ich dahinkomme, will ich erst überall Buße tun, wo ich gesündigt habe, und da komme ich auch zu Ihnen, um Sie um Vergebung zu bitten für das, was damals geschehen ist.“

Es waren einfache Worte, welche er sprach; der Ton seiner Stimme klang ruhig und unerregt, aber gerade dieser stille, leidende Ernst seiner Rede machte einen tieferen Eindruck, als wenn sie unter Weinen und Klagen vorgebracht worden wäre.

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„Was Sie damals getan, Graf, das haben Sie gegen den unternommen, dessen Dasein Sie zu jener Zeit leugneten. Er ist gerecht und straft die Sünde, aber er zürnt nicht ewig. Ich, als sein Diener, reiche Ihnen hier die Hand zur Versöhnung; seine Gnade ist größer als unsere Missetat; sie geht niemals zu Ende und wird sich auch Ihrer erbarmen. Ich weiß, was gestern abend auf dem Kirchhof geschehen ist. Wer so bereut, der darf Verzeihung finden!“

„Ich danke, Herr Pfarrer! Ich will ja gern alles auf mich nehmen, was ich verschuldet habe, wenn ich weiß, daß mir’s vergeben ist … Und die andere Bitte, die ist von wegen dem Köpfle-Franz …“ Er griff in die Tasche und zog ein Papierpaket hervor, welches er öffnete. Es enthielt die Dukatenkette nebst den Goldstückknöpfen von Rock, Hut und Weste. „Das sind die Zeichen von dem Hochmut, dem ich all mein Elend zu verdanken habe! Nichts, gar nichts hab’ ich von dem Untergang retten können als diese flimmrigen Schandflecke, und nun soll grade der sie bekommen, gegen den ich am schlechtesten gewesen bin, der Köpfle-Franz. Aber wissen darf er’s nicht, daß die Gabe von mir kommt, sonst nimmt er sie nicht an, weil ich’s jetzt selber brauche. Ich bitte sie darum recht schön, Herr Pfarrer, wenn ich übermorgen fort sein werde von hier, so verkaufen Sie das Zeug, und was Sie dafür kriegen, das geben Sie ihm. Wenn er denkt, daß es von jemand anderem kommt, so wird er sich nicht weigern, es zu nehmen.“

„Das wollte ich Ihnen gern besorgen, wenn ich nicht dieselbe Ansicht hätte wie er. Ihre Tochter steht nun so allein und verlassen da, daß sie die Goldstücke wohl ebenso nötig hat wie der Franz.“

„O nein, Herr Pfarrer! Der Wilhelm ist ein gar braver Bursch, der wird für sie sorgen und sie niemals im Stich lassen. Wenn’s sonst nichts wäre, so brauchte ich mir um sie wohl keine Sorge zu machen!“

„Dann geben Sie die Kette her! Ich will sehen, was ich dafür löse, und werde Ihnen später über Ihren Auftrag Nachricht zugehen lassen.“

„Dann danke ich Ihnen zum zweiten Male, Herr Pfarrer.

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Möge der liebe Gott nicht schlimmer mit mir ins Gericht gehen als wie Sie es tun. Und wenn ich vom Dorfe weg bin, so sehen Sie doch zuweilen mit nach meinem Kind; ein freundlich Wort wird immerdar zu brauchen sein, und ich weiß, Sie sind bereit dazu!“

Er fühlte es weich und warm aus seinem Herzen emporsteigen und nahm daher schnell Abschied, um die über ihn kommende Rührung zu verbergen.

Die Glocken läuteten zur Kirche, er folgte ihrem Rufe — zum zweiten Male seit langer Zeit und zum letzten Male wohl für das ganze Leben.

Und nach beendigtem Gottesdienste besuchte er den Kirchhof, um Abschied zu nehmen von dem Hügel, der ihm bisher so gleichgültig war und an dessen Seite ihm nun auch die Ruhestätte verweigert werden sollte. Seine letzte Stunde sollte ihm nun hinter eisernen Gittern schlagen, und sein Grab, es lag wohl einmal außer der Reihe derjenigen, zu denen die Liebe ihre treuen Schritte lenken darf.

Zum Dukatenhof zurückgekehrt, fand er denselben von einer zahlreichen Menschenmenge belagert. Ohne daß man wußte woher, hatte sich wie ein Lauffeuer durch das Dorf das Gerücht verbreitet, der König und die Königin wären vom Bade herübergekommen, erst beim Pfarrer gewesen und dann nach dem Dukatenhof gefahren, und alles war nun herbeigeeilt, um die hohen Herrschaften zu sehen.

Die Posaune des letzten Gerichtes hätte den Dukatengraf nicht schrecklicher treffen können als diese unerwartete Kunde; er mußte alle seine Kraft und Selbstbeherrschung zusammennehmen, um sich ihren Eindruck vor den vielen Leuten nicht merken zu lassen.

Längst schon war er hinter dem Tor verschwunden; Viertelstunde auf Viertelstunde war vergangen; da endlich wurde die Tür aufgestoßen, und der Köpfle-Franz erschien unter dieser. Die Arme so hoch wie möglich in die luft werfend, gab er das Zeichen zur Ruhe. Dann rief er:

„Hört, ihr Leute, wenn ich schreie, so schreit ihr auch!“

Er konnte die Zustimmung des Publikums gar nicht abwarten, denn schon im nächsten Augenblick traten die Erwarteten -

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Erwarteten aus dem Hause. Der Diener öffnete den Schlag; sie stiegen ein, und der Bezirksgerichtsdirektor folgte ihnen.

Da richtete Franz sich so hoch wie möglich empor und rief so laut er nur konnte:

„Paßt auf, ihr Leute! Alleweil soll der Herr König leben, Vivat hoch!“

„Hoch!“ brauste es über die anwesende Menge dahin.

„Und die Frau Königin grad erst recht daneben, Vivat hoch!“

Der Ruf wiederholte sich und endete nicht eher, als bis der Wagen den Augen der Nachblickenden vollständig entschwunden war.

Köpfle-Franz aber kehrte gar nicht wieder in den Hof zurück, sondern schleppte sich so schnell als möglich am Zaune hin und schlug dann den Weg nach seiner Wohnung ein.

Noch niemals hatte er sich mit so freudigem Gesicht das Dorf hinaufgeschoben, und als er bei geschlossenen Läden und angesteckten Lichtern vor dem Bilde Annas hockte, lag auf seinem Gesichte eine Verklärung, welcher jenes unbeschreibliche Etwas in seinen Zügen vollständig gewichen war.

„Nun ist’s zu Ende mit allem Haß und Streit, mit aller Angst und Sorge, Anna! Aber gekämpft haben wir auch, daß es so weit gekommen ist. Der König hat nicht gleich gewollt, sondern gesagt, da gäbe es vorher erst gar viel auf dem Gericht zu tun, ehe an die Gnade zu denken wäre, aber die Emma ist fast tot gewesen vor Herzeleid; der Heinrich hat vollends gar kein Wort zuwege gebracht, auch der Wilhelm hat geweint und gebeten, und da sind der Königin die Tränen über die Wangen gestürzt, und sie hat ihren Mann bei der Hand gefaßt und ihn so lieb und gut angeschaut, daß ihm das Herz endlich doch übergelaufen ist. Er hat mit dem Gerichtsdirektor noch einige Worte in einer fremden Sprache gesprochen und dann gesagt: „Nun gut, er soll nicht gefangen sein. Wo so viel Reue und Fürsprache ist, da kann kein König widerstehen! — Aber nun die Freude, die solltest du sehen! Der Heinrich hat geschluchzt wie ein Kind; die Emma hat dem König und der Königin immer nur die Hände geküßt und mit Tränen gesalbt; der Wilhelm und ich, wir sind

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vor Glück auch ganz stumm gewesen, und die Herrschaften haben selbst nicht gewußt, wo sie mit ihrer Rührung hin sollten … Anna, das war die schönste Stunde in meinem Leben! Und nun werde ich meine Rache vollenden, aber nicht die, welche ich erst gewollt habe, sondern eine andere, eine viel, viel schönere und bessere!“

Er schob sich zum Ofen und zog die Bilderstöße unter demselben hervor; dann entfernte er das Blech und eine Lage Ziegelsteine und griff in die jetzt sichtbar werdende Vertiefung.

„Hier sind sie, die Dukatensäcke, alle miteinander! Ich habe gebettelt und gemalt, gescharrt und gespart wohl an die dreißig Jahre, und wenn es mir mal gar zu schwer hat werden wollen, so hab’ ich gedacht, es ist für deine Rache; der Heinrich muß aus dem Dukatenhof, und du ziehst an seiner Stelle hinein! Dann hab’ ich wieder von neuem Kraft gehabt, bin im Lande herumgefahren, hab’ gehungert und gedurstet, im Wald oder auf der Wiese geschlafen, und wenn ich heimgekommen bin, so ist der Beutel voll gewesen, und ich hab’ dir das Geld vom Heller bis Pfennig vorgezählt. Jetzt ist’s nun gut, und ich kaufe auch den Hof, aber nicht für mich; und der Heinrich, der soll nicht hinausgestoßen werden, sondern er soll der Dukatenbauer sein, wie er’s bisher gewesen ist. Ich aber, ich bleibe bei dir in meinem Häuschen; ich mag nicht fort, denn der Köpfle-Franz und die Anna, die passen nirgends anders hin!“

Nun war in dem ärmlichen Raume wieder jenes Klingen zu hören, wie am Abend des Begräbnistages; die Nachtruhe blieb dem Auge des Bewohners fern, und als es am Morgen an den Laden klopfte, hatten seine hellen Augen keinen Schlaf gesehen.

„Wer ist’s?“ fragte er.

„Ich bin’s, Pate, der Wilhelm!“

„Hast du den Karren mit?“

„Ja.“

„So ist’s gut. Ich werd’ aufmachen.“

Er öffnete. Wilhelm hielt mit einer Schubkarre draußen.

„Du hast mich bestellt, Franz. Was soll ich denn fortschaffen?“

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„Komm herein! Wirst’s gleich sehen!“

Mitten in der Stube stand ein altertümlicher Kasten von starkem halbverrostetem Eisenblech.

„Diese Truhe hier schaffst du mir nach dem Dukatenhof und das Papier auch mit, welches draufliegt. Es kommt in die untere Stube.“

„Schön!“ Er wollte den Kasten vom Boden heben, bemerkte aber, daß dazu eine ungewöhnliche Kraftanstrengung erforderlich war. „Das ist schwer, Pate. Was hast du denn drin?“

„Allerlei alten Kram, der lange Jahre bei mir unterm Ofen gelegen hat. Greif nur fest zu; es wird schon gehen!“

„Und was willst du mit dem Gerümpel auf dem Hof?“

„Das wirst du wohl noch sehen. Mach nur allweil, daß du fortkommst. Ich komme gleich nach!“

Als Franz den Hof erreichte, stiegen eben der Baron und der Agent aus der Kalesche, vor welche der Braune des Dukatengrafen gespannt war.

„Kommst gerade recht, Franz!“ rief der erstere. „Kannst nachher gleich den neuen Bauer abzeichnen.“

„Hab’s schon heute nacht getan. Er ist auf dem Papier mit all seinen Leuten“, antwortete der Krüppel.

Der Baron blickte ihn fragend an, wurde aber nicht weiter beachtet.

Die Räume, welche seit Jahrhunderten nur von den Dukatenbauern und ihren Angehörigen betreten worden waren, standen heute offen; Fremde gingen in ihnen auf und ab und mäkelten über die Gegenstände, an denen die strenge Geschichte eines durch Selbstsucht und Hochmut zu Grunde gerichteten Geschlechtes haftete. In der unteren Stube hatten die Herren vom Gericht ihren Sitz aufgeschlagen; im Flur war von dem spekulativen Bergwirt ein ambulanter Schanktisch errichtet worden; zahlreiche Neugierige strömten herbei, um dem letzten Atemzug der Dukatenwirtschaft beizuwohnen; es wurde gelobt und getadelt, entschuldigt und verurteilt, bemitleidet und verspottet, gelacht, gescherzt, getrunken. Die Gebote folgten sich erst langsam, dann immer schneller; als aber der Baron seine gewichtige Stimme erhob und mit siegesgewisser -

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siegesgewisser Miene gleich die wahrscheinlich höchste Ziffer notieren ließ, ging ein respektvolles Schweigen über die ganze Versammlung.

„Nicht wahr, das zieht?“ fragte er, sich triumphierend im Kreise umblickend. „Komm her, Kleiner, und mach die Tasche auf! Wir müssen unsere Zahlungsfähigkeit nachweisen.“

Der Agent tat, wie ihm geheißen war, und bald hatten beide den Tisch mit dem Inhalte ihrer Briefschaften vollständig bedeckt.

„So, das ist ein Pflaster, wie es hier kein anderer aufzuweisen hat. Wer noch weiter bieten will, der mag’s versuchen, aber das Gut wird unser, und der Dukatengraf muß heute noch hinaus!“

„Das wird sich finden!“ erscholl es von der Tür her. „Jetzt ist er noch da und hat auch gar keine Lust, schon fortzugehen.“

Es war Graf selbst, welcher auf seinem Rollwägelchen sich hereingeschoben hatte.

„Oho, Knirps, du tust doch heute gewaltig dick, wo es dir doch etwas dünner zu Mut sein sollte“, höhnte der von den Getränken etwas berauschte Baron. „Bleib nur immer oben in deiner Kammer und zähl’ zusammen, was du den Leuten schuldig bist!“

„Das weiß ich ganz genau und werd’s bezahlen. Noch bin ich hier Herr im Haus, und wer heute abend draußen ist, das wird ja wohl zu sehen sein. Schau her, wenn du denkst, der Dukatengraf ist alle geworden!“

Er näherte sich dem Blechkasten, welchen Wilhelm hier abgesetzt hatte und dem von niemand Aufmerksamkeit geschenkt worden war, zog den Schlüssel hervor und öffnete.

Ein allgemeiner Ruf des Erstaunens entfuhr den Lippen der Umstehenden! Die Truhe war bis an den Rand mit flimmernden Goldstücken gefüllt.

„Siehst du nun, Baron, daß der Graf noch übergenug Dukaten hat, um dich samt deinem Gesellen dort aus dem Haus zu werfen? — Herr Assessor, kommen Sie her und zählen Sie so viel davon weg, als ich schludig bin, auch die Kosten mit! Und hernachmals macht ihr anderen, daß ihr

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hinauskommt! Die Versteigerung ist zu Ende und ich will nun wieder Ruhe im Hause haben!“

„Wie kommen Sie auf einmal zu dem Gelde?“ fragte der Beamte.

„Das werden Sie noch heute erfahren. Jetzt aber bitte ich abzuzählen; ich kann nicht auf den Tisch hinauf!“

„Nein, das geht nicht!“ rief der Baron. „Ich habe auf den Hof geboten und trete nicht wieder zurück. Ich kann bezahlen; hier liegt mein Geld. Der Hof muß mein werden; darum streiche ich es gar nicht erst wieder ein!“

„Das will ich mir auch verbitten!“ klang es da hinter ihm, und eine feste schwere Hand legte sich auf seine Schulter. Ein fremder Herr, welcher bisher den schweigsamen Beobachter gemacht hatte, war an ihn herangetreten. „Kennen Sie vielleicht diese beiden Photographien, meine Herren?“ fuhr er fort, dem Baron ebenso wie dem Agenten je eine Visitenkarte vorhaltend. „Ich habe die Bekanntschaft dieser Männer schon seit Monaten vergeblich gewünscht und bin ganz glücklich, sie endlich doch noch zu machen. Herr Verwalter und Herr Privatkopist, Sie sind meine Gefangenen!“

Wie ein Blitzschlag fielen diese Worte in die Versammlung, welche für einige Augenblicke von der größten Verwirrung ergriffen wurde.

Der Baron wollte sich diese zu nutze machen, warf sich auf den Tisch, strich mit einigen raschen Griffen das Geld zusammen und stürzte dann nach der Tür. Dort aber nahmen ihn einige schon bereitstehende Gehilfen des Fremden in Empfang, und nach kurzem vergeblichen Ringen war sowohl er als auch der Agent durch Handschellen und Schließketten unschädlich gemacht.

Der Arrestator wandte sich nun zu dem Gerichtsbeamten.

„Herr Assessor, gestatten Sie mir, mich Ihnen gegenüber zu legitimieren und die im Besitze dieser Männer betroffenen Wertpapiere und Effekten samt dem draußen stehenden Geschirr in meine Verwahrung zu nehmen. Der Herr Ortsrichter wird mir diese Erlaubnis wohl nicht vorenthalten!“

Die beiden Angeredeten gaben gleich nach dem ersten Blicke auf die vorgezeigte Legitimation ihre Zustimmung, und

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es wurde ein Verzeichnis all der Gegenstände angefertigt, welche die Festgenommenen bei sich führten. Der Polizist unterwarf ganz besonders die Notizbücher einer eingehenden Prüfung. Als er sie zusammenschlug, ließ er das scharfe Auge im Kreise herumgehen.

„Ist der Mann dort an der Tür der Bergwirt?“

„Ja!“ lautete die Antwort

„Er wird den beiden anderen Gesellschaft leisten. Nehmt ihn fest!“

„Was? Mich?“ rief der Wirt, sich nach dem Ausgang wendend.

Aber schon fühlte er sich ergriffen und zurückgehalten.

„Ja, Sie! Eine so genaue Buchführung, wie ich sie hier im Portefeuille des Herrn Bankiers finde, hat für gewisse Geschäftsarten ihre großen Schattenseiten. Sie gehen mit uns!“ Darauf wandte er sich an Graf. „Ich konnte Ihrer Anzeige erst heute Folge leisten, weil es mir notwendig schien, mich zuvor über die vorliegenden Verhältnisse im stillen zu orientieren. Das ist so eingehend geschehen, wie es mir die Kürze der Zeit gestattete, und ich sehe mich dadurch in die Lage versetzt, Ihnen eine erfreuliche Mitteilung machen zu können. Die Buchführung dieser Herren läßt sowohl die Art und Weise als auch die Höhe Ihrer Verluste sehr deutlich erkennen, und da die Beträge noch zum großen Teile vorhanden sind, so dürfen Sie Hoffnung auf eine wenigstens teilweise Wiedererstattung haben. Das Weitere werden Sie auf gerichtlichem Wege mitgeteilt erhalten. — Für jetzt aber ist meine Aufgabe hier vollendet. Gestatten Sie mir, Herr Assessor, mich zu verabschieden!“

In wenigen Minuten rollte die Kalesche des Barons davon; sie war weit schwerer als einige Stunden vorher, und der Braune trabte so unwillig von dannen, als hege er die Überzeugung, daß der Dukatenhof noch immer seine rechtmäßige Heimat war.

Anfangs wollte es niemand begreifen, daß das Gut im Besitz des Dukatengrafen verbleiben werde, und als im Laufe des Tages der wahre Sachverhalt ruchbar wurde, war es den Leuten noch viel unerklärlicher, woher der Köpfle-Franz dieses ungeheure Vermögen hatte.

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Noch am Abend feierte das Paar seine Verlobung, bei welcher außer den Eltern Wilhelms auch der Pfarrer zugegen war. Er hatte den ihm übergebenen Dukatenschatz wieder mitgebracht und wollte ihn in die Hände Grafs zurücklegen; dieser aber wehrte ab.

„Nein, Herr Pfarrer, ich nehme die Dukaten nicht wieder! Der Franz wird sie wohl auch nicht haben wollen; aber ich weiß jemanden, der sie recht gut gebrauchen kann. Ich habe gehört, daß sich der Feldhüter Wolf im vorigen November aus Versehen die Hand zerschossen hat, der kann mit seiner zahlreichen Familie das Geld wohl notwendig haben. Ich bin erlöst worden aus großer und auch tiefer Not, mein Herz soll ferner nie wieder so hart sein wie es früher gewesen ist. — Die Dukaten waren für dich bestimmt, Franz; soll sie der Wolf bekommen?“

„Ich habe alleweil nichts dagegen, daß er sie bekommt! Jetzt aber schaut mal her, was ich heute nacht den jungen Leuten als Angebinde zur Verlobung gezeichnet habe!“

Er rollte das Papier auseinander, welches Wilhelm heute mit dem Blechkasten abgeholt hatte. Es enthielt eine Bleistiftzeichnung, welche die untere Stube des Dukatenhofes darstellte; in der Mitte desselben stand das wohlgetroffene Königspaar, vor welchem die beiden Krüppel in flehender Stellung auf der Erde lagen. Hinter ihnen hielt Wilhelm die weinende Emma umfangen, und seitwärts von dieser Gruppe verbarg der Gerichtsdirektor seine Bewegung. Die Züge sämtlicher Personen waren auf das sprechendste wiedergegeben, die Stimmung des Augenblickes so treu festgehalten, daß die Beschauer dem Zeichner ihre unverhohlene Bewunderung aussprachen.

„Nicht wahr,“ fragte dieser, „es ist gut geworden? Ich habe noch nie etwas so gern gemalt wie dieses Blatt, und darum hat’s gelingen müssen. Das kommt hier an die Wand zum ewigen Andenken an die Stunde, die uns die schwerste und auch die schönste gewesen ist im ganzen Leben.“

„Jawohl, die schwerste,“ meinte Graf; „ich habe das wohl am meisten gefühlt, aber auch die schönste, denn es ist mir unverdiente Gnade zu teil geworden und euch allen Heil.“

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Seit diesen Begebenheiten sind gar viele Jahre verflossen. Wir werden leider erfahren, daß der Pascherkönig in anderen Gegenden des Grenzgebirges später verschiedentlich nachgeahmt worden ist. Der alte Dukatenhof aber hat sich damals von seinem Verfalle schnell erholt. Er gilt noch heute als eines der am besten bewirtschafteten Güter der ganzen Umgegend. Und wenn der oben angeführte Chronist aus seinem längst eingesunkenen Grabe hinter der Sakristei hervorsteigen und die Feder in die Hand nehmen könnte, um die Geschichte der Familie Graf bis auf die Gegenwart fortzuführen, so würden seine Aufzeichnungen vielleicht mit den Worten schließen:

„Auß denen zweyen Klötz aber sind gemacht eyn ganz absonderlich Zahl von Bretten, und hat man darauß gebaut eyn schön und fürtrefflich Lauben, so da steht an selwigen Orte, als wo die Bäume vormalen einst gelegen sind. Solch Lauben ißt dem Köpfle-Franz seyn Werkstatt worden, indem er des Morgens von seyner Hütten herunterkompt und erst des Abends wieder von dannen fährt. So kommen denn die Leut, als da sind Männlein und Weiblein, fürnähmlich des Sonntags, in hellen Haufen herbey, umb sich zu holen eyn Contrefey, so mann alsbald hänkt in die Stuben, allwo das Licht am Beßten trifft. Sitzt auch zuweillen dabey der Dukkatengraff, so da ißt der Letzte seynes Geschlechtes, sambt dem kleynen Enkeleyen, dieweylen die Bäuerin in der Küchen schantzt. Und weyl so allermassen viele Bilder gehn von deme Hoff hinauß ins weitte Land, derohalben ist er bey Denen, so ihn kennen, nicht mehr Dukkaten-, sondern Köpflehoff geheißen.“

Illustration Seite 90
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Karl May

hat einige Jahre hindurch geschwiegen und kein neues Werk erscheinen lassen; und das ist zu bedauern, denn es bleibt unleugbar: seine Schriften haben der Kolportage-Schundliteratur, die so viel Schlimmes anrichtet, erheblichen Abbruch getan. Wer ihn las, wollte nichts von jener wissen.

Es ist deshalb erfreulich, daß er hier mit guten tüchtigen Volksbüchlein hervortritt. Der Dukatenhof zeigt so recht den hohen sittlichen Ernst, die künstlerische Gestaltungskraft dieses meistgelesensten unter allen Schriftstellern der Gegenwart.

Seine

Gesammelten Reiseerzählungen

sind bei F. E. Fehsenfeld in Freiburg erschienen und durch jede Buchhandlung zu beziehen.