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Mater dolorosa.

Reise-Erlebnis von Karl May.

1. Kapitel. Fatima Marryah.

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„Du bist ver­rückt, Effendi, zehnmal verrückt, hundertmal verrückt, also ganz und gar verrückt, und niemand kann Dich heilen, wenn Du bei Deinem Vorsatze bleibst. Willst Du mein Weib zur Witwe und meine Kinder zu Waisen machen? Sollen auch Deine Weiber und Kinder in den Fluten der Thränen ersticken und in den Wassern der Trübsal ersaufen? Wenn Du darauf bestehst, diesem Flusse des Unglücks noch weiter zu folgen, so werden wir in kurzer Zeit in den Magen der Geier, Schakale und Hyänen begraben sein!“

„Ich habe weder Frauen noch Kinder,“ antwortete ist dem Sprecher. „Um mich würde also niemand trauern.“

„Allahi, Wallahi, Tallahi! Wenn Dich niemand beweint, so ist das doch noch kein Grund, meine abgeschiedene Seele beweinen zu lassen! Du weißt, ich bin ein kühner Mann; aber zu diesen Kurden zu gehen, das heißt geradezu sich in den Rachen des sichern Todes stürzen!“

„So bleib zurück, Feigling!“ rief mein kleiner, lieber Hadschi Halef Omar in zornigem Tone. „Du bist ein Sohn der Angst und ein Enkel der Verzagtheit. Du nennst Dich kühn, aber Dein Herz wackelt Dir vor Furcht im Leibe, wenn wir Miene machen, einen Schritt vom breiten Wege abzuweichen. Du bist uns mitgegeben, uns zu schützen, und klapperst vor Entsetzen, wenn Du eine fremde Flinte erblickst. Schäme Dich! Komm Sihdi; wir wollen weiter reiten und diesen Großvater der Furchtsamkeit hier stehen lassen!“

Hadschi Halef Omar? So werden diejenigen Leser des Marienkalenders fragen, welche Abonnenten des „Deutschen Hausschatzes“ Jahrgang VII waren und dort meinen kleinen, wackern Reisegefährten kennen gelernt und, wie mir zahlreiche Anfragen und Zuschriften bewiesen, herzlich liebgewonnen haben. Ja, er war es; wir befanden uns wieder beisammen, und das war so gekommen:

Er war nach unserm „Letzten Ritte“ nach Konstantinopel gegangen, um dort, wie er sich ausdrückte, im Schatten der Dankbarkeit zu leben. Sein Weib Hanneh, die „Lieblichste unter den Töchtern“, war dort zu ihm gekommen. Dennoch hatte er es in der großen Stadt nicht ausgehalten, sondern war mit seinem Frauchen zu deren Angehörigen nach Arabien

zurückgekehrt. Daran trug Rih, der echte Araberhengst, den ich ihm geschenkt hatte, wohl die meiste Schuld. Das herrliche Pferd verkümmerte in der Stadt; es gehörte in die Wüste, und — — — nun, so brachte er es eben hin. Das schrieb er mir. Als ich dann später wieder einmal nach Kairo kam, trieb mich die Sehnsucht, ihn aufzusuchen. Ich fuhr von Suez aus nach Bureikah und legte den Landweg dann per Kameel zurück, um ihn als den glücklichsten der Ehemänner und Nomaden wiederzusehen. Seine Freude war geradezu unbeschreiblich. Wir sprachen natürlich viel von unsern Erlebnissen und bekamen da bald Lust, einige Schauplätze derselben aufzusuchen. Er hatte Zeit, ich ebenso, also wurde gesattelt. Rih hatte mich, als er mich sah, sofort wiedererkannt; ich mußte ihn besteigen, denn Halef betrachtete ihn, wenigstens für die Zeit dieses Rittes, wieder als mein Eigentum und nahm ein anderes Pferd. Wir gingen nach dem Sindschar, dann nach Mossul, besuchten die Haddedihn-Araber, deren Scheik mir den Rapphengst geschenkt hatte, und kamen dann nach Kerkuk, wo wir die Gäste des Mutessarif waren, welcher uns bei unserer Abreise einen Khawassen aufnötigte. Ich hatte zwar keine Lust, mich mit einem solchen mir ganz unnützen „Beschützer“ zu befassen, denn ich reise nicht so wie andere und wußte voraus, daß ich die Aufgabe haben würde, der Beschützer unsers Beschützers zu sein; aber der Mutessarif erklärte, daß ich ohne einen Khawassen bei den Kurden verloren sei, und drängte mich so lange, bis ich Ja sagte, nur um nicht undankbar zu erscheinen.

Was ich vorausgesehen hatte, trat ein: Kasem, so hieß der Khawaß, entpuppte sich als ein furchtsamer Mensch, der dazu des Kurdischen nicht einmal genügend mächtig war. Wären mir nicht die Saza- und Kurmangdschidialekte geläufig gewesen, so hätten wir auf unsern weitern Ritt verzichten müssen. Glücklicherweise besaß er eine Eigenschaft, welche mich mit dem erwähnten Fehler aussöhnte: er hatte ein gutes Herz und nahm die Vorwürfe, mit denen ihn mein Hadschi, welcher die Feigheit haßte, zuweilen überschüttete, so ruhig lächelnd hin, als ob sie gar nicht an ihn gerichtet seien.

Wir waren von Kerkuk aus nach Suleimaniah gegangen, von da nach Rewandis geritten und wollten nun hinüber auf persisches Gebiet, um den Urmiahsee zu erreichen. Unser Khawaß schlug uns vor, zu diesem Zwecke dem Sawi, welcher der Hauptarm des obern Zab ist, entlang zu reiten; da dies aber ein Umweg war, bestand ich darauf, dem kleineren Sidaka-Flüßchen zu folgen, welches uns viel schneller über die Grenze führte. Er aber weigerte sich, weil er die Khosnaf-Kurden fürchtete, welche damals ihre Sommerlager an den Ufern des Sidaka aufgeschlagen hatten. Diese Kurden sind freilich als sehr fanatisch und räuberisch verschrieen; da aber alle nomadisierenden Kurden dies mehr oder weniger sind, so hielt ich meinen Vorsatz aufrecht und bekam deshalb von ihm die am Eingang verzeichnete Rede zu hören. Hadschi Halef stimmte mir, wie bereits erwähnt, bei, warf ihm seine Feigheit vor und lenkte sein Pferd nach rechts, in welcher Richtung der Sidaka floß. Ich that dasselbe, und so mußte der Khawaß uns wohl oder übel folgen; that dies aber nicht, ohne die Einwendung hören zu lassen:

„Ihr rennt ins Verderben, wenn Ihr meiner Stimme nicht gehorcht. Ich kenne diese Khosnaf-Räuber. Sie leben sogar unter sich selbst in ewiger Blutrache. Sie zerfallen in die beiden Abteilungen Mir Mahmalli und Mir Yussufi, von denen die Ersteren links, die Letzteren rechts vom Flusse weiden. Diese beiden Stämme leben in beständiger Fehde miteinander; sobald es sich aber darum handelt, an einem Fremden einen Raubmord zu begehen, halten sie zusammen. Kehrt um, kehrt um, denn ihnen gegenüber wird alle meine Macht zu schanden!“

„Sprich nicht von Deiner Macht!“ antwortete Halef. „Die Gewalt Deines Mutessarif erstreckt sich nicht auf die wilden Kurden; sie fürchten selbst den Padischah nicht; welche Macht willst also Du besitzen? Dir leistet man ja nicht einmal in Kerkuk Gehorsam. Dein Wille ist gleich demjenigen einer Mücke, welche ich mit meinem Odem weit von mir blase.“

Ich duldete den Khawassen als unnötiges Anhängsel und schwieg, wenn Halef sich mit ihm stritt. Darum war ich auch jetzt still. Der arme Teufel konnte ja nicht anders sein, als er eben war.

Wir hatten Rewandis am frühen Morgen verlassen, und jetzt war es schon Nachmittag. Indem wir dem Flüßchen aufwärts folgten, ritten wir nicht etwa auf einem gebahnten Wege. Es gab keinen solchen; unsere Pferde gingen vielmehr im klaren Geröll, welches die Frühjahrsüberschwemmung an den beiden Ufern zurückgelassen hatte. An dieses Geröll stieß sofort der dichte Eichenwald, welcher hüben und drüben schroff in die Höhe stieg. Der Ritt war anstrengend für die Tiere, doch erweiterte sich später das Thal des Flusses; seine Sohle trug saftiges Wiesengras, auf welchem die Pferde weicher gingen. Zuweilen legte sich ein Gebüsch, durch welches wir uns drängen mußten, vom Walde her bis an das Wasser hin.

Ich ritt mit Halef voran. Der Khawaß folgte eine Strecke hinterher. Er machte ein sehr besorgtes Gesicht. Da ich aber im Grase keine Spur von Menschen oder Weidevieh bemerkte, hielt ich eine Begegnung mit Kurden jetzt noch für ausgeschlossen. Ich irrte mich, denn ich zog den Umstand nicht in Betracht, daß die beiden Stämme, welche hier getrennt zu beiden Seiten des Flusses lebten, in Fehde miteinander standen. Feindliche Tribus bringen jedenfalls eine größere Entfernung als die Breite des kleinen Flüßchens betrug, zwischen sich. In der Folge sah ich freilich, daß die Mir Mahmalli und Mir Yussufi sich hüteten, ihre Herden in das Flußthal zu treiben. Sie hatten ihr Lager mitten im Walde aufgeschlagen und ihre Tiefe auf Lichtungen untergebracht, wo sie leicht bewacht werden konnten.

Eben ritten wir wieder durch einen dichten Busch, als ich vor uns, doch in weiter Entfernung um Hilfe rufen hörte. Es war eine weibliche Stimme. Ich nahm natürlich an, daß jemand sich in Gefahr befinde, und trieb mein Pferd schnell vorwärts durch die Sträucher. Halef folgte mir auf dem Fuße. Der Khawaß aber, welcher dies sah und den Hilferuf auch gehört hatte, hielt an und rief uns ängstlich zu:

„Haltet an, haltet an! Effendi, ich bitte Dich inständigst, hier im Gebüsch versteckt zu bleiben! Laß rufen, wer da rufen will! Wer sich in Gefahr begibt, den frißt sie auf mit Haut und Haar!“

Selbstverständlich achtete ich nicht auf diese Warnung und ritt weiter. Die Rufe wurden ängstlicher; sie kamen näher. Als ich den Rand des Gesträuches erreichte, sah ich das diesseitige Ufer als einen langen, schmalen Grasplan vor mir liegen, welcher rechts vom Flusse, links von der bewaldeten Höhe und vorn vor [von] einem ähnlichen Gebüsch wie das hinter mir liegende begrenzt wurde. Dieser Plan war vielleicht achthundert Schritte lang. Eine weibliche Gestalt kam über denselben nicht gelaufen, sondern aus Leibeskräften gerannt und dabei immer um Hilfe rufend, als ob sie von einem feindlichen Wesen verfolgt werde. Und doch war, so weit mein Blick reichte, kein solches zu sehen.

Die Frau war aus den jenseitigen Büschen gekommen und hatte sich von denselben schon vielleicht hundertfünfzig Schritte entfernt. Die Angst hatte sie zunächst grad vorwärts getrieben; nun aber wendete sie sich dem Flusse zu, um denselben zwischen sich und die Gefahr, welche hinter ihr lag, zu bringen. Da sah sie mich und Halef halten und lenkte rasch wieder in ihre vorherige Richtung ein, kam also noch immer unausgesetzt rufend auf uns zugerannt. Der Khawaß hatte sich doch bis an den Buschrand hinter uns her gewagt. Er sah die Frau und rief lachend aus:

„Allahi, Wallahi, Tallahi! Dieses Weib ist verrückt. Sie schreit um Hilfe und befindet sich doch nicht in Gefahr.“

Aber es zeigte sich schon im nächsten Augenblicke, daß ihre Rufe nicht ohne Ursache waren, denn aus dem hinter ihr liegenden Gebüsch kam ein Hund geschossen, hinter ihm noch einer und wieder einer. Es waren riesige, grau gefärbte kurdische Windhunde von der Rasse, welche von den Kurden Tazi genannt wird. So ein Hund hat die Höhe eines großen Kalbes, besitzt zwar eine schlechte Nase, läßt aber, einmal auf eine Spur gehetzt, dieselbe nicht wieder fallen und ist darauf dressiert, demjenigen, auf den er gehetzt wird, die Gurgel zu zerreißen. Die Frau befand sich also in höchster Gefahr. Wurde sie von den Hunden erreicht, so war es um ihr Leben

geschehen. Sie kamen in weiten, pantherartigen Sätzen hinter ihr her. Ich mußte ihr helfen und jagte ihr entgegen.

„Halt ein, halt ein; um Allahs willen, halt ein! Die Hunde reißen Dich vom Pferd und zerfleischen Dich!“ rief mir der Khawaß nach.

Ich achtete nicht auf ihn. Ich avancierte, um die Entfernung zu verringern und einen sichern Schuß zu haben. Dann hielt ich an und nahm den Stutzen vor. Als ich ihn anlegte, stand mein Rappe wie eine Mauer; er wußte, daß ich schießen wolle und daß er sich nicht bewegen dürfe. Man wird von früher her wissen, welche ein unvergleichliches Repetiergewehr mein Henrystutzen ist; ich konnte mich auf ihn verlassen. Drei schnell hinter einander folgende Schüsse, und die Hunde, welche ich so schon von vorn aufs Blatt nehmen konnte, wälzten sich im Grase. Die Frau rannte dennoch weiter. Ich ritt ihr, von Halef gefolgt, entgegen und rief, als ich sie ziemlich erreicht hatte, sie an:

„Bleib stehen! Du bist gerettet. Die Hunde sind tot.“

Ich hatte mich des Kurmangdschi-Dialektes bedient, welcher wohl der ihrige war, denn sie verstand mich, hielt im Laufen inne, blickte zurück und rief, als sie die Hunde liegen sah:

„Gheine Chodeh kes nehkahne — Gott ist allmächtig! Er hat mich errettet. Ihm sei Lob und Dank gesagt!“

Ihr Atem flog, so daß sie diese Worte nur mit Unterbrechung hervorbrachte. Die beiden Hände auf die Brust legend, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie war nicht mehr jung, vielleicht vierzig Jahre alt; Falten, vielleicht mehr in Folge der Sorge als des Alters, durchfurchten ihr Gesicht. Ihre sehr ärmliche Bekleidung bestand nur aus einem langen, hemdartigen, blauleinenen Gewande. Auf dem Kopfe trug sie ein altes Schleiertuch, welches sich verschoben hatte, sonst wäre ihr Gesicht damit bedeckt gewesen.

„Hattest Du die Hunde erzürnt, oder hat man sie auf Dich gehetzt?“ fragte ich.

„Gehetzt, gehetzt!“ antwortete sie, noch immer atemlos. „Ich sollte von ihnen zerrissen werden.“

„Wem gehörten sie?“

„Schir Seleki, dem Häuptling der Mir Mahmalli, der Räuber, der Mörder, welche keines Menschen, nicht einmal eines armen Weibes schonen.“

„Womit hattest Du denn diesen Mann erzürnt?“

„Erzürnt? Er tötet, ohne zornig zu sein, denn der Mord ist ihm ein Vergnügen. Ich vermißte meine Ziege, meinen Liebling, von deren Milch wir leben, denn wir sind sehr arm und haben nur dieses eine Tier. Ich suchte sie und kam zum Flusse. Ich sah sie jenseits desselben und stieg ihr durch das Wasser nach. Eben wollte ich sie ergreifen, um sie zurückzuführen; da kam Schir Seleki, der Erbarmungslose, der oberste der Mörder, mit einer Schar Mir Mahmalli-Krieger. Ich flehte ihn um Erbarmen an, denn wir liegen in Blutfehde mit seinem Stamme; er aber hohnlachte meiner Bitte und stach meinen Liebling tot. Dann wurde darüber beraten, was mit mir geschehen sollte. Die Unmenschen wollten zwar ihre Waffen nicht mit dem Blute eines Weibes verunreinigen, aber sterben sollte ich dennoch. Sie beschlossen, mich von den Hunden hetzen und zerreißen zu lassen. Ich mußte vorwärts laufen bis in das nächste Gebüsch; so weit wollten sie mir Vorsprung geben. Ich lief bis zum Gesträuch, dann durch dasselbe weiter, immer weiter, und schrie in meiner Todesangst zu Gott um Hilfe. Er hörte meinen Ruf und rettete mich durch Dich, o Herr. Sein Name sei gelobt in Ewigkeit!“

„So kommen die Mir Mahmalli-Krieger wohl hinter Dir her?“

„Sie kommen, sie kommen jedenfalls, um meine zerrissene Lei­che — —“

Sie hielt inne. Infolge meiner Frage unwillkürlich zurückblickend, sah sie einen Trupp Reiter, welcher durch die vor uns liegenden Sträucher brach und, uns sehend, für einige Augenblicke halten blieb.

„Dort kommen sie, dort!“ schrie sie entsetzt auf. „Flieh, sonst bist Du verloren! Ich fliehe auch!“

Sie rannte spornstreichs nach dem Flusse, um sich ans jenseitige Ufer zu retten. Der Khawaß hielt noch immer weit hinter uns; er brüllte uns zu:

„Allah sei uns gnädig! Kommt zurück! Wir müssen fliehen, fliehen, fliehen!“

Die Kurden sahen die toten Hunde liegen und kamen, ein Wutgeheul ausstoßend und die Waffen schwingend, auf uns zugesprengt. Es waren zwölf Personen. Mein kleiner Hadschi Halef nahm sein Doppelgewehr von der Schulter und fragte ruhig:

„Wir reißen doch nicht aus, Sihdi?“

„Nein! Rück weiter ab von mir, und schieß, wenn sie nicht halten bleiben, aber nur auf die Pferde. Umzingeln lassen dürfen wir uns nicht!“

Ich schob drei neue für die abgeschossenen Patronen in den Stutzen und hielt denselben schußbereit. Zweihundert Schritte, hundertfünfzig, hundert waren sie von uns entfernt, da rief ich ihnen zu: „Halt! Nicht weiter! Wir schießen!“

Zwölf gegen zwei! Sie antworteten mit einem höhnischen Gelächter und ritten weiter. Sieben hatten, wie ich sah, Gewehre. Diese fürchtete ich nicht so wie die langen Lanzen, welche die fünf andern hatten und gegen uns eingelegt hielten.

„Die Pferde der zwei vordersten Lanzenreiter!“ rief ich Halef zu. Er gehorchte, und ich gab zu gleicher Zeit drei Schüsse ab. Die fünf Pferde stürzten; die Reiter flogen ab. Zwei oder drei der folgenden Pferde strauchelten über die gefallenen und stürzten auch; der Trupp kam dadurch ins Stocken. Die noch im Sattel Sitzenden blieben ungefähr dreißig Schritte vor uns halten, während die andern sich schwer oder leicht aufrichteten und fluchend nach ihren Pferden sahen.

Der Anblick dieser Kerls war keineswegs Vertrauen erweckend, doch konnte ihre Bewaffnung mich nicht in Angst versetzen. Die Lanzen waren jetzt unschädlich, und die mit Gewehren Versehenen hatten nur alte Steinschloßflinten, zwei von ihnen sogar Luntenflinten von Anno Tobak her. Was die Anzüge betraf, so prahlten dieselben in allen Farben; der Kurde liebt es, sich möglichst bunt zu kleiden. Einer von ihnen, der sich durch den Besitz einer Pistole auszeichnete, trug auf dem Kopfe einen Turban, welcher wenigstens drei Fuß im Durchmesser hatte. Er war der Anführer, ritt noch einige Schritte vor und donnerte uns an:

„Allah verdamme Euch! Habt Ihr den Verstand verloren, daß Ihr es wagt, im Bereiche unsers Gebietes auf uns zu schießen? Wer seid Ihr, Hunde?“

„Wir sind Fremde,“ antwortete ich, sein letztes beleidigendes Wort überhörend.

„Das versteht sich von selbst. Wäret Ihr nicht fremd, würdet Ihr Euch gehütet haben, Euch durch diese Feindseligkeit die Pforten des sichern Verderbens zu öffnen. Eure Seelen gehören der Hölle. Fahrt hinab durch unsere Kugeln!“

Er wollte sein Gewehr anlegen. Ich hielt den Lauf auf ihn gerichtet und gebot ihm schnell: „Nieder mit der Flinte, sonst jage ich Dir den Tod ins Gehirn!“

„Schwätzer!“ lachte er. „Eure Läufe sind abgeschossen!“

„Der meinige schießt immerfort. Paß auf!“

Ich gab rasch hintereinander drei, vier, fünf Schüsse auf sein Pferd ab. Es brach tut zusammen. Er stürzte und verlor die Flinte.

„Allah, Allah!“ brüllte er wütend, in dem er sich aufrichtete. „Woher hast Du dieses Gewehr? Hat es der Teufel für Dich gemacht? Wie ist Dein Name?“

Mein deutscher Name wäre hier nicht am Platze gewesen. Darum nannte ich mich bei demjenigen, welchen ich früher von meinen arabischen Reisegefährten erhalten hatte:

„Ich bin ein Christ aus einem fernen Lande und werde Kara Ben Nemsi Effendi genannt.“

„Ein Christenhund? Allah verfluche Dich! Stirb von meiner Hand!“

Er raffte sein Gewehr auf, um es auf mich anzulegen; da fiel ihm einer der Lanzenreiter in den Arm und rief ihm hörbar ängstlich zu:

„Halt ein! Du tötest uns alle! Das Gewehr dieses Christen schießt hundert Kugeln, ja tausend Kugeln hintereinander, ohne daß man es jemals zu laden braucht. Ich kenne ihn! Er schießt Euch, ehe Ihr zum Losdrücken kommt, alle über den Haufen.“

„Was — — was — — sagst Du?“ fragte der Häuptling, indem er seine Flinte sinken ließ und den Sprecher mit offenem Munde anstarrte.

Dieser antwortete, aber mit so leiser Stimme, daß ich ihn nicht verstehen konnte. Er sprach auf ihn und die andern eifrig ein, eine ganze Weile lang, wodurch Halef Zeit gewann, seine beiden Läufe wieder zu laden. Die Kurden hörten dem

Sprecher mit sichtbarem Staunen zu und musterten mich mit Blicken, als ob ich das neu entdeckte achte Weltwunder sei. Ich selbst war höchst begierig, zu hören, wo dieser Mann mich kennen gelernt hatte. Als seine Rede zu Ende war, wurde eine kurze, ebenso leise Beratung gehalten, und dann wendete sich der Häuptling an mich:

„Herr, bist Du einmal bei den Zibar-Kurden gewesen?“

„Ja.“

„Du bist Gast des Häuptlings derselben gewesen?“

„Ich pflege nur bei Häuptlingen zu wohnen,“ antwortete ich stolz.

„So bist Du derselbe Fremdling, welcher den Stamm der Haddedihn dadurch vom Untergange rettete, daß er drei Stämme ihrer Feinde in das Thal Deradsch lockte, wo sie sich ergeben mußten?“

„Der bin ich allerdings.“

„Und ist der kleine Mann, welcher sich hier bei Dir befindet, vielleicht Dein Diener Hadschi Halef Omar, welcher dies alles mit Dir erlebte?“

„Er ist es.“

„Da Ihr diese beiden seid, so sind wir bereit, Euch zu verzeihen, wenn Du das thust, was wir von Dir verlangen.“

„Sage, was Du forderst!“

„Du bezahlst erstens die Pferde, welche Ihr uns getötet habt.“

„Wohl auch die Hunde?“

„Natürlich! Und zweitens schenkt Ihr uns alle Waffen, welche Ihr bei Euch tragt.“

„Und drittens?“

„Weiter nichts. Du siehst, daß wir sehr billig sind. Gehst Du auf diese Bedingung ein, so bist Du mein Mivan und Hemschehr, 1 und Ihr könnt bei uns, so lange es Euch beliebt, ebenso sicher wohnen, als ob Ihr zu unserm Stamme gehörtet.“

„Wenn ich mich aber weigere?“

„So werden wir Euch als Todfeinde behandeln, und die Sonne dieses Tages wird die letzte sein, die Euch ins Auge scheint. Ich rate Dir, meinem billigen Verlangen nachzukommen!“

„Es ist mir noch nicht billig genug. Ich werde Euch beweisen, daß Ihr noch viel, viel billiger sein könnt.“

„Glaube das nicht! Wer gab Dir das Recht, meine Hunde zu töten?“

„Sollten sie nicht das Weib zerreißen?“

„Ja. Es herrscht Blutrache zwischen uns und ihrem Stamme. Sie ist außerdem eine verfluchte Schiitin, welche sogar von dem Heilande der Christen redet. Ihr Blut gehört den Hunden. Sie heißt Fatima Marryah und wird im tiefsten Schlunde der Verdammnis heulen.“

Also eine Schiitin war die Frau! Die Sunniten hassen die Schiiten; ja sie behandeln sie mit noch größerer Verachtung als die „Ungläubigen“. Und vom Heilande redete sie? Sollte die Kunde vom Welterlöser auf irgend eine Weise in ihr Ohr oder gar in ihr Herz gedrungen sein? Dann konnte ich mich darüber, sie gerettet zu haben, doppelt freuen. Ich antwortete:

„Ich bin ein Christ; sie spricht von meinem Heilande; darum fühle ich mich glücklich, Deine Bestien erschossen zu haben. Hättest Du dieselben nicht auf das arme Weib gehetzt, so lebten sie noch. Du bist also selbst schuld an Deinem Verluste. Und auch die Pferde soll ich bezahlen? Habe ich Euch nicht Halt geboten? Drohte ich Euch nicht, sonst zu schießen? Ihr gehorchtet nicht; darum schossen wir. Wer gab also die Veranlassung zum Tode Eurer Pferde?“

„Du, nicht wir! Wer gibt Dir das Recht, zu schießen?“

„Ich selbst gebe es mir. Wenn ich angegriffen werde, verteidige ich mich. Dankt Allah, daß ich ein Christ bin! Wäre ich Moslem, so hätten wir nicht auf die Pferde, sondern auf Euch geschossen. Und unsere Waffen wollt Ihr haben? Damit Ihr uns dann niedermachen könnt! Ich verschmähe es, der Gast und Freund eines Mannes zu sein, welcher wehrlose Frauen von seinen Hunden zerfleischen läßt, Schande und Verderben über Dich!“

„Schweig!“ brüllte er mir zu. „Sage noch ein einziges derartiges Wort, so fressen Dich schon heute oder morgen die Würmer!“

„Ez be teh tescha-u-utim — ich bedaure Dich! Deine Ohnmacht ist nicht imstande, Deine Drohung auszuführen.

1) Gast und Freund.

Dies mein Gewehr hat drei Hunde und drei Pferde getroffen; dann erhielt auch Dein Tier fünf Schüsse aus demselben. Hast Du mich laden sehen? Soll ich noch zwölfmal losdrücken und Euch alle durch die Köpfe schießen?“

„Du hast es Dir vom Teufel machen lassen!“ knurrte er in unterdrückter Wut. „Welcher Moslem aber kann gegen den Teufel kämpfen! So willst Du uns also nicht bezahlen?“

„Nein.“ — „Und auch nicht mit uns gehen?“

„Fällt mir nicht ein!“ — „Wohin reitet Ihr?“

„Dahin, wohin es uns beliebt. Du brauchst es nicht zu wissen. Zunächst bleiben wir noch fünf Minuten hier. Unsere Sicherheit erfordert, daß Ihr Euch vor uns entfernt. Wer von Euch nach diesen fünf Minuten noch nicht fort ist, bekommt eine Kugel von mir.“

„Du scherzest!“

„Es ist mein Ernst!“

„Wir müssen die toten Pferde fortschaffen, ihnen wenigstens das Zeug abnehmen!“

„Zu diesem Zwecke könnt Ihr später zurückkehren. Ich gebe Dir mein Wort, daß ich keine Silbe mehr mit Euch spreche. Mein Wille gilt. Fort mit Euch! Sieh hier mein Gewehr im Anschlage, und zähle fünf Minuten! Dann geht es sicher los!“

Ich richtete den Lauf auf ihn, und Hadschi Halef folgte meinem Beispiele. Die Angst vor meinem Stutzen brachte die beabsichtigte Wirkung hervor. Die Kurden warfen mir zwar grimmige Blicke zu, wagten es aber doch nicht, zu widerstreben. Sie raunten sich leise Bemerkungen zu und trollten sich dann, die einen reitend, die andern zu Fuße von dannen. Als sie an dem Gebüsch, aus welchem sie gekommen waren, anlangten, drehte sich der Häuptling um, schwang drohend sein Gewehr und rief zurück: „Khu’ in sohre. Baveze ser merahn — das Blut ist rot. Hüte Dich von Schlangen!“

Das war eine Unvorsichtigkeit von ihm, denn er verriet uns dadurch, daß er die Absicht hege, uns heimlich zu folgen, um sich an uns zu rächen. Wir wußten also, daß wir auf unserer Hut sein mußten. Zwar hatten wir keine Menschen, sondern nur einige Tiere erschossen, doch war es sicher, daß die Wirkung ganz dieselbe sein wer­de. — — —

2. Kapitel Yussuf Ali.

Illustration2

Hadschi Halef Omar ließ, als die Mir Mahmalli verschwunden waren, ein selbstgefälliges lustiges Lachen hören und sagte:

„Da sind sie hin, die zwölf Helden, welche vor zwei Männern weichen! Müssen sie sich nicht dessen schämen, Sihdi, und alle ihre Kindeskinder in Zukunft auch? Wir aber sind keinen Zollbreit vor ihnen gewichen. Doch siegten wir nur durch die Angst vor Deinem Gewehre. Der Mensch, welcher Dich kannte, muß damals mit uns bei den Zibar-Kurden gewesen sein. Wir wären schlimm daran gewesen, wenn er den Häuptling nicht auf Deinen Stutzen aufmerksam gemacht hätte.“

„Auch nicht schlimmer; nur hätte es wohl Menschenblut gekostet, wenn auch nicht das unserige. So lange sie offen vor uns standen, waren sie nicht zu fürchten. Nun aber werden sie uns wie „Schlangen“, wie der Häuptling sagte, nachschleichen, und das ist weit gefährlicher für uns.“

„Eher denke ich, daß sie uns auflauern, wenn wir jetzt weiter reiten. Es scheint, daß wir durch ihr Gebiet kommen werden.“

„Meinst Du wirklich, daß ich imstande bin, den Weg hier hüben fortzusetzen? Ich habe bisher angenommen, daß Du mich besser kennst. Hier hüben wohnen die Mir Mahmalli, drüben die Mir Yussufi, zu deren Stamm, wie es scheint, diese Fatima Marryah gehört. Da wir derselben einen solchen Dienst erwiesen haben, so steht mit Sicherheit zu erwarten, daß ihre Stammesgenossen uns freundlich aufnehmen und nötigenfalls gegen die Mahmalli beschützen werden. Wir gehen also jetzt über das Wasser.“

Indem ich das sagte, sah ich mich nach unserm Khawassen um. Er war nicht zu sehen; darum ritten wir zurück und fanden ihn nur dadurch, daß ich im Grase genau nach seiner Spur suchte. Der Mensch hatte vor lauter Angst sein Pferd zwischen die Büsche geführt, dort angebunden und war dann tief in ein Dorndickicht gekrochen, um von den Kurden nicht gesehen zu werden.

„Sind sie fort?“ fragte er, als ich ihn an den Beinen hervorzog. „Du lebst, Effendi! So haben sie Dich nicht ermordet?“

„Doch! Sie haben mich erschlagen.“

„Aber — aber, Du stehst ja hier vor mir!“

„Das ist nur mein Geist, der Dich Tag und Nacht verfolgen wird für die Kühnheit, mit welcher Du uns beschützt hast.“

„Und mein Geist wird Dir aufhucken, alle Stunden zehn- oder zwölfmal, Du Großvater und Urgroßvater der Furchtsamkeit,“ stimmte Hadschi Halef ein. „Warum bist Du zurückgeblieben? Warum hast Du Dich versteckt?“

„Nur aus Rücksicht für Euch. Die Kurden hassen die Khawassen des Großherrn. Hätten sie mich bei Euch gesehen, so wäret Ihr gewiß nicht so mit heiler Haut davon gekommen.“

„Und da gibt Dein Mutessarif Dich uns zum Schutze mit? Allah verwandle ihn dafür in einen umgekehrten Igel, mit den Stacheln nach innen, damit sie seine inwendige Seele stechen und peinigen all ihr lebelang! Welcher vernünftige Mensch thut denn, um einen Zweck zu erreichen, das gerade Gegenteil von dem, wodurch er ihn erreichen würde? Ich werde Euch beide nach vollendeter Reise auf Bretter nageln lassen, um Euch als Seltenheiten zu produzieren!“

Er machte eine verächtliche Handbewegung und folgte mir, der ich mich nach dem Flusse wendete. Dieser war hier kaum anderthalb Fuß tief, so daß die Kurdin leicht hatte hinüberwaten können. Sie war übrigens nicht mehr zu sehen.

Drüben angelangt, ritten wir am andern Ufer aufwärts, hüteten uns aber, uns nahe an dem Wasser zu halten. Die Kurden konnten sich drüben versteckt haben und auf uns schießen. Wir ritten vielmehr am Rande der Thalsohle, am Saume des Waldes unter den Bäumen, durch deren Stämme wir leidlich gedeckt waren.

Diese Vorsicht zeigte sich als gerechtfertigt, denn wir waren noch gar nicht weit gekommen, so fiel drüben aus den Büschen ein Schuß, doch ohne daß einer von uns getroffen wurde. Einige Augenblicke später hörte ich einen zweiten Schuß; er war nicht drüben, sondern hinter mir gefallen. Ich drehte mich schnell um und sah den Khawassen, welcher, um ruhiger zielen zu können, abgestiegen war, neben seinem Pferde stehen und die soeben abgeschossene Flinte senken. Jenseits des Flusses erhoben die Kurden ein wütendes Geschrei -

Geschrei. Schnell, damit er meinen Worten zuvorkomme, rief er mir zu:

„Ich habe ihn erschossen, Effendi! Ich sah ihn zwischen den Sträuchern stehen und auf uns schießen; da schickte ich ihm meine Kugel und sah ihn niederstürzen.“

„Welcher war es? Etwa der Häuptling?“

„Nein, ein anderer. Siehst Du nun, daß ich Mut besitze und ein tapferer Krieger bin?“

„Nein. Es ist keine Kunst, so aus dem Hinterhalte auf jemand zu schießen. Warum fragtest Du mich nicht? Deine Voreiligkeit kann uns den größten Schaden bringen. Aus dem Geschrei der Kurden ist zu ersehen, daß Du getroffen hast. Dachtest Du denn nicht an die Blutrache!“

„Blutrache? O Allah, das hatte ich vergessen! Meinst Du, daß sie kommen, um sich zu rächen?“

„Natürlich! Kein Volk hält so fest wie diese Kurden an der Blutrache. Wenn sie Dir den Hals abschneiden, habe ich nichts dagegen!“

Ich meinte diese Worte natürlich nicht im vollen Ernste, war aber doch erzürnt über ihn. Wir befanden uns schon in Gefahr, und sein unkluges Gebahren konnte dieselbe nur vermehren, zumal der Fluß jetzt eine Krümmung machte und so nahe an den Berghang trat, daß zwischen den beiden nur ein sehr schmaler, offener Grasstreifen blieb, welchem wir eigentlich zu folgen hatten. Diese Stelle konnte verhängnisvoll für uns werden, weil wir auf derselben den Kugeln der in den Büschen jenseits steckenden Kurden frei ausgesetzt waren. Darum zog ich es vor, wenigstens eine Strecke weit unter dem Walde des Abhanges Deckung zu suchen. Wir waren also gezwungen, uns bergauf zu wenden und mußten infolge dessen absteigen, da das Terrain felsig war und ziemlich steil abstieg. Unsere Pferde führend, kletterten wir empor und kamen zu meiner Verwunderung auf eine Art von Pfad, welcher längs der Berglehne hinzuführen schien. Wir folgten ihm, ohne es für notwendig zu halten, uns auf eine feindselige Begegnung vorzubereiten, denn auf diesem Ufer wohnten ja die Mir Yussufi, von denen ich annahm, daß sie uns freundlich aufnehmen würden.

Hier konnten wir wieder in den Sattel steigen, waren aber noch nicht weit gekommen, so sahen wir uns zu Halten gezwungen. Wir befanden uns nämlich vor einem Felsen, welcher da, wo der Pfad aufhörte, ein Thor zu bilden schien. Man konnte zu keiner Seite abweichen, denn links fiel das Terrain so steil ab, und rechts stieg es so jach an, daß es nicht zu passieren war. Die Öffnung aber, welche ich Thor nannte, war mit einem starken Dorngeflecht verschlossen. Ich fragte mit lauter Stimme, ob jemand dahinter sei, worauf eine tiefe, kräftige Baßstimme von innen antwortete:

„Es ist jemand da. Wer seid Ihr?“

„Wir sind Fremde, welche von Rewandis kommen.“

„Wohin wollt Ihr?“

„Über die Grenze.“

„Wes Glaubens seid Ihr? Sunniten oder Schiiten?“

„Ich bin ein Christ; meine Begleiter aber sind sunnitische Moslemin. Können wir für diese Nacht Eure Gäste sein?“

„Ich werde öffnen. Bindet draußen Eure Pferde an!“

Die Dornenthüre wurde entfernt, und es erschien ein Mann von so riesigen Körperformen, wie ich wohl noch nie einen gesehen hatte. Er war bedeutend höher und breiter als ich und trug auf seinem unbedeckten, sonst kahl geschorenen Kopfe nur ein langes, dünnes Temeli (Haarbüschel), welches hinten bis auf dem Rücken niederfiel. Seine sehr weite Hose war schwarz und rot gestreift und oben und unten mit Riemen zugebunden. Die nackten Füße hatten fast noch größere Dimensionen als die gewaltigen Hände, um welche ihn ein irischer Vollmatrose beneidet hätte. Um die Schultern hing ein Lederkragen, welcher in lange Streifen geschnitten war, so daß sein rauh behaarter Oberkörper ebenso wie die nackten, auffallend stark muskulierten Arme zu sehen waren. Er hielt ein Messer in der Hand, mit welchem er wohl eben beschäftigt gewesen war. Er musterte uns mit einem beinahe finstern Blicke und sagte dann:

„Kommt herein, und wartet hier! Ich werde dem Malk-hoe-gund (Dorfältesten) Eure Ankunft melden.“

Er verschwand im Hintergrunde durch eine zweite Dornenthüre, welche er von draußen wieder vorschob, und wir

traten ein, die Pferde natürlich im Freien lassend. Wir befanden uns in einem unregelmäßig viereckigen Raume, welcher wohl zwanzig Personen bequem fassen konnte und dessen vier Wände mit eben solchem Dorngeflecht bekleidet waren. Warum dieses stachelige Zeug? Das sollten wir bald erfahren. Als Stühle oder Schemel lagen mehrere große Steine da. Wir setzten uns. Sonst war ringsum nichts zu sehen, als ein Lanzenschaft, an welchem der Kurde bei unserm Kommen geschnitzt zu haben schien.

Eigentlich hatte ich große Lust, die Örtlichkeit in altgewohnter Vorsicht genau zu untersuchen, doch hielt mich eben dieselbe Vorsicht davon ab; wir konnten Beobachter haben, und ich wollte dieselbe nicht durch ein Zeichen des Mißtrauens gegen uns aufbringen. Eins aber that ich, um auf alle Fälle gerüstet zu sein: Ich füllte, um die abgeschossenen Kugeln zu ergänzen, das Magazin meines Henrystutzens mit neuen Patronen.

Eben war ich damit fertig, als die Hinterthüre wieder geöffnet wurde und der Kurde mit einem Manne eintrat, den er als den Malk-hoe-gund bezeichnete. Dieser war ein verwegen und zugleich verschmitzt aussehender Mann mittlerer Größe. Auch er trug einen riesigen Turban; sein Körper wurde von einem türkischen Anzuge, der aber aus rot und gelb gemustertem Zeuge gefertigt war, umhüllt. Im Gürtel hatte er ein Messer und eine Pistole stecken. Im Besitze der letzteren Waffe befinden sich bei den Kurden meist nur die Häuptlinge. Er warf einen forschenden und, wie es mir schien, erzwungen freundlichen Blick auf uns und fragte mich dann:

„Die beiden Männer sind Sunniten?“

„Ja.“

„Wir bekennen uns zur heiligen Schia und feiern den Tod Husseins, des Märtyrers. Du aber bist ein Christ und trägst doch das Hamaïl!“

Hamaïl ist ein in Mekka geschriebener Kuran, welchen die dort gewesenen Pilger, wenn sie wohlhabend genug waren, sich einen solchen kaufen zu können, als Andenken an ihre Wallfahrt am Halse tragen. Darum antwortete ich:

„Ich habe ihn in Mekka gekauft.“

Er warf mir darauf einen Blick zu, welchen ich nicht zu enträtseln vermochte, musterte mich abermals, und zwar eingehender als vorher, und trat dann vor den Eingang, um unsere Pferde anzusehen. Kaum war sein Auge auf mein Pferd gefallen, so leuchtete es freudig überrascht auf, und er rief aus:

„Ia Hassan, ia Hussein! Das ist ja ein Rapphengst von reinstem Blute. Wie heißt er?“

„Rih,“ antwortete ich.

„Rih? Von wem hast Du ihn?“

„Von Mohammed Emin, dem Scheike der Haddedihn vom Stamme der Schammar.“

„Ich kenne die Haddedihn und alle ihre Schicksale. So bist Du wohl der Christ, dem er dieses Pferd schenkte, weil Du seinen Stamm vor drei feindlichen Stämmen rettetest?“

„Ja.“

„Du durchzogst dann Kurdistan und hast dann auch für die Teufelsanbeter gekämpft?“

„Ich stand ihnen bei, weil sie recht hatten.“

„Aber gegen Anhänger des Propheten!“ brauste er beinahe auf.

„Durch meinen Beistand wurde großes Blutvergießen verhindert,“ verteidigte ich mich.

„Ich hörte von Dir erzählen,“ fuhr er gemäßigter fort, „auch davon, daß Du ein Gewehr besitzest, mit welchem man unaufhörlich schießen kann, ohne zu laden. Hast Du es noch?“

„Ja, hier ist es,“ erklärte ich, indem ich auf den Stutzen deutete.

„Gib es einmal her! Ich will es betrachten.“

„Ich gebe es nur dann aus der Hand, wenn ich weiß, daß ein Freund es sehen will. Bist Du gewillt, uns als Gäste aufzunehmen?“

Dieses Gewehr mit seinen fünfundzwanzig Schüssen war mein bester Schutz, zugleich aber auch eine Gefahr für mich, da ein jeder es zu besitzen wünschte.

„Zeige es mir, dann werde ich antworten!“

„Antworte, dann werde ich es zeigen!“

„Du mißtraust mir?“ fuhr er mich zornig an, indem er beide Hände klatschend zusammenschlug. „Erfahre, welche Folgen das hat!“

Das Klatschen war ein Zeichen, und sein lautes Sprechen sollte das, was jetzt geschah, für uns unhörbar machen; dennoch vernahm ich hinter uns ein Geräusch, als ob die Dornenwand bewegt werde. Ich drehte mich schnell um. Die Wand war fort, und es drängten sich zehn bis zwölf bewaffnete Kurden herein. Die vordersten standen schon hart bei uns. Ich wollte zurückspringen und den Stutzen anlegen; aber es war bereits zu spät, denn der Kurde, der uns eingelassen hatte und dem ich nun den Rücken zudrehte, ergriff den Lanzenschaft und schlug mich mit demselben in der Weise auf den Kopf, daß ich niedersank.

Was nun geschah, konnte ich weder sehen noch hören, denn der Hieb des riesenkräftigen Mannes hatte mich ohnmächtig gemacht. Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich nicht da, wo ich niedergeschlagen worden war, sondern ich lag, an Händen und Füßen gefesselt und nur noch mit Hemd und Hose bekleidet, im Freien. Neben mir lag Halef und der Khawasse, ganz ebenso gebunden und ebenso entkleidet wie ich. Man hatte uns alles abgenommen.

Es war noch Tag, und so konnte ich meine Umgebung deutlich in Augenschein nehmen. Es war mitten im Walde ein großer viereckiger Platz gelichtet worden. Die gefällten Bäume hatte man, ohne ihnen die Kronen zu nehmen, an den Rändern dieser Lichtung so neben- und aufeinander gelegt, daß eine geradezu undurchdringliche Einfassung entstanden war, in welcher als Eingang eine nur so breite Lücke blieb, daß ein einzelner Reiter hindurch konnte. Diese Lücke wurde des Nachts und in Zeiten der Gefahr geschlossen. Später erfuhr ich, daß es noch einen zweiten Eingang gab, nämlich das Felsenthor, durch welches wir gekommen waren. Dieses hatte man mit dem erwähnten Dornenflechtwerke so ausgekleidet, daß es einem nur nach dem Walde zu offenen Raume, einer Art Stube glich, ein Umstand, durch welchen auch ich getäuscht worden war. Es war aber nach drei Seiten offen. Von der einen Seite waren wir, von der andern der Malk-hoe-gund und von der dritten diejenigen, welche uns überfielen, eingetreten.

Auf der Lichtung standen die aus Stämmen und Zweigen errichteten Hütten der Kurden. Das Innere derselben konnte durch verstellbare Flechtwände in beliebig viele Abteilungen geschieden werden. Die Herden, welche des Abends hereingetrieben wurden, befanden sich mit den zahlreichen bewaffneten Hirten jetzt draußen im Walde und auf offenen Weideplätzen. Im Innern der Einfriedung gab es jetzt nur wenige, vielleicht dreißig Männer, von denen zehn um uns herumsaßen. Kinder und verschleierte Frauen trieben sich aber in viel größerer Anzahl entweder geschäftig herum, oder sie standen da, um uns neugierig und feindselig anzugaffen. Unsere Pferde waren nahe bei uns an Pfähle gebunden. Unter den erwähnten zehn befanden sich der Malk-hoe-gund und der Kurde, welcher uns empfangen hatte. Dieser letztere schien seiner Kleidung und Bewaffnung nach, denn er hatte nur das Messer, der ärmste von ihnen zu sein. Als der erstere, den ich der Kürze wegen Scheik nennen will, sah, daß ich die Augen wieder offen hatte, redete er mich und zwar im feindseligsten Tone an:

„Du siehst, wie weit Dein Mißtrauen Dich gebracht hat. Ihr werdet sterben müssen.“

„Hätte ich Dir Vertrauen geschenkt, so lägen wir jetzt auch hier,“ antwortete ich ihm. „Ihr wolltet unser Eigentum haben, ganz besonders mein Pferd und mein Gewehr; da war es gleich, ob wir Euch trauten oder nicht. Sterben aber werden wir auf keinen Fall.“

„Du irrst. Sobald es Abend ist und alle beisammen sind, wird die Hinrichtung vor sich gehen. Ihr seid verdammte Christen und Sunniten, die keine Gnade zu erwarten haben. Wer Euch tötet, dem legt Allah tausend Ewigkeiten zu.“

„Und ich sage Dir, daß keiner von Euch es wagen wird, die Hand an uns zu legen.“

„Ich aber schwöre Dir bei Allah, bei Hassan, bei Hussein und — — —“

„Halt, schwöre nicht, denn Du würdest falsch schwören,“ unterbrach ich ihn. „Wenn Du wirklich von mir gehört hast,

so wirst Du wohl wissen, daß ich mich, ohne zu unterliegen, in noch viel größeren Gefahren als jetzt befunden habe. Mich richtet man nicht so leicht hin. Was nützt Dir die Beute, welche Ihr uns abgenommen habt? Mein Pferd wird Dir nicht gehorchen, und mein Gewehr verstehst Du nicht zu handhaben. Deine Hand wird nicht einen einzigen Schuß herausbringen.“

Er hatte nämlich meinen Stutzen vor sich liegen. Darauf gründete ich meinen Rettungsplan. Ich wollte unsere Freiheit gern mir selbst verdanken; unsere Begegnung mit der Kurdin Fatima Marryah aber wollte ich nur als letzten Trumpf ausspielen. Halef, welcher mir zur Rechten lag, meinte nach meinen letzten Worten in seinem arabischen Mogrebindialekte, den die Kurden nicht verstanden:

„Sihdi, er hat schon, während Du besinnungslos lagst, fort und fort probiert, mit dem Stutzen zu schießen; es ist ihm aber nicht gelungen. Sei klug, und thue so, als ob Du es ihm zeigen willst. Dann rettest Du uns!“

„Das eben ist mein Plan,“ antwortete ich ihm in demselben Dialekte. „Ich werde ihm — — —“

„Schweig!“ fuhr mich der Scheik an. „Ihr habt nichts, was wir nicht verstehen, miteinander zu sprechen. Was Dein Gewehr betrifft, so wirst Du mir sagen müssen, wie die Handgriffe sind.“

„Und wenn ich es nicht sage?“

„So wirst Du mit einem zehnfachen Tode bestraft werden. Ihr sollt erschossen werden; aber wenn Du mir nicht mitteilst, was wir wissen wollen, so werden wir Dich an einen Baum binden und von unten herauf langsam verbrennen.“

Den Kurden sind solche Grausamkeiten zuzutrauen. Ich that, als ob ich erschrocken sei und mich fürchte, weigerte mich aber dennoch scheinbar, sein Verlangen zu erfüllen, bis er seine Drohung verschärfte und ich mich nun ergeben zeigte, dabei aber bemerkte, daß ich mit gefesselten Händen nicht zeigen könne, wie das Gewehr anzufassen sei.

„Ich werden Dir die Hände lösen,“ antwortete er erfreut. „Ich binde den Riemen los.“

Er kam eiligst herbei und machte meine Hände frei. Dann reichte er mir das Gewehr. Jetzt hatte ich gewonnen. Jetzt konnten wir gehen, wenn und wohin wir wollten; das wußte ich. Ich richtete mich auf, legte an und sagte:

„Paß auf, wie ich schieße! Sieh den längsten, untersten Eichenzweig am zweiten Baume da drüben. Es sind vier Galläpfel daran. Ich werde sie herabschießen. Paßt auf!“

Die Eiche stand siebzig Schritte entfernt. Die bei uns sitzenden Kurden sprangen auf und eilten hin. Die andern Männer eilten nach; die Frauen und Kinder folgten. Nur der Scheik blieb bei uns. Ich hätte vor Freude laut lachen mögen. In dieser Entfernung hatten die Galläpfel die scheinbare Größe von Pfefferkörnern. Es schien unmöglich, sie zu treffen. Ich drücke viermal ab. Ein Jubelgeschrei verkündete den Erfolg. Ich aber legte, ohne auf dasselbe zu achten, das Gewehr blitzschnell weg, ergriff den Scheik, zog ihn zu mir nieder, faßte ihn mit der Linken bei der Gurgel, riß ihm mit der Rechten das Messer aus dem Gürtel, schnitt den Riemen, welcher meine Füße verband, entzwei, dann auch den, welcher die Hände Hadschi Halefs zusammen hielt, und rief dem letzteren zu:

„Hier nimm das Messer und schneide Dich und den Khawassen vollends los, dann binde die Pferde von den Bäumen!“

Er nahm das Messer. Ich hatte jetzt beide Hände zur Verfügung, richtete mich aus meiner sitzenden Stellung auf, riß den Scheik empor, ließ ihn los, hob den Stutzen auf, legte denselben auf ihn an und rief ihm zu:

„Die Hände an den Leib, und bewege Dich nicht, sonst bekommst Du hundert Kugeln aus dieser Teufelsflinte!“

Er gehorchte beinahe zitternd. Das war alles in der Zeit von nicht mehr als einer Minute geschehen. Die Kurden sahen es von fern. Sie kamen schreiend herbeigerannt; ich rief ihnen entgegen:

„Halt, bleibt stehen, sonst schieße ich Euern Scheik sofort über den Haufen! Wer von Euch eine Waffe auf uns richtet, dem gebe ich ein Blei in den Kopf!“

Auch sie gehorchten; sie blieben halten, so groß war ihre Angst vor meinem Stutzen. Und da brachten Hadschi Halef und der Khawaß auch schon die Pferde geführt.

„Siehst Du nun, daß Du falsch geschworen hättest?“ fragte ich den Scheik. „Wir sind nicht die Leute, mit denen man machen kann, was man will. Du wirst sofort alles, was uns abgenommen worden ist, holen lassen und dann —“

„Chodeh ih Chodeh,“ unterbrach mich eine weibliche Stimme hinter mir — — „Gott, o Gott, was soll hier geschehen?“

Ich drehte mich um und sah Fatima Marryah, welche soeben erst durch das Felsenthor gekommen war.

„Man nahm uns gefangen und beraubte uns, um uns dann zu ermorden,“ antwortete ich ihr. „Wir aber haben uns frei gemacht und werden alle erschießen, falls man uns nicht ungehindert abziehen läßt.“

„Gefangen genommen — beraubt — töten, Euch, meine Retter und Erlöser, denen ich mein Leben verdanke? Kein Haar soll Euch gekrümmt werden; das versichere ich Euch!“

Sie kam vollends herbei und sprach so eifrig und schnell auf den Scheik und seine Leute ein, daß ich ihren Worten nicht zu folgen vermochte, obgleich ich des Kurmangdschi leidlich mächtig war. Die Rede floß ihr förmlich aus dem Munde. Noch hatte sie nicht geendet, und noch sprach sie immer weiter, da kam der Kurde, der mich niedergeschlagen hatte, herbei und rief mir zu:

„Herr, Du hast sie gerettet; ich heiße Yussuf Ali, und sie ist mein Weib. Erlaube mir, mich neben Dich zu stellen und Euer Beschützer zu sein. Bei Hassan und bei Hussein, ich hafte mit meinem Leben für Euch und Euer Eigentum.“

Da dies der heiligste Schwur eines Schiiten ist, so nickte ich ihm Gewährung zu, und er stellte sich neben mich. Als sein Weib geendet hatte, begann auch er für uns zu sprechen, und zwar in einer Weise, daß ich erkannte, er werde seinen Schwur auf alle Fälle halten. Ich glaubte, seine Rede werde den Erfolg haben, daß man zunächst zu einer Beratung zusammentreten werde, hatte mich aber getäuscht, und zwar glücklich getäuscht, denn als Yussuf Ali ausgesprochen hatte, wendete sich der Scheik zu mir und sagte:

„Herr, das wußte ich nicht; darum müßt Ihr uns verzeihen. Ihr habt einer unserer Frauen das Leben gerettet; zwei von Euch haben zwölf dieser verdammten Mir Mahmalli besiegt, wie könnten wir da Eure Feinde sein! Nein, wir sind Ihr, und Ihr seid wir; wir sind Brüder; ich schwöre es bei Muhammed und bei Hassan und Hussein, die unter den Streichen der Sunniten verblutet sind. Kommt mit in mein Haus! Dort werdet Ihr alles finden, was Euch gehört.“

„Nein!“ rief Yussuf Ali. „Sie haben mein Weib errettet; darum müssen sie meine Gäste und nicht die Deinigen sein. Ich habe das erste und größte Recht auf sie!“

Erst sollten wir getötet werden, und nun stritten sich diese Leute um die Ehre, uns bei sich zu haben. Als man sich nicht einigen konnte, bat man mich, den Streit zu entscheiden, und ich entschied, daß Halef mit dem Khawassen bei dem Scheik, ich aber bei Yussuf Ali wohnen sollte, wodurch beide Parteien befriedigt wurden.

Unterdessen war die Dämmerung eingetreten und die Hirten brachten die Herden getrieben. Dieselben waren nicht bedeutend. Die Mir Yussufi sind bald hüben auf türkischem, bald drüben auf persischem Gebiete, und da die Perser Schiiten sind, so ist es erklärlich, daß einige Familien des Stammes schiitisch geworden waren und sich von dem Stamme getrennt hatten. Diese schiitische Abteilung war es, bei welcher wir uns befanden. Sie lebte vom Ertrage ihrer kleinen Herden, vom Einsammeln der Galläpfel, welche bekanntlich einen bedeutenden Ausfuhrartikel bilden, und vom — — Raube, was bei ihnen als Kurden sehr natürlich war, da der Kurde den Raub für ritterlich hält.

Als die Hirten erfuhren, was sich ereignet hatte, waren sie unsers Lobes voll und machten ihrem Grimm gegen die feindlichen Mahmalli in einem Geheule Luft, welches diese jedenfalls hörten, denn sie bewohnten eine genau ebensolche Einfriedigung jenseits des Flusses auf der Höhe des gegenüberliegenden Berges. Ich hatte dieselbe vorhin, als es noch hell war, liegen sehen und konnte jetzt deutlich die Feuer erkennen, welche drüben brannten.

Auch bei uns wurde vor jedem Hause ein Holzstoß angezündet, an welchem die Bewohner sich versammelten, um das Abendessen zu bereiten. Yussuf Alis Haus war das kleinste;

ich konnte es eigentlich nur eine Hütte nennen, welche durch eine verschiebbare Flechtwand in zwei Teile geteilt wurde, deren einer das unvermeidliche Frauenzimmer, der Harem war, welcher heute mir zur Verfügung gestellt wurde. Mein Wirt hatte nur die Ziege besessen, welche die Mir Mahmalli getötet hatten. Von ihrer Milch und dem Ertrage der Galläpfel lebte er. Außerdem erhielt er einen kleinen Extraanteil von jedem Raube, da er das Amt übernommen hatte, den Felseneingang zu bewachen.

Was sollte er mir, dem hochgeehrten Gaste, vorsetzen? Diese Frage setzte ihn nicht in Verlegenheit. Wenn ein armer Nomade, mag er nun Beduine, Kurde oder Kirgise sein, einen Gast bekommt und nichts für ihn zu essen hat, so geht er einfach zum ersten besten Nachbar oder noch besser zum reichsten Mann des Lagers und bekommt von diesem sofort, was er braucht. Yussuf Ali ging also zum Scheik und brachte Mehl, Reis und einen geschlachteten fetten Hammel, so daß also einer Hungersnot ganz gründlich vorgebeugt war.

Leider aber fehlte ihm eins, und zwar die Hauptsache — der Tabak. Dieser gehört nicht zu den Gegenständen, welche man für einen Gast umsonst verlangen kann. Er hatte eine alte Pfeife an einer Schnur am Halse hangen und zog sie bald hin und her, mich dabei verlegen betrachtend. Da schirrte ich meinen Hengst ab und holte aus der Satteltasche meinen Tschibuk und den Tabaksbeutel hervor, den ich Yussuf Ali präsentierte. Da begann sein Gesicht zu glänzen, und er rief aus:

„Welch ein Glück, Herr, daß Du selbst einen Vorrat von dieser Quelle des Glückes besitzest. Ich grämte mich schon, daß ich Dir nichts zu bieten vermochte. Nun aber hat sich mein Gram in Wonne verwandelt. Chodeh da-uleta ta mazen beket, jahrimen ahziz — Gott vermehre Deinen Reichtum, mein teurer Freund!“ — — —

3. Kapitel Hussein Isa.

Illustration3

Während wir beiden Männer mit großem Eifer das thaten, was die Abendländer so prosaisch mit „rauchen“, die Türken aber mit tütün itschmek — „Tabak trinken“ bezeichnen, war Fatima Marryah mit tief verschleiertem Gesicht beschäftigt, das Abendessen zuzubereiten. Es mußte Kuchen gebacken, Reis gedünstet und der Hammel am Spieße gebraten werden. Da ich leicht Ekel habe, so paßte ich sehr auf, in welcher Weise sie das that. Hamdulillah! Sie war viel,

viel reinlicher, als ich es bei einer Kurdenfrau vermutet hatte! Ich konnte mit Appetit essen. Während sie still und wortlos schaffte, unterhielt ich mich mit ihrem Manne über hunderterlei, was ihn und mich interessierte, und fragte ihn im Laufe des Gespräches auch, ob Allah ihm das Glück, Vater eines Kindes zu sein, ganz versagt habe. Da wurde sein bisher so zufriedenes Gesicht plötzlich ungewöhnlich ernst; er blickte nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:

„Nein, Herr, es wurde mir nicht versagt, dieses Glück, welches ich wohl besser ein Unglück nennen sollte.“

„Ein Unglück? Dann verzeihe, daß ich davon sprach! Ist Dir ein liebes Kind gestorben, so wisse, daß es bei Allah ist. Sprechen wir nicht davon!“

„O, sprechen wir dennoch davon! Du weißt alles und kennst alles. Vielleicht kannst Du mir einen Rat erteilen, welcher die schwere Last von meinem Herzen nimmt. Ich habe einen Sohn; er ist nicht gestorben und doch vielleicht schon tot.“

„Vielleicht? So weißt Du es noch nicht sicher? Ist er in die Fremde gegangen und nicht zurückgekehrt?“

„Er ist in der Fremde und kommt oft zurück, uns zu besuchen, denn er liebt uns sehr und bringt alles, was er sich erspart. Er lebt also und ist doch vielleicht schon tot für uns.“

„Wie soll ich das begreifen?“

„Ich werde es Dir erzählen. Als wir vergebens auf ein Kind hofften, thaten wir ein Nadr (Gelübde), daß, wenn das Kismet sich erweichen lasse, unser Sohn nur für Allah und den Islam leben und wirken solle. Da erbarmte sich Allah und gab uns einen Sohn, Herr, ich sage Dir, eine Wonne von einem Kinde! Der Knabe hatte Augen wie Diamanten, ein Gesicht wie die lachende Morgenröte, ein Herz voller Liebe zu uns, einen Verstand, o, einen Verstand, der von Jahr zu Jahr größer und reicher wurde. Wir thaten ihn nach Diarbekir zu einem berühmten Gelehrten. Wir mußten hungern, um diesen Mann bezahlen zu können, aber wir thaten es gern. Nach drei Jahren kam er zurück. Da konnte er den Kuran und alle seine Auslegungen auswendig; alle heiligen Bücher waren in seinem Kopfe versammelt, und der Geschichte der Khalifen war er so gewiß wie seiner eigenen Erfahrung. Wir waren entzückt; wir dankten Allah auf unsern Knien und baten um seinen ferneren Segen. Unser Sohn, den wir Hussein Isa genannt hatten, sollte — —“

„Hussein Isa?“ unterbrach ich ihn, über diesen Namen erstaunt, da Isa Jesus heißt.

„Ja, Hussein nannten wir ihn nach unserm größten heiligen Khalifen, den die Sunniten bei Kerbela ermordet haben. Und den Namen Isa erhielt er nach dem Stifter des Christentumes, der auch von uns für einen Propheten gehalten wird und ein gewaltiger Redner war. Seine Worte waren wie Sonnenstrahlen, welche das Herz erleuchten, und wie Schwerter, die durch die Seele dringen. So ein Redner, so ein Prophet, wohl gar der Mahdi, den wir alle erwarten, sollte unser Sohn werden, und darum hat er zu dem Namen Hussein noch den Namen Isa bekommen.“

„Sonderbar! Sollte das ein Omen, ein Kismet sein?“

„Wie meinst Du das?“

„Eure drei Namen sind Yussuf Ali, Fatima Marryah und Hussein Isa. Jede dieser drei Personen hat einen moslemitischen und einen christlichen Namen. Ali und Fatima waren die Eltern von Hussein, welcher von seinen Gegnern getötet wurde. Yussuf (Josef) und Marryah (Maria) waren die Eltern von Isa, welchen seine Feinde ans Kreuz schlugen. Ist das nicht sonderbar?“

„Herr, das ist mir noch nicht aufgefallen; das beschwert meine Seele noch viel mehr! Du unterbrachst mich. Ich wollte Dir sagen, daß unser Sohn nun nach Meschhed-Ali gehen sollte, um dort die tieferen Lehren der Schiiten zu studieren. Wir rüsteten ihn aus und sandten ihn mit Bekannten fort, welche nach Mossul reisten, um Galläpfel abzuliefern. Sie kehrten zurück und meldeten uns, daß er ganz glücklich mit ihnen dort angekommen sei. Später waren wieder Leute dort, die behaupteten, ihn in Mossul gesehen zu haben. Wir wollten das nicht glauben, erhielten aber kurz darauf von ihm selbst die Nachricht, daß er nicht nach Meschhed-Ali gegangen, sondern als Chizmikar (Diener) des Patrik

(Patriarch) von El Kosch in Mossul geblieben sei. Kennst Du diesen Mann vielleicht?“

„Ja. Ich war bei ihm und habe mit ihm gesprochen. Er ist ein sehr frommer Mann, den ich sehr verehre. Auch El Kosch ist berühmt. Man sagt, daß der Prophet Nahum da geboren worden sei.“

„Wenn Du bei dem Patrik warst, so hast Du wohl unsern Sohn gesehen?“

„Vielleicht. Der Patrik hat mehrere Diener, von denen mir nur zwei zu Gesicht gekommen sind. Erzähle weiter! Deine Geschichte interessiert mich außerordentlich.“

„Wollte doch Allah, daß sie weniger traurig wäre! Mein Sohn, der nach Meschhed-Ali sollte, um ein großer Lehrer der Schia, vielleicht gar ein Mahdi zu werden, bei dem christlichen Patrik in Mossul! Das war ja entsetzlich! Ich machte mich auf und reiste selbst hin. Ich fand ihn. Ich bat, ich zürnte, doch vergeblich. Er hatte dem Patrik einen zufälligen Dienst erwiesen und ihn deshalb besuchen müssen. Dieser alte Mann, dieser Giaur, den Allah töten wolle, hatte einen solchen Eindruck auf ihn gemacht, daß er nicht von ihm fortzubringen war. Er kränkte mein Herz sogar mit der Behauptung, daß ihm jetzt das Licht aufzugehen beginne, nach welchem er bisher vergeblich gesucht habe. Ich mußte unverrichteter Sache heimkehren, und er blieb dort. Zuweilen besuchte er uns und brachte uns allerhand Gaben mit. Ich bat ihn, hier zu bleiben. Ich drohte mit allem, womit ich drohen konnte; aber es half nichts. Er antwortete mir mit langen Reden, die ich nicht verstehen durfte, und ging wieder fort. Ich sandte mehreremal mein Weib, denn ich dachte, er werde der Mutter vielleicht lieber gehorchen als dem Vater; aber sie nahm nicht ihn, sondern er nahm sie gefangen, denn sie begann nun auch von dem Lichte zu reden, welches aufgegangen sei, alle Völker und Heiden zu bekehren, und von dem Sterne, den die Könige des Morgenlandes gesehen haben wollten. Wenn das so fortgeht, ist mein Sohn tot für uns und — —“

„Für mich nicht!“ unterbrach ihn seine Frau unter einem lauten Aufschluchzen. „Er ist mein Kind, mein einziges, geliebtes Kind und wird es bleiben, so lange ich lebe!“

Ich hatte während der Erzählung ihres Mannes gesehen, daß sie wiederholt mit der Hand unter das Schleiertuch fuhr, jedenfalls um sich die stillen Thränen abzutrocknen. Jetzt aber konnte sie sich nicht mehr beherrschen; sie mußte sprechen und that dies in einem so herzzerreißenden Tone, daß mir die Augen sofort naß wurden.

„Weib, schweig!“ gebot er ihr. „Er hat auch Dich verführt. Willst Du etwa auch Christin werden und zu dem Gekreuzigten beten? Dieser Isa war ein Prophet und großer Redner; aber was ist er gegen Muhammed, gegen Ali, den Heiligen, gegen Hassan und Hussein! Willst Du den abtrünnigen Sohn verteidigen, so wehe ihm, wenn er wieder kommt! Er hat mich verlassen und will mir nun auch noch das Weib vom Herzen nehmen! Ich weiß, was ich zu glauben habe und — —“

Er wurde durch einen Ruf unterbrochen, welcher vom hintersten Feuer her erschallte. Er selbst war es, den man gerufen hatte; darum stand er auf und begab sich dorthin, wo man nach ihm verlangte.

„Herr,“ weinte die Frau, „es ist alles so, wie er Dir erzählte, und dennoch ist es nicht ganz so, wie er es sagt. Ich habe um Hassan und Hussein, welche getötet wurden, viele, viele Thränen vergossen, denn ich dachte an Fatima, die Mutter der Getöteten. Jetzt aber weine ich um Isa, den Gekreuzigten, der für alle Menschen gestorben ist, und denke an Marryah, die Mutter der Schmerzen, die an seinem Kreuze stand. Mein Sohn hat mir viel, viel von ihm und ihr erzählt, und was er sagt, das glaube ich, denn ich liebe ihn. Ich habe es meinem Manne wieder erzählt, oft, sehr oft. Er hat es still in seinem Herzen bewahrt; das weiß ich; das habe ich bemerkt, denn er fing zuweilen selbst von Isa und Marryah an. Es ist ein Streit in seiner Seele entbrannt; doch ist Muhammed in ihm noch mächtiger als der Welterlöser. Aber ich bete im stillen zu Gott, daß er Muhammed besiegen und dem Vater meines Sohnes beistehen möge, zu der Klarheit zu gelangen, die ich für die ewige Wahrheit halte. O Gott, o Gott, wen bringt er da!“

Ich richtete den Blick nach der Gegend, in welche sie deutete. Sie stand wie starr, ob vor Schreck oder vor Freude, das war nicht zu sagen. Ihr Mann kehrte zurück, und an seiner Seite schritt ein anderer, den ich nicht deutlich erkennen konnte; die Feuer flackerten zu sehr. Kurden und Kurdinnen kamen hinterdrein. Da rief Fatima Marryah:

„Mein Sohn, mein Sohn! Er ist’s, ja, er ist’s!“

Sie eilte auf ihn zu, schlang die Arme um ihn und zog ihn an ihr Herz. Nun erkannte auch ich den jungen Mann. Ich hatte ihn bei dem verehrten, frommen Patriarchen von El Kisch gesehen und damals nicht gedacht, daß er bei einem meiner spätern Erlebnisse eine solche Rolle spielen werde. Die Zuschauer wichen ein Stück zurück, denn Mutter und Sohn küßten sich, und zwar öffentlich, was bei Muhammedanern eine unverzeihliche Sünde gegen die gute Sitte ist. Yussuf Ali riß sie auch schnell und zornig auseinander und rief:

„Was thut Ihr da? Was fällt Euch ein! Habt Ihr die Gebote und Satzungen unsers Glaubens schon so weit vergessen, daß Ihr den Leuten hier ein solches Schattenspiel vorführt? Geh her, und begrüße zunächst diesen fremden Herren, welcher Deiner Mutter heute das Leben gerettet hat! Dann habe ich sogleich ein ernstes, sehr ernstes Wort mit Dir zu reden.“

Er schob den Sohn zu mir hin. Dieser erkannte mich und sagte, indem er mir die Hand entgegenstreckte:

„Welche Überraschung und welche Freude, Dich hier zu sehen, Effendi! Vater, dieser Effendi ist der Gast meines Patrik gewesen und von ihm so hoch geehrt gewesen, daß Du stolz, sehr stolz darauf sein kannst, mit ihm an einem Feuer sitzen zu dürfen. Was ist denn mit der Mutter geschehen? Hat sie sich in Gefahr befunden?“

„Ja, sie sollte von den Hunden der Mir Mahmalli zerrissen werden. Doch davon wirst Du später hören. Jetzt beantworte mir eine Frage: Wirst Du bei dem Patrik bleiben oder zu uns kommen?“

Er hatte die Arme über die gewaltige Brust gelegt und stand hoch aufgerichtet vor dem Sohne, welcher sich zwar wunderte, daß anstatt eines Willkommens diese Frage jetzt und in solcher Weise an ihn gerichtet wurde, aber sofort und ruhig antwortete er:

„Vater, ich käme gern zu Euch, aber das ist nun nicht mehr gut möglich.“

„Nicht? Warum?“

„Weil Ihr zu uns kommen sollt.“

„Wir — —? Zum Patrik etwa?“

„Ja. Er hat mich abgesandt, Euch zu holen. Ihr seid arm und lebt in diesen Wäldern kümmerlich. Ich habe mich gesehnt, für Euch sorgen zu können, und das ist mir von jetzt an möglich geworden. Der Patrik hat mich einstweilen zu seinem Katib (Schreiber) gemacht; da habe ich eine schöne, große Wohnung und alles, was Ihr sonst noch braucht, für Euch. Später wird es dann noch besser.“

„Noch besser?“ fragte der Riese spöttisch. „Ja, wiefern denn das?“

„Weil ich dann nicht mehr Katib, sondern — — Kha — — Khassis sein werde.“

Er brachte das Wort doch nicht mit einemmal heraus, denn Khassis heißt Priester.

„Khassis!“ schrie sein Vater auf. „Ein christlicher Priester willst Du werden! Ein Oberster der ungläubigen Hunde sollst Du sein! Willst Du dem Islam entsagen?“

„Vater, zürne nicht; vergib mir! Ich konnte nicht anders. Ich habe es schon gethan. Ich bin ein Christ; ich habe Il Kurban il mukad’das er Ritas (das heilige Sakrament der Taufe) erhalten.“

„So — bist Du — — also wirklich schon — — ein verdammter — — Giaur geworden?“ stieß der Alte hervor, indem er vor Grimm nur absatzweise sprechen konnte.

„Ich mußte, Vater, ich mußte! Ich stand zwischen Muhammed und Isa Ben Marryam; ich habe mit beiden gerungen, Tage und lange Nächte hindurch. Muhammed hat mich verlassen; Isa aber nahm mich auf in den Schoß der alleinigen Wahrheit, in den Glanz der ewigen Hoffnung, die niemanden täuscht. Ich — —“

„Halt ein!“ fiel ihm sein Vater fast brüllend in die Rede. „Du bist ein Christ und kannst nun nicht mehr zurück? Nicht wahr?“

„Ja; ich bin ein Christ und bleibe es!“

„So sei verdammt und verflucht in alle Ewig­keit — — —“

„Vater!“ schrie der Sohn auf, indem er sich ihm zu Füßen warf. „Halt ein! Nicht dieses entsetzliche Wort! Du bist ergrimmt. Wenn Du Dich beruhigt hast, wirst Du anders denken und anders sprechen. Ich wollte Dir das alles nicht in dieser Weise, nicht so schnell und unvorbereitet sagen. Du aber hast mich mit Deinen Fragen dazu gezwungen. Beherrsche Dich! Denke nicht nur an mich, sondern auch an die Mutter, die Dir hier zu Füßen liegt!“

Die Frau hatte sich vor ihrem Manne niedergeworfen und seine Füße umschlungen. Er stieß sie von sich, erhob den Arm, drang auf den Sohn ein und schrie:

„Ich soll mich beherrschen, ich! Das sagst Du mir, der Sohn dem Vater, Du Kröte, Du Hund! Willst Du mir augenblicklich schwören, von Deinem gekreuzigten Isa zu lassen, sonst — —“

Ich hatte mich vom Feuer erhoben. Der aufgeregte Mann stand im Begriff, den Sohn zu schlagen. Das wollte ich verhindern; darum trat ich zwischen beide und sagte in beruhigendem Tone:

„Yussuf Ali, willst Du eine Angelegenheit, welche zwischen Deine Wände gehört, in solcher Weise öffentlich behandeln? Höre auf meinen Rat und — —“

„Schweig!“ donnerte er mich an. „Du bist auch ein solcher Giaur, ein solcher Hund, dessen Fleisch kein Aasgeier fressen mag. Deine Worte stinken mich an. Sage noch ein einziges, so vergesse ich, daß Du mein Gast bist!“

„Das hast Du bereits vergessen!“

„Habe ich es vergessen? So? Nun so kann ich es auch vollenden. Hier, nimm — — —“

Er hielt erschrocken inne. Er hatte gethan, was nicht er selbst, sondern was der Teufel seines Zornes gewollt hatte — er hatte mich geschlagen. Da mir das undenkbar gewesen war, so hatte ich mich nicht zur Abwehr bereit gehalten und den Schlag in das Gesicht also voll und gewichtig empfangen, von einer solchen Riesenhand. Ich taumelte zurück und griff nach dem Auge. Es war, was der Kunstausdruck einen Sauhieb nennt, ein Hieb auf die Nase, von welcher der Daumen von derselben ab- und in die Augenhöhle geglitten war. Das Blut drang mir aus der Nase, und auf dem rechten Auge konnte ich nichts sehen. Als ich es befühlte, hing es halb aus der Höhle.

Ein einziger, vielstimmiger Schrei erscholl rundumher. Ein Gast war von seinem Gastgeber erst geschimpft und dann sogar geschlagen worden! Das war noch nie geschehen. Yussuf Ali war übrigens selbst ganz entsetzt über sich. Er ließ die Arme sinken, starrte mich an, ergriff dann seinen Sohn beim Arme und sagte, ihn mich sich fortziehend:

„Komm! Er hat recht. Diese Sache gehört nicht vor andere. Ich allein habe mit Dir zu reden.“

Sie verschwanden miteinander. Die Frau legte mir die Hände auf beide Schultern und sagte schluchzend:

„Herr, verzeihe ihm; er wußte nicht, was er that! Er ist sonst so gut; aber wenn er zornig ist, so darf man ihm nicht widersprechen. Hat er Dich sehr getroffen? Hast Du Schmerzen?“

„Komm mit ins Haus, und gib mir Wasser!“

Ich ging mit ihr ins Haus, um meinen Anblick den andern zu entziehen, aus Rücksicht für ihren Mann und auch — — für mich selbst. Hadschi Halef folgte nach. Ich brachte das Auge behutsam wieder an seine Stelle; dann stillte er mir die Blutung und legte mir eine nasse Kompresse auf. Während dieser Arbeit hörten wir einen lang gezogenen Schrei erschallen, achteten aber nicht auf denselben. Später kam der Scheik, um mich aufzufordern, als Gast zu ihm zu kommen. Ich weigerte mich natürlich nicht, dies zu thun, denn meines Bleibens konnte bei Yussuf Ali unmöglich länger sein. Als wir aus dem Hause traten, saß dieser allein bei seinem Feuer. Wir gingen an ihm vorüber, ohne ihn zu beachten.

Ich sollte mich an das Feuer des Scheikes setzen und mitessen; aber die Lust war mir dazu vergangen. Nase und Auge schmerzten mich, und wenn ich an Hussein Isa und seine arme Mutter dachte, so war es mir unmöglich, einen Bissen zu nehmen. Darum ging ich auch hier in das Haus

und setzte mich in der Abteilung desselben, welche mir angewiesen wurde, nieder, um mir von dem zärtlichen Hadschi Halef unausgesetzt kalte Umschläge auflegen zu lassen.

Damit verfloß eine ziemlich lange Zeit, bis ich einen aus der Ferne herüberschallenden Lärm hörte, welcher wie ein aus der Tiefe heraufdringendes Hohngelächter klang. Draußen vor dem Hause erhoben sich laute Stimmen. Man schien sich zu zanken; ich achtete nicht darauf. Da kam der Scheik herein und sagte:

„Herr, Yussuf Ali will mit Dir reden. Ich habe ihn abgewiesen, aber er besteht darauf. Auch sein Weib läßt Dich dringend bitten, seinen Wunsch ja zu erfüllen.“

„Ich werde gleich hinauskommen.“

Er schien diese meine Bereitwilligkeit nicht erwartet zu haben, ging aber hinaus, ohne ein Wort darüber zu verlieren, und ich folgte ihm mit Halef. Draußen stand Yussuf Ali allein mit seiner Frau. Die andern Kurden und Kurdinnen hielten sich von ihnen fern, weshalb, das war mir leicht erklärlich.

„Herr, hilf uns; mein Sohn ist gefangen!“ rief uns Fatima Marryah an, indem sie vor mir auf die Knie sank und die gefalteten Hände flehend empor hob.

„Gefangen?“ fragte ich, indem ich sie aufrichtete. „Von wem?“

„Von den Mir Mahmalli da drüben.“

„Woher weißt Du das?“

„Sie haben es uns herübergeschrien.“

„Ah! Das Geheul, welches auch ich hörte!“

„Hast Du es vernommen? Sie riefen in einem fort: Hussein Isa gefangen, Hussein Isa gefangen!“

„Wie ist er denn in ihre Hände gerathen? Hat er denn diesen Platz hier verlassen?“

„Er mußte. Als sein Vater Dich geschlagen hatte, führte er ihn zum Thore hinaus und verbot ihm, niemals [jemals] wiederzukommen. Der Sohn ging still fort. Die Mir Mahmalli müssen hier in der Nähe gewesen sein, denn ich hörte einen langen, angstvollen Schrei.“

„Sie haben sich wegen mir um Euer Lager geschlichen. Auch ich hörte den Schrei, hatte aber keine Ahnung davon, was er bedeutete.“

„Ich auch nicht, denn ich erfuhr erst später von meinem Manne, daß der Sohn fort sei. Sie haben ihn draußen ergriffen und, als er schrie, fortgeführt. Dann riefen sie es zu uns herüber, daß sie ihn gefangen haben. Hilf uns, Herr! Du bist der einzige, der helfen kann!“

„Ich? Warum ich allein? Hier stehen über fünfzig bewaffnete Männer. Auf, o Scheik! Wir müssen schleunigst hinüber, um ihn zu retten, denn die Mir Mahmalli werden nach dem, was heute geschehen ist, nicht zaudern, ihn zu töten.“

Der Scheik schüttelte den Kopf und antwortete:

„Wenn sie ihn töten, so ist es uns ganz lieb. Er ist ein Christ geworden und geht uns nichts mehr an.“

„Aber er ist ein Mensch und von Eurem Stamme!“

„Gewesen; jetzt nicht mehr. Der Stamm stößt ihn aus.“

„Ihr sagt Euch also gänzlich von ihm los?“

„Ganz und gar!“

„So denkt daran, daß ich Euer Gast bin! Ich erkläre ihn für meinen Bruder; er ist also auch der Eurige, und Ihr müßt ihn befreien.“

„Ein Abtrünniger kann selbst unter dieser Voraussetzung nicht unser Bruder sein. Er hat Muhammed verlassen; mag Isa, an den er jetzt glaubt, ihn retten!“

Da wiederholte Yussuf Ali, welcher bis jetzt geschwiegen hatte, in dumpfem Tone diese Worte:

„Er hat Muhammed verlassen; mag Isa ihn retten! Isa vermag es nicht. Die Mir Mahmalli sind zu blutdürstig und zu stark!“

„Aber Isa ist stärker als sie und als alle Menschen,“ entgegnete ich. „Halef, gehst Du mit?“

„Ja,“ antwortete der kleine, wackere Hadschi sofort bereitwillig.

„Aber wir wagen das Leben und kennen die Gegend nicht!“

„Die Gegend werden wir bald kennen gelernt haben, und wo Du etwas wagst, muß ich dabei sein. Ich hole meine Flinte.“

„Die ist überflüssig, ebenso die Pistole. Ich gebe Dir meine Revolver; dazu Dein Messer, das ist mehr als genug.“

Da wir all unser Eigentum ehrlich zurückerhalten hatten, so besaß ich auch meine Revolver wieder. Wir gingen in das Haus; ich holte den Stutzen. Als wir wieder herauskamen, stand Yussuf Ali mit seiner langen Lanze da und sagte:

„Herr, ich gehe mit. Ich muß den Sohn wieder haben.“

„Bleib!“ gebot ich ihm. „Du taugst bei uns nichts.“

Er wollte nicht gehorchen, doch als ich ihm erklärt hatte, daß und warum er uns hinderlich sein werde, fügte er sich. Er begleitete uns mit seinem Weibe bis an den Ausgang, um uns hinaus zu lassen. Als wir draußen standen, drückte sie mir weinend die Hand und bat:

„Thue alles, was Du kannst, Herr; aber schone auch Dein Leben. Gott wird Dich begleiten und meinen Sohn durch Dich retten, denn ich werde für Dich und ihn beten, bis Ihr kommt.“ — —

4. Kapitel Es Salib.

Illustration4

Aufrichtig gestanden, war es mir gar nicht sehr wohl zu Mute. Ja, wenn ich gesund, unverletzt gewesen wäre! Aber meine Nase schmerzte, und mein Auge brannte wie Feuer. Und wie war mir doch die Sehkraft jetzt in dunkler Nacht und unbekannter Gegend so sehr nötig! Dazu der Umstand, daß die Mir Mahmalli, falls sie uns erwischt hätten, vor Entzücken außer sich gewesen wären. Wir trieben nicht ein gewagtes, sondern geradezu ein verwegenes Spiel. Doch gab es kein Bedenken, denn wenn wir wirklich helfen wollten, so mußte schnell gehandelt werden.

Ich hatte schon am Tage die lichte Stelle auf dem bewaldeten Berge und dann des Abends die auf derselben brennenden Feuer gesehen und kannte also wenigstens die Richtung, welche wir einzuschlagen hatten; das war aber auch alles und wenig genug zugleich. Man steige, die Todesgefahr ganz abgerechnet, doch einmal in einem dichten kurdischen Wald einen steilen, felsigen Uferberg empor, noch dazu in möglichster Eile und vollständiger Lautlosigkeit!

Zunächst aber waren wir noch gar nicht so weit. Ehe wir drüben hinaufkonnten, mußten wir erst hüben hinab und dann durch den Fluß. Beim Hinabklettern gaben wir uns keine große Mühe, Geräusch zu vermeiden; das hätte uns ganz unnötigerweise aufgehalten. Natürlich konnten wir uns nur auf den Tastsinn verlassen. Ich stieg voran, und Halef folgte. Fühlte ich ein Hindernis, so teilte ich es ihm mit. Ich rannte an Bäume, rutschte zwischen Sträuchern hindurch, blieb an Ästen und Dornen hängen. So stiegen, kletterten, rutschten und schlitteten wir weiter und weiter, bis wir unten

das grasige Ufer ereichten. Nun ging es in den Fluß. Eine seichte Stelle zu suchen, dazu hatten wir keine Lust. Er ging uns hier bis an die Hüften, war aber dafür um so schmaler; wir kamen schnell hinüber. Meine Kompresse war trocken geworden; sie kunstgerecht anzufeuchten, das hätte zu lange gedauert; darum bog ich mich lieber nieder, um den ganzen Kopf ins Wasser zu halten; da wurde Kopf und Binde naß. Dann ging es rasch nach dem jenseitigen Waldesrande und unter dem Bäumen empor.

Nun mußten wir vorsichtiger sein, doch machte mir Halef keine Sorge, da er auf unseren früheren Wanderungen das Anschleichen leidlich von mir gelernt hatte. Er hielt sich hart hinter mir und mußte mich dennoch bitten, ein wenig stärker aufzutreten, da er meine Schritte nicht hören könne und also auch nicht wisse, wo ich sei. So liefen, stiegen, kletterten und schwangen wir uns empor, bald auf den Füßen, bald auf allen Vieren, ganz nach der Abwechslung des Terrains. Ob wir in dieser Stockdunkelheit die Richtung einhalten würden, das war sehr zweifelhaft; die Nase mußte auch mit Führer sein und nach dem Rauchgeruche der Feuer fahnden. Leider war die meinige sehr unwohl. Sie schwoll infolge des Fausthiebes von Minute zu Minute mehr an und wollte sich partout nicht darauf besinnen, daß es ihre wohlerwogene Bestimmung sei, den Geruch eines Haferkäses von dem Dufte einer Resedablüte zu unterscheiden. Ich mußte mich in dieser Beziehung auf Hadschi Halefs Nase verlassen, und dieser meldete mir denn auch endlich, daß er Rauch rieche und diese Empfindung sich von Schritt zu Schritt verstärkere. Wir näherten uns also dem Ziele.

Wohl eine halbe Stunde waren wir unterwegs gewesen, als wir vor demselben anlangten. Wir standen vor der Baumeinfassung, hinter welcher die Lichtung lag. Wie da hindurchkommen?

„Müssen wir hinein, Sihdi?“ fragte Halef, der mich von früher her stets Sihdi (Herr) nannte.

„Zunächst hinauf,“ antwortete ich. „Wenn wir dann sehen, wie es steht, werden wir auch wissen, wie es weiterzugehen hat.“

Wir standen bei einem Ahornbaume, welcher nicht allzu stark und doch so hoch war, daß er die Einfassung weit überragte. Ich legte den unbequemen Stutzen ab, und dann stiegen wir hinauf. Oben angekommen, konnten wir das ganze Lager überblicken, welches weit, weit größer war als dasjenige der Mir Yussufi, aber dieselbe Anlage hatte. Rechts von uns lagen längs der einen Seite die Weidetiere; dort gab es auch ein Dornenthor. Vor uns, entlang der uns zugerichteten Seite, standen Häuser und Hütten, ebenso längs der Seite links von uns. Die vierte, uns gegenüberliegende Seite war frei, einen schlanken, hochstämmigen Pistacia vera-Baum ausgenommen, welcher nahe der Einfassung stand. Auf der Mitte des weiten Platzes sahen wir auch Sommerhäuser und -Hütten. Der Raum an der Pistazie schien für Volksversammlungen, wenn auch nicht für sozialdemokratische, für welche den Kurden das feinere Verständnis entgeht, reserviert zu sein. Dort standen die Mir Mahmalli, Männer, Weiber und Kinder, wohl über dreihundert Köpfe stark, und vollführten einen Skandal, der mir grell in die Ohren drang, die der liebe Vater Yussuf Ali mir glücklicherweise nicht mit zerhauen hatte. Wem dieser Spektakel galt, das sahen wir auch, denn unser armer Hussein Isa war an den Stamm des Baumes festgeschnürt.

„Dort haben sie ihn,“ sagte der Hadschi. „Wie kommen wir hinein, und wie bringen wir ihn los und heraus, wir zwei allein bei so vielen Menschen, Sihdi?“

„Zunächst müssen wir hin, wenn auch noch nicht hinein,“ antwortete ich.

Wir glitten von unserm Ahorn herab und schlichen uns, nachdem ich mein Gewehr wieder aufgenommen hatte, außerhalb der Einfassung hin, um die erste Ecke an der dortigen Seite hinauf, um die nächste Ecke und dann jenseits weiter, bis wir die Stelle erreichten, über welche die drinnen stehende Pistazie ihren Wipfel breitete.

Wir hörten jenseits der Einfassung die Kurden lärmen, konnten sie aber nicht sehen, da hier außerhalb des Lagers auch eine Lichtung gewesen war, welche nun zwar wieder Bäume trug, aber so dünnstämmige und niedrige, daß, falls

wir sie auch hätten besteigen können und wollen, dies gar nichts genützt hätte. Er gab da nur einen Weg, nämlich durch die Umfassung, welche wir zu diesem Zwecke untersuchen mußten.

Die Stämme waren ebenso mit samt den Wipfeln niedergelegt wie drüben bei den Mir Yussufi. Da wir nicht durch die Stämme konnten, mußten wir uns eine Wipfelstelle suchen. Das Glück war uns günstig. Grad zwischen uns und der Pistazie lag die nicht sehr dichte Krone einer Haur-Pappel, also eines Baumes, dessen weiches Holz unsern Messern nicht sehr zu widerstehen vermochte. Ich legte das Gewehr wieder ab; dann knieten wir nieder, zogen die Messer und begannen, die Zweige und dünneren Äste in der Weise zu zerschneiden, daß wir uns dadurch einen wohl zwei Ellen breiten und auch über eine Elle hohen Zugang öffneten. Diese Stelle hier war vielleicht die einzige schwache der ganzen, weiten Umfriedung.

Nach einer Viertelstunde waren wir so weit, daß wir, wenn wir nicht von innen gesehen werden wollten, die noch übrigen Äste stehen lassen mußten. Natürlich hatten wir nicht bloß den betreffenden Teil des Pappelwipfels, sondern auch die Unkraut- und sonstige lebende Vegetation, mit welcher derselbe sehr dicht durchwachsen war, zu entfernen gehabt. Wir konnten nun, dank unserer Arbeit, nicht nur sehen, sondern auch hören. Sehen, das durfte ich eigentlich von mir nicht sagen, denn die Kompresse war wieder trocken geworden; der Schmerz in dem verletzten Auge war fast unausstehlich und griff auch das gesunde Auge in einer Weise an, daß ich es mehr geschlossen als offen halten mußte.

Die Pistazie stand vielleicht zwölf Meter von uns entfernt. Jenseits derselben hielt das „Volk“ der Kurden; diesseits stand der heute von uns zurückgewiesene Scheik mit noch vier Männern, welche wahrscheinlich seinen „Gemeinderat“ bildeten. Das „Volk“ war jetzt still, desto lauter aber sprachen die Herren vom „Rate“. Sie schienen sich zur Entscheidung über das Schicksal des Gefangenen zurückgezogen zu haben. Eben, als wir uns festgelegt hatten, um zu lauschen, hörten wir den Scheik sagen:

„Er ist stolz darauf, getauft zu sein und sich zum Salib Isa (Kreuz Christi) zu bekennen. Er hat eingestanden, den fremden Effendi zu kennen, der unsere Hunde, unsere Pferde und sogar auch einen unserer Krieger erschossen hat. Er ist außerdem ein verdammter Schiit und Sohn der Mir Yussufi, deren Blut wir trinken müssen. Außerdem nennt er das Weib, welches die heutigen Verluste über uns brachte, seine Mutter. Er muß sterben, und da er das Salib Isa gar so hoch verehrt, so soll er die Süßigkeit desselben schmecken und am Kreuze enden. Wer etwas dagegen hat, der melde sich!“

Sie meldeten sich, aber nicht dagegen, sondern sie jubelten alle diesem unmenschlichen Vorschlage ihren Beifall zu.

„Hinauf mit ihm ans Kreuz! Baut ein Kreuz! Gekreuzigt muß er werden!“ so riefen einige hundert Stimmen frohlockend durcheinander.

„Nicht bauen!“ übertönte sie der Scheik. „Einen starken Pfahl quer an den Stamm des Baumes, an welchem er steht, so ist das Kreuz gleich fertig.“

Es erfolgte neuer Jubel, während dessen mich Halef fragte:

„Ist das nicht teuflisch, Sihdi? Hole schnell Deinen Stutzen! Wir müssen hinein, sofort hinein!“

„Nein,“ antwortete ich, „denn das wäre zu unserm Verderben. Es sind zu viele gegen uns zwei. Wir würden ihn nicht retten können, sondern mitsterben müssen.“

„Aber was thun wir dann?“

„Ich eile zu den Mir Yussufi, welche unbedingt helfen müssen. Hoffentlich kommen wir zur rechten Zeit. Du bleibst zurück, um uns gegebenen Falles berichten zu können, was inzwischen vorgegangen ist.“

„So bleibe ich hier in dieser Lücke liegen?“

„Nein,“ entgegnete ich, da ich dem Kleinen nicht recht traute. Bei seiner Gutherzigkeit und Verwegenheit konnte er sich leicht verleiten lassen, selbst ohne mich hinein zu springen. „Du kletterst auf den Ahorn, auf welchem wir vorhin gesessen haben, und bleibst auf demselben unbedingt sitzen, bis ich wiederkommen.“

Wir eilten zurück bis zu dem erwähnten Baume, auf den er stieg. Ich gab ihm meinen Stutzen hinauf, da ich ohne denselben leichter und schneller vorwärts kommen konnte, und lief dann weiter.

Wie ich in fünf Minuten den Fluß erreichen konnte, ist mir noch heute ein Rätsel. Zunächst den Kopf in das Wasser, um die Augen zu kühlen, dann hinein, hinüber und drüben im Walde hinauf. Nach abermals fünf Minuten war ich oben am Eingange. Er war zu, und ich rief; man öffnete schnell. Da stand Yussuf Ali mit seinem Weibe.

„Wo ist mein Sohn?“ fragte sie. „Kommt er nicht auch?“

„Noch nicht. Ich brauche Eure Krieger zur Hilfe.“

„O Gott, o Gott! So steht es schlimm um ihn. Ich habe ohne Unterlaß gebetet, mich mit dem Kreuze bezeichnet und die schmerzhafte Mutter angerufen, so wie er es mich gelehrt hat. Es hat nichts, gar nichts geholfen!“

„Bete nur weiter, unausgesetzt weiter, so wird es helfen!“

Ich rannte weiter; sie folgten mir. Im Laufen stöhnte Yussuf Ali:

„Ich bete auch zu Gott und will Kreuzzeichen machen, wie mein Weib es mir vorhin, als Du fort warst, gezeigt hat. Ich bin an allem schuld. O Gott, welche Angst stehe ich dafür aus!“

Die Mir Yussufi saßen noch bei ihren Feuern. Ich rief sie zusammen und sagte im dringendsten Tone:

„Hört, Ihr Krieger! Wenn Ihr tapfere Männer seid und ich Euch nicht verachten soll, so müßt Ihr mir jetzt folgen, sonst kommt der qualvolle Tod Eures Bruders über Eure Seelen. Sie wollen ihn kreuzigen. Hört Ihr es? Am Kreuze soll er sterben! Das ist die schrecklichste aller Todesarten, uns — — —“

Ich wurde dadurch unterbrochen, daß Yussuf Ali einen Schrei ausstieß und davon rannte. Seine Frau schrie ebenso und eilte ihm nach. Ich konnte es nicht hindern, denn hätte ich ihnen nachrennen wollen, um sie zurückzuholen, so wäre eine kostbare Zeit verloren gegangen, die ich nachher allerdings doch noch verlor. Ich sprach weiter, alles was mir die Angst um Hussein Isa eingab, fand aber kalte Hörer. Endlich brachte ich es mit der größten Anstrengung so weit, daß es zu einer Beratung kam, zu einer ewig langen Besprechung, deren Resultat der Scheik mit mir den Worten verkündete:

„Herr, Du bist unser Gast, und wir werden Dir alle Freundschaft und Liebe erweisen; aber dieser Hussein Isa ist zum Salib Isa übergegangen, und wenn er jetzt gekreuzigt werden soll, so sehen wir darin nur die gerechte Strafe Muhammeds, der an Allahs Throne steht. Wir würden die größte Sünde begehen, wenn wir dem Abtrünnigen helfen wollten. Du bist nicht unsers Glaubens; wenn Du ihn retten willst, so thue es, uns aber verschone mit Deinen Bitten, welche beinahe sogar wie Drohungen klangen, was wir Dir jedoch verzeihen wollen.“

Da war nichts, gar nichts mehr zu hoffen und zu machen. Ich blieb auf mich selbst und Halef angewiesen und rannte wieder fort. Mein Kommen hatte nicht nur nichts gefruchtet, sondern die Lage nur verschlimmert, da anzunehmen war, daß Yussuf Ali und sein Weib nur Dummheiten machen würden. Es kümmerte mich nicht, daß der Eingang offen stand und auch hinter mir offen blieb; ich eilte fort, den steilen Hang hinunter, so schnell ich nur vermochte und dabei fast fieberhaft erwägend, auf welche Weise Rettung möglich sei. Dabei achtete ich nicht darauf, daß ich mehreremal stürzte und mir dabei die Kleidung und die Haut aufriß. Am Flusse angekommen, tauchte ich wieder zunächst den Kopf hinein, denn meine Augen brannten wie Feuer — — — Feuer, ah, das war das rettende Wort! Ja, nur durch Feuer war Hussein Isa zu befreien, und ich hatte ja Schahheita aus Rewandis (Zündhölzer) mitgenommen und ein Schächtelchen davon in der Tasche stecken.

Indem ich durch das Wasser watete, erscholl oben bei den Mir Mahmalli ein Jubelgeschrei. Hatte man die Eltern Hussein Isas erwischt? Ich rannte weiter und hörte bald darauf heftiges Hundegebell. Nun war vielleicht alles verloren! Da die Feinde die Beiden entdeckt hatten, glaubten sie, es seinen noch andere Mir Yussufi in der Nähe und waren infolge dessen beeilt gewesen, ihre Windhunde loszulassen. Wenn diese Halef entdeckten! Und ich mußte hinauf und hatte nur mein Messer bei mir! Es kam darauf an, wie viele Hunde es waren; mit einem oder zweien hoffte ich, auch ohne Blei und Pulver fertig zu werden. Freilich mußten

Schüsse zunächst vermieden werden, da dieselben unsere Anwesenheit vor der Zeit verraten hätten.

Alle diese Erwägungen gingen mir durch den Kopf, indem ich in größter Eile aufwärts strebte. Das Bellen hörte auf; das beruhigte mich einigermaßen. Endlich, endlich kam ich oben bei der Umfriedung an, aber nicht bei dem Ahorne, den ich suchen mußte und schnell fand.

„Halef, bist Du noch oben?“ fragte ich.

„Ja. Sprich leiser, und komm schnell, schnell herauf, wegen der Hunde!“

In einigen Sekunden saß ich oben bei ihm.

„Es ist vorüber, Sihdi!“ sagte er. „Sieh einmal hin!“

Es durchzuckte mich ein Schreck, wie ich ihn noch nie gefühlt hatte. Hussein Isa hing am Kreuze, und seine Eltern waren unten an den Stamm desselben gefesselt.

„Wird er tot sein?“ fragte Halef. „Er hängt bereits seit einer Viertelstunde. Gleich darauf riefen seine Eltern um Einlaß.“

„Die Thörichten! Wie wurde er befestigt?“

„Mit Riemen.“

„Hat man ihn gestochen?“

„Nein.“

„So kann er unter einem Tag nicht sterben. Mir wurde die Hilfe versagt; aber wir beiden holen ihn und auch seine Eltern heraus, mein lieber Halef. Wie steht es mit den Hunden? Wie viele sind’s, und wo stecken sie?“

„Es sind drei. Sie wurden gleich nach dem Erscheinen der Eltern herausgelassen. Sie bellten ein wenig; dann aber schwiegen sie, immer einzeln um die Umzäunung rennend, ohne daß sie mich fanden. Sie haben schlechte Nasen.“

„Ihre Nasen sind gut, wenn sie nur erst auf die Spur gerichtet sind. Horch!“

Es kam ein einzelner Hund vorübergerannt; sie waren dressiert, nicht zusammenzuhalten, und das freute mich.

„Nun höre meinen Plan!“ fuhr ich fort. „Vor allen Dingen müssen die Hunde beseitigt werden. Wir steigen hinab; schießen dürfen wir nicht. Du stellst Dich hinter mich; ich fasse jeden, welcher kommt, halte ihn fest, und Du stichst ihn in das Herz.“

„Nein, Effendi, nein! Sie reißen Dir die Gurgel aus dem Halse!“

„Habe keine Sorge um mich! Diese Köter haben mir nichts an. Könnte ich nur mit beiden Augen sehen! Sind die Hunde tot, dann geht’s ans Werk, und zwar mit Hilfe des Feuers. Wir brennen die trockene Umfassung an, und zwar hier an dieser Seite, um die Aufmerksamkeit von der gegenüberliegenden, wo Hussein Isa hängt, abzulenken.

Sie werden ihn schnell töten, ehe sie hierher eilen!“

„Das werde ich mit meinem Stutzen verhindern.“

„Wenn Du hier auf dieser Seite bist?“

„Ich bin drüben im Loche, welches wir geschnitten haben. Damit alles klappt und ineinander greift und der Brand nur im richtigen Augenblick beginnt, muß ich mit dem Stutzen hinüber, und Du bleibst hier. Du machst Dir trockenes Zeug zurecht, brennst es, sobald der Schakal dreimal bellt, an, siehst zu, daß es schnell weiter brennt und nicht ausgelöscht werden kann, und kommst dann schnell zu mir hinüber.“

„Ich werde mehrere Feuerherde anlegen, drei, vier, fünf.“

„Hier hast Du Zündhölzer. Und nun komm!“

Wir stiegen hinab. Ich zog meine Jacke aus, wickelte sie ärmelüber lang zusammen und schlang sie mir fest um den Hals, Halef zog das Messer. Kurze Zeit darauf hörten wir von links her ein Schnaufen.

„Aufgepaßt; es kommt einer!“ mahnte ich den Hadschi, welcher sich, für mich zitternd, hinter mir bereit stellte.

Die im Lager brennenden Feuer warfen doch einen leichten Schein zu uns herüber, so daß es möglich war, ein Tier von der außerordentlichen Größe eines Windhundes der kurdischen Art zu erkennen. Das Schnaufen näherte sich schnell; der Hund kam im Galopp, sah mich, blieb einen Augenblick halten und sprang mir dann, ohne aber einen Laut hören zu lassen, mit einem mächtigen Satze nach der Kehle. In demselben Augenblicke breitete ich die Arme aus, bog mich nach vorn, um nicht von ihm umgerissen zu werden, und warf ihm, gerade als er sich verbeißen wollte, die Arme um den Hals. Seine Zähne fanden den dicken Wulst der Jacke und konnten mich

nicht verletzen; ich aber preßte ihm mit den zusammengezogenen Armen den Hals und Kopf so fest gegen meine Brust, daß ihm der Atem ausging und sein Körper schlaff herniederhing.

„Stoß zu jetzt, Halef!“

Der Hadschi bohrte der Bestie das Messer vier-, fünfmal schnell hintereinander in die Brust; dann ließ ich sie fallen. Sie bewegte sich nicht.

„Hamdulillah, es ist gelungen!“ seufzte Halef erleichtert auf. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten, Sihdi! Wenn die an­dern — — —“

„Still!“ fiel ich ihm in die Rede. „Es kommt wieder einer, dieses Mal aber von rechts her.“

Wir wendeten uns nach dieser Richtung. Der zweite Hund kam und wurde in derselben Weise abgethan, nur mit dem Unterschiede, daß er mir, als ich ihm den Hals zudrückte, in seiner Todesangst mit den Hinterklauen die Schenkel tief aufkratzte. Erst nach längerer Weile kam auch das dritte, letzte Tier, welches wie das erste unschädlich gemacht wurde, ohne daß es mich beschädigte. Nun half ich Halef eine kleine Weile nach leicht brennbarem Feuermaterial suchen, damit er mehrere Herde anlegen und das Feuer schnell eine weite Verbreitung annehmen könne, und eilte dann mit meinem Stutzen nach der gegenüberliegenden Seite des Kurdenlagers. Dort angekommen, kroch ich in das von uns hergestellte Loch und hatte nun die Scene der Kreuzigung in der bereits angegebenen Entfernung vor mir.

Isa, der ein Licht des Islam hatte werden sollen, hing seines katholischen Bekenntnisses wegen an dem schnell improvisierten Kreuze, doch nicht, wie der Heiland, mit schmerzenden Nägeln befestigt, sondern mit Riemen angebunden. Dennoch war sein halb zurückgeneigtes Gesicht schon äußerst qualvoll verzerrt, und seine Muskeln zuckten im Krampfe, welcher den Körper zusammenziehen wollte und doch nicht konnte. Seine Eltern waren raffinierterweise so an den Stamm der Pistazie festgebunden, daß sie diesem, also auch einander, die Gesichter zukehrten. Man hatte ihnen die Vorderarme frei gelassen, damit sie einander zwar berühren, aber nicht helfen könnten.

Viele von den Kurden hatten sich einstweilen satt gesehen und sich entfernt; die andern bildeten jenseits des Baumes, wo sie die Scene in Vorderansicht vor sich hatten, einen Halbkreis und erquickten sich an dem Bilde der Körper- und Seelenmarter, welche die Gequälten nicht verbergen konnten.

Diese letzteren verhielten sich keineswegs still; sie warfen einander Worte des Trostes und der Hoffnung zu, welche von den Zuschauern in hämischer Weise kritisiert wurden.

„Halt aus!“ bat die Mutter den Sohn. „Er kommt gewiß; er hat es versprochen, Dich zu retten. Du kennst den Herrn. Was er verspricht, das hält er auch.“

Dann weinte, betete und bekreuzigte sie sich weiter. Dasselbe that auch Yussuf Ali. Er unterbrach sein Gebet, um dem Sohne zuzurufen:

„Ich bin schuld, ich allein! Ich wollte zu Allah halten, der Dich doch nicht retten wird. Jetzt sind meine Schmerzen größer als die Deinen; aber vielleicht kommt der Herr zu Hilfe. Wenn er es thut, werde ich mir mit dem Messer ein Salib Isa in die Brust schneiden, zum Andenken an diese Stunde der Schmerzen, die unaussprechlich sind.“

„Weine nicht, Mutter,“ bat Hussein Isa. „Die göttliche Mutter hat tausendmal größere Qualen erduldet als Du. Und weine nicht, Vater, denn ich bin zu beneiden; der Tod für den Glauben öffnet den Weg zum Paradiese. Mir ist’s nicht um mich, sondern um Euch. Ihr kamt, mich zu retten, und seid nun selbst dem Tode geweiht. Aber vielleicht kommt der Herr doch noch, wenigstens Euch zu retten. Ich will für Euch flehen, daß er komme.“

Er hob den Kopf empor, betete laut zu Gott und rief beständig und vertrauensvoll die schmerzhafte Mutter um Hilfe und Beistand an. Die Mir Mahmalli aber warfen höhnische Bemerkungen dazwischen. Ich konnte und durfte nicht länger mehr warten, obgleich ich noch nicht wußte, wie ich mit Halef oder gar allein imstande sei, die drei mit der so notwendigen Geschwindigkeit vom Stamme weg- und vom Kreuze herabzubringen. Ich legte die Hände an den Mund, bellte möglichst laut dreimal, wie ein Schakal bellt. Das Auge jetzt scharf nach der gegenüberliegenden Seite richtend, sah ich sofort ein Flämmchen, welchem schnell zwei, drei, vier,

fünf andere folgten, um sich wie an einem Zunderzeuge rasch an der Einfassung emporzufressen. Nur eine halbe Minute später stand vor der letzteren eine wenigstens zwanzig Ellen breite Strecke in hellen Flammen, die wie rasend weiter liefen.

Das Feuer wurde bemerkt und brachte die beabsichtigte Wirkung hervor. Alles schrie, brüllte, heulte und rannte nach Wasser. Die links drüben liegenden Tiere wurden scheu und jagten zwischen den Hütten und Menschen hindurch. Die entsetzten Kurden eilten in ihre Wohnungen, um den Inhalt derselben zu retten. Niemand achtete der Pistazie; ich aber stand schon an derselben, da ich die wenigen Pappelzweige, die mich gehindert hatten, schnell weggeschnitten hatte.

„Ich bin da!“ tröstete ich die Drei. „Erst schnell Euch beide los und dann den Sohn!“

„O heilige Marryah, Mutter der Schmerzen, wie danke ich Dir!“ rief die Kurdin, als ihre Fesseln unter meinem scharfen Messer fielen. „Schmerzhafte Mutter hat mein Sohn Dich genannt; ich trete ihn Dir ab zu Deinem Dienste!“

„O Salib Isa,“ rief ihr Mann, „Du bist wirklich mächtiger als der Halbmond des Propheten! Weib, ich kenne Deine schmerzhafte Mutter noch nicht so wie Du, aber ich werde sie von heute an verehren!“

Beide waren frei. Ein Schnitt nach oben machte auch die Füße des Sohnes frei. Das Messer zwischen die Zähne nehmend, kletterte ich hinter ihm am Stamme der Pistazie empor und auf den linken Arm des Querbalkens hinüber. Da kam Halef durch das Loch gekrochen und herbeigerannt.

„Schnell herauf und auf den andern Arm des Kreuzes!“ forderte ich ihn auf. „Wir müssen Hussein Isa zugleich losschneiden, sonst bricht er sicher den einen Arm. Sein Vater ist stark genug, ihn aufzufangen.“

Der kleine, brave Hadschi kam wie ein Eichkätzchen herauf; Yussuf Ali stand mit ausgebreiteten Armen unten. Ein Schnitt hüben und einer drüben — Isa fiel in die Arme seines Vaters, der ihn an seine mächtige Brust drückte und laut aufjubelte. Die Mutter schlang die Arme um beide und jubelte mit. Da sah ich, daß wir bemerkt wurden. Mehrere Mahmalli ließen alles im Stich und kamen herbeigerannt; andere folgten. Ich sprang hinab, Halef ebenso, und hob den Stutzen auf, den ich vorhin unten weggelegt hatte.

„Schnell alle fort, in den dunkeln Wald und hinüber in unser Lager!“ gebot ich. „Sorgt Euch nicht um mich; ich decke den Rückzug. Mit geschieht nichts.“

Sie gehorchten. Hussein Isa konnte nicht gehen; er mußte von seinem Vater getragen werden. Aufzupassen, wie er hinausgebracht wurde, das war mir unmöglich, denn die Mahmalli waren nahe. Glücklicherweise hatten sie keine Gewehre bei sich. Ich legte auf sie an und gebot ihnen Halt; als sie dennoch vorwärts rannten, gab ich drei Schüsse auf drei Beine ab. Erschießen wollte ich keinen. Die Getroffenen stürzten nieder; die andern blieben stehen; alle brüllten vor Wut. Daß sie halten blieben, war mir lieb, denn da ich auf dem rechten Auge nicht sehen konnte, mußte ich linker Hand schießen, worauf ich doch nicht genügend eingeübt war. Dann zog ich mich durch das Loch zurück, ohne daß sie zu folgen wagten.

Jetzt brannten schon zwei ganze Seiten der Einfassung lichterloh. Der Wald war, so weit der Feuerschein reichte, und das war eine bedeutende Strecke, fast tageshell erleuchtet. Da ich die Feinde jetzt nicht mehr zu fürchten hatte, machte ich keinen großen Umweg, sondern lief möglichst geraden Wegs nach dem Flusse hinab und drüben, wo es noch heller als im Thale war, wieder hinauf. Ich kam eben recht, auf Halef und die drei Geretteten zu stoßen, als sie den Eingang zum Lager passierten.

Die Mir Yussufi standen und starrten das Feuer an, welches sie sich nicht zu erklären vermochten. Yussuf Ali ging, seinen Sohn auf den Armen, durch sie hindurch, ohne ihre Fragen zu beachten. Halef hatte ihm erzählt, daß sie an der Rettung nicht hatten teilnehmen wollen. Ich folgte ihm mit seinem Weibe. Hadschi Halef aber konnte es doch nicht übers Herz bringen; er blieb stehen, um ihnen zu erzählen, was geschehen war.

Wir andern suchten Yussuf Alis Hütte auf, wo sofort zwei Öllampen abgebrannt wurden, damit ich den Zustand seines Sohnes untersuchen könne. Er hatte glücklicherweise nicht lange am Kreuz gehangen, und seine Muskeln und Sehnen waren fest. Er hatte große Schmerzen und fühlte sich wie zerschmettert, eine wirklich gefährliche Verletzung aber war nicht zu ersehen.

Was mich betrifft, so erschrak ich über mich selbst, als ich in ein Gefäß mit Wasser blickte, welches mir als Spiegel diente. Auge und Nase bildeten einen einzigen, blauroten Höhenzug in meinem Gesichte, doch zweifelte ich nicht, daß beide durch fleißige kalte Umschläge und Ruhe bald wieder herzustellen seien. Yussuf Ali hatte sich bei mir noch gar nicht entschuldigt; jetzt aber bat er mich in einer Weise um Verzeihung, daß ich ihm nach seiner innern Umkehrung den Sauhieb doppelt gern vergab. Die Eltern flossen von Dankbarkeit gegen mich über, der Sohn ebenso, doch in ruhigerer Weise, da er zu matt war, um viel sprechen zu können.

Als Halef kam, ging Fatima Marryah hinaus, um das Feuer neu zu entfachen und den Hammel vollends gar zu braten. Das so unglücklich unterbrochene Abendessen sollte nun zu einer Festmahlzeit werden, die wir im Hause einnahmen, denn wir schmollten mit den Mir Yussufi und ließen keinen herein.

Nach dem Essen mußte Hussein Isa schlafen; wir andern aber blieben noch lange wach, um das Erlebte tüchtig zu besprechen. Als dieser Stoff bis aufs einzelnste behandelt war, mußte ich von der heiligsten Familie erzählen, von Yussuf, dem Zimmermanne, von Marryah, der gebenedeiten Jungfrau, und von Isa, dem Kinde Gottes. Ich erzählte bis zum Tode, zur Auferstehung und Himmelfahrt des Erlösers und that das in der Weise, wie man Kindern erzählt, denn das war den Geisteskräften dieser Leute am angemessensten.

Solche Stunden sind geweihte, sind heilige Stunden, über die man nicht so recht schreiben kann. Meine Zuhörer waren so andachtsvoll, wie ich es nur wünschen konnte, und ich meine, daß kein Missionär schönere Erfolge aufzuweisen hat als damals ich. Yussuf Ali dachte sich ganz in Joseph, den Zimmermann, hinein und wurde förmlich stolz, der Vater eines so frommen und sogar eines gekreuzigten Christen zu sein. Er zeigte sich ganz fest entschlossen, mit ihm nach Mossul zu gehen, und rief endlich begeistert aus:

„Herr, der heutige Tag hat mich für ewig mit Muhammed verfeindet. Ich werde Christ und halte es für das größte Glück, meinen Sohn als Priester zu sehen. Amen!“

Fatima Marryah fiel ihm schluchzend um den Hals und küßte ihn vor meinen und Halefs Augen. Ihr Sohn hatte ihr schon früher von der schmerzhaften Mutter erzählt, und dieses war ihr treu im Gedächtnisse geblieben. Von allen heiligen Personen, von denen ich ihr erzählt hatte, hatte sie nebst dem Heilande die Schmerzensmutter am tiefsten in ihr Herz geschlossen. Sie drückte mir weinend die Hände und sagte:

„Heute habe ich eine Ahnung, was die schmerzhafte Mutter alles erlitten; die heiligste Jungfrau hat den Schmerz von mir gewendet; ihr ganz allein soll mein Sohn gehören, und ich werde nichts als seine und also auch ihre Dienerin sein. Das war mein Gelübde, und ich werde es halten.“

Gegen Morgen mußten wir doch auch schlafen gehen. Als wir am Morgen erwachten, fühlte sich Hussein Isa bedeutend wohler, und mein Gesicht hatte sich ein wenig gesetzt und eine gelbere Lieblingsfarbe angenommen. Das Auge lugte schon, wenn auch nur matt, aber doch aus der Geschwulst hervor, ungefähr wie eine Rosine kleinsten Kalibers aus einem gut aufgegangenen Plumpudding.

Da wir unmöglich schon fort konnten, so mußte mit den Mir Yussufi ein Modus vivendi eingegangen werden. Halef blieb mit dem tapferen Khawassen als Gast bei dem Scheik, ich aber bei Yussuf Ali, dem der Scheik die Speisen lieferte. Unsere Kurden waren unendlich stolz auf uns geworden, denn zwei hatten drei mitten aus dreihundert Feinden herausgeholt. Dazu kam, daß drüben noch tagelang der Wald brannte; die Mir Mahmalli hatten viele Tiere verloren und auch noch sonstige Verluste gehabt; ihr Sommeraufenthalt wurde durch das Feuer zerstört, und so konnten sie, da sie sich einen andern suchen mußten, den Mir Yussufi auf lange Zeit hin nicht mehr lästig fallen. Die letzteren schuldeten uns also große Dankbarkeit und trugen dieselbe nach ihrem Können und ihrer Weise auch ehrlich ab. Mich aber, sagten sie, würden die Mir Mahmalli wohl nie vergessen.

Meine Genesung schritt schneller vor sich als diejenige Hussein Isas. Als mein Auge wieder ganz das frühere war und auch meine Nase nicht nur in ihre ursprüngliche Schönheit zurückentschwollen war, sondern sogar auch wieder Reseda von Haferkäse zu unterscheiden vermochte, lag ihm noch eine große Müdigkeit in allen Gliedern. Er mußte länger bleiben als ich. Es stand fest, daß er die Eltern mitnehmen werde, und ich bat ihn, bei dieser Gelegenheit meinen kühnen Khawassen mit nach Kerkuk abzuliefern. Dieser war darüber sehr erfreut, denn er hatte alle Lust verloren, ferner mit einem Menschen zu reiten, der täglich das Verbrechen begeht, mit einem Dutzend und noch mehr Kurden anzubinden und dann noch ihre Häuser, Zäune und Wälder anzuzünden. Er erhielt natürlich ein Bakschisch von mir, mit welchem er weit zufriedener war als mit mir selbst.

Endlich ritt ich des Morgens mit Halef ab. Sämtliche Mir Yussufi begleiteten uns eine Strecke. Als sie Abschied nahmen, küßte mir Fatima Marryah weinend die Hände und bat:

„Denke meiner, Herr, wie ich Deiner gedenken werde allezeit! Du hast kein Weib, aber eine Mutter. Grüß sie von mir! Ich werde immer für sie und für Dich beten.!

Yussuf Ali aber hob seinen ledernen Streifenkragen auseinander, zog sein Messer, schnitt sich zwei tiefe, sich kreuzende Wunden auf die Brust und sagte:

„Das habe ich gelobt; das ist mein Zeichen: Es Salib, das Kreuz, Es Salib Isa, das Kreuz Christi, in welchem ich von nun an leben und in welchem ich auch sterben werde. Ich danke es Dir. Reise in Gottes Schutz, und sei so glücklich, wie ich es jetzt bin!“

Hussein Isa nahm Abschied wie ein lieber, lieber Freund, wie ein Bruder. Er versprach, mir Nachricht von sich zu geben, und hat redlich Wort gehalten. Auch die Mir Yussufi reichten uns einzeln und dankend die Hände. Als ich dann nach diesem Abschiede mit Halef allein des Weges ritt, sagte er:

„Sihdi, einst wollte ich Dich zum Moslem machen; es ist das Gegenteil erfolgt. Auch ich glaube, daß das Kreuz mächtiger ist als Muhammed. Ich werde mit Hanneh, meinem Weibe, der schönsten unter den Töchtern aller Mütter, reden. Wenn ich auch nicht Priester werde, aber etwas anderes, als ich jetzt bin, werde ich!“

Und was Hussein Isa und seine Eltern jetzt machen, und wo sie sich befinden? Vielleicht, vielleicht erzähle ich ein späteres Mal da­von. — — —