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Maria oder Fatima.

Reiseerlebnis von Dr. Karl May.

Wir, nämlich ich und mein treuer, langjähriger Begleiter, Hadschi Halef Omar, hatten die zwischen dem kaspischen Meere und dem Urmia See liegende Gegend durchstreift und waren dann über die türkische Grenze nach Rowandiz gekommen, um von da aus in gerader Richtung nach Amadijah zu reiten. Heute befanden wir uns im östlichen Teile des Tura-Gharagebirges und hielten auf einer kahlen Höhe, von welcher aus wir die Sonne untergehen sahen. Es war ziemlich kalt, denn wir befanden uns im Anfange des Oktobers, welcher zwischen jenen düstern, wald- und wasserreichen Bergen rauh aufzutreten pflegt.

Es hat bis heute wenige Europäer gegeben, von denen man sagen kann, daß sie den Mut besaßen, bis zu dem Tura-Gharagebirge vorzudringen. Die Kurden, welche es bewohnen, sind die bigottesten Muhammedaner, die man sich denken kann, räuberisch gegen jedermann und grausam gegen Andersgläubige. Wir beide jedoch waren wohlbewaffnet, hatten Erfahrung genug, und da ich ihrer Sprache in den zwei Hauptdialekten mächtig war, durften wir hoffen, heiler Haut davonzukommen.

Die Sonne hatte den Gipfel des gegenüberliegenden Berges erreicht und senkte ihre Strahlenaureole langsam hinter denselben hinab, den Himmel mit glühenden Scheidegrüßen überzuckend. Es war ein Anblick, welcher zum Gebete stimmte. Ich dachte an das Ave-Läuten der Heimat und faltete die Hände. Halef that dasselbe, er, der, als ich ihn kenne lernte, ein so enragierter Moslem gewesen war und sich alle Mühe gegeben hatte, mich zu seinem Glauben zu bekehren.

Da klang aus der Tiefe ein Ton, welcher mich erstaunt aufhorchen ließ. Es war die leise, aber doch vernehmbare Silberstimme eines Glöckchens. Und kaum ließ sie sich vernehmen, so hörten wir in unserer Nähe eine andere, lautere Stimme:

„Sallam ya Marryam; maljam et taufik!“

Dies heißt zu deutsch: „Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnade!“

Das war ja der Anfang des Ave Maria, des englischen Grußes, an den ich soeben gedacht hatte! Er wurde in arabischer Sprache vollständig gebetet, bis es zum drittenmale erklang: „Hallak wa fi Sah’a el motina — — jetzt und in der Stunde unsers Todes!“

Ich möchte fast sagen: ich war starr vor Überraschung. Dieses katholische Gebet hier, wo ich ausschließlich Muhammedaner wußte, und dazu in einer arabischen Mundart, welche von anderwärts stammte! Meinem wackern Halef erging es ebenso. Er sagte, als der Beter geendet hatte:

„Hast du es gehört, Sihdi? Das war das Sala issai’ jidi — das Gebet der heiligen Jungfrau. Das ist ein Wunder hier! Wer mag es gesprochen haben?“

„Werden es gleich erfahren“, antwortete ich, indem ich meinen Rapphengst nach der Gegend lenkte, in welcher die Stimme erklungen war. Dort lag ein großer Felsblock. Auf der nach Westen gerichteten Seite desselben, sodaß er den Sonnenuntergang hatte sehen können, kniete der Beter, ein ärmlich gekleideter Greis, den Rosenkranz noch immer in den gefalteten Händen. Sein Anzug bestand aus einem kurzen Hemde und einer Hose, beides aus dünner, blauer Leinwand; die Füße waren nackt, und auch der Kopf hatte keine Bedeckung. Das silberweiße Haar hing ihm lang über den Nacken herab, und von derselben ehrwürdigen Farbe war auch der Bart, welcher ihm bis auf die Brust reichte. Als er mich und Halef sah, sprang er erschrocken auf, so schnell es ihm sein hohes Alter erlaubte, und rief in flehendem Tone:

„Aman, aman ya salatia — Gnade, Gnade, Ihr Herren! Schont eines alten Mannes, der schon am Grabe steht!“

Ich reichte ihm die Hand von Pferde herab und antwortete:

„Fürchte dich nicht, o Vater. Die Stelle, an welcher einer betet, müßte selbst dem schlimmsten Kurden heilig sein, und ich bin weder ein Kurde noch ein Perser, Araber oder Türke, sondern ein gläubiger Christ aus dem Abendlande.

„Ein Christ — — ein Christ — — aus dem Abendlande!“ wiederholte er, indem seine Augen sich groß und glänzend auf mich richteten. „Ist das wahr, o Herr? Täuschest du mich nicht?“

Halef nahm gern jede Gelegenheit wahr, mein Lob zu verkünden, und versäumte dabei nicht, auch das seinige mit hören zu lassen; darum antwortete er schnell an meiner Stelle:

„Du darfst es glauben. Dieser berühmte Hadschi Kara Ben Nemsi Emir ist ein großer Krieger und Gelehrter aus Germanistan. Er kennt die Namen, Sprachen und Gebete aller Länder und Völker, ist Meister in allen Wissenschaften und Künsten und hat bisher alle seine Feinde besiegt. Wir haben den Panther und den Löwen getötet und ganze Stämme der Kurden und Beduinen überwunden. Kein Feind kann uns beiden widerstehen. Wir bekämpfen jeden bösen und beschützen jeden guten Menschen. Wir haben gesehen und gehört, wie fromm und brav du bist. Sage uns, ob du einen Feind besitzest! Wir werden sofort zu ihm reiten und ihn niederschlagen!“

Das klang sehr großsprecherisch; aber der Morgenländer liebt es nun einmal, sich in dieser Weise auszudrücken, und mein guter Halef war wirklich ein verwegenes, tapferes Kerlchen, hatte noch nie einem Feinde den Rücken gezeigt und durfte sich schon so eine kleine Überschwenglichkeit erlauben. Der Greis blickte von mir zu ihm und dann wieder von ihm zu mir herüber und sagte in freudigem Tone:

„O, solche Helfer brauchten wir grad’ jetzt gar wohl. Am meisten aber freut es mich, daß du, o Emir, ein Christ aus dem Abendlande bist. Ich habe gehört, daß dort die Christen viel, viel mächtiger sind als hier, wo wir uns verbergen müssen. Sei so gnädig, mir zu sagen, wohin du heute noch reiten wolltest!“

„Wir wollten bis morgen früh im Walde lagern, doch scheinen Leute hier zu wohnen?“

„Ja. Wir sind Verfolgte, Christen und Schiiten, und haben hier im Verborgenen ein Dorf errichtet, um unangefochten leben zu können. Wenn ihr bei uns bleiben wolltet, so würden wir euern Eingang segnen.“

„Wir bleiben bei euch; führe uns!“

Da ergriff er meine Hand wieder und rief entzückt aus:

„Herr, ich danke dir! Du bringst große Freude in unsere Hütten. Aber, sage mir, willst du bei uns Christen oder bei den Schiiten wohnen?“

„Ist das nicht gleich? Kann ich nicht Gast des ganzen Dorfes sein?“

„Nein. Wir lebten in Einigkeit mit den Schiiten, haben uns aber jetzt mit ihnen fast entzweit. Sie wollen töten, wir aber beabsichtigen, List anzuwenden, weil wir als Christen uns scheuen, Blut zu vergießen.“

„Wessen Blut?“

Dasjenige der Akrakurden. Doch, davon weißt du ja nichts; ich muß es dir erzählen. Einer der Schiiten traf vor zwei Jahren mit einigen Akrakurden zusammen. Sie fielen ihn an, um ihn zu berauben; er wehrte sich tapfer und entkam, nachdem er mehrere verwundet hatte. Aus Rache darüber griffen sie uns in unserm frühern Wohnsitze an, töteten eine Anzahl unserer Leute und schleppten acht Personen von uns fort, vier Männer, drei Frauen und ein Mädchen, teils Christen, teils Schiiten.

Wir folgten, obgleich wir schwach waren, ihnen heimlich nach, um die Gefangenen, denen als Sklaven ein trauriges Schicksal bevorstand, zu befreien; aber die Akra sind nicht seßhaft; als wir ihre Hütten erreichten, fanden wir dieselben leer. Seit jener Zeit sind sie am Ghazirflusse gewesen, also so fern von uns, daß wir nicht zu ihnen konnten. Nun aber sind sie zurückgekehrt und wohnen nur zwei Tagereisen von unserm jetzigen Dorfe, wohin wir uns zurückgezogen haben. Einige Männer von uns sind hingegangen, um zu kundschaften; sie haben die Gefangenen bei schwerer Arbeit und in Ketten gesehen. Nun wollen wir diese befreien, wir Christen durch List, die Schiiten aber durch offenen Überfall; deshalb haben wir uns entzweit. Schir Saffi, der Anführer der Schiiten, zürnt uns sehr, daß wir nicht mit ihm ziehen wollen. Morgen will er mit seinen Leuten aufbrechen; wir aber müßten auch schon deshalb zurückbleiben, weil morgen das Id el Masbaha, das Fest des hl. Rosenkranzes ist. Herr, wenn du dieses mit uns feiern wolltest! Es ist ja seit langer Zeit kein Priester zu uns gekommen. Wir haben uns eine Kirche gebaut, mit einem Glöcklein an der Spitze, dessen Stimme du vorhin vielleicht vernommen hast. Da beten wir; aber eine Predigt haben wir seit Jahren nicht gehört, und el Korban el mukaddas, das heilige Abendmahl, noch viel, viel länger nicht empfangen.“

Diese Worte des ehrwürdigen Mannes rührten mich tief. Hier, in dieser Abgeschiedenheit, gab es einen Hunger nach geistlicher Speise, welcher nicht gestillt werden konnte. Also das Fest des Rosenkranzes war morgen? Ja, heute war ja der erste Oktober Sonnabend, also morgen der Tag, an welchem die ganze katholische Christenheit dies Fest begeht. Ein Rosenkranzfest im wilden Kurdistan! Welcher Europäer hatte so etwas miterlebt? Keiner! Darum schüttelte ich dem Alten die Hand, mit welcher er die meinige noch hielt, und sagte:

„Ich werde nicht bei den Schiiten, sondern bei euch bleiben und das Fest mit euch begehen. Ihr sollte dabei eine Predigt hören.“

„Eine Predigt?“ fragte er schnell. „Bist du nicht nur ein Krieger, sondern auch ein Priester?“

„Nein. Dennoch werden Gott und die Heiligen mir nicht zürnen, wenn ich euch das Wort verkünde, nach dem sich eure Herzen sehnen. Jeder Mensch soll eigentlich für den Kreis, in welchem er wirken kann, nach Wort und Wandel ein Priester sein. Aber werdet ihr, wenn ich spreche, mich verstehen?“

„So gut, wie ich dich jetzt verstehe, o Herr. Wir sind aus Bebozt, wo wir vertrieben wurden, herübergekommen.“

„Ja, ich weiß, daß dort katholische Christen waren, welche von den Missurikurden schwer bedrückt worden sind. Der dortige arabische Dialekt ist mir bekannt; ihr werdet

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Aman, aman, ya salatia — Gnade, Gnade, Ihr Herren!

meine Rede verstehen. Nun aber führe uns zu euch, denn es dunkelt stark!“

„Ja, kommt, Herr! Ich werde mit tausend Freuden euer Führer sein.“

Er schritt uns voran, die kahle Bergkuppe hinab, und wir folgten ihm. Der Weg war so steil, daß wir absteigen und unsere Pferde führen mußten. Erst jetzt schenkte der Alte meinem Hengste seine Aufmerksamkeit. Er sah, daß das Pferd ein ächter Araber vom reinsten Stammbaum war, und floß vor Bewunderung über.

Dann kam der Wald, welcher aus Eichen und Buchen bestand. Als wir unten am Fuße des Berges aus demselben traten, sahen wir ein langes und breites Thal vor uns liegen, durch dessen Mitte fast schnurgerade ein Bach floß. Dieses Thal hatte nur einen Aus- oder Eingang, uns zur Rechten; links hinten wurde es durch eine steile Querhöhe abgeschlossen, an deren Fuße das Wasser entsprang. Zu beiden Seiten des Baches weideten Pferde, Rinder, Schafe und auch Ziegen. Drüben und hüben stand am Waldesrande je eine Reihe von Hütten. Unter den diesseitigen gab es eine, welche höher war als die andern und mit einer Spitze versehen; das war jedenfalls die Kirche, denn an dieser Spitze hing eine kleine Glocke. Jenseits zeichnete sich auch eine Hütte durch Umfang und Höhe vor den andern aus. Das war, wir ich dann hörte, die Moschee der Schiiten. Alle diese Wohnungen waren aus dünnen Stämmen errichtet; die Wände bestanden aus geflochtenen Zweigen. Der Alte deutete erst herüber und dann hinüber und sagte:

„Hüben wohnen wir, drüben die Muhammedaner. Das Wasser bildet die Grenze, welche früher nicht beachtet wurde, jetzt aber eingehalten wird.“

„Wer ist der Kiaja (Dorfschulze) bei euch?“ fragte ich.

„Ich, obgleich ich der Ärmste und Beklagenswerteste von allen bin.“

„Warum beklagenswert?“

„Wegen der Geschichte, welche ich dir erzählt habe. Mein Sohn, sein Weib und mein Enkel, sein Sohn, befinden sich unter den Sklaven der Akrakurden. Ich bin nun ohne Familie und allein. Ich bete täglich zu Gott und der heiligen Jungfrau, daß meinen Kindern die Freiheit wieder werde; es ist bis jetzt vergeblich gewesen.“

„Bete weiter! Das Gebet vermag viel, wenn es gläubig und ernstlich ist. Der Allgütige leitet alles zum Besten seiner Kinder. Die Prüfung, welche er euch auferlegt hat, wird euch im Glauben stärken.“

„Herr, ich glaube ja! Ohne diese Zuversicht hätte der Gram mich längst unter die Erde gebettet. Nun aber sollst du sehen, wie herzlich man dich empfangen wird.“

Es waren bisher nur wenige Menschen zu sehen gewesen. Da ließ er einen lauten Ruf hören, während wir

dem Dorfe noch entgegenschritten, und sofort kamen hüben und drüben die Bewohner aus den Hütten. Als die diesseitigen uns erblickten, kamen sie uns entgegen; selbst die Kinder, auch die kleinsten, trippelten hinterher. Man sah, daß diese Leute nicht reich waren; ihre mehr als einfache Kleidung bewies es.

„Hört, ihr Männer und ihr Frauen“, rief er ihnen zu, „der heutige Abend will uns eine freudige Auszeichnung bringen. Hier kommen Gäste. Dieser Emir und Effendi ist ein frommer Christ aus dem Abendlande. Er will mit uns das Fest des Rosenkranzes begehen und die Feier desselben durch eine Predigt verherrlichen. Ihr werdet ihn willkommen heißen.“

„Salahma, salahma, marhaba, marhaba, marhaba - heil, heil, willkommen, willkommen, willkommen!“ rief es da aus aller Munde, und alle Hände streckten sich uns entgegen. Als wir zusammentrafen, hatte ich nur zu drücken und zu schütteln. Als mit ein kleiner, etwa zweijähriger Bube auch sein Patschchen anbot und dabei auch ein Marhaba krähte, nahm ich ihn auf den Arm und gab ihm einen kräftigen Schmatz auf die frischen Lippen; das konnte ich wagen, weil er zufälligerweise in der Gegend, wohin der Kuß zu sitzen kam, ziemlich rein gescheuert war. Diese Freundlichkeit erregte das Entzücken aller Bewohner der christlichen Dorfseite. Sie erhoben ihr Salahma und Marhaba von neuem und noch kräftiger als vorher, und auch das Drücken und Schütteln der Hände wurde von vorn angefangen.

„Ein Christ — aus dem Abendlande — seht die Kleidung — diese Waffen — — dieses Pferd — — muß sehr tapfer sein — — will predigen — bei wem wird er wohnen? bei mir! nein, bei mir! nicht doch, sondern bei mir — still, ich muß ihn haben!“ so rief es durcheinander, bis der Alte diesen Interjektionen ein Ende machte, indem er mich fragte:

„Emir, wo willst du wohnen? Du siehst, daß jeder dich haben will; sie streiten sich um dich. Bezeichne die Hütte, in welche du treten willst! Sie werden auf deinen Wunsch achten.“

„Da wir euch allen so willkommen sind“, antwortete ich, „so werden wir euer aller Gäste sein und nicht diejenigen eines einzelnen. Wir sind gewohnt, im Freien zu schlafen und werden also keiner Hütte bedürfen.“

Dies sagte ich, weil ich keinen bevorzugen und infolgedessen beneiden lassen wollte, und auch weil ich wußte, daß die Wohnungen dieser Leute eine gewisse kleine sechsbeinige Bevölkerung besitzen, welcher man seine Haut nicht gern als Speisetafel bietet. Man fügte sich dieser meiner Entscheidung gern und bemächtigte sich eines fetten Hammels, dessen Bestimmung es war, die Ankunft des „Emir aus dem Abendlande“ leider mit seinem Leben zu bezahlen.

Daß unser Äußeres diesen Leuten imponierte, war gar kein Wunder, denn wir waren gegen sie wie Prinzen gekleidet und, so was man sagt, bis an die Zähne bewaffnet. Sie sahen meinen langen Bärentöter, den Henrystutzen, in welchem, doch ohne daß sie es wußten, fünfundzwanzig Schüsse steckten, das Bowiemesser und die beiden Revolver. Halef hatte seine hübsche Flinte, ein Messer und zwei Pistolen. Dazu unsere Pferde! Dort, wo man den Mann nach seinem Pferde und seinen Waffen taxiert, mußte man uns für sehr vornehme und sehr tapfere Herren halten.

Die Kirche stand in der Mitte der Hüttenreihe. Vor ihr wurde ein Platz als Speisesaal bestimmt. Wir beide setzten uns, den Alten in der Mitte, dort nieder, und die andern bildeten von uns aus einen Kreis, auf dessen Mittelpunkte ein großes Feuer angezündet wurde, an welchem bald der ganze Körper des Hammels briet. Nebenan loderte ein zweites Feuer, an welchem die schweigsamen Frauen Kürbis-, Rüben- und andere vegetabilische Speisen zur Zukost zubereiteten. Schweigsam? Ja, denn sie lauschten während ihrer Arbeit aufmerksam zu uns

herüber, um sich kein Wort von unserm Gespräche entgehen zu lassen. Und das war freilich hochinteressant.

Zunächst nannte uns der alte Kiaja die Namen seiner Leute; ich gab mir keine Mühe, sie alle zu merken. Dann erzählte er von den Erlebnissen der Dorfbewohner. Diese waren traurig im höchsten Grade, so daß mein ganzes Mitleid rege wurde. Auch Halef griff oft nach der Stelle seines Gürtels, wo die Nilhautpeitsche hing, und rief:

„Wäre ich dabei gewesen, diese Kerls hätten alle meine Kurbatsch bekommen!“

Dann nahm der gute Hadschi Gelegenheit, einiges von unsern Erlebnissen zu erzählen. Er that dies in seiner bilderreichen Weise, so daß die Zuhörer uns für die größten Helden halten mußten. Ich hinderte ihn nicht daran, weil sie Vertrauen zu uns bekommen sollten, denn ich hatte mir im stillen vorgenommen, ihnen bei der Befreiung ihrer fortgeschleppten Verwandten behilflich zu sein.

Nachher wurde gegessen. Wir beide erhielten den fetten Hammelschwanz als Ehrenteil. Während wir noch beim Essen saßen, sah ich drüben im Schiitendorfe mehrere Lichter auftauchen, welche geschäftig hin- und herhuschten. Als ich nach dem Grunde fragte, antwortete mir der alte Salib:

„Sie feiern heut da drüben den Abend der Fatima, der Erretterin aller Frauen und Mädchen aus der Gefahr. Schir Saffi’s Tochter wurde mit gefangen; sie befindet sich also auch als Sklavin bei den Akrakurden. Da die Schiiten morgen gegen diese ausziehen wollen, so läßt Schir Saffi heute Abend Fatima bitten, ihm beizustehen, seine Tochter zu befreien.“

„Das möchte ich sehen!“

„Du wirst nicht — — — ah, da kommt er ja!“

Ein Mann kam über den Bach herübergesprungen und blieb an unserem Kreise stehen. Er war weit besser gekleidet als die Christen. Sein Anzug bestand aus einem weißen Turban, blauer, gestickter Jacke, roten, weiten Hosen und persischen Halbstiefeln. In seinem Gürtel steckten zwei Revolver und ein langer, krummer Handschar. Er richtete aus seinem leichenblassen Gesichte die dunkeln Augen auf Halef und mich und sagte dann zu dem alten Salib:

„Ihr habt Gäste bekommen? Wer sind diese Männer?“

„Es sind sehr tapfere Krieger und große Helden. Dieser Effendi ist ein Emir aus Germanistan.“

„Germanistan kenne ich nicht, also wird es ein kleines Dörfchen sein. Wenn diese Leute wirklich so tapfer wären, wie du sagst, so würden sie zu uns kommen und nicht zu euch, die ihr euch fürchtet, mit gegen die Kurden zu ziehen.“ Und zu mir gewendet fuhr er fort: „Wir werden nachher zu Fatima beten. Sie ist, wie du wissen wirst, die Lieblingstochter des Propheten, die Frau unseres Kalifen Ali und die Mutter Hassans und Husseins, welche die Sunniten ermordet haben, Allah verdamme sie! Wir beten zu ihr, wie die Christen zu ihrer Jungfrau beten, wenn eine unserer Frauen oder Töchter sich in Gefahr befindet. Sie wird Sakla, meine gefangene Tochter, aus der Gefangenschaft befreien. Wenn du mit beten willst, so komm nachher herüber!“

Der Mann gefiel mir nicht, doch antwortete ich in höflichem Tone:

„Wenn du es erlaubst, werde ich kommen, obgleich ich überzeugt bin, daß ihr vergeblich betet. Fatima ist nicht Gott; sie kann euch nicht helfen.“

„Nicht?“ fuhr er auf, indem seine Augen mich anblitzten. „So bist du also auch so ein verfluchter Sunnit, der Hassan und Hussein verwirft?“

„Ich bin ein Christ“, erklärte ich einfach.

„Ein Christ? Was kannst du da von unserm Glauben und unserer Lehre wissen! Du mußt schweigen!“

„Ich weiß wohl mehr davon als du, denn ich habe alle eure religiösen Bücher studiert, während du wohl

kaum den Koran ordentlich kennst. Vor allen Dingen weiß ich, daß Fatima ein Weib war.“

„Eure Jungfrau auch!“

„Unsere heilige Marryam ist die Mutter Gottes; sie thront im Himmel bei dem Allmächtigen und Allgütigen und fleht für uns, wenn wir sie darum bitten. Der Koran aber lehrt, daß das Weib keine Seele habe und nicht in den Himmel kommen könne. Also hat Fatima nur aus dem Körper bestanden, welcher längst vermodert ist. Wie könnt ihr zu ihr beten?“

Er sah mich starr an, daß ich es wagte, so mit ihm zu sprechen, und rief dann zornig aus:

„Du wagst es, Fatima zu lästern? Wie kommt es, daß ich dich nicht augenblicklich niederschieße! Ich nehme mein Wort zurück. Wage es nicht etwa, hinüber zu kommen, wenn die Lichter in der Moschee flammen. Es wäre dein sich’rer Tod!“

Er drehte sich um, sprang über den Graben zurück und verschwand. Hadschi Halef fragte mich zornig:

„Sihdi, warum leidest du das? Dieser Schiit ist doch ein Wurm, eine Fliege gegen uns, eine Mücke, die man mit zwei Fingern zerdrücken kann! Soll ich nachspringen und ihm die Peitsche über das unhöfliche Maul geben?“

„Bleib! Dieser Mann kann uns nicht beleidigen. Salib, willst du mir wohl sagen, wieviel Krieger hier vorhanden sind?“

„Die Schiiten haben fünfundzwanzig, wir aber nur achtzehn.“

„Und wieviel waffenfähige Männer gibt es im Lager der Akrakurden?“

„Es werden gewiß hundert sein.“

„Und die will dieser Schir Saffi mit seinen fünfundzwanzig angreifen? Er wird unverrichteter Sache oder gar nicht wiederkommen und nur das erreichen, daß er das Los der Sklaven verschlimmert. Ihr habt das bessere Teil erwählt. Betet, betet, dann wird den Euren geholfen werden!“

Der ehrwürdige Salib senkte zustimmend sein weißes Haupt; einer der jungen Männer aber sagte:

„Wie kann ihnen geholfen werden, wenn wir hier bleiben und nur beten, nicht aber ausziehen, sie zu befreien? Steigen etwa heute noch Engel hernieder, um den Menschen Hilfe zu bringen, wie es zur Zeit Abrahams und Tobias’ geschah?“

„Schweig!“ gebot ihm der Alte. „Gott sendet Engel in mancherlei Gestalt, und wenn die heilige Jungfrau ihn darum bittet, so kann der kleinste Wassertropfen für uns zum Engel werden.“

Er war eine aufrichtig, gläubige Seele, obwohl er das Wort Gottes auch nicht rein und unverfälscht vernommen hatte. Die dortigen, auch katholischen Christen haben, ohne daß sie es ahnen, von den früheren Sektierern und dem Islam so viel in sich aufgenommen, daß es einer langjährigen, treu ausharrenden Missionsthätigkeit bedarf, dieses verunstaltete und fressende Moos vom Baume des wahren, reinen Glaubens zu entfernen.

Ich knüpfte an die letzten Worte Salibs an und versuchte -

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„Noch ein solches Wort, so ersteche ich dich!“

versuchte es, für diesen kurzen Abend der Lehrer dieser Leute zu sein. Sie hörten mit ungeheuchelter Aufmerksamkeit zu, bis wir drüben, jenseits des Baches, eine Reihe von Lichtern sahen und einen eigentümlich monotonen Gesang hörten, welcher intervallweise durch schrille Schreie unterbrochen wurde.

„Jetzt ziehen sie nach der Moschee“, sagte Salib. „Das Gebet zu Fatima wird bald beginnen.“

„Das muß ich sehen“, fiel ich ein, indem ich mich erhob.

„Um Gotteswillen, Emir, wage dich nicht hinüber! Wenn sie dich sehen, ermorden sie dich!“

„Still!“ meinte mein Hadschi Halef Omar. „Was mein Sihdi will, das führt er auch aus; er läßt sich von euch nicht hindern. Diese Schiiten werden ihm nichts anhaben; er lacht über sie; für mich aber sind sie gar nicht vorhanden. Daß ich ihn nicht begleite und beschütze, mag euch beweisen, daß es für ihn nicht die geringste Gefahr dort gibt.“

Mehr hörte ich nicht, denn ich war schon fort, doch nicht über den Graben hinüber. Hätte ich das gethan, so wäre ich von unserm Feuer erleuchtet und also von den Moslemin gesehen worden. Ich ging folglich hüben eine Strecke am Waldesrande hin, bis kein Lichtschein mehr auf mich fallen konnte, sprang nun erst über den Bach und schlich mich dann quer über die jenseitige Thalhälfte bis zum dortigen Waldesrand; nun huschte ich zwischen ihm und den Hütten wieder abwärts, bis ich mich hinter der Moschee befand.

Auch ihre Wände bestanden aus Flechtwerk, in welchem es Stellen gab, durch die man blicken konnte. Ich forschte zunächst, ob ich auch sicher sei. Die Männer befanden sich schon im Innern der Moschee; die Frauen und jüngeren Personen durften sich derselben nicht nähern. Es war also gar kein Wagnis, wenn ich an die Flechtwand trat und hindurchblickte.

Ich sah wohl gegen vierzig Personen eng aneinander gedrängt am Boden knieen, mit den Gesichtern nach Süden gerichtet, wo die beiden heiligen Stätten der Schiiten liegen. An der südlichen Wand war aus Holz- und Laubwerk eine Art von Thron errichtet, zu dessen Seiten die Anwesenden ihre Lichter hingestellt hatten. Vor diesem Throne kniete Schir Saffi, und auf dem Sitze desselben lag, mit der oberen Kante an die Lehne gelegt, ein viereckiges Brettchen, auf welchem in roter Farbe und arabischer Schrift der Name „Fatima“ stand. Jeder Schiit hielt seinen aus neunundneunzig Kugeln bestehenden Rosenkranz in der Hand. Die Muhammedaner pflegen bei jeder Kugel einen der neunundneunzig im Koran vorkommenden Namen Allahs auszusprechen.

Jetzt hielt Schir Saffi eine kurze Rede, in welcher er Fatima anrief, ihnen zu helfen, seine Tochter zu erretten. Dann erhob er sich und breitete die Arme aus, um in langsamen Schlägen den Takt anzugeben, in welchem die Ausrufungen stattzufinden hatten. Ich hörte zu meinem Erstaunen die neunundneunzig Namen Allahs im Chor

erschallen, doch in weiblicher Form, um sich auf Fatima zu beziehen, also: O Allbarmherzige, o Allerbarmende, o Allbesitzende, o Allheilige u. s. w. bis zuletzt o Allerbende, o Allgerade, o Allgeduldige, o Fatima! Nach jedem Namen ertönte ein doppeltes, schrilles „Meded, meded — zu Hilfe, zu Hilfe!“

Das war auch vom Standpunkte eines Muhammedaners aus eine Gotteslästerung. Fatima wurde an die Stelle Allahs gesetzt und ebenso wie dieser angerufen. Bei jedem Namen ließ man eine Kugel des Rosenkranzes durch die Finger gleiten und drückte ihn an die Brust, den Mund und die Stirn.

Als der letzte Name genannt worden war, wurde von neuem begonnen. Ich hatte genug gesehen und schlich mich fort, denselben Weg zurück, auf welchem ich gekommen war. Leider fühlte ich mich so sicher, daß ich jetzt nicht mehr die nötige Vorsicht anwendete. Als ich an der vorletzten Hütte vorüberwollte, trat eine Frau hinter dieselbe, sodaß wir fast zusammenstießen. Bei dieser Nähe mußte sie mich trotz der Dunkelheit sehen.

„Ya Allah, gharib — o Allah, ein Fremder!“ schrie sie erschrocken auf.

Ich sprang rasch fort, quer durch das Thal, über das Wasser und ging dann langsamer nach dem Christendorfe. Als ich bei dem Feuer angekommen war und mich wieder neben Salib niedersetzte, sagte er:

„Gott sein Dank, daß du wieder da bist! Ich habe Angst um dich gehabt, obgleich dieser dein treuer Hadschi Halef Omar uns so viel von dir erzählt hat, daß wir uns eigentlich nicht zu sorgen brauchten. Du bist doch nicht etwa gesehen worden? Wir hörten jemand laut rufen.“

„Das war eine Frau, welche mich erblickte.“

„O Himmel! Sie wird es Schir Saffi sagen, und er kommt gewiß, um dich zu bestrafen!“

„Dazu gehörte ein anderer Mann, als er!“

„Ja,“ stimmte Halef bei. „Ich werde meine Peitsche zurechtlegen, Sihdi. Sobald er dich mit einem Worte beleidigt, bekommt er sie zu kosten!“

„Keine Dummheit, Halef! Ich werde ganz allein mit ihm fertig. Du sagst kein Wort dazu! Wir sind die Gäste dieser braven Männer. Willst du, daß hier Blut fließen soll, weil sie auf unserer Seite stehen müssen, wenn wir die Schiiten gegen uns aufbringen?“

Er schwieg auf diese ernste Mahnung. Es kam so, wie der alte Salib gesagt hatte: Wir sahen bald darauf die Moslemin aus der Moschee kommen, und kaum fünf Minuten später erschien Schir Saffi an unserm Feuer.

„Du warst drüben und hast uns belauscht?“ fuhr er mich wütend an. „Du, ein Christ, der Schweinefleisch frißt und von jedermann verachtet wird!“

„Mäßige dich!“ antwortete ich ihm gelassen. „Wer wird verachtet? Weißt du nicht, daß bei den Anhängern der Sunna ein Schiit noch tiefer steht, als selbst der ärmlichste Jude?“

„Hund!“ brüllte er, indem er sein Messer aus dem Gürtel riß. „Noch ein solches Wort, so ersteche ich dich!“

„Und sage du noch einmal Hund, so fährt dir meine Kugel durch den Kopf!“ antwortete ich, indem ich aufstand und den Revolver auf ihn richtete.

„Und meine Kugel auch!“ drohte Halef, dessen heißes Blut ihn nicht schweigen ließ. Er hatte seine beiden Pistolen in der Hand. „Meinst du, daß der berühmte Hadschi Kara Ben Nemsi Effendi sich ungestraft von dir beleidigen läßt?“

Da ließ Schir Saffi die Hand mit dem Messer sinken und fragte langsam und mich betroffen anblickend:

„Kara — — Ben — — Nemsi? Etwa der Freund von Mohammed Emin, dem Scheik der Haddedihn?“

„Ja.“

„Der erst vor kurzem auch bei dem Stamme der Yussufi war und ihm gegen die Mir-Mahmalli-Kurden beigestanden hat?“

„Ja.“

„Dann kenne ich dich, denn ich habe von deinen Thaten gehört. Du hast Zaubergewehre, mit denen du hundert- und tausendmal schießen kannst, ohne zu laden, und ein schwarzes Pferd, in welchem ein Bruder des Schejtan steckt, des Teufels, der dir Hilfe leistet!“

„Laß dich nicht auslachen!“

„Niemand wird lachen, wenn er hört, was ich von dir und deinem kleinen Diener erfahren habe, der ein Neffe und Urenkel des Teufels ist. Emir, zieh morgen mit uns gegen die Akrakurden, dann soll es dir vergeben sein, daß du bei unserer Moschee gewesen bist!“

„Ich brauche eure Verzeihung nicht und hege keine Gemeinschaft mit Moslemin, welche ein totes Weib anbeten.“

Da blitzte sein Auge wieder zornig auf.

„Ein totes Weib! Hättest du nicht den Teufel, so säße dir längst mein Messer zwischen den Rippen. Wir wissen, wie mächtig Fatima ist. Diese Christen verlassen sich auf Marryam und legen die Hände in den Schoß. Wir beten zu unserer Fatima mit einem Rosenkranze mit neunundneunzig Kugeln; sie aber brauchen hundertfünfzig kleine und auch noch größere Kugeln, um ihre Marryam anzurufen. Muß da nicht unsere Fatima gnädiger und mächtiger sein?“

„Ya killet el ’akl — welch ein Unsinn! Die Macht und Gnade nach den Kugeln zu berechnen! Ob du bei eurem Gebet zu Fatima eine Kugel oder Millionen nimmst, es bleibt sich gleich, die Hilfe bleibt doch aus!“

Da trat er auf mich zu und loderte mich mit förmlich glühenden Augen an:

„Du glaubst also nicht, daß unser Masbaha (Rosenkranz) besser ist als der eurige?“

„Nein.“

„Und Fatima mächtiger als Marryam?“

„Nein.“

„So sollst du bald erfahren, wie sehr du dich irrst. Diese Christen mögen feig hier bleiben, um zu beten; es wird sich zeigen, ob ihre Marryam ihnen ihre fortgeschleppten Verwandten sendet. Wir aber sind der Hilfe Fatimas gewiß. Nach vier Tagen werden wir mit unsern befreiten Angehörigen zurückkehren; die ihrigen jedoch lassen wir in der Sklaverei zurück; es wird uns nicht einfallen, auch diese zu erretten!“

Er wendete sich, um zu gehen. Da rief ich ihm zu:

„Warte noch einen Augenblick! Wir haben dein Wort vernommen; höre nun auch das meinige! Euer Vertrauen zu Fatima wird euch ins Verderben führen; Marryam aber wird das Gebet dieser frommen Christen erhören, ohne daß sie sich von hier zu entfernen und die Sünde zu begehen brauchen, das Blut von Menschen zu vergießen. Ihr Gebet wird sogar auch eure Angehörigen befreien, während ihr die Ihrigen nicht retten wollt; ihr Glaube gebietet Liebe, Liebe selbst gegen den Feind. Es wird sich in vier Tagen zeigen, wer sich im Irrtume befindet, du oder ich?“

„Ja“, lachte er höhnisch, „deine Prahlerei gegen unsere Tapferkeit, euer Glaube gegen den unserigen — Marryam oder Fatima! Ihr werdet weinen und heulen über die Dummheit, in welcher ihr wie die Kröten im Schlamme steckt. Ich bin bereit: es mag gelten — Marryam oder Fatima!“

Er ging jetzt fort, und wir hörten sein höhnisches Lachen noch, als wir ihn nicht mehr sehen konnten.

       

Wir waren, in unsere Decken gehüllt, unbesorgt um die feindselige Gesinnung der Schiiten, eingeschlafen. Als wir erwachten, sahen wir, daß drüben zum Aufbruche gerüstet wurde. Zwei Männer saßen in unserer Nähe; sie hatte die Gewehre neben sich liegen. Als sie meinen fragend auf sie gerichteten Blick bemerkten, erklärte der eine:

„Wir haben bei euch gewacht, denn Salib traute Schir Saffi nicht, weil du an der Moschee gewesen warst.“

„Ich danke euch, doch war das nicht nötig. Schir Saffi fürchtet den Teufel, den er sich als unsern Bundesgenossen denkt.“

Wir gingen zum Wasser, um zu trinken, und uns zu waschen. Auch im Christendorfe herrschte schon reges Leben; die Bewohner desselben waren schon fast alle munter. Es wurde uns ein Morgentrank gereicht, eine Art Kaffee von gerösteten Eicheln und Kürbiskernen mit Milch gemischt; dazu gab es neubackene, dünne Fladen von Mehl und Wasser. Eben als wir uns niedersetzen wollten, diese Delikatessen zu genießen, stiegen die Moslemin zu Pferde. Indem sie drüben vorüberritten, rief Schir Saffi uns nochmals höhnisch zu:

„Also Marryam oder Fatima. Betet eure Kugeln ab, bis euch die Lippen und die Hände schmerzen, ya Guhhal wa ya Tenabil — ihr Dummköpfe und ihr Thoren!“

Es fiel mir gar nicht ein, zu antworten, und auch unsere Gastfreunde schwiegen. Als sie unten am Ausgange verschwanden, wußte ich, daß ihr Ritt wenigstens ein erfolgloser, ja vielleicht gar ein für sie unglücklicher sein werde. Halef, der mich kannte, sah mir lächelnd ins Gesicht, blinzelte mir listig zu und sagte:

„Sihdi, ich errate deine Gedanken. Du willst Fatima zu Schanden machen?“

„Ja,“ nickte ich.

„Also nicht vier Tage auf diese thörichten Schiiten warten?“

„Nein.“

„Aber dir auch nicht von diesen Christen dabei helfen lassen?“

„Nein.“

„Hamdulillah, Allah sei Dank! Das gibt wieder einmal ein Erlebnis, auf welches ich mich freue! Du meinst doch nicht etwa, daß wir uns vor den Akrakurden zu fürchten haben?“

„Fällt mir gar nicht ein! Wir werden es in ihrem Lager nur mit Greisen, Frauen und Kindern zu thun haben.“

„Sagst du? Warum?“

„Weil die Krieger fort sein werden. Der Überfall wird den Schiiten mißlingen; ich sehe voraus, daß sie fliehen müssen und von den Kurden bis hierher verfolgt werden. Dann reiten wir beide in das Lager und holen die Sklaven heraus.“

„Aber wenn der Überfall gelingt!“

„Ich sage dir, daß er abgeschlagen wird. Du weißt ja selbst, wie sehr diese kurdischen Waldlager verbarrikadiert zu sein pflegen. Es gehört viel List dazu, den Zugang zu erzwingen. Dazu aber ist Schir Saffi keineswegs der Mann. Wenn er einen nur einigermaßen kriegerischen Blick besäße, hätte er nicht dieses Thal hier zum Aufenthalte gewählt. Von den Höhen, die es auf drei Seiten einschließen, kann der Feind ganz leicht herniedersteigen. Nicht einmal der Eingang da unten ist versperrt worden. Auch unsere Gastfreunde sind Männer des Friedens und nicht des Krieges, sonst hätten sie die Ihrigen nicht zwei Jahre lang in Sklaverei schmachten lassen.

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„Auf, ihr Gläubigen, zum Gebete!“

Du zum Beispiele wärest den Akrakurden gefolgt, so weit sie ziehen mochten.“

„Da hast du sehr recht, Sihdi. Hätte man mir Hanneh, mein Weib, die Lieblichste und Schönste unter den Frauen und Töchtern, gefangen fortgeführt, so wäre ich den Feinden bis an das Ende der Welt gefolgt und weit noch darüber hinaus, um sie alle umzubringen und Hanneh, die Blume meines Daseins, zu befreien. Und du, Sihdi, wärst mitgegangen. Nicht?“

„Ja, mein lieber Halef.“

„Schade, daß du nicht auch ein Weib hast, welches die Beste der Herrlichsten und der Glanz deiner Wonne ist! Du lebst noch einmal so lang!“

„Wirklich?“

„Ja, Sihdi“, antwortete er mit großer Überzeugung. „Die Liebe des Weibes verdoppelt die Jahre des Lebens.“

„So werde ich mir eine Frau nehmen, sobald ich hundert Jahre zähle; dann werde ich zweihundert Jahre alt.“

„Scherze nicht! Du bist ein tapferer Mann und Held, und dein Blick ist so scharf wie die Spitze der Nadel, mit welcher Hanneh, die Beste unter den Guten, mir die Löcher meiner Jacke verschließt; aber ein Auge für die Vorzüge und Freudenschimmer eines baldigen Hochzeitsgedankens hast du nicht. Ich tausche in dieser Beziehung nicht mit dir!“

Ja, er war ein äußerst liebevoller und treuer Gatte und Vater, dieser gute Hadschi Halef Omar. Und doch hatte er jetzt wieder meinetwegen Weib und Kind verlassen, um mich zu begleiten. Er liebte mich von dem Augenblicke an, an welchem wir uns zum erstenmale sahen, und besaß einen Thatendrang, der ihn an meiner Seite festhielt. Trotz seiner kleinen Gestalt und seines spärlichen Schnurrbartes, sechs Haare rechts und sieben links, besaß er einen Mut und eine Ausdauer, wie ich sie auf allen meinen Reisen, den Apachenhäuptling Winnetou ausgenommen, in diesem Grade noch bei keinem meiner Gefährten gefunden hatte. Nach dem „Morgenkaffee“ ging ich in die Kirche, um das Innere derselben zu betrachten. Diese armen Menschen! Ihr Gotteshaus bestand aus einer so primitiven Hütte, in welcher sich nichts befand als ein aus Zweigen geflochtener, tischartiger Gegenstand, welcher als Altar diente. Ein rotes Kopftuch war darüber gedeckt; darauf stand ein sehr einfach aus Holz geschnitztes Kreuz. Salib kam herein und fragte mich, ob ich die Predigt hier in der Kirche halten wolle. Ich verneinte das, weil die Hütte kaum die Männer fassen konnte, und es sollten mich doch alle hören, auch die Kinder.

Nun wurde jedermann, der abkommen konnte, fortgeschickt, um Laub, Zweige und Blumen zum festlichen Schmucke zu holen. Ich forderte den alten Salib auf, mit mir und Halef einen Spazierritt zu machen. Er erfüllte mir den Wunsch, zu welchem ich natürlich meine guten Gründe hatte. Wir ritten ostwärts, bald rechts, bald links von der geraden Richtung ab, bis ich ein Thal fand, welches meinen Absichten entsprach. Nun erst erklärte ich dem Alten, was ich wollte:

„Die Schiiten werden von den Kurden zurückgeschlagen und verfolgt werden. Ihr müßt also euer jetziges Lager verlassen, um euch und euer Eigentum zu retten. Ihr flüchtet euch mit euren Tieren in dieses Thal.“

Er sah mich erschrocken an und fragte:

„Sprichst du im Ernste, Emir? Wir haben die Akrakurden wieder zu erwarten?“

„Leider ja; ich denke nicht, daß ich mich irre. Morgen früh, wenn ich euch verlasse, zieht ihr aus und hierher.“

„Morgen willst du uns verlassen. Jetzt, wo wir einer solchen Gefahr entgegensehen? O, Emir, könntest du dableiben und uns helfen! Wie dankbar würden wir dir sein!“

„Wir helfen euch. Wir gehen nur auf kurze Zeit fort und werden im Augenblick der Gefahr wieder bei euch sein.“

„So bleibt doch lieber gleich! Warum wollt ihr erst noch fort?“

„Um ein Versprechen zu erfüllen, welches ich hier meinem Hadschi Halef Omar gegeben habe. Frag nicht darnach. Wir Leute aus dem Abendlande sind gar sonderbare Menschen. Es genüge dir, zu wissen, daß euch nichts geschehen wird und daß wir ganz gewiß zur rechten Zeit zurückkehren werden.“

Mit dieser Auskunft mußte er sich zufrieden geben, und wir kehrten nach dem Lager zurück. Natürlich hatte er dort nichts Eiligeres zu thun, als das, was ich ihm gesagt hatte, zu verkünden. Dadurch erlitt die frohe Feststimmung freilich eine Beeinträchtigung, doch war mir dies nicht unlieb. Wer die Größe der Gefahr erkennt, der schätzt dann die Hilfe umsomehr.

Zu Mittag, eben als das Glöcklein, wie auch schon früh, zum Gebete geläutet wurde, kehrten die nach Blumenschmuck Ausgesandten zurück. Nach dem Essen wurden Kränze und Guirlanden gewunden und vor der Kirche ein Maibah, ein altarähnliches Pult errichtet, von welchem aus ich sprechen sollte. Man schmückte es mit Zweigen und Blumen und besteckte es mit Lichten, um durch die Beleuchtung an Feierlichkeit zu gewinnen.

Ich hatte wirklich meine Freude an diesen halbwilden Menschen. Es lag auf jedem Gesichte der Ausdruck einer Sammlung, welche die Seele beherrschte. Es wurde während des ganzen Nachmittags fast kein lautes Wort gesprochen; ernst und still verkehrten sie miteinander, als ob sie einer hochheiligen Handlung entgegen gingen. Und doch hatten sie nur die Rede eines fremden Mannes zu erwarten, der weder dazu berufen noch gar ein Priester war. Wie herrlich, wenn eine Weihe der Rosenkränze hätte stattfinden können!

Natürlich befand auch ich mich selbst in einer Stimmung, welche mich nach Innen vertiefte, und der kleine Hadschi Halef sagte gegen Abend zu mir:

„Sihdi, der Christ ist doch ein anderer Mensch als der Moslem; das habe ich längst eingesehen!“

Es waren ausgehöhlte kleine Kürbisschalen in Lampen verwandelt und auf die Kanten der Dächer gestellt worden; aus Talg gefertigte Kerzen brachte man noch überall an, wo es ging und so viele man hatte. Als die Dämmerung hereinbrach, wurden Lampen und Kerzen angezündet; die Flämmchen brannten ruhig, denn es gab fast gar keinen Luftzug hier in dem abgeschlossenen Thale. Ein schöner Anblick, die Flämmchen allüberall, auf den Dächern, an den Wänden und nahen Bäumen und auch an und auf meinem Pulte — — hier im wilden, muhammedanischen Kurdistan!

Dann wurde das Glöcklein geläutet, und der alte, ehrwürdige Salib rief mit lauter Stimme:

„Hai alas Salah, ya Mumlnin — auf, ihr Gläubigen, zum Gebete!“

Dies geschah auf meinen Wunsch, obgleich der Mueddin mit diesen Worten die Muhammedaner zum Gebete auffordert. Wir waren Christen; aber für die heutige

Feier paßte kein Ruf so wie dieser, der überdies allen geläufig war und mir den besten Anhalt bot, die Irrtümer des Islams zu beleuchten.

Alle, alt und jung, groß und klein, versammelten sich nun am Pulte. Ich trat an dasselbe und nahm meinen Turban ab. Jeder, der sein Haupt noch nicht entblößt hatte, folgte diesem meinem Beispiele. Dann begann ich meine Rede.

Das Thema derselben waren dieselben Worte: „Auf, ihr Gläubigen, zum Gebete!“ Am Feste des Rosenkranzes mußte das Gebet das Hauptwort sein. Ich sprach wohl über eine Stunde lang, ohne Vorbereitung, so wie das Herz es mir eingab, erzählte selbsterlebte Beispiele von der Macht des Gebetes und — doch warum soll ich von dieser Laienrede sprechen! Ich mußte oft innehalten, wenn mich ein allgemeines Schluchzen störte und ich selbst so gerührt war, daß es mir aus den Augen perlte. Am Schlusse erklärte ich die Entstehung und Bedeutung des christlichen Rosenkranzes, hob besonders die hohe Gebetskraft des Psalterium Mariae hervor und forderte die Zuhörer auf, ein solches jetzt gemeinschaftlich und laut zu beten.

Es geschah. Das war der Schluß des festlichen Aktes. Wie ergreifend klangen die englischen Grüße vom Thale aus zu den Höhen empor, dazu das Glöcklein, welches bei jedem Ave angezogen wurde! Ein unvergeßlicher Abend nicht nur für unsere Gastfreunde, sondern auch für mich selbst!

Hierauf folgte das Festessen, und dann saßen wir noch lange, bis auch das letzte Licht und Lämpchen erlosch, in ernsten Gesprächen beisammen. Wie oft wurden mir dabei die Hände gedrückt, und welche Mühe gab man sich, uns beiden Fremden zu zeigen, daß man uns in dieser kurzen Zeit liebgewonnen habe! Als ich mich dann neben Halef zur Ruhe ausstreckte, sagte er:

„Sihdi, du mußt mit mir zu Hanneh gehen, der süßesten unter den Frauen, und so zu ihr reden, wie du heute gesprochen hast. Sie soll Marryam auch kennen lernen, welche die Umm kaddis el Muchallis ist, die heilige Mutter des Erlösers. Willst du?“

„Ja. Wir kehren auf dem Rückwege ja zu euern Weideplätzen zurück.“

Er hüllte sich befriedigt in seine Decke und schloß die Augen. Ich that dasselbe, konnte aber trotz der zugemachten Augen lange nicht einschlafen. Die Bilder des heutigen Tages gingen in ihren einzelnen Zügen an mir vorüber. Hatte ich recht gehandelt, einmal der Prediger dieser armen, nach Wahrheit hungernden Menschen zu sein? Ich sagte mir „Ja“ und schlief dann endlich ein.

Trotzdem wachte ich schon zeitig auf, als eben der Tag angebrochen war. Da läutete ich selbst das Glöcklein zum Morgengebete. Nach welchem wir wieder „Kaffee“ tranken und uns dann zum Aufbruche rüsteten. Wir wurden wieder mit Fragen nach unsern Absichten und mit Bitten, doch hierzubleiben, bestürmt. Ich konnte nichts anderes thun, als meine Versicherung wiederholen, daß wir zur rechten Zeit zurückkehren würden, und bat, dieses Thal ja baldigst zu verlassen. Nachdem wir Proviant für wenigstens vier Tage erhalten hatten, nahmen wir Abschied und ritten davon. Salib wollte uns mit noch einigen das Geleite geben, doch bat ich ihn, davon abzusehen; es hatte keinen Zweck.

Unser Weg führte erst westwärts und dann südlich in die Berge hinein. Die Akrakurden mußten in der Nähe des Akraflusses zu suchen sein, welcher ein Zufluß des obern Zab Ala ist. Wo aber gerade die betreffende Abteilung des Stammes, um welche es sich handelte, sich aufhielt, das wußte ich nicht. Ich hätte mir einen Führer mitnehmen können, hatte dies aber nicht gethan, weil ich überzeugt war, daß er uns hinderlich sein würde. Ich mußte mich auf meinen oft bewährten Ortsinstinkt und auf meine scharfen Augen verlassen. Die Spuren der Schiiten waren jedenfalls zu finden, denn diese Leute ritten

jedenfalls nicht so vorsichtig wie Indianer, welche ihre Fährte auf das künstlichste auszuwischen verstehen. Es dauerte auch gar nicht lange, so kamen wir auf grasigen Boden, und da hatten wir die breit auseinanderlaufenden Hufeindrücke vor uns. Sie waren noch zu sehen, obgleich ein ganzer Tag dazwischen lag.

Nun galt es, diesen Zeitunterschied möglichst einzuholen. Unsere Pferde waren gut, hatten sich seit vorgestern Abend trefflich ausgeruht und warfen trotz des schwierigen Terrains in Zeit einer Stunde weit mehr als eine deutsche Meile hinter sich. Schon gegen Abend sah ich es der Schiitenfährte an einer Stelle, wo sie besonders deutlich war, an, daß sie von heute stammte.

Wir waren einigemale, um Terrain zu gewinnen, von ihr abgewichen und hatten dabei die Stelle umgangen, an welcher die Schiiten des Nachts geblieben waren. Als es zu dunkeln begann, sah ich noch, daß ihre Spuren von heute Mittag herrührten. Wir hatten sie also in einem Tage beinahe eingeholt und konnten uns und den Pferden Ruhe gönnen. Wir lagerten an einem kleinen Wasser, wo die Tiere Gras fanden, pflockten sie an und legten uns dann schlafen.

Kaum graute der Morgen, so ging es weiter. Wir waren aus den Tura-Ghara-Bergen herausgekommen, hatten den Dschebel Hair hinter uns und befanden uns im Gebiete des Akraflusses. Am Mittag zeigte eine Prüfung der Fährte, daß sie nicht zwei Stunden alt war. Wir folgten ihr dennoch in derselben Eile und standen nach einer halben Stunde im Begriffe, um eine Waldecke zu biegen, als ich, der ich voranritt, meinen Rappen schnell wieder zurückdrängte.

„Was ist’s, Sihdi?“ fragte Halef.

„Die Schiiten sind da vor uns.“

„Was thun sie?“

„Sie lagern am Rande des Holzes. Steig ab, und halte mein Pferd. Ich muß wissen, woran ich bin. Vielleicht müssen sie halten, weil sie sich in der Nähe des Feindes befinden.“

Ich stieg ab, gab ihm auch die beiden Gewehre, weil sie mir beim Anschleichen beschwerlich waren, und ging in den Wald hinein. Diesen Menschen sich unbemerkt zu nähern, war gar nicht schwer. Ich kam mit der größten Leichtigkeit ihnen in den Rücken und legte mich dann auf den Boden nieder, um vollends heranzukriechen. Jeden Baum und Strauch als Deckung benutzend, gelangte ich in das Gebüsch, an dessen anderer Seite sie lagen. Ich schob mich unhörbar und so, daß kein Zweig sich bewegte, in dasselbe hinein und befand mich nun so nahe bei ihnen, daß ich sie nicht bloß sehen, sondern auch deutlich hören konnte. Ihre Pferde weideten draußen vor dem Gebüsch im Freien. Welch eine Unvorsichtigkeit! Wenn zufällig ein Akrakurde kam, mußte er sie sehen. Diesen Anbetern Fatimas war die Klugheit wirklich nicht mit Scheffeln zugemessen worden! Sie sprachen miteinander. Einer sagte:

„Also nur noch eine halbe Stunde ist’s bis zum Lager der Kurden? Ob Schir Saffi es wohl finden wird?“

„Ganz gewiß“, antwortete ein anderer, der wahrscheinlich -

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„Halt, schieß’ nicht! Wir gehorchen!“

wahrscheinlich einer der Kundschafter gewesen war. „Ich habe es ihm ja gut genug beschrieben. Es sind nur noch die zwei nächsten Berge zu umreiten, dann führt ein Wasser rechts in das Thal, wo sie sich ihren Verhau gebaut haben. Wir werden ihn während des Abends umspähen und die Kurden dann, wenn der Morgen graut und sie noch schlafen, wir aber schon sehen können, überfallen.“

Hm! Da hatte ich ja gleich genug gehört und wußte nun schon alles. Ich kroch zurück, suchte Halef auf und teilte ihm das Vernommene mit.

„Was wirst du thun, Sihdi?“ fragte er. „Hier auch warten, bis es Abend ist?“

„Fällt mir nicht ein. Zwei Berge zu umreiten und dann rechts das Thal. Wir machen einen Umweg, sodaß wir von der andern Seite kommen. Wir müssen am Abend eher am Verhaue sein als die Schiiten. Komm!“

Wie stiegen wieder auf, kehrten eine kleine Strecke zurück und bogen dann nach Westen ein, und dann süd- und ostwärts einen Halbkreis zu schlagen. Dabei galt es vorsichtig zu sein, damit wir keinem Kurden oder auch dem sie jetzt umschleichenden Schir Saffi begegneten. Diese Vorsicht verlangsamte unsern Ritt ungemein, doch gelangten wir gegen Abend, ohne gesehen worden zu sein, in die Nähe des Kurdenlagers.

Nun galt es vor allen Dingen, unsere Pferde gut zu verstecken, und Halef mußte bei ihnen bleiben. Mein Rappe war mir zu kostbar, als daß ich ihn in solcher Nähe des Feindes ohne Aufsicht hätte lassen mögen. Darüber wurde es dunkel, und ich pürschte mich den mit Wald bestandenen Bergeshang empor. Oben angekommen, zeigte sich meine Nase noch brauchbarer als meine Augen. Ich roch Rauch und folgte dem Geruche. Es ging jenseits abwärts. Da hörte ich Stimmen, und um die Baumwipfel zuckten die Reflexe von Lagerfeuern. Vor mir zog sich nach rechts und links ein mauerähnliches Etwas hin, hoch und undurchdringlich. Es war der Verhau, welcher das Kurdenlager rings umzog und wahrscheinlich nur eine einzige Stelle besaß, welche passiert werden konnte. Fast drei Stunden dauerte es, bis ich die vier Seiten desselben abgeschlichen hatte.

Der Verhau bestand aus umgefällten Bäumen, deren Lücken durch Knüppel, Äste und allerlei Gezweig undurchdringlich gemacht worden waren. Er bildete ein Viereck, dessen Inneres die Wohnhütten der Kurden enthielt, und lag, während ich auf der Westseite des Berges heraufgestiegen war, auf der Ostseite desselben, wo unten im Thale das erwähnte Wasser floß. Der jetzt, am Abend, durch starke Stangen verschlossene Eingang lag an der Nordseite, nahe bei dem Wasser. Am Ufer desselben lagen oder grasten die Weidetiere der Kurden. Nachdem ich mir einen für meinen Zweck passenden Baum ausersehen hatte, kehrte ich zu Halef zurück. Es war keine leichte Sache gewesen, bei dieser Dunkelheit im dichten Walde herumzuschleichen, ohne sich zu beschädigen. Ich mußte dem wißbegierigen Hadschi mitteilen, was ich erkundet hatte, und dann legten

wir uns, nachdem wir etwas gegessen hatten, nieder, um einige Stunden zu schlafen. Als ich erwachte, gestand mir Halef:

„Sihdi, ich bin so aufgeregt, daß ich keine Ruhe gefunden habe. Ich sehne mich nach dem Kampfe.“

„Hoffentlich wird es für uns keinen geben“, antwortete ich. „Du bleibst einstweilen noch hier; ich steige wieder zur Höhe.“

Ich hatte im Dunkeln die Zeiger meiner Uhr befühlt und bemerkt, daß es nahe an vier Uhr morgens war. Glücklich hinauf und an den Verschlag gelangt, hatte ich dann beinahe das Unglück, auf mehrere Schiiten zu stoßen, welche hier am Verhaue auf die Zeit des Angriffes warteten. Ich bemerkte sie noch im letzten Augenblicke und konnte mich noch rechtzeitig zurückziehen; dann schlich ich zu dem schon erwähnten Baum, auf den ich kletterte. Es war eine hohe Fichte, welche so stand, daß ich von meinem Sitze aus, wo die Zweige mich verbargen, den Eingang und den größten Teil des Lagers überblicken konnte.

Mein Sitz war leidlich bequem, aber mit der Zeit wurde er mir doch beschwerlich. Die Stunden vergingen äußerst langsam, und als der Himmel sich zu lichten begann, glaubte ich eine halbe Ewigkeit hinter mir zu haben. Da endlich ging es los; es fiel ein Schuß, und ich hörte Schir Saffis Stimme rufen:

„Zum Teufel, das war zu früh! Wer hat geschossen? Nun aber drauf, schnell drauf!“

Jedoch nur einige Augenblicke später schrie eine andere Stimme im kurdischen Kurmangdschi-Dialekte:

„Feinde, Feinde hier! Ein Überfall! Heraus, ihr Männer von Akra, heraus, und wehret euch!“

Nun gab es ein wildes Kunterbunt von Schüssen, Schreien und Flüchen. Es war noch nicht so hell, daß ich deutlich sehen konnte, aber ich hörte nach einiger Zeit, daß das Gewühl sich nach dem Eingange hinzog. Die Schiiten schienen also, wie ich erwartet hatte, im Nachteile zu sein und fortgedrängt zu werden. Dann endlich konnte ich das Thor erkennen. Es stand offen. Ein Kurde, jedenfalls der Anführer, stand mit dem Gewehre in der Hand unter demselben und rief mit weitschallender Stimme in den Wald hinein:

„Zurück, zurück, zu den Pferden! Es waren die Schiitenhunde. Wir reiten ihnen nach bis zu ihrem Lager und nehmen Rache!“

Auf diesen Befehl kehrten die Kurden, welche sich zu Fuße an die Verfolgung hatten machen wollen, zurück. Im Lager gab es einige Tote. Es war bewundernswert, wie schnell diese Kurden gerüstet waren und sich mit Proviant versehen hatten. Noch war keine Stunde seit dem Augenblicke des Überfalles vergangen, so jagten sie davon, wohl hundert Krieger stark, so, wie der alte Salib gesagt hatte. Es blieben nur die Alten, die Frauen und die Kinder daheim.

Nun war es für uns Zeit. Ich kehrte zu Halef zurück, welcher seine Ungeduld kaum hatte bemeistern können. Wir verließen das Versteck, stiegen auf, ritten um den Berg herum und erreichten den Eingang des Verhaues, welcher noch offen stand. Man sah uns. Einige alte Männer und Frauen kamen uns entgegen.

„Sabah il kher — guten Morgen“, grüßte ich. „Ist die Frau des Dorfältesten hier?“

„Warum?“ fragte ein Alter.

„Ich habe mit ihr zu sprechen. Hat sie Kinder?“

„Ja, vier.“

„Rufe sie mit ihnen! Ich will sie begrüßen.“

Er sah mich mißtrauisch an, ging aber doch nach einer der Hütten, um meinen Auftrag auszuführen. In einigen Augenblicken standen alle die Zurückgebliebenen um uns her, wohl zwei Schock Kinder, Greise und Frauen. Da kam eine noch ziemlich junge Frau aus der Hütte und auf mich zu. Vier Kinder, das jüngste vielleicht vier Jahre alt, waren bei ihr. Ihr Gesicht drückte das größte Erstaunen -

Erstaunen und auch Sorge aus, aber sie kam doch zu mir heran und fragte:

„Was willst du, Herr?“

„Du bist das Weib des Anführers, und dies sind deine Kinder?“

„Ja.“

„Hast du vielleicht einmal von einem fremden Krieger gehört, welcher Kara Ben Nemsi Effendi heißt?“

„Ja, wir wissen alle von ihm. Er hat Zaubergewehre und — —“ sie hielt inne, sah meinen Rappen und mich erschrocken an und schrie: „Herr, bist etwa du dieser Mann?“

„Ja. Doch fürchtet euch nicht. Wir thun euch nichts, wenn ihr uns gehorcht. Gieb uns die acht Sklaven heraus, welche ihr vor zwei Jahren den Schiiten und Christen geraubt habt! Gehorchest du, so krümmen wir euch kein Haar, wenn aber nicht, so kommt ihr vor meine Zaubergewehre, und diese deine Kinder sind die ersten, welche sterben müssen!“

Gab das ein Heulen und Schreien! Doch als ich die Revolver zog, trat augenblicklich Stille ein. Ich richtete den Lauf auf eins der Kinder, da rief die Frau:

„Halt, schieß nicht! Wir gehorchen.“

„Sind diese Sklaven gefesselt?“

„Ja, mit Ketten.“

„Nehmt ihnen die Ketten ab! Ich gebe euch soviel Zeit, als man braucht, die erste Sure des Koran fünfmal zu beten. Sind dann die Gefangenen nicht da, so geht das Morden los!“

Welch ein Schreck! Alles rannte davon, um meinen Befehl auszuführen. Es dauerte freilich etwas länger, aber nach Verlauf einer Viertelstunde standen die Acht vor uns.

„Nun noch Sättels und Zaumzeug für acht Pferde! Rasch!“ gebot ich.

Als sie nicht sofort gehorchen wollten, hieb Halef mit der Peitsche drein; das half. Das Zeug mußte uns nachgebracht werden, hinaus an das Wasser, wo noch über dreißig Pferde grasten. Ich suchte die acht besten aus, ohne mich um das Wehklagen der Weiber zu kümmern. Es wurde gesattelt und die acht Personen stiegen auf. In jenen Gegenden reiten auch die Frauen wie die Männer. Dann erschoß ich, um Proviant zu haben, einen Hammel, welcher mitgenommen wurde.

„Ich danke dir, o Nezana!“ sagte ich hierauf. „Durch deine Bereitwilligkeit hast du mich abgehalten, euch alle zu erschießen. Allah sei mit dir, doch nicht mit deinem Manne, der ein Räuber und Mörder ist!“

Wir ritten davon, während hinter uns her ein Chor von Schmähungen erschallten. Wir schlugen zunächst denselben Weg ein, auf dem wir gekommen waren, und schienen uns dabei um die, welche wir befreit hatten, nicht zu kümmern.

„Sihdi“, sagte Halef, „das war ein schöner Streich. Wie wird Hanneh, meine Sonne, sich freuen, wenn ich ihr davon erzähle!“

„Wie aber, wenn die Kurden zurückgekehrt wären, während wir uns noch im Lager befanden?“

„O, du hättest dich nicht gefürchtet, und ich auch nicht. Was werden die Gefangenen denken! Wir müssen doch mit ihnen sprechen, um sie aufzuklären.“

„Thu’ du es. Erzähle ihnen alles. Sie werden sich wie im Träume befinden. Ich kann mich nicht mit ihnen abgeben, weil ich auf den Weg zu achten habe. Wir müssen uns vor den Kurden hüten. Sag diesen Leuten, daß wir einen sehr scharfen Ritt machen müssen.“

Bald erklang seine begeisterte Stimme hinter mir. Er gab den Befreiten die nötigen Erklärungen. Ich konnte mich mit ihnen nicht befassen. Wir mußten vor den Akrakurden bei unsern Gastfreunden eintreffen, sie also überholen und dabei einen Umweg machen. Ich mußte mich zurechtfinden, ohne die Gegend zu kennen. Da war vor allen Dingen die größte Eile nötig.

Die Schiiten und die sie verfolgenden Kurden blieben auf dem frühern Wege. Ich wich von demselben rechts ab, schon von weitem jeden Bergumriß taxierend beziehentlich der Wegbarkeit. Um Mittag machten wir einen kurzen Halt. Da wurde mir Dank gesagt. Ich sprach einige Zeit mit den Verwandten des alten Salib; dann ging es weiter.

Am Abende befanden wir uns schon jenseits des Dschebel Hair; aber die Geretteten waren da auch so ermattet, daß sie fast von den Pferden fielen. Sie aßen, als wir lagerten, gar nicht, sondern schliefen sofort ein. Am nächsten Morgen bekamen sie tüchtige Portionen Fleisch; dann ging es wieder weiter.

Bald kamen wir in Gegenden, die dem Sohne Salibs bekannt waren; er machte nun den Führer. Gegen Mittag waren sie leider schon wieder so ermattet, daß sie zu klagen begannen. Die Gefangenschaft hatte sie außerordentlich geschwächt. Da sie mit uns nicht Schritt halten konnten, mußte ich sie zurücklassen. Ich beschrieb ihnen das Thal, welches der alte Salib auf meinen Rat aufgesucht hatte, riet ihnen, dasselbe von Osten aus zu erreichen, da sie im Westen auf die Kurden stoßen mußten, überließ ihnen unsern Proviant und dann jagte ich mit Halef weiter. Unsere christlichen Gastfreunde wußte ich bis auf weiteres in Sicherheit; aber es kam mir auch darauf an, das Dorf der Schiiten zu retten. Wie das nun anfangen? Die fliehenden Schiiten hielten sicher nicht gegen ihre Verfolger Stand. Da kam mir ein Gedanke. Wie, wenn es mir gelang, den Anführer der Kurden zu erwischen? Seine Leute mußten dann Rücksicht auf sein Leben nehmen. Vielleicht hatte schon mein bloßer Name auf ihn eine ähnliche Wirkung wie auf seine Frau. Er kam auf dem Wege daher, auf welchem wir hinzu geritten waren, und da erinnerte ich mich einer Stelle, wo es durch ein Thal ging, dessen Seiten da eine solche Enge bildeten, daß höchstens drei Reiter neben einander Platz fanden; dann liefen die Seiten der Schlucht wieder weit auseinander. Dies war der einzige Ort, der mir Erfolg verhieß.

„Halef, hast du Mut?“ fragte ich.

„Ja, Sihdi, ich mache mit“, antwortete er.

„Du weißt doch gar nicht, was ich will!“

„Ich mache dennoch mit. Es ist doch wieder ein Streich?“

„Ja. Wir zwei gegen die sämtlichen Kurden.“

„Ich mache mit, Sihdi; es bleibt dabei“, lachte er.

„So reite schneller, damit wir rechtzeitig ankommen!“

Ich bog links nach der Richtung unsers ersten Weges ein. Nach vielleicht einer Stunde erreichten wir ihn. Hierher mußten die Schiiten und hinter ihnen ihre Verfolger kommen. Die vorhandenen Spuren sagten mit, daß nur erst wenige vorüberpassirt waren. Wir ritten weiter und erreichten die Enge, hinter welcher wir abstiegen.

„Da willst du dich den Verfolgern entgegenstellen?“ fragte Halef.

„Ja. Vielleicht kommt ihr Anführer in unsere Hände Jedenfalls aber kann keiner von ihnen durch, ohne daß ihn unsere Kugel trifft.“

„O, Sihdi, ich habe auch zuweilen einen Gedanken. Wir brauchen keinen Kurden zu erschießen. Wir töten nur das Pferd des Ersten, welcher kommt; dann haben wir gewonnen.“

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Also: nicht Fatima, sondern Marryam!

„Wieso?“

„Laß mich nur machen, mein lieber Sihdi! Ich will auch einmal etwas thun, worauf — — halt, schau“, unterbrach er sich, indem er durch die Enge in das Thal hinein deutete. „Dort kommt ein Reiter galoppiert und hinter ihm ein zweiter, ein Kurde.“

„Der erste ist, ah, das ich ja Schir Saffi!“ rief ich aus. „Er wird von den Kurden verfolgt. Paß auf! Der Kurde muß unser werden.“

Die Beiden kamen in Karriere herbeigesprengt. Wir traten hinter der Enge vor. Ich legte den Bärentöter an, weil die große Kugel desselben schneller wirkte. Schir Saffi schoß mit vor Angst verzerrten Zügen an uns vorüber; nur zwanzig Sätze war der Kurde von uns entfernt; ich schoß auf sein Pferd; es that noch drei, vier Sprünge und brach denn zusammen, wobei der Reiter aus dem Sattel geschleudert wurde. Wir warfen uns auf ihn. Er war wie betäubt und wehrte sich nicht dagegen, als wir ihn entwaffneten. Bald aber raffte er sich zusammen und machte einen Versuch, sich loszureißen.

„Bleib stehen, sonst schieße ich dich nieder“, drohte ich, den Revolver auf ihn richtend.

„Ja, du bist des Todes“, stimmte Halef bei. „Dieser Emir ist der berühmte Kara Ben Nemsi Effendi, und ich bin Hadschi Halef Omar, sein — — —“

„Kara Ben Nemsi Effendi?“ schrie der Kurde, ihn unterbrechend und mich angstvoll anstarrend.

„So ist es“, nickte Halef. „Wir sind mit den Schiiten und mit den Christen des alten Salib verbunden und haben euch in eine herrliche Falle gelockt, ihr Dummköpfe.“

„Falle?“ stammelte der Kurde.

„Natürlich! Der alte Salib versteckte sich mit seinen Leuten im Walde, und die Schiiten thaten, als ob sie euch überfallen wollten; sie flohen, und ihr verfolgtet sie; kein Krieger blieb zurück. Als ihr dann fort waret, ist Salib mit seinen Leuten in euer Lager gedrungen und hat — —“

Er kam nicht weiter, denn

„O Himmel, o Himmel!“ schrie der Kurde auf, riß sich los und rannte fort, zurück, ohne in seinem Schrecken daran zu denken, daß wir ihn erschießen konnten.“

„O Himmel, o Himmel, da rennt er hin!“ lachte Halef. „War dieser Gedanke von mir nicht gut, Sihdi? Er wird die Kurden benachrichtigen, daß Salib das Lager überfallen hat, und da kehren sie sofort um“.

„Vortrefflich, ganz vortrefflich, Halef!“ rief ich aus. „Schau, da sieh!“

Drei Kurden kamen ins Thal gesprengt; sie sahen den Fliehenden und hielten an. Als er sie erreichte, deutete er nach uns zurück und sprach mit ihnen. Darauf kehrten sie um und verschwanden so schnell, wie sie gekommen waren.

„Siehst du, daß es wirkt?“ fragte Halef, indem sein ganzes Gesicht vor Wonne erglänzte. „Reiten wir vorwärts, um uns weiter zu überzeugen!“

Wir stiegen auf und ritten den Verfolgern entgegen; es kam keiner mehr. Nach einer Viertelstunde erreichten wie eine Höhe, von welcher wir eine weite Fernsicht hatten. Da sahen wir die sämtlichen Kurden auf einem freien, ebenen Plan; sie galoppierten heimwärts. Wir hatten sie nicht mehr zu fürchten.

Halef jubelte über das Gelingen seiner List; ich gönnte dem braven Kerlchen diese Freude von ganzem Herzen; er hatte sie verdient. Nun kehrten wir wieder um und ritten nach dem Thale der Schiiten. Die Hütten standen leer; es war kein Stück Vieh zu sehen, dafür aber Schir Saffi mit zehn oder zwölf seiner Krieger. Als er uns bemerkte, kam er auf uns zugeeilt und rief:

„Herr, die Bewohner meines Dorfes sind verschwunden. Du bist hier zurückgeblieben und mußt wissen, wo sie sind!“

„Ich weiß es nicht, denke es mir aber. Sag vorher, wo deine andern dreizehn Krieger sind!“

„Sie werden noch kommen. Die Akrakurden verfolgten uns; darum befahl ich meinen Leuten, sich zu zerstreuen; da entkamen sie leichter.“

„Du aber wärest beinahe nicht entkommen!“

Er senkte den Blick zu Boden und gestand:

„Ja, ich habe dir mein Leben zu verdanken, Herr.“

„Das konntest du dir selbst verdanken. Warum wehrtest du dich nicht gegen den Verfolger? Es war ja nur ein Einzelner. Und da hast du dem alten Salib Feigheit vorgeworfen! Wo sind die Gefangenen, welche du befreit hast?“

„Es gelang uns nicht. Ein Gewehr ging zu zeitig los.“

„Das hätte deine Fatima nicht geschehen lassen sollen. Doch folge mir! Ich wußte, daß es so kommen werde, und habe dem alten Salib geraten, einstweilen in ein anderes Thal zu ziehen. Eure Familien werden ihm dorthin gefolgt sein.“

Man sah es ihm an, daß er sich beschämt fühlte. Wir ritten fort und kamen bald in das neue Lager. Als die Christen uns sahen, eilten sie uns jubelnd entgegen.

„Wie steht es, Emir?“ fragte Salib, indem er mir die Hände drückte. „Kommst du zur rechten Zeit? Sind die Kurden auf dem Wege zu uns?“

„Nein; sie kommen nicht.“

„So hat also Schir Saffi gesiegt?“

Da dieser schwieg, antwortete ich.

„Nein. Seine Fatima hat ihn schmählich im Stiche gelassen. Er hat fliehen müssen und ist bis nahe von hier verfolgt worden. Wir haben ihn gerettet und die Kurden gezwungen, umzukehren.“

„Ihr beide? Alle die Kurden?“ fragte er erstaunt.

„Ja; durch eine List. Sie kommen, wenigstens in diesen Tagen, gewiß nicht wieder.“

„So sind also die Gefangenen nicht frei geworden! Mein Sohn, mein Enkel und das Weib meines Sohnes! O, Effendi, wir haben deinen Rat befolgt und ohne Unterlaß zur Gottesmutter gebetet, daß sie uns die Gefangenen senden möge!“

„Lächerlich! Was vermag Marryam, wenn ihr nichts thut, da Fatima nicht geholfen hat, obwohl wir uns so sehr bemüht und in Gefahr begeben haben!“ fiel Schir Saffi zornig ein, um seine Scham zu übertäuben.

„Schweig!“ antwortete der Alte. „Grad daß ihr euch in solche Gefahr begeben habt, ohne daß es gelungen ist, das ist ein Beweis, daß eure Fatima nichts vermag. Wir sind hier geblieben, um zu unserer heiligen Marryam zu beten, und wenn wir recht glauben und es zu unserm Heile ist, wird sie — — —“

Er hielt inne; er stand statt da, wie gelähmt, den Blick nach dem Eingange des Thales gerichtet. Die andern folgten diesem Blicke und schrieen laut auf vor Verwunderung, denn dort kamen die befreiten Gefangenen geritten. Das alte Salib streckte beide Arme aus und rief:

„O Marryam, o Marryam, o du gnadenvolle Gottesmutter! Wie ist mein Gebet erhört! Mein Sohn, mein Enkel, meine Tochter!“

Er wollte ihnen entgegeneilen, brach aber in die Kniee zusammen. Da warfen sie sich von den Pferden, knieten bei ihm nieder und schlangen weinend die Arme um ihn.

Die andern wurden von den Ihrigen mit demselben Jubel empfangen. Nur Schir Saffi stand wortlos da

und wie ein Träumender. Seine Tochter trat langsam auf ihn zu.

„Vater!“ sagte sie leise und zagend, weil er keinen Laut des Willkommens, der Freude für sie hatte.

„Du — du — auch — frei!“ stieß er endlich hervor. „Wer — wer hat dich — — errettet?“

„Dieser Emir aus Germanistan“, antwortete sie, auf mich deutend.

„Der — der — welcher gar nicht dort gewesen ist!“

Er wußte nicht, was er denken und was er sagen sollte. Ich entfernte mich, um ihn nicht noch mehr in Verlegenheit und Scham zu bringen.

Hatte es am Festtage des Rosenkranzes ein Festessen gegeben, so gab es heute ein noch viel größeres, ein Freudenmahl, wie diese armen Leute sich selten eines gestatten durften. Niemand durfte sich davon ausschließen, auch Schir Saffi nicht, welcher dies wohl gern gethan hätte. Ich schonte ihn; mein Hadschi Halef aber war nicht so großmütig; er nahm eine Gelegenheit wahr, ihn zu fragen:

„Nun, sind wir Kröten, die im Schlamme stecken, sind wir Thoren und Dummköpfe? Du sagtest: unsere Prahlerei gegen deine Tapferkeit. Wir haben deine große Tapferkeit gesehen; wir aber haben nicht, wie du, geprahlt, die Gefangenen zu befreien, und nun siehst du sie alle hier sitzen, auch deine Tochter und die andern von euch, während du die christlichen Gefangenen nicht befreien wolltest. So sag nun, wer ist gnädiger und mächtiger? Wer vermag es, Gebete zu erhören? Fatima oder Marryam?“

„Marryam!“ antworteten die Christen wie aus einem Munde; die Schiiten aber schwiegen.

Sollten sie nicht auch in diesen Ruf einstimmen können? Ich blieb noch volle vierzehn Tage da, um dem, was ich begonnen hatte, gegen die Akrakurden Nachdruck zu geben. Das jetzige Thal war leichter zu befestigen als das vorige. Wir legten dichte Verhaue an und garnierten dieselben mit Dornen und andern Stachelpflanzen. Der Eingang wurde verbarrikadiert. Dann bauten wir Wohnungen, hübscher, gesünder und menschenwürdiger, als die ersten gewesen waren. Nachher ein Kirche, ein wirkliches, kleines Gotteshäuschen, für welches ich auf eine mit feinem Sande polierte Steinplatte, so gut ich es eben vermochte, eine heilige Madonna in schwarz, weiß und rot malte; andere Farben gab es hier nicht zu bereiten.

Darunter setzte ich den englischen Gruß in arabischer, persischer und kurdischer Sprache. Ich konnte auf dieses Bild nichts weniger als stolz sein, bin aber vollständig überzeugt, daß es von jenen einfachen Leuten noch heute als großes Kunstwerk angestaunt wird. Jedenfalls erfüllt es seinen frommen Zweck dort wenigstens ebenso wie ein Murillo oder Raphael in einer unserer wenig frommen Galerien.

Während dieser Arbeiten arbeitete ich auch an Schir Saffi; daß auch der Islam Christum anerkennt, ihn sogar das Weltgericht halten läßt über die Lebendigen und die Toten, ihn Isa Ben Marryam nennt, die heilige Gottesmutter aber Marryam Omm Isa heißt, dies alles erklärte ich ihm. Mehr konnte ich bei seinem verknöcherten Schiitismus nicht thun; aber was ich sagte, haftete doch einigermaßen.

Als dann das Kirchlein fertig war und das Glöcklein zum erstenmale von kleinen Turme erklang, feierten wir abermals ein Freudenfest, welches selbst auf die Moslemin einen tiefen Eindruck machte, denn als wir endlich schieden, von den Segenswünschen aller Thalbewohner begleitet, und ich beim Abschiede Schir Saffi leise fragte: „Nun, Fatima oder Marryam?“ da drückte er mir die Hand und antwortete:

„O, Emir, du hattest Recht. Deine Gottesmutter ist mächtiger als unsere Prophetentochter. Also: nicht Fatima sondern Marryam!“