Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 2, Seite 17
Reprint Seite 45


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

»So stimmt es. Der Brief ist an Sie! Hier ist er.«

Er reichte ihr denselben hin. Sie nahm und betrachtete ihn, las die Adresse und fragte im Tone der Verwunderung:

»Nicht von der Post! Wo ist er her?«

»Aus China. Ye-Kin-Li gab ihn mir.«

»Aus - - China! Wer könnte mir von dorther schreiben? Es ist ja ganz unmöglich, daß dort ein Bekannter von uns existiert. Dieser Brief kann nicht für mich bestimmt sein.«

»Er ist für Sie! Die Adresse stimmt ja genau.«

»Bitte, Mutter, zeig' einmal her!« sagte Richard, indem er herbeitrat und nach dem Briefe griff. Er betrachtete die Adresse und entschied sodann:

»Er ist an den Vater gerichtet. Dieser lebt nicht mehr, folglich hast du das Recht, den Brief zu öffnen. Das ist gar nicht zu bestreiten.«

Dabei hatte er auch schon das Kouvert mit dem Federmesser aufgeschnitten. Er nahm den eng beschriebenen Bogen, den es enthielt, heraus und warf, nachdem er ihn entfaltet hatte, einen Blick auf die Unterschrift.

»Vom Onkel Daniel!« rief er schnell.

»Der war doch in Amerika und ist verschollen,« antwortete seine Mutter.

»Er ist nicht tot, wie wir bisher geglaubt haben. Welch eine Freude, daß er noch lebt! Hört, was er schreibt! Ich will den Brief vorlesen.«

Der »Methusalem« wollte sich entfernen, wurde aber aufgefordert, zu bleiben. Vor ihm gab es keine Familiengeheimnisse.

Der Inhalt des Briefes mußte von großer Wichtigkeit sein, denn der Student blieb weit über eine Stunde bei seiner Wirtin, und als der Wichsier einmal an der Thüre vorüberging und infolge eines frohlockenden Rufes, welcher drinnen ausgestoßen wurde, stehen blieb, hörte er, obgleich er die einzelnen Worte nicht verstehen konnte, daß jedenfalls eine Beratung abgehalten wurde, deren Verlauf ein sehr erregter zu sein schien.

»Wat da drinnen losjelassen worden ist, dat scheint so eine Art von Kriegsrat zu sind,« murmelte er vor sich hin. »Ich ziehe mir zurück, sonst könnte ich der Avantgarde unter die Pferde geraten.«

Er that sehr klug daran, denn kaum hatte er sich entfernt, so kam sein Herr in höchster Eile heraus, eilte in seine Wohnung, packte den Wichsier, als er ihn dort erblickte, an den beiden Schultern und rief in freudigem Tone:

»Gottfried, das Schlaraffenleben hat ein Ende! Wir verreisen!«

»So! Wohin? Vielleicht wieder mal nach Jüterbogk, um den dortigen Wein zu probieren?«

Er machte ein sehr saures Gesicht.

»Nein, nein, weiter, viel weiter! Bist du zur Seekrankheit geneigt?«

»Unjeheuer sehr!«

»Woher weißt du das?«

»Weil mein echt jermanischer Magen kein Wasser vertragen kann. Er will immer noch eins, ehe er jeht, aber natürlich nur kein Wasser!«

»So bleibst du da, dann gehe ich zur See!«

»Dat ist ja nicht jefährlich. Zur See kann man jehen, ohne die Seekrankheit zu bekommen. Man muß nur am Wasser stehen bleiben.«

»Aber ich will über die See, über das Meer hinüber, nach Asien!«

»Alle juten Jeister!« rief Gottfried, die Hände zusammenschlagend.

»Nach China!«

»Da sind wir ja schon!«

Er zeigte in dem Zimmer herum und hatte dabei nicht gar so unrecht, denn der »Methusalem« war infolge seiner mit dem Theehändler geschlossenen Freundschaft ein passionierter Sammler für chinesische Erzeugnisse geworden. An den Wänden hingen und auf den Tischen lagen Geräte, Gefäße, Waffen, Musikinstrumente und eine ganze Menge ähnlicher Dinge, welche aus dem »Reiche der Mitte« stammten.

»Das ist Talmi-China; ich aber will das echte sehen,« antwortete der Student. Die Erregung hatte ihm das Gesicht hochrot, die Nase aber ultramarinblau gefärbt. »Du sollst mitkommen. Fürchtest du dich aber vor der See, so bleibst du da und kannst, um dir die Langeweile zu vertreiben, Mücken vergolden.«

Da stemmte der Wichsier beide Hände in die Seiten, pflanzte sich gerade vor seinem Herrn auf und meinte:

»Wat? Wie? Wo? Warum? Ich, als der berühmte Jottfried von Bouillon und ausjesprochener Erbfeind aller Sarazenen soll mir vor das bißchen See fürchten! Wat mache ich mich aus so einem alten Heringsteich! Und etwa von wegen die Haifische? Denen wollte ich mit persisches Insektenpulver ins Jewissen reden! Uebrigens muß ich auf alle Fälle mit, denn Sie brauchen mir. Wer soll Ihnen die Stibbel wichsen, die Kleider klopfen, die Pfeife stopfen, die Uhr aufziehen, tausend andere Sachen versorjen und beim Essen jesegnete Mahlzeit wünschen? Doch ich! Also ich fahre mit, nämlich wenn diese Reise nach China nicht etwa nur ein Ulk ist, den sich Ihr treuer Jottfried streng verbitten muß!<<

»Es ist kein Ulk, sondern Ernst, wirklicher Ernst. Ich habe keine Zeit, es dir zu erklären, denn morgen früh geht es mit dem ersten Zuge fort, zunächst nach der Residenz, der Gesandtschaft wegen. jetzt muß ich zum Bankier, zur Polizei und in hundert Läden, um tausend notwendige Sachen einzukaufen. Richard fährt auch mit, und - - - «

»Rich - - - !« unterbrach ihn der Wichsier, brachte aber vor Erstaunen nur die erste Silbe dieses Namens über die Lippen.

>Ja! Er ist es ja, um dessentwillen die Reise überhaupt unternommen wird. Wenn ich nicht so sehr eile, daß wir morgen bereits über alle Berge sind, wird aus dieser famosen Reise gar nichts. Ich habe seine Mutter förmlich überrumpelt, und wir müssen reisen, bevor sie sich anders besinnen kann.«

Er eilte fort. Gottfried schüttelte den Kopf, kratzte sich mit

beiden Händen hinter den Ohren, richtete seinen Blick auf einen großen chinesischen Laternendrachen, welcher an der Decke hing und sagte:

»Da hängst du nun, altes Jötzenbild, und kuckst mich höhnisch ins Jesicht! Dir hab' ich nie so recht jetraut. Deine Ehrbarkeit und Moralität ist mich immer ein bißchen problematisch vorjekommen! Wat willst du sind? Tao-lung willst du jenannt sind, wat soviel heißt, wie Drache der Vernunft? Ich sage dir, daß du höchst unvernünftig bist! Seit du hier unsern Zenith jepachtet hast, ist bei uns China und der Teufel losjewesen. Ich habe dir sogar im Verdacht, daß du um Mitternacht als Jespenst und Jeisterspuk hier umherfliegst. Du erscheinst dem Methusalem im Traume; du hast es ihm anjethan und ihm sogar den Jedanken einjeblasen, die traute Heimat zu verlassen, um am Strande des gelben Meeres bei die halben Antipoden jebratene Regenwürmer, jeschmorte Tausendfüße, jebackenen Seetang, marinierte Salamander und jekochte Rattenschwänze zu verspeisen. Schäme dir! Aber du sollst dir doch nicht rühmen können, ihn ins Verderben jeführt zu haben. Ich werde ihn begleiten als sein Morjen- und sein Abendstern. Wir werden siegreich gegen deine Vettern und Basen kämpfen, gegen Drachen, Molche und Chinesen, und wenn wir wiederkehren, so hängen wir sie hier als Trophäen auf, um dir zu ärjern, so wie du mir jeärjert hast. Ich verachte dir!«

Er ging mit einer theatralischen Geberde ab, um sich bei der Wirtin zu erkundigen, wie sein Herr auf den Gedanken gekommen sei, nach China zu gehen.

Inzwischen war der »Methusalem« gar nicht weit gekommen. An der Ladenthür des Chinesen hatte er sich besonnen, daß er diesem doch sagen müsse, daß der Brief an die richtige Adresse gelangt sei. Darum trat er bei ihm ein.

»Nun?« fragte der Sohn der Mitte. »Sie bringen den Brief nicht wieder?«

»Nein. Meine Wirtin ist die Adressatin. Sie brauchen sich also nicht weiter zu bemühen. Aber, bitte, wie ist er in Ihre Hände gekommen?«

»Durch meinen Lieferanten in Kuang-tschéu-fu (Kanton), bei dem er für mich abgegeben wurde.«

»Hat dieser Herr Ihnen mitgeteilt, wer der Absender ist?«

»Nein. Er hat mir die Weisung gegeben, den Adressaten oder dessen Erben hier ausfindig zu machen, ihnen den Brief zu übermitteln und dafür zu sorgen, daß sie sofort antworten. Die Stelle, an welche die Antwort zu richten ist, sei in dem Briefe angegeben.«

»Das stimmt. Aber es ist beschlossen worden, keine briefliche Antwort zu erteilen. 'Wir reisen selbst hin, nämlich Richard Stein, ich und mein Gottfried von der Oboe.«

jetzt war es an dem Chinesen, zu erstaunen. Er erging sich in den fremdartigsten Ausrufewörtern, wobei er die Hände mit weit ausgespreizten Fingern gen Himmel hielt und dabei den Kopf von einer Seite auf die andere warf, so daß sein Zopf wie ein Perpendikel abwechselnd herüber und hinüber flog.

»Sie selbst, Sie selbst wollen nach Tschung-kuo, dem Reiche der Mitte, nach Tschung-hoa, der Blume der Mitte!« rief er aus. »Sie werden Tien-tschao, das himmlische Reich sehen! Sie gehen nach Ki-tien-teh, dem Hause der himmlischen Tugenden, nach Schan-hoang-ti, dem Berge des erhabenen Herrschers! Wie ist das gekommen? Wodurch wurden Sie auf diesen Gedanken gebracht?«

»Durch die Teilnahme, welche ich für die Familie meiner braven Wirtin und insbesondere für Richard hege. Um es Ihnen kurz zu sagen, hat der verstorbene Volksschullehrer Stein einen Bruder gehabt, welcher in seiner Jugend, getrieben von seiner Lust zu Abenteuern, in die weite Welt gegangen ist. Er ist lange Jahre erst in Süd- und dann in Nordamerika gewesen, ohne es zu etwas Sonderlichem zu bringen. Später wollte er nach Java; das Schiff ging aber in der Nähe der chinesischen Küste unter, und er war einer der Wenigen, welche gerettet wurden. Unter den Chinesen erging es ihm zunächst herzlich schlecht, da er ja ihrer Ansicht nach ein Y-jin war, ein fremder Barbar. Er wurde wie ein Gefangener gehalten. Nach und nach lebte er sich in die dortigen Verhältnisse ein. Er erlernte die Sprache, trug chinesische Kleidung, nahm die dortigen Gewohnheiten an und brachte es dadurch so weit, daß er endlich wie ein Eingeborener behandelt wurde. Nur das Land durfte er nicht verlassen; der Versuch dazu schon sollte mit dem Tode bestraft werden. Um seiner ganz sicher zu sein, wurde er in das Innere geschafft, wo er es bald so weit brachte, daß er unter die Klasse der Ansässigen aufgenommen wurde. Er entdeckte zufälligerweise im Gebirge eine Petroleumquelle. Da er die Art der Ausbeutung und Verwertung des Oeles in den Vereinigten Staaten kennen gelernt hatte, so griff er die Sache auf amerikanische Weise an, dabei aber natürlich die chinesischen Verhältnisse in Rechnung ziehend. Er wurde ein reicher Mann und breitete seine Verbindungen nach und nach bis an die Küste aus. Durch diesen letzteren Umstand ist es ihm ermöglicht gewesen, einen Brief, eben den, welchen Sie zur Besorgung erhielten, in die Heimat zu senden. Er ist unverheiratet und ohne Erben, dabei so kränklich, daß er mit dem baldigen Tode rechnet. Er will sein Vermögen nicht in fremde Hände kommen lassen. Darum bittet er seinen Bruder, sofort nach China zu reisen. Falls dieser Bruder tot ist, soll dessen ältester Sohn, von dessen Geburt er aus früheren Nachrichten weiß, zu ihm kommen. Nur so ist es möglich, die chinesischen Gesetze zu umgehen und die Früchte seines Fleißes in die Hände seiner Verwandten gelangen zu lassen. Er bittet um augenblickliche Antwort, worauf er Geld zur Reise anweisen will. Da ich mir aber sage, daß dabei Monate verschwendet werden, während welcher Zeit der kränkliche Herr wohl gar sterben könnte, habe ich unter Aufbietung meines ganzen Einflusses erreicht, daß Frau Stein ihren Richard sofort reisen lassen will, natürlich nur unter der Bedingung, daß ich ihn begleite. Die Kosten der Reise trage ich auch. Das ist alles so plötzlich gekommen und muß auch sofort ausgeführt werden, sonst steht zu erwarten, daß die Wirtin ihre Zusage wieder zurücknimmt. Es ist für eine Mutter kein Spaß, ihr Kind in solche Ferne und in ein solches Land gehen zu lassen. Sie ist von dem Ereignisse, sozusagen, übermannt und betäubt worden. Ich darf sie nicht zur ruhigen Ueberlegung kommen lassen. Morgen mit dem ersten Zuge reisen wir.«

Der Chinese stand mit offenem Munde und starren Blickes vor ihm. Er bewegte kein Glied seines Körpers.

»Was ist mit Ihnen?« fragte der »Methusalem« besorgt. »Sie sind ja wie vom Schlage getroffen! Wie kann meine Erzählung einen solchen Eindruck auf Sie hervorbringen?«

Er faßte den »Sohn des Himmels« bei den Schultern und schüttelte ihn. Dies gab dem Chinesen die Herrschaft über sich selbst zurück. Er eilte zur Thüre, riegelte dieselbe zu, um von keinem Käufer gestört zu werden, ergriff den Studenten beim Arme, führte ihn nach dem kleinen, hinter dem Laden liegenden Privatraume und drückte ihn dort auf einen aus Bambus geflochtenen Sessel nieder.

Dies that er so eilfertig und zeigte dabei so ein Gesicht, als handle es sich um ein höchst wichtiges Geheimnis, um eine Angelegenheit, in welcher ein Aufschub den größten Schaden bringen könne.

»Freund!« rief er, in der Folge bald chinesisch, bald deutsch sprechend. »Sie reisen wirklich, wirklich, wirklich nach Tschina, meinem heißgeliebten Vaterlande?«

»Ja morgen schon.«

»O Herr des Himmels, Glanz der Sonne, Ursprung der Zeit und des Raumes! Welch ein Glück, welch eine Schickung! Freund, mein Leben gehört Ihnen; mein Vermögen ist Ihr Eigentum. Alles, alles sollen Sie haben, nur die Namen meiner Vorfahren kann ich Ihnen nicht schenken. Sie können mir einen Dienst erweisen, der so groß, so unendlich groß ist, daß selbst der größte Dank zu gering dafür sein würde.«

»Gern, sehr gern, wenn ich kann!«

»Vielleicht können Sie!«

»Versuchen wir es wenigstens. Was ist es, was ich thun soll?«

»Bringen Sie mir mein Weib, bringen Sie mir meine Kinder mit!«

»Mit dem größten Vergnügen!« lachte der Student. »Wenn es weiter nichts ist!«

»Sprechen Sie nicht so! Was ich von Ihnen verlange, ist schwer, ist fast unmöglich auszuführen. Die Behörde wird sich widersetzen.«

»O mit den Herren Mandarinen werde ich wohl fertig werden!«

»Kein Chinese würde es fertig bringen. Sie aber sind selbst hier ein ungewöhnlicher Mann. Sie schrecken vor keinem Wagnisse zurück. Sie werden beides anwenden, List und Gewalt, um mich glücklich zu machen. Darum vertraue ich Ihnen. Wenn es überhaupt ein Mensch vermag, so sind Sie allein es, der mir meine Frau, meine Kinder und mein Vermögen, welches ich vergraben habe, weil ich es bei meiner Flucht nicht mitnehmen konnte, bringen kann!«

»Wie? Ihr Vermögen haben Sie vergraben? Warum haben sie es Ihrer Frau nicht gelassen?«

»Ihr hätte man es abgenommen.«

»Sie haben ihr aber doch gesagt, wo es versteckt ist?«

»Nein, auch das durfte ich nicht. Sie ist gefoltert worden und hätte den Ort sicherlich verraten. Wissen Sie, ich bin ein - - - «

Obgleich sie ganz allein und unbelauscht waren, bog er sich bis an das Ohr des Studenten und flüsterte ihm zu:

»- - - Ein zum Tode Verurteilter. Ich hatte das Unglück, unter Empörern betroffen zu werden. Was das in Tschina heißt, das wissen Sie. Ich war wie der junge Kia-niao, wie der kleine Sperling im Neste; aber ich wurde bei ihnen gesehen, und so war ich verloren, wenn nicht die augenblickliche Flucht mich rettete. Ich fand kaum so viel Zeit, mich von den Meinen zu verabschieden und meine Gold- und Silberbarren einzupacken, um sie dann heimlich zu vergraben. Nur einen kleinen Teil dieses Metalles konnte ich mit mir nehmen, um mir im Auslande eine Existenz zu gründen.«

»Höchst interessant!« bemerkte der Student. »So soll ich also den Schatzgräber machen?«

»Ja. Sie sehen, welch ein großes Vertrauen ich zu Ihnen habe. Sie werden mich nicht betrügen. Das weiß ich gewiß.«

»Da sei Gott vor! Was ich finde, wenn ich überhaupt etwas finde, das erhalten Sie. Aber wo hegt es? Und wo treffe ich die Ihrigen?«

»Wo das Gold und Silber liegt, darüber können Sie sich leicht orientieren, denn ich habe einen genauen Plan gezeichnet, nach welchem Sie sich nur zu richten brauchen, um die Barren zu entdecken. Aber wo Sie mein Weib und meine Kinder treffen werden, das weiß ich leider nicht.«

»Ich werde nicht eher ruhen, als bis ich sie finde, vorausgesetzt, daß sie noch leben,« versicherte der Student, herzlich gerührt von dem Ausdrucke aufrichtigen Schmerzes, welcher im Gesichte des Chinesen zu erkennen war.

»Sie können getötet worden sein,« meinte dieser, »denn die Rechtspflege meines Vaterlandes ist keine so humane wie die hiesige. Dort müssen sehr oft die Verwandten des Schuldigen dieselbe Strafe tragen wie er.«

»Nennen Sie mir den Ort, an welchem Sie sich von ihnen getrennt haben! Ich werde mich an denselben begeben und, wenn ich sie dort nicht finde, ihre Spur verfolgen wie der Indianer seine Fährte. Ich hoffe doch, Ihnen zum wenigsten eine sichere Nachricht zu bringen.«

»Ja, ich weiß, daß Sie alles Mögliche thun, kein Opfer scheuen und selbst vor keiner Gefahr zurückschrecken werden, um mir die Ruhe meines Herzens zurück zu geben. Ich werde Ihnen alles aufschreiben, was Sie wissen müssen, und diese Notizen Ihnen heute abend einhändigen. Dabei werden sich auch einige Empfehlungsschreiben an frühere Freunde befinden, an welche Sie sich mit allem Vertrauen wenden können. Sie wissen, daß ich unschuldig bin, und werden Ihnen gern allen möglichen Vorschub leisten. Also Sie sind entschlossen, diese Sendung zu übernehmen?«

»Vollständig.«

»So betrachte ich Sie von diesem Augenblicke an als meinen Kié-tschéi, als meinen außerordentlichen Bevollmächtigten, und frage Sie, ob Sie bereit sind, mir Ihr Kong-Kheou zu geben, Ihr unverbrüchliches Ehrenwort?«

»Sie sollen es haben, hier meine Hand!« antwortete der »Methusalem«, indem er dem Chinesen die Hand entgegenstreckte.

»Warten Sie!« bat Ye-Kin-Li. »Ich werde Ihnen Ihr Wort nach der Sitte meines Landes abnehmen.«

Er holte ein Päckchen Tsan-hiang herbei. Das sind wohlriechende Räucherstäbchen, deren die Chinesen sich bei Ausübung gewisser religiöser Gebräuche bedienen. Der Student mußte eins davon in seine linke Hand nehmen; der Theehändler that ebenso, worauf er die beiden Stäbchen anbrannte. Dann, als der duftende Rauch emporstieg, ergriff er mit seiner Rechten diejenige des jungen Mannes und sagte in feierlichem Tone:

»Sie sind mein Kié-tschéi. Als solcher haben Sie genau so zu handeln, als ob Sie ich seien. Sie dürfen keinen Hintergedanken hegen, und Ihr Herz muß gegen mich ohne Arg und Falschheit sein. Wollen Sie mir also jetzt Ihr Kong- Kheou geben, daß Sie meinen Auftrag nach Kräften ausführen und gegen mich und die Meinen ehrlich sein wollen?«

»Ja antwortete der Student. »Ich denke nicht, daß ich mit dieser Zeremonie ein heidnisches Werk begehe. Sie hätte unterbleiben können, denn mein Ehrenwort ist wie der heiligste Schwur. Aber da es Sie zu beruhigen scheint, so mag es so geschehen, wie Sie es wünschen. Ich verspreche Ihnen, so zu handeln, wie Sie selbst nicht anders handeln würden. Das ist ein ehrliches deutsches Versprechen, auf welches Sie. sich verlassen können!«

»Ich glaube und vertraue Ihnen. Und dieses Vertrauen soll zwischen uns bestehen, bis diese beiden Tsan-hiang an meinem Sarge wieder angezündet werden.«

Er verlöschte die Stäbchen und legte sie dann, sorgsam eingewickelt, in ein Ebenholzkästchen, in welchem er nur Gegenstände von ganz besonderer Wichtigkeit aufzubewahren pflegte.

So war das Ehrenwort gegeben, welches für den Studenten so reiche und seltsame Folgen haben sollte. Er entfernte sich jetzt, um die notwendigen Vorkehrungen zur baldigen Abreise zu treffen.

ERSTES KAPITEL.

»Tsching tsching tschin!«

Unter denjenigen unserer lieben Kameraden, welche in einer der an der Nord- und Ostsee liegenden Hafenstädte wohnen, gibt es sicher welche, die den Namen Tu r n e r s t i c k gehört oder wohl gar diesen braven, weitbefahrenen Seemann von Angesicht zu Angesicht gesehen haben.

Kapitän  H e i m d a l l   T u r n e r s t i c k , ein echter friesischer Seebär, hatte lange Jahre im Dienste eines New-Yorker Reeders gestanden, es da zumeist mit amerikanischen Topgasten zu thun gehabt und es darum gelitten, daß man seinen allerdings seltsamen deutschen Namen Drechslerstock in das englische Turnerstick verwandelte. Dennoch aber war er ein Deutscher vom reinsten Wasser geblieben.

Er war in allen Meeren bekannt als ein tüchtiger, kühner, gewandter und erfahrener Schiffsführer, welcher außerdem die höchst lobenswerte Eigenschaft besaß, daß er sich stets bemühte, seinen Untergebenen mehr ein freundlich besorgter Vater als ein strenger Vorgesetzter zu sein.

Darum hatte er stets nur zuverlässige und tüchtige Mannen an Bord, die sich alle Mühe gaben, seine Zufriedenheit zu erlangen, und unter Umständen mehr thaten, als die bloße Pflicht von ihnen forderte. Sie liebten und achteten ihn und sahen über manches hinweg, was andere wohl nicht mit denselben Augen betrachtet hätten.

Kapitän Turnerstick besaß nämlich einige Eigentümlichkeiten, welche sehr geeignet waren, die Ironie seiner Untergebenen herauszufordern. Daß man dennoch nicht heimlich über ihn lachte, hatte seinen Grund nur in dem kindlichen Respekt, den man ihm widmete.

Daß er zu allerhand Sonderlichkeiten geneigt sei, war schon seinem Aeußeren anzumerken. Er besaß trotz seiner bedeutenden seemännischen Kenntnisse kein sehr geistreiches Angesicht. Mitten in demselben saß das, was der Seemann eine Vorlukennase nennt. Sie war höchst vorwitzig nach oben gerichtet und war durch einen Faustschlag, den der gute Kapitän in seiner Jugend erhalten hatte, ansehnlich weit zur Seite getrieben worden, was seiner Physiognomie ein höchst ordnungswidriges Aussehen gab. Ein gewaltiger Schnurrbart ließ dieses Stumpfnäschen doppelt naiv und lächerlich erscheinen, ein Umstand, welcher keine Verbesserung dadurch erlitt, daß Turnerstick einen ungeheuren indischen Schutzhelm als Kopfbedeckung zu tragen pflegte.

In einem Kampfe mit malayischen Seeräubern hatte er das rechte Auge eingebüßt und trug an dessen Stelle ein künstliches. Doch mußte man ihn sehr genau ansehen, um dies zu bemerken.

Kein Mensch hatte ihn jemals anders als in hohen, geteerten Wasserstiefeln gesehen, welche ihm bis an den Leib reichten. Ebenso unvermeidlich war der mit vergoldeten Ankerknöpfen geschmückte Südkarolinafrack, ohne den er gar nicht leben zu können schien. Dazu trug er unendlich hohe Vatermörder, um welche ein knallrotes Halstuch gelegt und vorn in eine riesige Schmetterlingsschleife geschlungen war.

Dazu kam ein goldener Klemmer, welcher an einem breiten, schwarzseidenen Bande hing, eine sehr begründete Vorsichtsregel, denn die Brille konnte sich niemals länger als einen einzigen Augenblick auf dem ihr angewiesenen Posten erhalten. Sie fiel immer wieder herab, und darum war die eine Hand des Kapitäns unausgesetzt und allezeit damit beschäftigt, den herabgefallenen Klemmer wieder auf das unpraktikable Näschen zu quetschen.

Aufrichtig gestanden, war der gute Heimdall Turnerstick ein ganz klein wenig eitel, auch in Beziehung auf sein Schiff, welches stets, so weit thunlich, ein Muster der Sauberkeit und Ordnung war. Das konnte natürlich auch auf sein Aeußeres nicht ohne Einfluß sein.

Seine Sprachkenntnisse reichten für seine Bedürfnisse vollständig aus. Mehr konnte nicht von ihm verlangt werden. Und dennoch gab es einen, welcher in ihm ein wahres Sprachgenie erblickte, und dieser eine war - - er selbst.

Er hatte alle möglichen Küstenländer angesegelt und überall einige Worte der betreffenden Sprache mit davon genommen. Diese Reiseergebnisse lagen in seinem Kopfe so wirr durch einander wie ungefähr die Trümmer eines verunglückten Eisenbahnzuges. Dennoch war er vollständig überzeugt, so einige Dutzend Sprachen und Dialekte zu beherrschen, und brachte bei jeder passenden Gelegenheit diese unglückseligen philologischen Trümmer herbeigeschleppt. Wehe demjenigen, der es wagte, darüber zu lächeln! Er hatte es für immer mit dem Kapitän verdorben und wurde niemals wieder zu Gnaden angenommen.

Heut befand sich Heimdall Turnerstick in einer wahrhaft rosigen Stimmung, und er hatte allen Grund dazu. Unter seinen Füßen lagen die Planken des schnellsten Klipperschiffes, welches er jemals befehligt hatte. Ein prächtiger Backstagswind füllte die Segel. Der Horizont lag als scharf gezeichnete Linie auf der See, und der Himmel lächelte wolkenlos auf die frohen Gesichter der Mannen herab.

Dazu kam, daß man sich dem Hafen nahe befand und daß der Kapitän Kajütengäste bei sich führte, die es verstanden hatten, sich sein ganz besonderes Wohlwollen zu erwerben. Er hatte sie in Singapore aufgenommen und sollte sie nach Kanton bringen.

Das waren prächtige Tage für ihn gewesen. So eine Unterhaltung hatte er seit Jahren nicht an Bord haben können. Die drei Passagiere paßten zu ihm wie Brüder, und die Absicht, welche sie nach Kanton führte, war ihm so sympathisch, daß er beschlossen hatte, sich nicht allsogleich von ihnen zu trennen. Er konnte ihnen eine längere Zeit widmen, denn sein Steuermann war höchst zuverlässig; ihm durfte er das Schiff und die Besorgung aller Angelegenheiten ruhig anvertrauen.

Diese drei Passagiere waren Fritz Degenfeld, der bisherige Student, genannt der blaurote Methusalem, sein Wichsier Gottfried Ziegenkopf, stets Gottfried von Bouillon geheißen, und endlich Richard Stein, der Gymnasiast, welcher sich unterwegs befand, um die chinesische Erbschaft anzutreten.


(Fortsetzung folgt.)



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