Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 18, Seite 273
Reprint Seite 122


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Dort führte eine schmale Treppe neben der Kajüte auf das Dach derselben. Sie stiegen leise die Stufen hinan und sahen den Posten schlafend oben sitzen. Es erging ihm genau so, wie seinem Kameraden. Der Methusalem hatte sein Taschentuch herausgezogen, um ihn mit demselben zu knebeln; aber Gottfried sagte:

»Lassen Sie es in der Tasche! Wir brauchen unsere Jelegenheitstücher selber. Ich schneide ihm ein Stück von seinem Schlafrocke ab. Dat wird dieselben Dienste thun.«

So geschah es. Dann stiegen die beiden wieder hinab, um den Kameraden zu sagen, daß ihr Vorhaben glücklich ausgeführt worden sei.

»Nun haben wir noch zwei,« meinte Turnerstick, »den Hinterposten und den Steuermann. Dabei muß ich sein, des Steuers wegen. Es ist geraten, es festzubinden. Wir können keinen Mann entbehren.«

Jetzt wurde zunächst Liang-ssi in das kleine Kämmerchen nach Stricken geschickt. Dann begaben sie sich alle nach dem Hinterteile des Schiffes, hier führte auch eine Treppe hinauf auf das hohe Quarterdeck. Auf den Stufen derselben saß die Wache und - - schlief. Sie wurde leicht und ganz in derselben Weise wie die beiden anderen bewältigt.

Dann galt es noch dem Steuermanne, welcher jedenfalls wach war. Deshalb konnte man seiner nicht so leicht Herr werden, und doch mußte alles Geräusch vermieden werden, da der Ho-tschang unter ihm schlief.

»Wie fangen wir es an?« fragte Turnerstick. »Wenn wir - ah, ich bin ja als Chinese angezogen; er wird mich also für einen der Leute halten. Passen Sie auf! Sobald ich ihn habe, kommen Sie mit den Stricken nach.«

»Greifen Sie aber ja fest zu, daß er nicht schreien kann!«

»Keine Sorge! Die Kehle, welche ich in meine Hand bekomme, bringt sicherlich keinen Laut hervor.«

Während die anderen zurückblieben und nur heimlich über die Kante des Quarterdeckes lugten, stieg Turnerstick die wenigen Stufen hinan und ging stracks auf den To-kung zu. Dieser fragte ihn in mürrischem Tone, was er wolle. Er hielt ihn wirklich für eine der Wachen.

»Das kangst du noch frageng?« antwortete der Kapitän. »Ich will 'mal deinen Hals untersuching, Bursche. Da, warte, du erbärmlicher spitzbübischer Halunking!«

Während er diese prachtvolle chinesische Antwort gab, legte er ihm die Seemannshände um den Hals und drückte denselben so fest zusammen, daß der Steuermann lautlos zusammenbrach. Er wurde gefesselt und geknebelt wie die anderen.

»Das geht gut,« meinte Liang-ssi. »So leicht habe ich es mir nicht vorgestellt. «

»Na, so leicht, wie es den Anschein hat, ist es freilich nicht,« antwortete Gottfried. »Wenn Sie etwa dat Jejenteil behaupten, so versuchen Sie es nur einmal mit dem Ho-tschang, welcher nun wohl an die Reihe kommt. Da können Sie beweisen, daß Sie Mark und Enerjie besitzen.«

»Ich danke, ich danke! Ich würge keinen ab!«

»Wir auch nicht. Wir säuseln ihnen nur so ein bisken um die Gurjel, aberst leben lassen thun wir ihnen doch. Ich wenigstens habe keine Lust, mir als Mörder an dem Galjen offknobeln zu lassen. So wat ist meine Passion nie nicht jewesen, weshalb ich mir noch jetzt des besten Wohlseins erfreue.«

Der Methusalem forderte den Chinesen auf, ihm zu zeigen, wo der Ho-tschang mit dem Eigentümer des Schiffes schlafe. Das war unterhalb des Steuers in der Achterkajüte. Auch der Priester befand sich dort.

Es waren Stellen da, an denen die dünne Wand nicht schloß. Ein Lichtschein drang durch die Fugen. Degenfeld trat hinzu und blickte hinein. Er konnte nicht den ganzen Raum sehen, erkannte aber doch die drei Männer, welche auf dicken Strohdecken schliefen, die auf dem Fußboden lagen. Von der niedrigen Decke hing eine Papierlaterne herab.

»Die Dummheit und Sorglosigkeit dieser Menschen sind wirklich fast noch größer als ihre Schlechtigkeit,« sagte er. »Sie müssen vollständig überzeugt sein, uns fest im Sacke zu haben. Uns so zu behandeln und dennoch wie die Ratzen zu schlafen, das ist stark! Sie verlassen sich allzu sehr darauf, daß sie unsere Thür verrammelt haben. Schläft die Mannschaft unter ihnen?«

»Nein,« antwortete Liang-ssi. »Die Leute liegen im Mittelraum, also mehr nach vorn.«

»So können wir immerhin ein wenig Lärm riskieren, welcher sich auch gar nicht vermeiden läßt, da sie sich eingeriegelt haben. Gibt es starke Nägel und einen Hammer?«

»Ja, da wo die Stricke lagen.«

»Holen Sie das, während wir hier diesen Herrschaften einen guten Morgen sagen!«

Der Chinese ging. Degenfeld probierte, an welcher Stelle der Thür sich innen der Riegel befand. Dann stemmte er sich gegen dieselbe und sprengte die Thür auf. Die drei Schläfer erwachten und richteten sich halb auf. Der Blaurote hatte seine beiden Revolver gezogen, Gottfried ebenso, Richard den seinigen auch. Turnerstick folgte diesem Beispiele, und der Dicke, welcher seine beiden Flinten um keinen Preis verlassen hatte, hielt dieselben drohend in beiden Händen.

»Bleibt sitzen, oder ihr bekommt die Kugeln!« herrschte der Methusalem die Erschrockenen an, natürlich in ihrer Muttersprache. »Wer einen Laut hören läßt, ohne daß ich es ihm erlaubt habe, der ist verloren!«

Die Gesichter, welche sie zeigten, hätte kein Maler wiedergeben können. Sie starrten die Eingetretenen so entsetzt an, als ob sie Geister vor sich hätten.

»Sie - Sie sind es?« stammelte endlich der Ho-tschang. »Was wollen Sie?«

»Uns für das Opium bedanken, welches ihr uns beigebracht habt.«

»Opium? Was meinen Sie?«

»Stellen Sie sich nicht unwissend! Sie haben uns Opium in das Getränk gethan, um uns zu betäuben!«

»Das ist nicht wahr! Wir wissen nichts davon.«

»Es ist wahr!«

»Nein, Herr! Aus welchem Grunde hätten wir das thun sollen?«

»Um uns zu ermorden.«

»Tien-na! Himmel! Halten Sie uns für Mörder?«

»Allerdings. Meint ihr, wir wissen nicht, daß eure 'Schui- heu' eine Piratendschunke ist?«

»Herr, was sagen Sie! Ich werde sofort alle meine Leute kommen lassen, welche bezeugen können, daß wir ehrliche Menschen sind.«

Er wollte aufstehen. Der Methusalem hielt ihm den einen Revolver gegen die Stirn und gebot:

»Sitzen bleiben, sonst schieße ich! Ich glaube wohl, daß Sie Ihre Leute gern rufen möchten, aber nur, um uns zu überwältigen.«

»Herr, Sie irren sich wirklich! Der Himmel und die Erde sind meine Zeugen, daß Sie sich irren. Wir sind Ihre Freunde, haben wir Sie nicht höflich und gastlich bei uns aufgenommen und Sie sogar zum Kong-pit eingeladen?«

»Eingeladen haben Sie uns, aber nur in der Absicht, uns das Opium mit guter Manier beizubringen. Wir wissen das sehr genau.«

»Das ist nicht wahr. Wer hat uns gegen Sie verleumdet? Wir haben es gut gegen Sie gemeint; aber Sie sind es, welche unsere Freundschaft mit Undank vergolten haben. Sie haben drei meiner Leute erschossen und dabei noch einen vierten verwundet!«

»So hat die eine Kugel sogar zwei getroffen; das freut mich außerordentlich. Und wenn wir Ihre Leute erschießen, legen Sie sich ruhig schlafen? Zeugt das nicht gegen Sie? Wären Sie wirklich die ehrlichen Menschen, für welche Sie sich ausgeben, so hätten Sie uns als Mörder behandeln müssen und nicht eher ruhen dürfen, bis Sie sich unser bemächtigt hatten.«

»Das haben wir ja gethan! Sie befinden sich doch in unserer Gewalt, und wir haben Ihre Thür verrammelt.«

»Wie sehr wir uns in Ihrer Gewalt befinden, das sehen Sie jetzt. Und wann haben Sie die Thür verrammelt? Ehe wir schossen oder später? Warum haben Sie Löcher in unsere Thür gebohrt?«

»Um zu sehen, ob Sie schliefen.«

»Woher brauchten Sie das zu wissen? Auch das zeugt gegen Sie. Und warum schickten Sie dann einen Mann an der Schiffswand herunter nach unserer Luke?«

»Weil Sie uns nicht erlaubten, durch die Thür zu sehen.«

»Alberne Ausrede und Lüge! Der Mann sollte einen Hi-thu-tschang zu uns hereinwerfen! Warum sind Sie nicht bis zum Vormittage in Hongkong geblieben?«

»Sind wir denn nicht mehr dort?«

Er machte zu dieser Frage ein so dreist-dummes Gesicht, daß der Methusalem ihn empört anfuhr:

»Verstellen Sie sich nicht! So ein Kerl wie Sie bringt es nicht fertig, uns zu täuschen. Wäre Ihre Dummheit nicht so sehr groß, daß ich geradezu Mitleid mit derselben fühle, so würde ich Ihnen mit den Händen in das Gesicht schlagen. Sie sind von Anfang an darauf ausgegangen, sich unser zu bemächtigen. Warum haben Sie uns durch den Amerikaner belauschen lassen?«

»Amerikaner? Wen meinen Sie?«

»Den Menschen, welcher sich für einen Malaien ausgeben mußte.«

»Das ist er ja auch!«

»Er wird uns das beweisen müssen! Denn als er Ihnen unsere Reden mitgeteilt hatte, konnte Ihr Geist meine Frage allerdings leicht sehr beantworten.«

»Das kann er stets, der Geist ist allwissend.«

»Wirklich? Nun, ich habe es ja in der Hand, Ihnen das Gegenteil zu beweisen. Er hat Ihnen gesagt, daß Sie und wir alle glücklich nach Kanton kommen werden. Darin hat er sich nun leider doch geirrt, denn zwar wir werden Kanton sehen, Sie aber kommen nie im Leben wieder hin.«

»Wieso?«

»Weil man Sie in Hongkong ein wenig aufhängen wird, wie man mit Seeräubern zu verfahren pflegt.«

Der Ho-tschang blickte seine beiden Nachbarn an, als ob er Hilfe bei ihnen suche; sie wichen aber seinen Blicken aus und wagten auch nicht, ein Wort zu sprechen. Diese Menschen waren feig. Als er sah, daß sie ihm die Verteidigung überließen, beteuerte er:

»Herr, alles, was Sie uns vorwerfen, beruht auf einem großen Irrtum, welcher sich sofort aufklären läßt, wenn Sie mir erlauben, meine Leute zu rufen.«

»Ich brauche nur einen einzigen von ihnen, und der ist hier. Wollen Sie leugnen, daß er Ihr Gefangener ist?«

Liang-ssi war eingetreten, nachdem er erst vorsichtig hereingesehen hatte. Als der Ho-tschang ihn erblickte, verstummte er, warf aber einen wütenden Blick auf ihn.

»Nun, antworten Sie doch? Wozu sind die Kanonen unten in den Kisten?«

»Sollen denn Kanonen in den Kisten sein?« lautete die freche Gegenfrage.

»Allerdings!«

»Führen Sie uns hinab, so werde ich Ihnen beweisen, daß dies eine Lüge ist!«

»Dazu habe ich keine Lust, weil Ihre ehrlichen Matrosen dort schlafen. Uebrigens brauche ich meine Worte gar nicht an Sie zu verschwenden; Sie antworten doch nur mit Lügen. Aber in Hongkong wird man Sie schon zum Geständnisse bringen.«

»Gut, so lassen Sie mich hinaus! Das Schiff scheint sich losgerissen zu haben und mit der Ebbe in See gegangen zu sein. Ich werde es zurückführen, und dann bringen Sie Ihre Klagen bei dem Hing-kuan1) an!«

»Diesen Rat werde ich nicht befolgen. Um die Dschunke nach Hongkong zurück zu bringen, brauchen wir Sie nicht. Und wenn wir dort angekommen sind, werden wir zwar Klage erheben, aber nicht bei Ihrem Kuan, sondern bei unsern Konsuls. Ihnen werden wir auch das Schiff ausliefern.«

Die Kerls erbleichten.

»Herr, das dürfen Sie nicht!« rief der Ho-tschang.

»Warum nicht? Weil es Ihnen dann schnell an den Hals geht? O, wir kennen das Rechtsverfahren Ihres Landes! Wir haben keine Lust, auf die Entscheidung von sechs Untergerichten zu warten und dann noch zu erfahren, daß der Tutscha-yuen2) oder der Ta-li-sse3) Sie doch noch laufen läßt. Sie sind Räuber; das beweisen wir. Sie haben uns, die wir Ausländer sind, ermorden wollen, also gehört die Angelegenheit vor die Vertreter der Länder, deren Bürger wir sind. Und diese Konsuls werden dafür sorgen, daß Ihnen der Strick bald um den Hals zu liegen kommt! Gottfried, Kapitän, binden Sie die Kerls!«

Diese letztere Aufforderung wurde natürlich in deutscher Sprache gesprochen.

»Ik bind ook met!« sagte der Mijnheer. »lk ben ook daaraan - ich binde auch mit. Ich bin auch dabei.«

Und als die drei sich wehren wollten, hielt er dem Priester den Flintenlauf vor die Nase und rief:

»Sluit den mond, gij heidensch geestelyke! Wilt gij eene kogel in het aangezigt hebben - schließe den Mund, du Heidengeistlicher! Willst Du eine Kugel in das Gesicht haben?«

Das klang freilich drohend genug. Daneben stand der Methusalem mit den Revolvern und versicherte, bei einem etwaigen Hilferuf augenblicklich den Betreffenden zu erschießen. Das schüchterte die Chinesen so ein, daß sie sich binden und sogar auch knebeln ließen.

Nun galt es, sich der Mannschaft zu versichern. Turnerstick sagte, daß er höchstens zehn Mann zur Bedienung des Schiffes brauche. Die sollte Liang-ssi einzeln heraufschicken. Da bis jetzt alles so gut abgelaufen war, erklärte er sich dazu bereit und stieg durch die Mittellucke in den Raum hinab. Von seiner Klugheit hing das fernere Gelingen des Handstreiches ab. Hoffentlich war seine Verschlagenheit größer als sein Mut. Da er erklärt hatte, daß er die Leute zum Ho-tschang schicken werde, der ihn nach ihnen geschickt habe, so verbargen sich die Fünf hinter mehreren großen Körben und leeren Kisten, an denen die Leute vorüber mußten. Stricke waren nach Bedarf vorhanden.

Der Erste kam. Als er vorüber wollte, wurde er von Degenfeld und Gottfried gepackt. Der Schreck ließ ihn verstummen, und das übrige thaten die Drohungen, welche er zu hören bekam. Er wurde mit beiden Händen an den Vordermast gebunden.

Ebenso erging es den andern. Liang-ssi entledigte sich seiner Aufgabe auf das vortrefflichste. Er sagte einem jeden, daß er heimlich zum Ho-tschang kommen solle, ohne daß jemand es bemerken dürfe. Auf diese Weise schickte er nach und nach zehn Personen herauf, ohne daß die andern aufgeweckt wurden. Diese zehn wurden auf die beschriebene Weise festgenommen und an die Masten oder das Geländer gebunden.

Nach dem letzten kam er selbst wieder auf das Deck. Er fragte den Methusalem, ob dieser mit ihm zufrieden sei.

»Sie haben Ihre Sache weit besser gemacht, als ich es Ihnen zutraute,« antwortete Degenfeld. »Wie viele Ausgänge hat der Raum?«

»Nur diesen einen.«

»So nageln wir die Luke zu und wälzen einige von diesen schweren Körben darauf. Dann soll es keinem gelingen, den Deckel aufzusprengen.«

Nägel hatte der Chinese vorhin geholt. Als die Hammerschläge ertönten, erwachten natürlich die im Raume befindlichen Matrosen. Sie kamen die Lukentreppe herauf, um zu erfahren, was der Lärm zu bedeuten habe. Als sie nun erfuhren, daß die Luke vernagelt wurde, erhoben sie ein wildes Geschrei und versuchten, sie aufzusprengen, was ihnen aber nicht gelang. Sie konnten sich den Grund, weshalb der Ho-tschang dieses Experiment machte, nicht erklären, sagten sich aber, daß er jedenfalls eine Veranlassung dazu habe, und beruhigten sich durch den Gedanken, daß sie das Nähere bald erfahren würden. Ihr Rufen und Klopfen verstummte. Sie hatten sich wieder niedergelegt.

Dennoch beorderte der Methusalem Richard Stein an die Luke, um da als Wache zu bleiben, wozu der Knabe am besten verwendet werden konnte.

Jetzt war man so weit, daß der Kapitän seine Manöver beginnen konnte. Er stieg hinauf an das Steuer, um dieses zu regieren und von da aus seine Befehle zu erteilen, welche, wie er überzeugt war, den Matrosen sehr verständlich sein würden.

Diese letzteren sollten die Ausführung übernehmen und dabei von Degenfeld, Gottfried, dem Mijnheer und Liang-ssi überwacht werden. Wer sich nicht gehorsam zeigte, sollte augenblicklich erschossen werden. Dies wurde ihnen gesagt. Keiner von ihnen hatte eine Waffe, und die Fesseln wurden ihnen nur so weit gelockert, als unbedingt notwendig war. Darum sahen sie ein, daß sie sich fügen müßten, und verzichteten auf allen Widerstand. Jedenfalls war nebenbei ihre Verblüffung so groß, daß sie gar nicht auf den Gedanken kamen, sich zu wehren.

Turnerstick hatte dem Methusalem bedeutet, drei Matrosen an den Vor-, drei an den Hinter- und vier an den Großmast zu postieren. Diese Kräfte waren genügend, die Taue zu regieren, welche an die beiden Enden der Raaen, also an die Oberecken der Segel befestigt sind. Diese Taue werden bei uns Brassen genannt. Sie dienen dazu, die Segel horizontal zu bewegen, damit der Wind mehr oder weniger auf die Fläche derselben trifft. Die Brassen nach der Windseite heißen Luvbrassen; die andern werden Leebrassen genannt. Voll brassen heißt, die Segel so richten, daß sie den Wind senkrecht auf sich auffangen; in den Wind brassen oder lähnlich brassen heißt, die Segel so stellen, daß der Wind sie nur am Rande trifft.

Als der Kapitän sah, daß die Leute ihre Plätze eingenommen hatten, kommandierte er:

»Hoiho, ihr Jungengs, aufpasseng, aufpassing, aufpassong!«

Sie blickten nach ihm hin, verstanden ihn aber nicht. Als er die Gesichter der Hinterbordmannen auf sich gerichtet sah, fuhr er fort:

»All Hand an Steueringbording! Nehmt die Leebrasseng! Holt scharf an! Fest ziehen, zieheng, ziehing, ziehung!«

Sie standen da und wußten nicht, was sie machen sollten.

»Alle Teufling, könnt ihr nicht höring! Könnt ihr nicht chinesisch verstehung! Gebt die Luvbrasseng frei, und holt im Lee fest an! Anholeng, anholing, anholung!«

Jetzt nahmen Degenfeld und Liang-ssi sich der Sache an, indem sie die Befehle des großen Sinologen verdolmetschten. Die Befehle wurden ausgeführt, und zwar so leidlich, daß Turnerstick vom Steuer her fragte:

»Nun, Master Methusalem, was sagt man jetzt zu meinem chinesisch: Tüchtiger Kerl, der Heimdall Turnerstick, nicht? Kann in allen Dialekten kommandieren!«

»Ja, es ist erstaunlich!« antwortete Degenfeld.

»Habt mir's so gar nicht zugetraut, weiß es schon. Habe aber da mal Leute gefunden, welche das richtige Hochchinesisch im Kopfe haben. Paßt nur mal auf!«

Und mit donnernder Stimme gebot er weiter:

»Jetzt ganz in den Wind die Brasseng, ganz, ganz, vollständig, vollständang, vollständung! Legt sie fest, festlegang, festleging - leging - legang!«

Da der Befehl den Leuten wieder verdolmetscht wurde, was Turnerstick entweder gar nicht hörte oder doch nicht beachtete, so wurde er vollzogen.

»So ist's brav; so ist's gut!« rief er. »Fällt schon ab nach Steuerbord, die alte Dschunke. Macht so fort, ihr Bursche, Bursching, Burscheng, Burschung!«

Ganz ebenso ging es bei den folgenden Kommandos. Er brachte es wirklich so weit, daß das Fahrzeug ohne Fahrt zu biegen schien, band das Ruder fest und kam dann herabgestiegen, um die Matrosen wieder anbinden zu lassen.

Er klopfte Degenfeld auf die Achsel und sagte in vergnügtem Tone:

»Gar keine üblen Kerls, diese Chinesen! Habe es bisher gar nicht gedacht. Aber freilich ein deutliches Chinesisch muß man mit ihnen reden, sonst ist's eben nichts.«

»Dazu sind Sie ja der richtige Mann!«

»Will's meinen! Ja, meine Endungen, meine Endungen, bester Methusalem. Wenn doch auch Sie sich mit ihnen befreunden wollten! Dann könnten Sie sich diesen Leuten später auch mal verständlich machen.«

»Werde mich bemühen! Aber wie steht es? Die Dschunke macht doch einen Bogen?«

»Scheint nur so, scheint nur so. Sie liegt bei, ganz fest bei. Nun warten wir den Morgenwind, welcher bekanntlich nach dem Lande bläst, und die Flut ab. Dann geht's nach Hongkong zurück.«

»Sind wir weit davon entfernt?«

»Weiß es nicht genau. Habe keine Instrumente mit und kann mich auf die Karten dieses Ho-tschang nicht verlassen. Habe auch unser »In die See stechen« ganz verschlafen. Vermute aber, daß wir uns noch vor der Mirs-Bai befinden. Muß den Morgen abwarten.«

»So wollen wir, da es nichts zu thun gibt, uns um unsere vier ersten Gefangenen bekümmern.«

»Ja, sie liegen ohne Aufsicht und könnten sich losmachen. Schaffen wir sie alle in die Kajüte, in welcher der Ho-tschang: liegt. Da genügt ein Mann, sie zu bewachen.«

Dieser Vorschlag wurde ausgeführt. Dann wachte Richard an der Luke, Gottfried bei der Kajüte, und die andern beaufsichtigten die im Freien angebundenen Matrosen.

Was Hunderte für unmöglich gehalten hätten, war gelungen. Sechs Personen, Liang-ssi eingerechnet, hatten sich einer Piratendschunke bemächtigt, deren Bemannung eine zehnmal stärkere war. Die Freude darüber wirkte besser als alle Medizin. Die Reisenden fühlten keinen Kopfschmerz mehr; sie befanden sich so wohl, als ob es weder Sam-chu noch Opium gegeben habe.


1) : Justiz-Mandarin.
2) : Großuntersuchungsrichter.
3) : Kassationshof.


(Fortsetzung folgt.)



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