Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 19, Seite 289
Reprint Seite 127


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Degenfeld ging auf dem Deck hin und her. Er kam an Liang-ssi vorüber, blieb bei ihm stehen und sagte:

»Vorhin, als Sie zu uns in die Kajüte kamen, gab es keine Zeit zu eingehenden Erkundigungen. jetzt ist die Gefahr hoffentlich vorüber, und nun möchte ich Sie fragen, wie Sie mit unserem Landsmanne Stein bekannt geworden sind. Wie lange befinden Sie sich bei ihm?«

»Nach Ihrer Rechnung genau seit vier Jahren. «

»Ist die Provinz Hu-nan Ihre Heimat?«

»Nein. Ich stamme aus der Nachbarprovinz Kwéi-tschou.«

»Ah, das ist mir höchst interessant!«

»Das glaube ich, denn Kwéi-tschou ist die interessanteste Provinz des ganzen Reiches.«

»Warum?«

»Weil dort die Seng und Miao-tse wohnen.«

»Das ist richtig. Man hält sie für Ueberreste der Urbevölkerung von China, und sie sind seit mehr als drei Jahrtausenden dem spezifisch chinesischen Volkselemente fern und fremd geblieben. Aber das war es nicht, was ich meinte. Ich interessiere mich für diese Provinz, weil ich hin will.«

»Sie nach Kwéi-tschou? Herr, das ist gefährlich!«

»Mag sein, aber ich muß hin, denn ich habe es mit meinem Ehrenworte versprochen. Sind Sie dort bekannt?«

»Nicht allzu sehr, da ich die Heimat seit acht Jahren meiden mußte. Ihr Ehrenwort haben Sie gegeben?«

»Ja, mein Kong-Kheou.«

»Sogar Ihr Kong-Kheou? Wo ist das geschehen? Hier in China?«

»Nein, sondern in Deutschland, meiner Heimat.«

»Ist das möglich? Sind dabei auch Tsanhiang angebrannt worden?«

»Räucherstäbchen, ja.«

»Herr, so ist es ein wirklicher Chinese gewesen, welcher Ihnen das Kong-Kheou abgenommen hat!«

»Allerdings. Er war Kaufmann und hatte in der Stadt, in welcher ich lebte, einen Laden für alle möglichen chinesischen Artikel errichtet.«

»In Deutschland? Das ist seltsam. Bisher habe ich geglaubt, daß meine Landsleute nur nach dem Süden und Osten, also nach Indien, den Sundainseln und Amerika, nicht aber nach Europa gehen. Er muß sein Vaterland unfreiwillig verlassen haben.«

»Sie raten das Richtige. Er hat China als Flüchtling verlassen müssen.«

»Hatte er Familie?«

»Ja. Leider mußte er sie zurücklassen.«

»Dann wehe ihr, denn sie hat jedenfalls für ihn büßen müssen! Ich habe ganz dasselbe Unglück auch erfahren.«

»Sie? Mußte ein Verwandter von Ihnen fliehen?«

»Ja, mein Vater.«

»Wann?«

»Vor nunmehr acht Jahren. Ich war damals sechzehn Jahre alt.«

»Was hatte er gethan?«

»Nichts. Er war unschuldig. Sie werden vielleicht wissen, daß die Taipings eine neue Religion gründen und die herrschende Dynastie stürzen wollten. Fast wäre ihnen das gelungen. Es dauerte lange Zeit und kostete blutige Kämpfe, bis sie überwunden wurden. Sie lösten sich endlich in Banden auf, welche raubend das Land durchzogen und bis in die südlichen Provinzen kamen. Eine derselben warf sich auch nach Kwéi-tschou. Einer der Unteranführer war ein früherer Freund meines Vaters, suchte uns auf und wohnte einige Tage bei uns, ohne daß wir ahnten, daß er zu den Taipings gehörte. Man fand ihn bei uns. Er wurde arretiert und mein Vater mit ihm, obgleich derselbe seine Unschuld beteuerte und der Freund ihm bezeugte, daß er nichts gewußt habe. Beide wurden in das Sing-pu1) gebracht und dort wie wilde Tiere in Käfige gesperrt. Einer der Beamten wollte meinem Vater wohl, weil dieser ihm viel Gutes gethan hatte. Er schlich sich des Nachts zu ihm, öffnete den Kerker und ließ ihn entkommen. Der Vater kam für einige Augenblicke zu uns, um Abschied von uns zu nehmen. Seit dieser Stunde haben wir nichts von ihm gehört.«

Der Methusalem hatte diesen Bericht mit ungewöhnlicher Teilnahme vernommen.

»Sonderbar!« sagte er. »In welcher Stadt ist das geschehen?«

»In Seng-ho.«

»Und wie ist Ihr Geschlechtsname?«

»Pang.«

»Pang, in Seng-ho! Werden Sie mir erlauben, Sie nach Ihrem Milchnamen zu fragen, obgleich das eigentlich eine Unhöflichkeit ist?«

»Gern! Ich habe Ihnen meine Freiheit zu verdanken; wie könnte ich Ihnen da wegen dieser Frage zürnen! Mein Milchname ist 'Fuk-ku', was 'Ursache des Glückes' bedeutet. Die Eltern waren bisher kinderlos gewesen; darum gaben sie mir, ihrem Erstgeborenen, diesen Namen, um anzudeuten, daß sie nun glücklich seien.«

»Welch ein Zusammentreffen! Nicht wahr, Ihre Mutter hieß Hao-keu, lieblicher Mund?«

»Ja. Woher wissen Sie das?«

»Sie hatten noch einen Bruder und zwei Schwestern. Der erstere hieß Yin-Tsian, Güte des Himmels, und die beiden letzteren Méi-pao, schöne Gestalt, und Sim-ming, Herzenslicht?«

Der Chinese fuhr einen Schritt zurück und rief:

»Herr, was höre ich! Sie kennen die Namen meiner Verwandten!«

»Noch mehr! Nicht wahr, Ihr Vater heißt Ye-kin-li?«

»Ja, ja! Wer hat Ihnen diese Namen genannt?«

Da legte Degenfeld ihm die Hand auf die Achsel und antwortete:

»Sagen Sie mir zunächst, ob Sie stark genug sind, so ganz unvorbereitet eine für Sie hochwichtige und überraschende Neuigkeit zu hören.«

»Ist es eine traurige?«

»Nein, eine beglückende.«

»Nun, dazu bin ich stark genug. Die Stimme des Glückes vernimmt man stets gern.«

»Sie fragten, von wem ich die Namen gehört habe, und ich antworte Ihnen: Von Ihrem Vater.«

»Von - - ist's wahr, ist's wahr?«

»Ja. Er ist es, dem ich mein Kong-Kheou gegeben habe, daß ich nicht eher zurückkehren werde, als bis ich im stande bin, seine Familie oder wenigstens sichere Kunde derselben zu bringen.«

»Er lebt also, er lebt?«

»Er befindet sich wohl, und es geht ihm sehr gut.«

»O Himmel, o Himmel! Welch eine Nachricht, welch eine Botschaft!«

Er war ganz außer sich vor Entzücken. Er dachte zunächst nicht daran, sich nach dem Näheren zu erkundigen. Es war ihm einstweilen genug, zu wissen, daß sein Vater noch lebe. Er rannte fort und eilte zwei-, dreimal um das Deck. Dann endlich blieb er wieder vor dem Methusalem stehen und sagte:

»Herr, fast kann ich es nicht glauben. Acht volle Jahre habe ich vergeblich auf eine Nachricht von dem Verschollenen gewartet; ich mußte ihn für tot halten. Und nun höre ich so plötzlich, so ganz unerwartet, daß er in Deutschland lebt! Es ist ein Wunder! Es ist ein ebenso großes Wunder wie dasjenige, daß Sie zu Sei-tei-nei wollen, dessen Untergebener ich bin. Wie herrlich trifft beides zusammen! Mir ist, als ob ich träume!«

»Auch ich bin tief ergriffen, mein Freund. Ich fühle mich sehr glücklich, Sie gefunden zu haben, denn dadurch erspare ich eine lange Zeit des Suchens.«

»O, suchen werden Sie, werden wir doch noch müssen!«

»Wieso?«

»Sie sollen doch nicht nur mich, sondern auch die Mutter und die Geschwister finden?«

»Natürlich! Hoffentlich aber wissen Sie, wo sie zu treffen sind?«

»Nein, eben das weiß ich nicht.«

»Wie? Sie wissen das nicht? Sie sind von ihnen getrennt worden!«

»Ja. Ich habe ebenso lang, acht Jahre lang, sie weder gesehen noch etwas von ihnen gehört.«

»Wie ist das möglich?«

»Es ist sehr einfach. Sie wissen wohl, daß in China die Verwandten eines Uebelthäters sein Vergehen mit zu büßen haben?«

»Ja.«

»Es ist das wenigstens in den meisten Fällen so üblich. Als der Vater entkommen war, bemächtigte man sich unserer. Wir wurden eingesperrt, aber einzeln, damit wir nicht miteinander verkehren könnten. Ich und der Bruder sollten getötet werden, also die Strafe der Aufrührer erleiden. Man wollte unsere Köpfe auf die Mauer stecken. Die Mutter und die Schwestern aber sollten als Sklavinnen verkauft werden. Dieses Urteil wäre sofort vollstreckt worden, wenn es den Beamten nicht nach unserem Gelde gelüstet hätte.«

»Das war aber vergraben.«

»Woher wissen Sie das?«

»Von Ihrem Vater.«

»So muß er Ihnen sein ganzes Vertrauen geschenkt haben!«

»Er hat mich mit seiner Freundschaft gewürdigt, und ich werde mir alle Mühe geben, die Hoffnungen, welche er in mich gesetzt hat, zu erfüllen. Ich weiß, daß er Ihnen nur so viel Geld gelassen hatte, wie Sie zum Leben brauchten.«

»Das hat man uns abgenommen. Da aber mein Vater reich war, so wußte man, daß unser Vermögen beiseite gebracht worden sei. Wir sollten gestehen, wo es sich befände.«

»Das konnten Sie nicht, da Ihr Vater Ihnen den Ort nicht gesagt hatte.«

»Ja. Das war sehr vorsichtig von ihm, hat uns aber große Qualen verursacht, da wir gefoltert wurden.«

»Aber es hat Ihnen auch das Leben gerettet. Hätte man das Vermögen gefunden, so wären sie dann wohl sofort hingerichtet worden. «

»Jedenfalls. Also habe wenigstens ich mein Leben der Vorsicht meines Vaters zu verdanken; die andern aber werden wohl zu Tode gefoltert worden sein.«

»Wollen das nicht befürchten. So wie Sie gerettet worden sind, können auch sie die Freiheit wieder erlangt haben. Wie ist es Ihnen denn gelungen, aus dem Gefängnisse zu entkommen?«

»Durch denselben Freund, welcher meinen Vater befreit hatte. Er öffnete auch mir den Kerker, gab mir Geld, wies mich über die Grenze von Kwéi-tschou und nannte mir einen Ort, an welchem ich auf die Meinigen warten sollte. Sie sind nicht gekommen. Darum vermute ich, daß es ihm nicht gelungen ist, sie zu befreien.«

»Warum öffnete er nur Ihnen die Thür und nicht auch den Ihrigen zugleich?«

»Das war unmöglich, da wir zu weit voneinander getrennt waren.«

»Haben Sie nicht später Erkundigungen eingezogen?«

»Viel später, ja. Aber da war eine zu große Zeit vergangen, als daß ich etwas hätte erfahren können.«

»So hätten Sie es eher thun sollen.«

»Das ging nicht an. Ich konnte mich doch keinem Menschen anvertrauen, und selbst durfte ich mich so bald nicht nach Kwéi-tschou wagen. Als ich nach fünf Jahren mich so verändert hatte, daß ich glauben durfte, nicht erkannt zu werden, reiste ich nach Seng-ho. Der Freund war gestorben, und von den Meinen wußte kein Mensch etwas.«

»Das ist traurig für Sie und unangenehm für mich. Ich muß mein Wort halten und werde also unbedingt nach Seng-ho reisen, um zu versuchen, etwas zu erfahren. Auch habe ich den Auftrag erhalten, das Geld auszugraben und Ihrem Vater zu bringen.«

»Wissen Sie denn, wo es liegt?«

»Ja.«

»Das ist gut! Aber wird es sich auch noch dort befinden?«

»Ich hoffe es.«

»Darf ich den Ort erfahren?«

»Jetzt möchte ich noch nicht davon sprechen; doch zur geeigneten Zeit werde ich Ihnen ganz gewiß das Nötige mitteilen. Sind Sie bereit, Ihren Vater in Deutschland aufzusuchen?«

»Sofort! Das versteht sich ja ganz von selbst, zumal ich so glücklich bin, ganz leidlich deutsch sprechen zu können.«

»Das haben Sie bei Herrn Stein gelernt?«

»Ja. Er wollte seine Muttersprache hören. Er wollte einen Menschen haben, mit welchem er sich in derselben unterhalten könnte. Ich hatte mir seine Zufriedenheit erworben, und so wählte er unter allen seinen Leuten mich aus und gab mir Unterricht.«

»Ist er wirklich reich?«

»Sehr reich. Er ist der reichste Mann in Ho-tsing-ting.«

»Das kann nicht viel heißen, da diese 'Feuerbrunnenstadt' jedenfalls nur ein kleiner Ort ist.«

»Er war klein, ist aber, seit Herr Stein dort das Petroleum entdeckte, schnell groß geworden.«

»Und er will dort bleiben?«

»Er muß, wenn er nicht seinen ganzen Besitz verlieren will. Zwar sehnt er sich nach der Heimat, aber er findet niemand, welcher ihm die Quellen und alles, was dazu gehört, abkaufen würde. Fände er einen Käufer, so würde er sofort nach Deutschland gehen.«

»Ist er chinesischer Unterthan geworden?«

»Nein. Wäre dies der Fall, so hätte er sich nicht solchen Reichtum erworben. Die Mandarinen verstehen es, dafür zu sorgen, daß der Gewinn der Geschäftsleute zum großen Teile in ihre Taschen fließt. Er ist als nordamerikanischer Bürger gekommen und ist das noch. Er steht also unter dem Schutze der Vereinigten Staaten.«

Gottfried von Bouillon hatte gesehen, daß die beiden so angelegentlich miteinander sprachen. Er schloß daraus, daß sie etwas sehr Wichtiges miteinander zu verhandeln hätten, und so trieb ihn die Neugierde von seinem Posten weg und zu ihnen herbei.

»Wat gibt's denn da für eine Konferenz?« fragte er. »Darf ich mich erlauben, mal herzuhorchen?«

»Ja, alter Gottfried,« antwortete Degenfeld. »Auch du wirst dich freuen. Wir haben, ohne es zu ahnen, einen großen Schritt zur Erreichung unseres Zieles gethan.«

»Etwa mit den jewissen Siebenmeilenstiebeln?«

»Fast ist es so. Es hat sich nämlich soeben herausgestellt, daß dieser junge Mann der älteste Sohn unseres Freundes Ye-kin-li ist.«

»Wat? Wie? Wo? Unsers alten Ye-kin-li mit dat Kong-Kheou, der mir als Nieou-chi-tchin-chi-nieou geschumpfen hat? Liegt da nicht vielleicht ein Irrtum vor?«

»Nein, es stimmt.«

»Hat er seinen Impfschein vorjezeigt?«

»Ist nicht nötig. Er hat das Legitimationsexamen vollständig bestanden.«

»Dann jeschehen noch Zeichen und Wunder alltage und auch noch jetzunder! Sollte man es denken! Sie Chinesige sind der kleine Ye-kin-Ii! Wie ist dat denn eijentlich entdeckt worden?«

Er sprach vor Freude seine Frage so laut aus, daß der Dicke auch herbei kam und sich erkundigte:

»Wat krijscht de Godfrijd want zoo - was kreischt der Gottfried denn so?«

»Wat ich kreische?« meinte dieser. »Dat fragen Sie noch, Dicker? Sehen Sie sich mal diesen Sohn der Mitte an! Er ist janz derjenige, den wir hier suchen, nämlich der leibhaftige Isaak von dem Abraham, welchen wir daheim Ye-kin-li genannt haben!«

»Deshalve zijn zoon?«

»Ja, mithin sein Sohn! Wat sagen Sie dazu?«

»Wat ik zeg? Zull ik dat gelooven - was ich sag? Soll ich es glauben?«

»Natürlich! Er ist der Sohn unseres chinesischen Händlers. Wir haben ihn jefunden, ohne ihn noch jesucht zu haben!«

»God zij geprezen! Goeden morgen, mijn vriend! Ik ben Mijnheer van Aardappelenbosch. Ik heb gewild u ook met zoeken - Gott sei gepriesen! Guten Morgen, mein Freund! Ich bin Mijnheer van Aardappelenbosch. Ich wollte Sie auch mit suchen.«

Er schüttelte ihm beide Hände und war so erfreut, als ob ihm persönlich ein großes Glück widerfahren sei. Er hatte, wie die meisten dicken Leute, ein sehr gutes Herz und ein weiches Gemüt.

Auch Turnerstick und Richard kamen, um zu erfahren, warum so große Freude vorhanden sei. Der Methusalem aber trieb die unvorsichtige Gesellschaft schnell wieder auseinander. Es gab jetzt keine Zeit zu solcher Unterhaltung, da es galt, den Gefangenen die größte Aufmerksamkeit zu erweisen.

Zu diesem Zwecke ließ Degenfeld alle auf dem Verdeck vorhandenen Laternen anbrennen. Das war eine so große Zahl, daß die Beleuchtung dann fast einer richtigen Illumination glich.

Die Matrosen waren so fest angebunden, daß sie sich nicht losmachen konnten. Die Gefangenen in der Kajüte vermochten auch nicht, sich von ihren Stricken zu befreien, und unter Deck herrschte die vollständigste Ruhe. Die Leute schliefen ohne Ahnung, daß das Erwachen ihnen den größten Schreck bringen werde, den es für sie geben konnte.

Unter solchen Umständen wurde den sechs Personen ihr Wächteramt nicht schwer. Sie mußten auf den Schlaf verzichten; das war alles.

Der Landwind blieb bis gegen Morgen stet; dann holte er nach und nach um und schlief für eine kurze Weile ein. Als er wieder lebendig wurde, hatte er die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen. Er blies von der See nach dem Lande und nun war es für Turnerstick Zeit, die Matrosen wieder an die Brassen zu kommandieren, um das Schiff mit dem Seewinde nach dem Hafen zurückgehen zu lassen.

Der Tag graute und die Laternen wurden ausgelöscht. Man band die Matrosen los, und sie waren, wie schon in der Nacht, gezwungen, die Befehle des Kapitäns, welche ihnen in derselben Weise verdolmetscht wurden, auszuführen. Dann wurden sie wieder angebunden.

Freilich waren die Gesichter, welche sie dabei machten, keineswegs freundlich. Sie gehorchten nur, weil sie die Waffen auf sich gerichtet sahen. Malaiische Seeleute, die es ja in jenen Gegenden häufig gibt, hätten sich ganz anders verhalten; diese hätten selbst den Gewehren und Revolvern getrotzt. Der Chinese aber ist nur dann ein Held, wenn es keine Gefahr für ihn gibt, oder wenigstens wenn er mit ziemlicher Sicherheit auf das Gelingen rechnen kann.

Es wurde bald so hell, daß man den ganzen Gesichtskreis überblicken konnte, und da sahen die Männer denn, daß die Dschunke nicht das einzige Schiff war, welches sich in demselben befand. Hinter ihnen stieß ein Dampfer seine Rauchwolken aus den mächtigen Schloten.

Degenfeld stieg zu dem Kapitän hinauf, welcher am Steuer stand, und fragte:

»Was für ein Schiff mag das wohl sein, Master?«

»Das kann Ihnen jedes zweijährige Kind sagen. In einer Viertelstunde hat es uns eingeholt und wird uns ansprechen. Es ist ein Kriegsschiff.«

»Sehr scharf gebaut, wie es scheint.«

»Was heißt scharf bei dieser neuen Sorte von Seejungfern! Es ist ein Kreuzer, aus Stahl gebaut. Möchte mit dem Kerl nicht in Konflikt geraten. Kommt uns aber eben recht.«

»Wieso?«

»Wieso? Was für eine Frage! Habe so meine Sorge gehabt, wenn ich es auch nicht sagte. Sie sind nicht Seemann und wissen nicht, was es heißt, wenn sich unter den Kerls da im Raume der Dschunke ein einziger gescheiter und unternehmender Kopf befände. Gelänge es ihnen, die Luke aufzubrechen, so wären wir verloren.«

»Mit so mathematischer Sicherheit, wie Sie meinen, doch wohl nicht!«

»Pah! Wer's nicht kennt, der unterschätzt natürlich die Gefahr. Wir brauchen noch Stunden, um in den Hafen zu kommen. Wer weiß, was indessen geschehen könnte. Wenn die Halunken munter werden, werden Sie etwas zu hören bekommen. Darum ist mir's lieb, daß dort der Gepanzerte kommt. Wir werden uns natürlich in seinen Schutz begeben. Dann sind wir aller Sorgen los.«

»Ja, wenn Sie so meinen, so gebe ich Ihnen vollständig recht. Dann ist für uns nicht die geringste Gefahr mehr vorhanden.«

»Wenn es hier einen Signalkasten gäbe, würde ich den Kreuzer ersuchen, sich mehr zu beeilen. Wie es scheint, schenkt er uns ohnedies seine Aufmerksamkeit. Er hielt erst nach Luv, ist aber, als er uns erblickte, so weit nach Lee abgefallen, daß er uns, wenn es ihm beliebt, mit dem Ellbogen streifen wird. Sehen Sie jetzt die Rauchwolken? Er gibt mehr Dampf. Das ist ein sicheres Zeichen, daß er uns nicht traut. Wir befinden uns jedenfalls nahe der Küste, und er denkt, daß wir ihm zwischen den Untiefen entkommen wollen. Dazu will er uns nicht die Zeit lassen. In zehn Minuten ist er da.«

»Welche Flagge führt er?«

»Hat noch keine, wird sie aber in dem Augenblicke zeigen, an welchem er uns guten Morgen sagt. Passen Sie auf!«


1) : Kriminalgebäude.


(Fortsetzung folgt.)



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