Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 29, Seite 449
Reprint Seite 176


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Als die Schritte verklungen waren, fragte der Tong-tschi den nun von der Schuld befreiten Juwelier:

»Deine Ehrlichkeit ist bestätigt worden. Bist du nun zufrieden?«

»Ja, mächtiger Beschützer. Aber ich verlange, daß Wing-kan auf das Strengste bestraft werde!«

»Er wird seiner Strafe nicht entgehen.«

»Aber Ihre gebietende Stimme hat nur von Verbannung gesprochen!«

»Ja, dann bist du den Feind los. Oder ist dir das noch nicht genug?«

»Ich glaubte, der Tod sei auf dieses Verbrechen gesetzt!«

Er hatte das in unzufriedenem Tone gesprochen. Da trat der Mandarin näher zu ihm heran und sagte mit gedämpfter Stimme:

»Wünschest du seine Hinrichtung, gut! Aber dann wird der Richter auch erfahren, daß die Götter erst in deinem Garten gewesen sind, und er wird fragen, wer sie von da herübergeschafft hat. Wird dir das willkommen sein?«

»Nein, nein!« antwortete Hu-tsin schnell.

»So schweige und gönne dem Feinde nicht mehr, als er bekommt! Du hast dich in einer sehr großen Gefahr befunden. Ich will nicht wissen, wie alles geschehen ist; aber dieser fremde Kuan-fu hat dir das Leben gerettet, dir und allen den Deinen. Ein Bewohner dieses Landes hätte nicht gewagt zu thun, was er gethan hat. Beuge dich vor seiner Güte und denke an ihn mit der Dankbarkeit, welche er von dir erwarten kann! Dazu aber überlege dir, wie viele Personen du verderben würdest, wenn es dir in den Sinn käme, die Geschichte von den gestohlenen Göttern so zu erzählen, wie sie sich eigentlich ereignet hat!«

Er drehte sich um und schritt durch den Garten dem Hause zu. Die andern folgten ihm. Dabei ergriff Hu-tsin die Hand des Methusalem und fragte ihn:

»Wird mein geehrter und bejahrter Freund Wort halten und mich morgen besuchen, wie er es mir versprochen hat?«

»Ja, ich komme,« antwortete der Blaurote.

»Wann?«

»Am Vormittage, noch ehe ich mir die Stadt ansehe.«

»Ich weiß nicht, weshalb Sie nach Kuang-tschéu-fu gekommen sind; aber vielleicht ist es mir dennoch möglich, Ihnen nützlicher zu sein, als Sie es jetzt für möglich halten. Der mächtige Tong-tschi hat recht. Sie haben mich und meine Familie vom Verderben errettet. Ich werde Ihnen ein Geschenk geben, dessen Wert Ihnen vielleicht von großem Nutzen sein wird.«

Draußen stieg der Mandarin wieder in die Sänfte, und seine Gäste thaten desgleichen. Auf der Straße standen die Leute noch in einzelnen Gruppen beisammen und blickten neugierig auf die Palankins. Sie sagten sich, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein müsse, um den Tong-tschi zu so später Stunde zum Besuch seiner beiden Nachbarn zu bewegen, doch ließen sie kein lautes Wort vernehmen.

Daheim angekommen, forderte der Mandarin den Methusalem auf, ihn zu begleiten. Er führte ihn in eine Stube, welche das Studier- und Arbeitszimmer des Beamten zu sein schien. Dort forderte er ihn auf, sich ihm gegenüber zu setzen. Seine Miene war eine ernste, ja sogar feierliche.

»Bevor wir uns zum Tsau-fan1) begeben,« sagte er, »muß ich Ihnen eine Mitteilung machen. Sie haben mich genötigt, Ihnen dankbar zu sein, aber Sie haben mich beinahe um Amt, Eigentum und Leben gebracht. Seien Sie nie wieder so unvorsichtig wie heute!«

»Verzeihen Sie!« bat der Student. »Ich glaubte gerade, sehr vorsichtig gehandelt zu haben.«

»Im Gegenteile! Sie hätten mir alles aufrichtig erzählen sollen.«

»Das wollte ich auch.«

»Haben es aber nicht gethan!«

»Weil Sie nicht daheim waren und ich doch handeln mußte. Hätte ich auf Ihre Rückkehr gewartet, so wäre inzwischen der Anschlag Wing-kans gelungen.«

»Ich hätte dennoch Mittel gefunden, ihn zu überführen und Hu- tsin zu retten. Doch, Geschehenes kann man nicht ändern. Ich hoffe, daß die drei Verbrecher bei ihrer Aussage bleiben. In diesem Falle kann Ihnen und mir nichts geschehen. Fällt es ihnen aber ein, die Wahrheit zu erzählen, so werden Sie mit in diese Angelegenheit verwickelt, und auch mir droht große Gefahr, da Sie mein Gast sind und ich für Sie verantwortlich bin, sogar mit meinem Leben. Sollte das letztere geschehen, so ist Ihre schleunige Flucht notwendig, und für diesen Fall will ich Ihnen einen Kuan2) geben, welcher von der höchsten Behörde unterzeichnet ist, nach dem Gesetze nur hohen Mandarinen und sehr vornehmen Fremden ausgestellt wird und hoffentlich die Wirkung besitzt, Sie aus jeder Gefahr zu retten, so wie Sie mich gerettet haben. Ich verdanke Ihnen nicht nur mein Leben, sondern weit mehr. Erführe man, daß ich in einer Piratendschunke gefangen gewesen bin, so wäre es um mich geschehen. Darum will ich auch für Sie etwas thun, was ich an keinem Zweiten jemals wieder thun werde.«

»Darf ich mich bei dieser Gelegenheit erkundigen, was mit den Piraten geschehen wird?«

»Sie werden an uns ausgeliefert und dann hingerichtet.«

»Und glauben Sie, daß Wing-kan und seine Mitschuldigen mit dem Leben davonkommen?«

»Ja. Mein Einfluß reicht so weit, daß sie nur in die Verbannung geschickt werden. Doch jetzt zu Ihrem Paß, den Sie stets bei sich tragen müssen und nie von sich legen dürfen.«

Er öffnete einen mit mehreren Schlössern verwahrten Kasten und nahm ein großes, mit Charakteren bedrucktes Papier hervor, welches mit mehreren Siegeln versehen war. Auf die unbeschriebenen Zellen trug er die Namen des Methusalem und dessen Gefährten ein, die dieser ihm nennen mußte. Dann las er ihm das Dokument vor. Der Inhalt war in deutscher Uebersetzung folgender:

»Im Namen und Auftrage

K u a n g - s u,

des allmächtigen Herrschers im Reiche der Mitte, des Lichtes der Weisheit, des Brunnens der Gerechtigkeit, des Quells der Gnade und Barmherzigkeit wird hiermit allen Unsern Ländern, Völkern und Beamten zu wissen gethan, daß

Me-thu-sa-le-me De-ge-ne-fe-le-de

der große, berühmte und machtvolle Abgesandte aus dem Reiche der Tao-tse-kue die Erlaubnis besitzt, in allen Unseren Provinzen zu reisen, wie und so lange es ihm beliebt. Seine erlauchten Begleiter sind

Tu-lu-ne-re-si-ti-ki,
Go-do-fo-ri-di,
A-ra-da-pe-le-ne-bo-scho,
Sei-dei-nei und
Liang-ssi,

lauter Herren und Männer, welche die höchsten litterarischen Grade besitzen und alle Prüfungen mit Ehren bestanden haben.

Es ist Unser Wille, daß sie in ihrer Heimat mit Stolz und Genugthuung von der Bildung und den Vorzügen Unserer Nationen berichten können, und darum ergeht an alle Behörden und Beamten der strenge Befehl, sie Unseren außerordentlichen Gesandten gleich zu achten, ihren Befehlen ohne Widerrede zu gehorchen und ihnen in allen ihren Angelegenheiten förderlich zu sein.

Besonders wird denjenigen, die dem

Me-thu-sa-le-me

die schuldige Achtung verweigern, die schnellste Strafe angedroht, und er wird, um sofortige Anzeige erstatten zu können, hiermit mit dem Range eines Schun-tschi-schu-tse bekleidet, ohne indessen gezwungen zu sein, die Kleidung seines Landes abzulegen und die Abzeichen dieses Ranges zu tragen.«

Unterzeichnet war der Paß von dem Nei-ko, dem großen Sekretariat in Peking. Unter einem Schun-tschi-schu-tse versteht man einen allerhöchsten Beamten, welcher als Vertrauensmann des Kaisers die Erlasse und Entscheidungen des Monarchen zu redigieren hat.

Eine bessere Legitimation konnte der Methusalem sich gar nicht wünschen. Nur zweifelte er, ob man derselben auch Folge leisten werden. Darum fragte er:

»Wird man diesen Kuan auch wirklich so achten, als ob er von einem hohen Mandarin vorgezeigt wird?«

»Ganz gewiß. Ein Schun-tschi-schu-tse steht über dem höchsten Mandarin. Daß Sie ein Fremder sind, ändert nichts an der Achtung, welche diesem Kuan entgegengebracht werden muß. Man wird alle Ihre Befehle sofort ausführen.«

»Und wenn ich aber etwas verlange, was gegen die Gesetze dieses Landes ist?«

»Selbst dann wird man Ihnen gehorchen. Wenn Sie einmal in Gefahr sind, können Sie nicht durch, sondern gegen das Gesetz gerettet werden. Darum muß ich Sie mit einer Macht ausrüsten, welche über den Regeln unseres Landes steht. «

»Aber die Verantwortung wird und muß dann später Sie treffen, der Sie mich mit diesem Kuan ausgerüstet haben!«

Der Chinese zog ein unbeschreiblich verschmitztes Gesicht. Er blickte eine Weile still vor sich nieder und antwortete dann:

»Kommt es in Ihrem Lande nicht auch vor, daß ein Beamter in die Gefahr gerät, alles, sein ganzes Eigentum und auch das Leben zu verlieren?«

»Sein Eigentum, wenn er es unrechter Weise erworben hat, sein Leben, wenn er eines Mordes überführt wurde und infolgedessen zum Tode verurteilt wird.«

»Nur dann? Glückliches Land und glückliche Mandarinen, die in demselben wohnen! Hier trachtet jeder nach Reichtum und nimmt denselben von seinem Untergebenen. Habe ich mir ein Vermögen erworben, so bin ich keinen Tag sicher, daß mein nächster Vorgesetzter mich eines schweren Verbrechens, mag ich dasselbe nun begangen haben oder nicht, überführt, mich enthaupten läßt und mein Vermögen konfisziert. Für diesen Fall ist es gut, einen solchen Kuan zu besitzen. Nur mit seiner Hilfe kann man Rettung durch die schleunigste Flucht finden.«

»Und solche Kuans bekommen Sie vom Nei-ko in Peking?«

»Ja, aber nicht offiziell. Sie sind klug genug, mich zu verstehen!«

Der Methusalem verstand ihn wohl. Das Blankett war entwendet, war gestohlen. Jedenfalls befand der Mandarin sich im Besitze noch mehrerer solcher Pässe. Hätte er nur diesen einen besessen, so wäre es ihm gar nicht eingefallen, einen Fremden mit demselben zu unterstützen.

»Sie sehen also,« fuhr der Chinese fort, »daß mich keine Verantwortung treffen kann. Sie werden nicht verraten, daß ich Ihnen diesen Kuan ausgestellt habe. Nur das Nei-ko hat das Recht, eine solche Legitimation zu verfassen. Man hat derselben auf alle Fälle zu gehorchen. Zweifelt eine Behörde an der Echtheit derselben oder daran, daß Sie sie rechtmäßiger Weise besitzen, so fragt sie in Peking an, und ehe von dort die Antwort kommt, sind Sie längst von dannen.«

»Aber in meinem Vaterlande ist es nicht erlaubt, sich falscher Pässe zu bedienen!«

»Hier auch nicht. Aber dieser Paß ist nicht falsch. Es stehen Ihre Namen darin. Sie haben ihn von mir erhalten. Ob Sie sich seiner bedienen wollen oder nicht, das ist nun Ihre Sache. Ich wiederhole, daß er Ihnen alle möglichen Vorteile bringen wird. Er öffnet Ihnen selbst des Nachts alle Thüren und Straßenpforten, nur nicht diejenigen eines Gefängnisses.«

»Dazu bedarf es anderer Legitimationen?«

»Ja, dieser hier.«

Er deutete nach der Wand, an welcher mehrere große, gelbe Münzen hingen, auf denen der Methusalem die erhabene Figur eines Drachen und darunter einige kleine Schriftzeichen bemerkte.

»Wer das vorzeigt,« fuhr er fort, »hat zu jeder Tageszeit und beim schlimmsten Verbrecher Zutritt. Mit Hilfe einer solchen Münze werde ich unseren heutigen drei Gefangenen zur Verbannung verhelfen.«

Auch jetzt verstand der Student ihn ganz genau. Er wollte des Nachts in das Gefängnis gehen und die drei Personen entfliehen lassen. In diesen Münzen also bestand der »Einfluß«, von welchem er vorher gesprochen hatte.

Jetzt erhob der Mandarin sich von seinem Stuhle und verabschiedete seinen Gast:

»Sie haben nun den Paß. Mag kommen, was da will, so kann ich wegen Ihnen unbesorgt sein. Jetzt gehen Sie! Man wird mit dem Essen auf Sie warten. Ich selbst kann Sie nicht begleiten, da ich noch zu arbeiten habe.«

Als Methusalem sein Zimmer erreichte, stand dort ein Diener seiner wartend, um ihn in das Speisezimmer zu führen. Dort waren seine Gefährten außer Liang-ssi, welcher fehlte, versammelt.

Das Essen bestand in Gerichten, welche den europäischen ähnelten. Auch Messer und Gabeln waren vorhanden. Es schien, daß der Mandarin doch zuweilen einen Europäer bei sich zum Essen sah.

Nach beendigter Tafel erhielten die Gäste Tabakspfeifen. Sie blieben noch ein Stündchen beisammen, und da fand sich endlich auch Liang-ssi wieder ein. Befragt, wo er gewesen sei, antwortete er:

»Im Garten. Es gab da Interessantes zu beobachten.«

»Was?« erkundigte sich Methusalem.

»Man konnte da sehen, auf welche Art und Weise die Mandarinen reich werden. Sie wissen vielleicht, daß das Vermögen jedes Verurteilten dem Staate verfällt?«

»Ja.«

»Nun, der Tong-tschi scheint den Juwelier Wing-kan bereits als verurteilt zu betrachten. Er hat auch dessen Gehülfen und Diener arretieren lassen. Nun befindet sich kein Mensch mehr im Nachbarhause, und er räumt den Laden aus.«

»Selbst?«

»Nein. Das würde sich nicht mit seiner hohen Stellung vertragen. Seine Diener steigen draußen im Garten herüber und hinüber und schleppen alles Wertvolle herbei. Wenn dann morgen früh der Kriminal-Kuan kommt, um die Konfiskation vorzunehmen, ist nur noch das Minderwertige vorhanden.«

»Aber Wing-kan muß doch wissen, was er besessen hat!«

»O, Herr, den wird niemand fragen. Und was er sagt, das gilt als Lüge. Vielleicht lebt er morgen gar nicht mehr, damit durch seine Aussage nicht verraten werden kann, daß unser Mandarin schon heute zugegriffen hat.«

»Hm! Der will ihn entfliehen lassen!«

»Sagte er das? Ich glaube es. Der Gefangene kann nur entfliehen, indem er alle seine Habe im Stiche läßt. Und wenn er fort ist, so ist es unmöglich, dem Tong-tschi zu beweisen, daß er heut abend den Laden des Gefangenen halb ausgeräumt hat. O, diese Mandarinen stehlen alle!«

»Schöne Jeschichte!« lachte Gottfried von Bouillon. »Dat könnte in Deutschland nicht die Möglichkeit sind. Wie ist es denn in Holland, Mijnheer?«

»Daar muisen de Mandarins ook niet - da mausen die Mandarinen auch nicht,« antwortete. der Dicke.

»Und jedenfalls werden dort auch keine Jötter jestohlen. Solche Tollheiten können doch nur hier vorkommen. Uebrigens möchte ich mir doch jern mal in so einen Jötzentempel umsehen. Ist dat möglich oder nicht?«

»Warum nicht?« antwortete der Blaurote. »Die Chinesen sind nicht wie die Muhammedaner, welche ihre Moscheen von keinem Andersgläubigen betreten lassen. Es kommt sogar sehr häufig vor, daß hier die Tempel als Herbergen benutzt werden. Vielleicht haben auch wir noch das Vergnügen, einmal in einem solchen zu übernachten.«

»Und jrad den möchte ich mich betrachten, aus welchem die Jötzen jestohlen worden sind. Welchen Namen hatte er?«

»Pek-thian-tschu-fan, das heißt Haus der hundert Himmelsherren.«

»So sind wohl hundert Jötter drin?«

»Mit solchen Zahlen darf man es hier nicht genau nehmen. Doch gibt es Tempel, in denen sich mehrere hundert Bilder oder Figuren befinden.«

»Pek - pek - pek - - wie war der Name?« fragte Turnerstick.

»Pek-thian-tschu-fan.«

»Armseliges Chinesisch! Es ist da nicht eine einzige Endung dabei. Habe mich vorhin schrecklich geärgert. Stand mit im Garten und habe das ganze Verhör mit angehört, aber kein einziges Wort verstehen können. Finde überhaupt, daß man hier in der Stadt ungeheuer undeutlich spricht. Die Leute machen es sich viel zu schwer. Sollten von mir Unterricht nehmen. Wollte ihnen schon die richtigen Endungen beibringen!«

»Ich möchte Sie als Lehrer sehen,« lachte der Student.

»Meinen Sie etwa, daß ich nichts fertig brächte?«

»O doch! In Beziehung auf die Endungen würden Sie sogar Großartiges leisten.«

»Das wollte ich meinen!«

»Aber die Stammworte, die Stammworte! So ein Wort hat oft eine gar vielfältige Bedeutung. So heißt zum Beispiel das Wort Tschu soviel wie Herr, Pfeiler, Stock, Küche, Stütze, Schwein, alte Frau, zubereiten, verrichten, brechen, spalten, reparieren, freigebig, wenig, geneigt, naß machen, Gefangener, Sklave etc., je nachdem es weicher oder härter, gedehnter oder rascher, leiser oder schärfer ausgesprochen wird. Und jede dieser verschiedenen Bedeutungen hat dann wieder ihre figürliche Anwendung, so daß es die allerfeinste Modulation erfordert, um wissen zu können, was gemeint ist. So hat das Grußwort sching noch weit über fünfzig andere Bedeutungen, unter denen Dinge, Eigenschaften und Thätigkeiten vorkommen, welche einander ganz und gar entgegengesetzt sind.«

»Und das soll man an der Aussprache hören?«

»Eigentlich sollte man es. Da aber selbst die Sprechwerkzeuge eines Chinesen oft nicht dazu ausreichen, so fügt man im Falle des Zweifels ein erklärendes Wort dazu. Fu heißt Vater, hat aber noch mehrere andere Bedeutungen. Soll es nun als Vater gebraucht werden, so fügt man das Wort Tschin, Verwandtschaft, hinzu; dann heißt es Fu-tschin, Fu, der Verwandte, der Vater.«

»Bleiben Sie mir mit allen Ihren Fu-tschins vom Leibe! Ich lobe mir meine Endungen. Wenn ich sage, 'meining geliebtang Freundeng', so weiß jedes Kind, was ich meine, ohne daß ich meine Zunge übermäßig anzugreifen brauche. Hoffentlich finde ich bald einen wirklich gut sprechenden Chinesen, mit dem ich mich gut unterhalten und Ihnen beweisen kann, daß meine Grammatik die richtige ist. Für heut aber stimme ich unserm Gottfried bei, daß wir morgen den Tempel besuchen wollen. Auch ich bin begierig, ein solches Haus zu sehen.«

»Wir werden uns überhaupt die Stadt besehen und da an manchem Tempel vorüberkommen. Es wird wohl ein bewegter Tag werden, und so schlage ich vor, uns jetzt zur Ruhe zu begeben.«

Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall und wurde sofort befolgt.

Das Bett, welches für den Methusalem bereitstand, war niedrig, fein lackiert und mit Blumen sehr kunstvoll bemalt. Die Matratze war mit einem seidenen Tuche überdeckt; als Kopfkissen diente eine gestickte, mit wohlriechenden Kräutern gefüllte Rolle, und die Decke bestand aus gesteppter Seide mit weicher Ziegenhaareinlage. Von Seide waren auch die Vorhänge, welche das Bett von drei Seiten außer der Wand einfaßten, und in einem kostbaren Bronzeleuchter brannte eine Nachtkerze, vor welcher ein durchscheinender Schirm stand, dessen Malerei eine Landschaft vorstellte, über welche der Mond sein magisches Licht ergoß. Der Mond aber bestand in der Kerzenflamme hinter dem Gemälde.


1) : Abendessen, wörtlich: Abendreis. Tsche-fan Morgenreis, Frühstück.
2) : Paß


(Fortsetzung folgt.)



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