Der Gute Kamerad
3.Jahrgang, No. 40, Seite 625
Reprint Seite 230


oder

Kong-Kheou, das Ehrenwort.

Von K. May.

Verfasser von "Der Sohn des Bärenjägers", Geist der Llano estakata".

(Fortsetzung.)

Noch waren alle beisammen, als ein Diener hereintrat und jedem einen Zettel überreichte, welcher eine halbe Elle breit und zwei Ellen lang war und eine Einladung zum Abendessen enthielt. Diese Zettel waren dann als Servietten oder Mundtücher zu benutzen.

Als sie dann den Speisesaal betraten, wurden sie von dem Mandarin empfangen, welcher sich in großer Gala befand. Er wies einem jeden seinen Platz an. Für die sieben Gäste waren acht Stühle vorhanden. Auf dem achten nahm nicht etwa der Hausherr Platz, sondern dieser letztere postierte sich an die eine Wand des Saales, um die Diener zu dirigieren, von denen jeder Gast seinen besonderen bekam.

Als sich alle gesetzt hatten, deutete der Mandarin auf den Hund und sagte:

»Soll der Urahne sich nicht auch setzen? Es ist ja ein Stuhl für ihn vorhanden.«

Degenfeld bemühte sich, ernst zu bleiben. Er gab dem Neufundländer einen Wink und dieser sprang sofort auf den leeren Stuhl und beschaute die schriftliche Einladung, welche sein Diener vor ihn hinlegte. Das sah so drollig aus, daß Turnerstick lachen wollte, was ihm aber von dem Methusalem mit einigen Worten verwiesen wurde.

Nun wurde der erste Gang aufgetragen, welcher aus einer delikaten Fischsuppe bestand. Der Hund beroch seinen Teller. Die beigefügten Gewürze waren seinem Instinkte, seiner Natur zuwider; darum wendete er sich ab; aber auf einen Wink und ein beigefügtes Wort seines Herrn überwand er sich und leckte gehorsam den Teller leer.

Ganz dasselbe geschah bei den übrigen Gängen. Der Neufundländer war wohlgezogen und hatte früher schon manches genießen müssen, was andere Hunde versagt hätten. Wenn ihm eine Speise nicht behagte, so sah er seinen Herrn an, und sobald dieser den Finger hob, fraß er sie auf.

In dieser Weise machte das Tier das ganze Nachtmahl mit durch und wurde dabei mit einem Eifer und einer Ehrerbietung bedient, als ob es den Rang eines hohen Mandarinen bekleide. Ob der Hausherr dieses Arrangement aus Ironie getroffen hatte, das war dem Methusalem sehr gleichgültig. Es wurde alles in ernster Würde verzehrt, ohne daß dabei jemand ein Wort der Unterhaltung hören ließ, und der Hund zeigte diese Würde in nicht geringerem Grade als seine menschlichen Mitgäste.

Am Schlusse des Mahles überreichte der Mandarin dem Methusalem das gewünschte Verzeichnis der Speisen und fragte dabei, ob er sich der Zufriedenheit seiner hohen Gäste erfreuen dürfe. Er erhielt eine bejahende Antwort, und das mit vollem Rechte. Dann bat er um die Erlaubnis, sich zurückziehen zu dürfen, da er zu gering sei, mit seiner Anwesenheit die Erleuchteten belästigen zu dürfen. Es wurde ihm in gnädigen Worten erlaubt. Natürlich war er froh, von dem Zwange befreit zu sein, welchem er bei ihnen unterworfen war.

Nun gab es noch eine Art Wein, aus gegorenem Reis bereitet, welcher heiß präsentiert wurde. Es war kein wohlschmeckendes, sondern ein sehr fades Getränk, welchem die Gäste dadurch zu entgehen suchten, daß sie baldigst aufbrachen, um sich zur Ruhe zu begeben.

Daß der Mijnheer sich mit dem Essen sehr zufrieden zeigte, verstand sich ganz von selbst. Bald schnarchte er ebenso laut wie auf dem Tausendfuße.

Der Neufundländer hatte noch nie ein solches Lager gehabt wie heute. Er blickte seinen Herrn ganz verwundert an, als dieser ihn in das Bett kommandierte, säumte aber gar nicht, diesem Befehle Gehorsam zu leisten.

»Ja,« sagte der Gottfried, welcher dabei stand, »heut jeht's hoch her bei dich, denn du bist ein urahniger Jebieter mit vier Füße und einem Schweife. Aberst komm nur wieder nach Hause! Da schläfst du wie vorher bei mich auf dem Strohdeckel, und wenn du etwa von China träumst, so jibt es Hetzpeitsche ohne Schmorkartoffel. Jehab dir wohl, und verschlafe dir nicht, denn morjen fliegen wir zeitig aus dem Nest! Jute Nacht auch Sie, oller Methusalem! Ich habe noch die Pipe zu reinigen, damit wir morjen hier in Schao-tscheu keinen stänkerigen Eindruck machen.«

Er löschte die an der Decke hängende Laterne aus und ging. Noch war es zeitig am Morgen, als er wieder kam, um seinen Herrn zu wecken. Er meldete, daß sich unten im Hofe wohl ein Dutzend Pferde befänden, welche der Mandarin für seine Gäste requiriert habe, um dieselben sobald als möglich abreisen zu sehen.

Im Speisesaale wurde der Thee getrunken, und dann erschien der Hausherr, um die »Herren mit den langen Stammbäumen« zu ersuchen, sich in den Hof zu bemühen. Degenfeld zählte dort fünfzehn Pferde. Sechs waren zum Reiten und zwei zum Tragen des Palankin für den Mijnheer bestimmt. Den übrigen waren Packsättel aufgeschnallt.

Degenfeld untersuchte die Reitpferde. Es waren kleine, häßliche Tiere, die sich aber später als sehr munter und ausdauernd bewiesen. Das Zaumzeug war leidlich, doch zeigten die Sättel eine unbequeme Gestalt, und die Bügel waren schwer und unbeholfen. Dem konnte aber nicht abgeholfen werden.

Der Methusalem bestieg eins der Tiere, um es zu probieren. Von einem Durchreiten der Schule konnte keine Rede sein, weil es eben keine Schule besaß, doch gehorchte es ziemlich willig dem Zügel und dem Schenkeldrucke.

»Nun, wollen Sie nicht auch einmal probieren?« fragte Turnerstick den Dicken.

»Ik?« antwortete dieser, indem er alle zehn Finger abwehrend ausspreizte. »Ik niet, waarachtig niet - ich nicht, wahrhaftig nicht!«

Er kehrte, um ganz sicher zu sein, daß ein solches Ansinnen nicht wieder an ihn gestellt werden könne, schleunigst nach seinem Zimmer zurück.

Alles, was mitgenommen werden sollte, war schon verpackt. Das waren Speisen, einige Flaschen Raki und sodann vorzugsweise eine bedeutende Anzahl von Decken aus den verschiedensten Stoffen, mit deren Hilfe die Reisenden es sich in den Einkehrhäusern möglichst bequem machen sollten.

Dann führte der Mandarin seine Gäste vor das Haus, wo der Oberlieutenant mit zwanzig berittenen Soldaten hielt. Er trug auf der Brust einen Tuchfleck, welcher die Gestalt des Kriegstigers zeigte, hatte aber gar nicht etwa ein tigerartiges Aussehen. Von kleiner, dürftiger Gestalt, saß er auf einem ebenso dürftigen Rößlein, welches Lockenhaare wie ein Pudel hatte. Desto gewaltiger war der Sarras, welcher ihm von der Seite hing. Rechts und links blickten ihm zwei riesige Pistolen aus den Taschen, von denen aber zu vermuten war, daß sie die löbliche Eigenschaft besaßen, gerade dann nicht loszugehen, wenn geschossen werden sollte.

Ein ebenso unritterliches Aussehen hatten seine Kavalleristen. Sie waren verschieden gekleidet, und verschieden bewaffnet. Der eine hielt einen langen Spieß und der andere ein Gewehr in der Hand, dessen Lauf wie ein Korkzieher gewunden war. Der dritte hatte eine Mordwaffe, von welcher man nicht wußte, ob sie eine Armbrust oder eine Mausefalle sein solle. Der vierte trug eine Keule, aus welcher verrostete Nagelspitzen naiv schauten. Der fünfte hatte einen Bogen ohne Pfeile und der sechste einen Köcher, zu welchem aber der Bogen fehlte. In ähnlicher Weise waren auch die anderen armiert. Das Kriegerischeste an ihnen waren die martialischen Gesichter, welche sie schnitten und die Schrift, welche sie alle auf dem Rücken trugen. Dort stand nämlich geschrieben »Ping«, das ist »Soldat«.

»Alle Ober- und Unterjötter! Wat sind das für Leute?« fragte der Gottfried.

»Soldaten, Kavalleristen,« antwortete der Methusalem.

»Und die sollen mit uns?«

»Jawohl.«

»Weshalb denn?«

»Um uns zu beschützen.«

»Dat glaube ich nicht.«

»Weshalb denn sonst?«

»Wenn ich sie mich so betrachte, so scheint es mich, dat sie mit uns wollen, damit nicht sie uns, sondern wir ihnen beschützen sollen. Nicht?«

»Das letztere ist freilich wahrscheinlicher als das erstere.«

»Und wat bedeutet die baumwollene Schrift auf ihren Hinterfronten?«

»Soldat.«

»Ah, siehst du, wie du bist! Wat die Chinesigen doch für pfiffige Jungens sind!«

»Inwiefern?«

»Nun, dat ist doch leicht zu erkennen. Diese Soldaten brauchen nicht zu fechten und zu kämpfen. Es ist jar nicht nötig, dat sie ihr edles Leben wagen. Sie brauchen nur auszureißen und dem Feinde den Rücken zuzukehren. Dann liest er dat schreckliche Wort 'Soldat' und wendet vor Angst auch um und jeht von dannen. So wird durch eine alljemeine Flucht der glänzendste Sieg jewonnen. Ich werde diese Erfindung mit nach Hause nehmen und sie in einem einjeschriebenen Brief an Moltke senden. Vielleicht blüht mich dafür der schwarze Adler erster Jüte mit Brillanten.«

»Ja, diese Leute werden uns mehr schaden als nützen; aber wir müssen sie mitnehmen. Unser Rang erfordert es.«

»Na, wat würde man in Berlin oder so da in Deutschland herum von unserm Range denken, wenn wir in solcher Jesellschaft anjelangt kämen!«

»Vielleicht würden wir als vagierende Zigeuner per Schub über die Grenze gebracht.«

»Und zwar, ohne dat man sich erst vorher die Mühe jäbe, uns nach unserem Impfschein zu fragen. O China, wie habe ich mich in dich jetäuscht! Wie hast du mir in meine Bejeisterung betrogen! Deine Köche will ich loben, aber deine Soldaten kannst du nur jetrost wieder in die Schachtel thun!«

Ganz entgegen diesem Urteile fragte der Mandarin in selbstbewußtem Tone Degenfeld:

»Hat der erleuchtete Gebieter in seinem Lande auch so tapfere Krieger?«

»Sind diese Leute denn tapfer?« fragte der Student.

»Ueber alle Maßen. Sie fürchten selbst den Tiger, das einhörnige Rhinoceros und den wild gewordenen Elefanten nicht.«

»Hoffentlich bekomme ich während meiner Reise Gelegenheit, ihren Mut zu erproben.«

»Das würde vielen Gegnern das Leben kosten. Wann wünschen die ehrwürdigen Herren diese Stadt zu verlassen?«

»Sobald die Vorbereitungen getroffen sind.«

»Das ist bereits geschehen, und es ist alles zum Aufbruche bereit; doch vorher mögen die Vielgepriesenen den Morgenreis bei mir verzehren.«

Unter Morgenreis ist Frühstück zu verstehen. Dieses bestand nicht aus so vielen Gängen, wie das gestrige Abendessen. Der Mandarin wünschte nicht, die Anwesenheit seiner Gäste zu verlängern. Als er sah, daß sie von den Speisen nur nippten, machte er ein sehr zufriedenes Gesicht. Dasselbe nahm nur dann einen finstern Ausdruck an, wenn sein Blick auf den Mijnheer fiel. Dieser hatte sich festgesetzt, als ob er heute gar nicht wieder aufstehen wolle, und langte in einer Weise zu, als ob er befürchte, von heut an bis nach Ablauf der Woche nichts Eßbares mehr vor die Augen zu bekommen.

Endlich klappte er sein Messer zu, schob es in die Tasche und sagte:

»Zoo! Heden ochtend word ik niet meer eten; maar vervolgens muet ik een middageten hebben - so! Heut früh werde ich nicht mehr essen; aber nachher muß ich ein Mittagsmahl haben.«

Nun begab man sich in den Hof hinab, um aufzubrechen. Eine Rechnung war nicht zu berichtigen. Auch die Trinkgelder kamen in Wegfall, da es einem hochgestellten Chinesen niemals beikommen kann, Dienste zu belohnen, welche er seinem Range nach zu beanspruchen hat. Der Kuan hatte ja sogar die angenehme Wirkung, daß weder für die Pferde noch für die Begleitung oder den mitgenommenen Proviant etwas zu entrichten war.

Unangenehm war nur die häßliche Ceremonie des Verabschiedens. Der Methusalem suchte sie so viel wie möglich abzukürzen, und der Mandarin unterstützte sehr gern dieses Bestreben. Der erstere sagte Dank für die genossene Gastfreundlichkeit und versprach, an geeigneter Stelle derselben rühmend zu gedenken, und der letztere beklagte, die sehr hochwürdigen Gönner nicht noch länger bei sich zu sehen und bewirten zu können. Dann stieg man zu Pferde.

Außer dem Dicken hatten alle schon früher im Sattel gesessen. Selbst Richard hatte den Onkel Methusalem oft in den Tattersall begleitet und da einen kleinen Ritt gemacht. So war also nicht zu befürchten, daß einer sich vor den Bewohnern von Schao-tscheu blamieren werde.

Die Sänfte war in der von Degenfeld angegebenen Weise an zwei Pferden befestigt worden. Der Dicke stieg ein, und der Gottfried machte Feuer, damit die Wasserpfeife in Brand gesteckt werden könne. Dann setzte sich der Trupp in Bewegung, von dem Mandarinen unter tiefen Bücklingen bis vor das Thor begleitet, wobei ihm seine Untergebenen eifrig sekundierten.

Draußen stand ein ungeheure Menschenmenge. Die Ankunft der Fremdlinge hatte nicht so viel Aufsehen erregt, weil man von derselben nichts gewußt hatte. Mittlerweile aber war es ruchbar geworden, daß vornehme Mandarinen aus einem fernen Erdteile bei dem Vorsteher der Stadt eingekehrt seien und am Vormittage wieder abreisen würden. Diese Kunde hatte sämtliche Einwohner aus ihren Häusern gelockt, und nun standen sie Kopf an Kopf, um ihre Neugierde zu befriedigen.

Dies hatte der Mandarin geahnt und danach seine Vorkehrungen getroffen. Um ein Fortkommen durch die dicht gedrängte Menge zu ermöglichen, schritt eine Anzahl Polizisten voran, welche mit ihren Stäben Platz machten, indem sie die nötigen Hiebe und Püffe austeilten. Damit die so geschaffene Lücke sich nicht wieder schließe, ging rechts und links je eine Reihe derselben Sicherheitsbeamten, welche die Köpfe der Zudringlichen ebenso bearbeiteten. Zwischen ihnen bewegte sich der eigentliche Zug.

Voran ritt der Oberlieutenant, gefolgt von zehn seiner Helden, welche grimmig um sich blickten. Dann folgte der Neufundländer, welcher so stolz und sicher schritt, als ob dergleichen Triumphzüge bei ihm zu den Alltäglichkeiten gehörten. Nun kam der Methusalem zu Pferde, das Gewehr auf dem Rücken und die Pfeifenspitze im Munde, aus welchem er dichte Rauchwolken stieß, hinter ihm natürlich Gottfried mit der Pfeife und dem Fagotte. Diesem folgte Turnerstick mit weit geöffnetem Fächer, neben ihm Richard Stein, der hell und lustig über die gaffende Menge hinblickte. Hierauf war die Sänfte zu sehen. Die beiden Pferde, welche dieselbe trugen, wurden von zwei Polizisten geführt. Rechter Hand des Palankins ging ein dritter Polizist, welcher den ausgespannten Schirm des Dicken als Zeichen der hohen Würde des Besitzers trug, denn je größer in China der Fächer und der Schirm, desto vornehmer ist der Herr desselben. Zur linken Hand sah das fette Gesicht des Mijnheer mit der schottischen Mütze aus der Sänfte. Da er auf den Sattel verzichtet hatte, wollte er wenigstens in dieser Weise die Menge von seinem Dasein überzeugen und die Huldigung derselben entgegennehmen. Seine feisten Wangen und der Umstand, daß er getragen wurde, brachten auch wirklich die Ueberzeugung hervor, daß er der vornehmste der fremden Mandarinen sei. Darum verbeugte man sich oft vor dem Kopfe, dem einzigen sichtbaren Teile des Herrn mit dem langen Stammbaume, was von dem Mijnheer stets voller Huld mit einem freundlichen Grinsen erwidert wurde. Hinter der Sänfte ritten die beiden Brüder Liang-ssi und Jin-tsian, welche natürlich wenig Aufsehen erregten, und den Schluß des Zuges bildeten die andern zehn Kavalleristen. hinter denen sich die Menge wieder schloß, um den Fremden nachzudrängen.

So ging es langsam durch die Straßen und Gassen der Stadt und endlich, endlich, nach fast einer Stunde, zum östlichen Thore derselben hinaus, wo die Straße immer am Wasser hin nach Schin-hoa, dem Ziele des heutigen Rittes, führte.

Dort, vor dem Thore kehrten die Polizisten um, und der Mijnheer erhielt seinen Schirm wieder zugestellt. Viele Bewohner der Stadt aber folgten noch eine weite Strecke, bis sie sich schließlich doch überzeugt hatten, daß die Fremden genau so wie sie selbst auch gestaltet seien.

Von jetzt an gebärdete sich der Oberlieutenant ganz als Führer und Beschützer der ihm anvertrauten hohen Herrschaften. Er gab eine Menge ganz unnötige Befehle, welche häufig den geradesten Widerspruch enthielten, kommandierte seine Untergebenen bald vor, bald hinter, bald neben die Reisenden, sprengte weit voran, um auszuschauen, ob die Straße sicher sei, und blieb ebenso häufig zurück, um sich zu überzeugen, daß dort keine hinterlistige Gefahr drohe. Er hielt seine Leute und Pferde fortwährend in Atem, und das alles nur, um den »Erleuchteten« zu zeigen, welch einen wichtigen Posten man ihm anvertraut habe, und daß er ganz der Mann sei, denselben auszufüllen.

Die Straße stieg bald am steilen Ufer empor, bald senkte sie sich wieder zum Niveau des Flusses nieder. Sie war gut angelegt und leidlich unterhalten. Die chinesische Regierung schenkt zwar dem System der Kanäle mehr Aufmerksamkeit als demjenigen der festen Wege, aber das Land ist trotzdem keineswegs arm an guten Straßen. Oft sind dieselben sogar mit großer Kühnheit angelegt, und die Hindernisse, welche Flüsse, Thäler und Schluchten bieten, werden von Brücken und Viadukten überschritten, welche Jahrhunderte überdauert haben und die Bewunderung selbst eines berühmten europäischen Architekten erregen würden, zumal diese Bauten zu einer Zeit ausgeführt wurden, in welcher bei uns niemand gewagt hätte, so kühne Wege anzulegen.

Die Reisenden erblickten an der Straße, welcher sie folgten, von zehn zu zehn Li, also nach unserem Längenmaße ungefähr alle fünf Kilometer, Soldatenhäuser, welche mit einem Wachtturme versehen waren. Man hat sie an solchen Stellen errichtet, daß es möglich ist, von einem Turme die beiden nächsten zu erblicken und mit Hilfe von Flaggen, welche an hohen Stangen aufgezogen werden, Signale zu empfangen und weiterzugeben. Diese Warttürme haben ganz besonders den Zweck, die Nachricht von Empörungen, welche in China sehr häufig sind, schnell zu verbreiten.

In ebenso regelmäßigen Abständen waren Ruhehäuser angelegt, welche auf Kosten des Staates unterhalten werden, jedermann zur Aufnahme dienen, besonders aber von den reisenden Beamten benutzt werden.

In der Nähe jedes dieser Gebäude stehen an einer in die Augen fallenden Stelle drei weiße, steinerne Säulen, um den Reisenden schon von weitem auf das Vorhandensein des Ruhehauses aufmerksam zu machen. Diese Steine gleichen unsern Meilenzeigern, doch enthalten sie keine Bestimmungen der Entfernungen; die letztere ist vielmehr auf Brettern angegeben, welche an Pfählen befestigt sind.

Der Oberlieutenant war am ersten Ruhehause vorbeigaloppiert, ohne es zu beachten; beim zweiten aber hielt er an, verbeugte sich vor dem Methusalem und sagte:

»Hier ist ein sehr schönes Sië-kia (Ruhehaus) und ich ersuche die mächtigen Gebieter, abzusteigen.«

Während er das sagte, schwang er sich auch schon aus dem Sattel, und seine Leute folgten diesem Beispiele.

»Wer hat gesagt, daß hier geruht werden soll?« fragte der Student.

»Ich,« antwortete der Offizier dumm-erstaunt.

»Sind Sie so ermüdet?«

»Ja.«

»So reiten Sie vernünftiger, und strengen Sie Ihre Leute und Pferde nicht so an! Ich habe keine Veranlassung, abzusteigen.«

»Aber, erleuchteter Herr, es ist hier Sitte, zwanzig Li zu reiten und dann auszuruhen!«

»Diese Sitte gefällt mir nicht.«

»Wir haben ja Speise und Trank bei uns und können essen und trinken. Auch sind Decken genug vorhanden, um uns in aller Bequemlichkeit niederlassen zu können!«

»Wenn wir das thun und Ihrem Gebrauche folgen, so sind wir in zehn Tagen noch nicht am Ziele.«

»Ist es denn nötig, es so bald zu erreichen? Wir haben ja Zeit!«

»Ihr, aber wir nicht. Wieweit ist es von Schao-tscheu bis Schin-hoa?«

»Hundert Li.«

»So müßten wir viermal einkehren und würden den letzteren Ort wohl erst übermorgen erreichen. Ich aber will heut noch hin.«

»Das ist unmöglich, hoher Vorfahre.«

»Ich werde Ihnen beweisen, daß es sehr wohl möglich ist. Wir kehren nur einmal ein, nämlich wenn wir die Hälfte des Weges, also fünfzig Li zurückgelegt haben.«

»So müssen wir verschmachten, und die Pferde werden vor Müdigkeit stürzen.«

»Das sagen Sie, der Sie Offizier und Kavallerist sind? Ich finde diese Tiere sehr brav und getraue mir, mit ihnen ohne allen Aufenthalt direkt das Ziel zu erreichen.«

»O, sie wanken doch schon!«

»Das scheint Ihnen nur so, weil Sie selbst das Gleichgewicht verloren haben. Kehren Sie hier ein, wenn es Ihnen beliebt, wir aber reiten weiter!«

Er trieb sein Pferd an, daß es in Galopp fiel; die andern folgten, und selbst die Packtiere, welche keine besonderen Führer hatten, rannten hinterdrein. Der Oberlieutenant machte ein Gesicht, wie er es wohl noch nie gezogen hatte. So etwas war ihm noch nie passiert. Er hatte große Lust, seinem Kopfe zu folgen, besann sich aber eines Besseren, stieg wieder auf und ritt, gefolgt von seinen Leuten, den Vorausgeeilten nach.

Von jetzt an ließ er sein Tier ruhig gehen und hielt sich schmollend eine kleine Strecke weit zurück.

Am Mittag wurde die Stelle erreicht, an welcher der eine Arm des Flusses rechts ab nach Schi-hing und der andere links nach Schin-hoa führt. Diesem letzteren folgten die Reisenden, ohne den Offizier zu fragen, ob dies die richtige Richtung sei.

Nun wurde die Gegend immer gebirgiger. Bisher waren die Berge bis zu ihrer Höhe mit Feldern bebaut gewesen; jetzt zeigten sich auch bewaldete Gipfel, ein Zeichen, daß man sich der eigentlichen Masse des Nan-ling-Gebirges nähere.

Als an einer der erwähnten Tafeln zu ersehen war, daß Schin-hoa nur noch vierzig Li entfernt sei, hielt der Methusalem beim nächsten Einkehrhause an. Der Wirt desselben, ein dicker, schmutzig aussehender Chinese, kam heraus, um die Ankömmlinge zu begrüßen. Sein Gesicht war nicht eben ein freundliches. Jedenfalls hatte er die Erfahrung gemacht, daß chinesische Soldaten nicht solche Gäste sind, an denen viel zu verdienen ist. Als er aber nun die fremd gekleideten Herren sah, erhielten seine Züge einen noch ganz anderen Ausdruck. Er riß den Mund auf, ebenso die kleinen Schlitzaugen, so weit er konnte, und starrte die Männer an, als ob ihm der Verstand abhanden gekommen sei.

Der Gottfried sprang vom Pferde, hielt dem Manne das Fagott ans Ohr und konstruierte einen so schauderhaften Triller, daß der Wirt vor Entsetzen einen lauten Schrei ausstieß und zu gleichen Beinen davonlief, um hinter der Ecke des Hauses zu verschwinden.

»So!« lachte der Wichsier. »Dem habe ich beijebracht, dat es niemals jeraten ist, jeehrte Herrschaften mit dem offnen Maule anzublicken. Nun rennt er wohl zu Bartheln, um sich Most zu holen, womit ich Verstand und Lebensart bezeichnen will. Wir sind ihm glücklich los. Jehen wir nun rin in dat Vergnüjen!«

Das Gebäude enthielt zwei Abteilungen von sehr verschiedener Größe. Die kleinere war jedenfalls für den Wirt, die größere für die Gäste bestimmt. Als der Gottfried einen neugierigen Blick in die erstere warf, fuhr er schnell zurück und rief:

»Pfui Spinne! Von dieser Madame möchte ich essen!«

»Wieso?« fragte Turnerstick.

»Die Familienmutter hat sich neben dem rauchenden Schmertopfe niederjelassen und hält eine junge Lady in ihrem Schoße, mit deren Kopf sie janz datselbige macht, wat die Affen so häufig einander zuliebe thun. Wenden wir uns jrauenhaft auf die andere Seite.«

Dort sah man einen großen, kahlen Raum, in welchem nur ein Tisch und zwei Bänke standen. In kurzer Zeit aber sah es wohnlicher aus. Da es eine Ruhepause galt, waren die Soldaten nicht zurückgeblieben. Sie brachten die Decken und Tücher herein, um sie über den Tisch und die Bänke zu breiten. Einige Matten wurden auf den Boden gelegt, und dann holten die reitunlustigen Kavalleristen die Mundvorräte herein, welche von dem Methusalem verteilt wurden.

Die Herrschaften aßen am Tische und die Soldaten am Boden auf den Matten. Da ein hochgestellter Chinese sich nicht gern von einem tiefer stehenden beim Essen beobachten läßt, so hatten sich die Krieger so gesetzt, daß sie den Reisenden den Rücken zukehrten, was also nicht ein Zeichen eines Mangels an Achtung, sondern gerade das Gegenteil war.

Nach einer halben Stunde hatte man das Mahl beendet, und der Methusalem mahnte zum Aufbruche, welchem Befehle die Soldaten nur sehr langsam Folge leisteten.

Degenfeld wollte, obgleich man von dem Wirte nichts verlangt hatte, diesem doch eine Münze geben. Liang-ssi ging, ihn zu suchen, kehrte aber zurück, ohne ihn gefunden zu haben. Der Mann ließ sich aus Angst vor dem Fagotte zu den Verschollenen zählen, und das Geld mußte seiner Frau ausgehändigt werden.

Nun ging es wieder vorwärts immer tiefer in die Berge hinein. Bald führte die Straße durch tiefe, enge, finstere Klüfte, bald stieg sie in steilen Windungen wieder zur hellen Höhe empor, um eine Aussicht auf neue Tiefen zu eröffnen.


(Fortsetzung folgt.)



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