»Und doch muß jemand es können, denn die Steinchen kommen von oben! Wer mag es sein, der es wagt, mit mir zu spaßen?«
»Ein Mädchen. Ein liebes, munteres Kind von noch nicht siebzehn Jahren.«
»Siehst Du sie etwa?« fragte er da schnell.
»Nein,« antwortete ich.
»Wie kannst Du da wissen, daß sie lieb ist und munter und noch nicht siebzehn Jahre alt?«
»Weil eine, die nicht mehr so jung ist und auch nicht lieb und munter ist, wohl nicht mit Dir scherzen würde.«
»Ja, das stimmt allerdings. Kennst Du etwa auch schon ihre Gestalt?«
»So ziemlich.«
»Woher?«
»Ich beurteile sie nach der Kraft und Fülle und dennoch außerordentlichen Weichheit ihrer Stimme, denn ich nehme an, daß es die Sängerin ist, die versprochen hat, herabzukommen. Sie ist gewohnt, tief zu atmen; sie klettert gut; sie ist schwindelfrei. Sag, was hieraus zu schließen ist!«
»Hm!« antwortete er verlegen. »Willst Du das nicht selbst sagen, Sihdi?«
»Nein. Ich möchte es von Dir hören.«
»Schön - - - gut - - - also, ich schließe daraus, daß sie scharfe Augen hat, eine kühne, vortretende Nase, einen kräftigen, breiten Mund, einen starken, dicken Hals, aus dem die lauten, vollen Töne kommen, sehr tüchtige Schultern und Achseln, zwei eisenfeste Kletterhüften - - -«
Er wurde unterbrochen. Ein kurzes, fröhliches Lachen erscholl. Halef richtete den Blick wieder in die Höhe und fragte:
»Hast Du es gehört, Effendi? Sie lacht über ihre eigenen Hüften! Das kommt mir wie - - -«
Jetzt unterbrach er sich selbst, griff sich mit der Hand nach dem Gesichte und fuhr dann fort:
»Da wirft sie wieder! Und zwar nicht mit einem, sondern gleich mit mehreren Geschossen! Ich steige ab; ich muß sie fangen!«
|140B Er sprang aus dem Sattel und untersuchte den Riesenpfeiler des Tores, in dessen Nähe wir hielten, mit scharfen Augen. Er glaubte wirklich, der Schalk sei da oben versteckt. Ich aber hatte, so oft er getroffen wurde, aus seinen Bewegungen ersehen, aus welcher Richtung die kleinen, mit so großer Sicherheit geschleuderten Steinchen kamen. Sie kamen nicht von oben sondern von unten her, aus der Nähe des Pfeilers, wo eine Menge zwei, drei und vier Meter hoher Felsenstücke wie durcheinander geworfen lagen, hinter denen sich eine vollständig senkrechte Tafelwand so glatt in die Höhe hob, daß sie nicht einmal für ein Eichkätzchen oder einen Kletteraffen, also noch viel weniger für einen Menschen zu passieren war. Hier konnte die Sängerin ganz unmöglich herunterkommen, und darum hatte ich dieser Stelle gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Nun aber lenkte ich meinen Rappen hin.
»Sihdi!« rief es da leise.
»Ja,« antwortete ich. »Wo bist Du? Komm hervor!«
Niemand kam. Da ging ich auf den Scherz ein und stieg vom Pferde, um zu suchen.
»Sihdi!« klang es wieder, und zwar links; aber als ich hinkam, stand ich vor der nackten Tafelwand, und kein Mensch war zu sehen. »Effendi!« rief es von rechts. Ich wendete mich dorthin, zwischen allen Steinen hindurch, erreichte aber nur wieder die Wand und weiter nichts. »Sihdi - - Effendi«, und »Effendi und Sihdi«, so klang es bald hier und bald dort, aber der Schabernak war nicht zu sehen und also auch nicht zu fassen. Halef mußte jetzt einsehen, daß er sich geirrt hatte. Er gesellte sich zu mir und suchte mit, doch ebenso ohne Erfolg.
»Sie ist unsichtbar!« lachte er, aber ziemlich ärgerlich.
»Nein, sondern nur barfuß,« antwortete ich. »Hätte sie Schuhe an, so würden wir sie hören.«
»Aber ein Mann, wie Du bist, sollte sich doch nicht von einem Mädchen, welches noch nicht siebzehn Jahre zählt, an der Nase führen lassen!«
»Da hast Du freilich recht. Ich werde sie also binnen zwei Minuten fangen!«
Da erklang links von mir ein halblautes, herzliches, herausforderndes Lachen, aber nur einige Augenblicke später rief es rechts von mir:
»Sihdi, in zwei Minuten!«
»Wahrscheinlich schon in einer!« antwortete ich. »Nimm Dich in acht!«
Ich hatte den Spaß bis jetzt in aufrechter Haltung mitgemacht; jetzt aber, da es sich sozusagen um den Befähigungsnachweis handelte, drang ich schnell zwischen die Steine ein und legte mich dann nieder, um mich auf Händen und Füßen weiter zu bewegen. Ich ahnte die Stelle, um die es sich handelte, hatte sie aber bisher vermieden, um der kleinen Humoristin die Neckerei nicht zu verderben. Es gab hier unbedingt ein Versteck, und zwar ein nicht leicht auffindbares Versteck. Dieses konnte nicht zwischen den einzelnen Steinstücken liegen, denn da war ich schon überall gewesen, ohne etwas zu sehen. Es mußte sich vielmehr in der Felswand selbst befinden und durch ein vorliegendes Felsenstück dem Auge entzogen sein. Einen solchen Ort gab es allerdings. Ich war beim Suchen schon vorbeigekommen, Halef auch. Da lag ein vielleicht fünf Meter breiter Stein, unten von der Felswand abgerückt, oben aber fest an sie gelehnt, wie ein schief abfallendes Dach. Der Zwischenraum war schmal und nicht so hoch, daß man drin stehen konnte. Man mußte sitzen oder knien. Ich hatte beim Suchen schon zweimal hineingeschaut, aber nichts gesehen. Der Raum war nach beiden Seiten offen; man sah hindurch. Aber von ihm aus mußte ein Loch oder so etwas Ähnliches in die Felswand gehen, und das war das Versteck, in welches sich unser Kobold schnell wieder verbarg, so oft er uns geworfen oder angerufen hatte.
So dachte ich, und es zeigte sich sehr schnell, daß dieser Gedanke der richtige war. Ich kroch bis an den schief vorliegenden Stein, lehnte mich eng an ihn an, um möglichst wenig Raum einzunehmen, und wartete. Ja, da kam es zu meiner linken Hand herausgehuscht und zwischen die Steine hinein, so schnell, daß ich nur etwas Weißes sah, weiter nichts. Ebenso schnell kroch ich nun zu meiner rechten Hand in den |141A Zwischenraum hinein, und zwar bis in die Mitte desselben, wo ich zu meiner Genugtuung eine fast zwei Meter hohe und über mannesstarke Öffnung fand, durch die ich kroch, denn gehen konnte man nicht, da sie oben zu schmal war. Sie war gar nicht lang und führte zu meinem Erstaunen nicht in die Felsenwand hinein, sondern aus ihr schnell wieder heraus in das Freie. Diese Wand war nämlich nur auf ihrer vordern Seite kompakt, hinten aber zerrissen und zerklüftet. Diese Risse und Klüfte griffen ineinander ein und bildeten in ihrer Gesamtheit einen gar nicht schwer zu gehenden Zickzackweg nach oben, der aber von der Außenseite nicht zu sehen war. Der Anfang dieses Zickzackweges, nämlich die Öffnung, die ich jetzt hinter mir hatte, war früher jedenfalls nicht verborgen, sondern unverdeckt gewesen; sie hatte offen in das Tal des Flusses gemündet. Später aber hatte es Gründe gegeben, diesen Zugang zu der Höhe des Felsentores zu verstecken. Der Stein war vorgelegt worden, um die Stelle so zu maskieren, daß man sie wenigstens nicht gleich beim ersten Male sah. Ich richtete mich zunächst auf, um das alles mit einem raschen Blicke zu überfliegen; dann setzte ich mich auf einen Stein, der neben dem Loche lag, durch welches ich soeben gekommen war und durch welches nun schleunigst auch die Sängerin kommen mußte, um sich wieder zu verstecken, während wir draußen vergeblich nach ihr suchten.
Und sie kam wenige Augenblicke nach mir und genau so gekrochen wie ich! Dann richtete sie sich auf, von mir abgewendet, so daß ich hinter ihr saß und von ihr nicht gesehen wurde. Ein halblautes, unbeschreiblich liebes, süßes Lachen entquoll ihrer Brust. Hätte man weiter nichts von ihr gehört als nur dieses eine, einzige Lachen, so hätte man sie doch schon lieben müssen! Sie trat einen Schritt zurück; dabei berührte sie mich. Sie fuhr augenblicklich herum, während ich mich zu gleicher Zeit erhob.
»Sihdi! Effendi!« rief sie erschrocken aus, während ihr schönes, edles Gesicht in glühender Röte flammte.
»In einer Minute! Habe ich Wort gehalten?« fragte ich.
»Ja,« antwortete sie, indem ihr Auge, um mich zu betrachten, größer zu werden schien. »Du hältst wohl immer Wort!«
|141B »Woher weißt Du das?«
»Ich sehe es Dir an. Ich wagte, nur ihn zu werfen, nicht aber Dich. Wie heißt er?«
»Hadschi Halef Omar.«
»Ein Hadschi ist er? Also ein frommer Mann? Das will mir wohlgefallen. Hätte ich das gewußt, so hätte ich nicht mit ihm gescherzt. Aber als ich ihn sah, kam es mir vor, als müsse man mit ihm spielen!«
»Er liebt den Scherz, doch nicht das Spiel. Er ist ein tapferer, treuer, weitgereister Mann, der oberste Scheik eines berühmten Stammes.«
»Von welchem Volke?«
»Vom Volke der Araber.«
»Von jenseits des Meeres?«
»Ja.«
»Ein - - Araber! Von - - jenseits des Meeres!« wiederholte sie für sich, als ob ihr das von einem ganz besonderen, persönlichen Interesse sei. »Bist auch Du Araber?«
»Nein. Ich bin Europäer.«
»Ein Europäer?« fuhr sie auf. »Aus welchem Lande? Verzeih, Effendi, daß ich Dich frage!«
»Kennst Du denn die Länder von Europa?«
»Auch ihre Völker. Mein Vater hat mich das gelehrt. Er weiß sehr viel, fast alles.«
»Ich bin Alemani.«
Da schlug sie die kleinen, außerordentlich schön gebauten Hände froh zusammen und rief aus:
»Ein Alemani! Wie ihn das freuen wird! Sobald ich ihm das mitteile, wird er Dich lieben! Wenn er mich fragt, wie Du heißest, was soll ich ihm da sagen?«
»Man nennt mich Kara Ben Nemsi.«
»Nemsi ist dasselbe wie Alemani. Vater heißt Abd el Fadl, und ich, ich heiße Merhameh.«
»Waret Ihr beide es, die gestern abend und heute früh gesungen haben?«
|142A »Ja. Kennst Du das, was wir sangen?«
»Nein.«
»Es ist das Morgen- und das Abendgebet von Dschinnistan. Wir singen sie beide täglich.«
»So kennst Du Dschinnistan?«
»Es ist mein Vaterland. Das Geschlecht Fadl ist so alt, wie die Menschheit dort überhaupt. Mein Vater ist ein treuer Diener des Herrschers. Er wurde von ihm ausgesandt, um -«
Sie hielt plötzlich inne, als ob sie etwas gesagt habe, was sie nicht sagen dürfe, und fuhr dann fort:
»Nun wohnen wir schon zwei Jahre lang hier auf dem Felsentore und warten, daß in Erfüllung gehe, was uns verheißen wurde.«
Sie gab diesen Worten einen Ton, der mich zu der Frage drängte:
»Meinst Du etwa eine Verheißung, die aus Sitara kommt?«
Da hob sie ihr Gesicht und ihre Augen mit dem Ausdrucke größter Spannung zu mir empor und fragte:
»Kennst Du Sitara, Effendi? Kennst Du es?«
»Ich kenne es.«
»Aber nicht seine Herrscherin?«
»Auch diese.«
»Dem Namen nach?«
»Persönlich!«
»Du hast sie gesehen?«
Sie fragte so langsam, so gewichtig. Ihre langen, schweren Wimpern beschatteten dabei einen Blick, der voll Erstaunen, Wißbegier und verhaltener Freude zu mir herüberleuchtete.
»Nicht nur gesehen, sondern auch gesprochen. Ich war ihr Gast.«
»In Ikbal?«
»Ja, in ihrem Hause.«
»Du hast bei ihr gewohnt?«
»Ja.«
»Du kommst etwa von ihr? Sie hat Dich etwa gesandt?«
»Warum fragst Du das?«
Sie war wie begeistert gewesen. Bei diesen meinen Worten beherrschte sie sich und fuhr ruhiger fort:
»Verzeih, Sihdi! Ich weiß, ich bin noch zu jung zu solchen Fragen. Aber ich bitte Dich: Erlaube mir, Dich einmal zu berühren!«
»Gern! Greif zu!«
Ich nahm an, daß sie nach meiner Hand fassen wolle. Sie tat das aber nicht, sondern sie trat näher zu mir heran, hob die ihrige empor und klopfte mir mit den Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers auf die Brust, indem sie ihr Köpfchen mir horchend entgegenneigte.
»Er hat ihn; er hat ihn!« jubelte sie auf. »Ich dachte es mir! Ich habe es geahnt! Er hat ihn!«
»Wen habe ich? Was?«
»Den Schild! Ich fühle ihn! Oder ist die Platte, welche Dein Herz zu beschützen hat, nicht ein Schild, den Dir die Herrin von Sitara mitgegeben hat?«
»Allerdings. Weißt Du, wie diese Herrin heißt?«
»Marah Durimeh! Ich muß fort! Ich muß zum Vater! Ich muß ihm melden, daß - - -«
Sie konnte den Satz, den sie angefangen hatte, nicht vollenden, denn in diesem Augenblicke ereignete sich etwas, was mit dem tiefen Ernste, der uns beide beherrschte, in grellem Widerspruche stand. Nämlich zu unseren Füßen, ganz unten am Boden, bewegte sich etwas. Halefs Kopf erschien. Dann kamen die Hände und die Arme aus dem Loch heraus. Die Schultern schoben sich nach. Er sah unsere Füße, überhaupt die unteren Körperteile von uns, stemmte die Ellenbogen fest auf und hob den Kopf empor, um uns anzuschauen. Das sah so drollig aus, und sein Gesicht zeigte dabei einen so belustigenden Ausdruck, daß wir beide ganz den Ernst vergaßen und herzlich zu lachen begannen.
»Ihr lacht?« fragte er, indem er nicht wußte, ob er in unsere Heiterkeit mit einstimmen oder sich über sie ärgern sollte. »Ich finde die Sache gar nicht so lächerlich wie Ihr! Sie ist sogar sehr wichtig!«
|142B »Wichtig?« fragte Merhameh, ohne ihr Lachen einzustellen, weil er, ohne sich aufzurichten, mit halbem Leibe im Loche stecken blieb. »Weshalb?«
»Als Beweis! Der Sihdi hat sein Wort gehalten, Dich in einer Minute zu entdecken. Und ich habe bewiesen, daß auch ich nicht länger brauche, es zu tun. Das muß doch anerkannt werden! Oder nicht?«
»Allerdings!« stimmte ich heiter ein. »Wie hast Du den Weg so schnell gefunden?«
»Auf die pfiffigste und einfachste Weise, die es gibt: Ich schlich mich heimlich und leise hinter Dir her, denn ich sagte mir: Was der kann, das kann ich auch! Als Du Dich eng an den Stein lehntest, lag ich schon hinter dem nächsten Steine. Als Du die - - die - - - die - - - den Spaßvogel forthuschen sahst, sah ich ihn auch. Als Du hinter den Stein krochst, nahm ich schnell die Stelle ein, an der Du Dich soeben befunden hattest. Ich hörte das Vöglein >Effendi, Effendi< rufen; dann kehrte es wieder zurück und verschwand, ohne mich zu sehen, zwischen dem Steine und der Felsenwand. Ich wartete noch einige Augenblicke und folgte ihr. Sie war verschwunden. Wohin? Ich suchte; ich fand das Loch und kroch hinein, genau so, wie auch Ihr hineingekrochen seid. Was lacht Ihr mich da aus! Übrigens höre ich, daß sie Dich bereits Sihdi nennt; Ihr scheint also schon auf sehr vertraulichem Fuße miteinander zu stehen. Woher weiß sie denn, daß Du mein Sihdi bist.«
»Das habe ich nicht erst hier, sondern schon draußen gehört,« antwortete sie. »Du hast ihn ja laut genug Sihdi und Effendi genannt, als Du immerwährend hinauf zum Himmel gucktest. Jetzt scheinst Du die Erde zu lieben!«
»Die Erde?« fragt er. »Wieso - - -? Ach so! Ich stecke noch drin!«
Er kam vollends herausgekrochen und richtete sich empor. Er sah sie nun nicht mehr von unten herauf, sondern in wagerechter Augenebene. Und da geschah etwas so Überraschendes, so Seltenes, so Tiefergreifendes, daß ich es selbst noch heute nicht ohne Rührung niederschreibe. Er sah sie an, trat einen halben Schritt zurück und sah sie wieder an. Sein Gesicht veränderte sich. Es wurde ernst, dabei aber weich und immer weicher. Sein Auge befeuchtete sich. Es nahm den mildesten und zartesten Ausdruck an, dessen es fähig war. Und doch strahlte es auch in Begeisterung auf. Es war, als ob er träume. Dann griff er nach dem Ärmel ihres weißen, leinenen Gewandes, küßte den Saum desselben und sagte, sich an mich wendend:
»Sie ist schön! Sie ist sehr schön, Sihdi! Unendlich schön!«
Sie errötete nicht, und sie antwortete nicht, wie ein anderes Mädchen wohl geantwortet hätte, sondern sie sagte ebenso ernst und aufrichtig wie er:
»Er sieht nicht mich; er sieht nur meine Seele; darum spricht er so!«
»Dein Seele?« fragte er. »Ja, diese auch! Doch meinte ich zunächst nur die Gestalt. Grad so, wie Du, muß Marah Durimeh, die Menschheitsseele, vor den Augen derer, die das Glück hatten, sie zu sehen, gestanden haben, als sie noch jung und von dem Schmerz des Lebens unberührt, in Deinem Alter war!«
Da antwortete sie:
»Du küßtest mein Gewand. Dieser Kuß galt nicht mir, sondern ihr. Was von Euch schön an uns gefunden wird, was Euch an uns beglückt, veredelt und erhebt, das kommt von ihr. Ich sende ihr den heiligen Kuß, der ihr gehört, indem ich ihn dem gebe, der sie kennt.«
Sie trat schnell zu mir heran und drückte ihre Lippen auf den Saum meines Ärmels. Dann fuhr sie fort:
»Vater läßt Euch fragen, ob er herunterkommen soll, oder ob Ihr vorzieht, zu ihm hinaufzusteigen?«
»Wir steigen hinauf,« antwortete ich, »möchten aber unsere Pferde nicht in der Weise stehen lassen, daß jemand, der inzwischen kommt, sie sieht.«
»Ich kenne einen Ort, der sich sehr gut zum Verstecke für sie eignet,« erklärte sie. »Er liegt ganz in der Nähe. Ich werde ihn Halef zeigen. Es genügt, daß er mit mir geht. Du aber, Effendi, steig voran! Der Weg ist nicht zu verfehlen. In kurzer Zeit holen wir Dich ein.«
|143A Ich nickte ihr zu, sah nur noch, daß Halef sich bückte, um wieder im Loch zu verschwinden und wendete mich dann ab, nach ihrem Willen zu tun.
Der Weg war, wie bereits gesagt, ein Zickzackweg, durch enge Risse und Klüfte zur Höhe hinauf. Indem ich ihm langsam folgte, dachte ich an das junge, schöne, unendlich sympathische Wesen, welches soeben in meinen Gesichtskreis getreten war. Sie hieß Merhameh, >die Barmherzigkeit<, und gehörte dem uralten, berühmten Geschlecht der Fadl, zu Deutsch >der Güte< an. Viele Söhne dieses Geschlechtes sind erleuchtete Herrscher, bahnbrechende Gelehrte und berühmte Künstler gewesen. Wer die Geschichte der Menschheits- und Völkerentwicklung kennt, der weiß, wie groß die Zahl der bedeutenden und einflußreichen Männer gewesen ist, die Fadl, Ben Fadl oder Abd el Fadl geheißen haben. Und jetzt sollte ich so ganz unvermutet einen Abd el Fadl kennen lernen, der ein Abgesandter des 'Mir von Dschinnistan war und schon zwei Jahre lang mit seiner Tochter hier auf dem Felsentore wohnte! Welche Zwecke und Gründe hatte das?
Es fällt mir nicht ein, die Schönheit Merhamehs zu beschreiben; die wahre Schönheit hat ja eben das Erkennungszeichen, daß sie nicht beschrieben werden kann! Ich will nur sagen, daß sie nicht etwa nach Art wohlhabender Leute, sondern sehr arm gekleidet war. Sie ging barfuß, also wirklich so, wie ich vermutet hatte. Darum, und weil der Boden aus Geröll und nicht aus Sand bestand, hatte ich während des scherzhaften Suchens keine Fußspuren von ihr finden können. Ihr einfaches, orientalisches Gewand wurde von einem Ledergürtel zusammengehalten. Es bestand aus gewöhnlichem, billigem Linnen, war aber weiß und gänzlich fleckenlos, was ich bei der Seltenheit des Wassers in dieser Gegend besonders hervorzuheben habe. Ihr starkes, dunkles, welliges Haar war nicht geflochten, sondern wurde im Nacken von einer Schnur mit Blumen zusammengehalten und fiel von da wieder offen und in seltener Länge hernieder. Alles übrige, was an ihr zu erwähnen ist, wird man im weiteren Verlaufe der Ereignisse kennen lernen.
Ich war noch nicht weit gekommen, so hörte ich Geräusch hinter mir. Als ich mich umschaute, sah ich Aacht und Uucht, meine beiden Hunde, die von Halef die Erlaubnis bekommen hatten, mir sogleich zu folgen. Sobald sie mich erreichten, fragten sie mit den Augen und den wehenden Ruten, ob sie voraneilen dürften; ich aber bat sie, indem ich sie streichelte, bei mir zu bleiben. Da taten sie es gern. Man kann nämlich auch Tiere bitten, indem man das, was man von ihnen wünscht, nicht befehlend, sondern durch Liebkosungen sagt. Sie tun es da viel lieber, und ich meine, daß dies auch ihrer Zuneigung und Treue förderlich sei.
Der Zickzackweg hatte mich erst im Zick nach links und dann im Zack nach rechts geführt. Jetzt wendete er sich wieder nach links. Da hörte ich unter mir Stimmen. Merhameh und Halef kamen. Sie befanden sich auf dem tieferen Zick; ich ging auf dem höheren. Ich konnte sie ebenso wenig sehen, wie sie mich; aber ich hörte alles, was sie sagten. Soeben sprach Halef:
»Du kannst sehr ernst sein, aber auch sehr heiter, grad so wie ich. Warum warfst Du nach mir?«
»Es fiel mir so ein. Es kam mir so in die Hand. Ich konnte nicht anders. Du sahst so streitbar-sanftmütig und so - so - - so scherzerweckend aus!«
»Scherzerweckend? Maschallah! Scherzerweckend heißt doch so viel wie lächerlich! Da bitte ich doch sehr, Deine Meinung über mich zu ändern! Wenn Du wüßtest, wer ich bin, so würdest Du - - - -«
»Wer Du bist, das weiß ich!« fiel sie ihm in die Rede.
»Wirklich? Nun, also wer?«
»Du bist der Scheik eines berühmten Stammes!«
»Das stimmt!« bestätigte er stolz.
»Bist ein Araber!«
»Natürlich! Etwas anderes möchte ich gar nicht sein!«
»Bist ein tapferer, treuer und weitgereister Mann!«
»Auch das weißt Du! Hör, das gefällt mir sehr von Dir, sehr, sehr! Aber woher weißt Du es?«
»Vom Effendi.«
|143B »Von ihm? Konnte es mir denken! Er hat es Dir also mitgeteilt? Genau so, wie Du es sagtest?«
»Ja, genau so!«
»Ein tapferer, treuer, weitgereister Mann?«
»Ja.«
»Allah segne ihn! Er sagt niemals eine Lüge. Er redet stets die Wahrheit, stets. Besonders dann, wenn er mich lobt! Er ist ein ganz bedeutender Menschenkenner. Das sieht man aus der Meinung, die er von mir hat.«
»Allerdings! Seine Menschenkenntnis ist jedenfalls größer als die Deinige!«
»Oho! Warum denkst Du das?«
»Weil seine Meinung über Dich viel richtiger ist, als die Deinige über mich.«
»Woher weißt Du das? Wer hat Dir diese Unwahrheit gesagt?«
»Du selbst.«
»Nein!«
»O doch!«
»Beweis es mir!«
»Sogleich! Denke doch an meine kühn hervortretende Nase!«
»Allah w' Allah! Welch ein Fehler von mir!« rief er bedauernd aus.
»An meinen kräftigen, breiten Mund!«
»O Traurigkeit!«
»An meinen starken, dicken Hals!«
»O Wehklage!«
»An meine tüchtigen Schultern und Achseln!«
»O Jammer!«
»An meine eisenfesten Kletterhüften!«
»Halt auf, halt auf, halt auf! Das war ja bloß Vermutung! Das habe ich gesagt, noch ehe ich Dich sah; die Menschenkenntnis aber beginnt doch wohl erst dann, wenn man die Person, von der man spricht, gesehen und beobachtet hat. Meine von Dir beleidigte Menschenkenntnis zwingt mich, Dir mitzuteilen, wie ich nun jetzt über Dich denke, da ich Dich hier bei mir gehen sehe. Ich fange da beim niedrigsten Reiche, nämlich beim Steinreiche an, gehe auf das Pflanzen-, Tier- und Menschenreich über, komme von da zu den Engeln und höre dann droben bei den Sternen auf.«
»Du machst mich wißbegierig!« versicherte sie.
»Ja, das glaube ich. Also höre! Du bist der schönste Edelstein, den es gibt. Kein Jaspis, kein Amethyst, kein Rubin, kein Diamant kann Dich erreichen! Bitte, geh langsamer! Du bist sogar eine Perle! Aber sag, warum läufst Du jetzt plötzlich so schnell?«
»Weil ich den Effendi einholen will.«
»Das ist gar nicht nötig. Wir erreichen ihn auch droben noch zeitig genug! Also Du bist die mächtigste von allen Blumen. Kein Veilchen, kein Tausendschönchen, keine Lilie, keine - - so lauf doch nicht; so warte doch! - - Tulpe und Rose ist mit Dir zu vergleichen! Langsamer, langsamer, sonst komme ich Dir nicht nach!«
»Mach schnellere und größere Schritte!« rief sie lachend zurück.
Da sie sich beeilte, ihm voranzukommen, erhob er seine Stimme immer mehr und mehr, indem er nun zum Tierreich überging:
»Du bist der lieblichste aller Schmetterlinge - - - ein süßes, goldglänzendes Käferlein - - - eine flötende Nachtigall - - - ein schimmernder Paradiesvogel - - - ein - - - ich bitte, bleib doch stehen! Du raubst mir sonst den Atem!«
»Wenn ich Schmetterling oder Vogel bin, so muß ich doch fliegen!« scherzte sie zurück.
Der Stimme nach schien sie ihm schon sehr weit vorangekommen zu sein. Um von ihr gehört zu werden, genügte es schon nicht mehr, laut zu sprechen, sondern er mußte rufen:
»So höre ich mit den Tieren auf und komme zu den Menschen! Du bist ein Kind der Holdseligkeit und Liebenswürdigkeit - - - eine Tochter des Ebenmaßes und der Wohlgestalt - - - so höre doch! Bleib an der Ecke stehen! - - - eine Schwester der Anmut und der Augenweide |144A - - - bist eine Prinzessin, eine junge Königin, zu deren Füßen - - - o Qual, o Pein, o Schmerz; sie bleibt nicht stehen! Sie verschwindet um die Ecke! Und ich habe ihr noch gar nicht gesagt, daß sie ein Engel ist, sogar ein Stern, ein Stern, der sich - - -«
Mehr hörte ich nicht, denn hinter mir rief es:
»Effendi, siehst Du mich? Ich komme!«
Ich schaute zurück. Sie war soeben um den letzten Winkel des Weges gebogen und für Halef unsichtbar, für mich aber sichtbar geworden. Ich blieb stehen und ließ sie herankommen. Ihr Gesicht glänzte vor Vergnügen, und aus ihren Augen strahlte ein seelischer Lebensüberschuß, der in der Einsamkeit der letzten zwei Jahre in Gefahr gewesen war, zu verkümmern. Es ging ihr genau so wie der großen Menschenfreundin, deren Namen sie trug, nämlich der Barmherzigkeit: wenn sie sich nicht betätigen kann, verschwindet sie in sich selbst.
»Ich bin nur zehn Minuten lang mit Deinem Hadschi allein gewesen,« sagte sie, »aber ich kenne doch schon seine ganze Berühmtheit nebst sämtlichen Vorzügen, die er besitzt. Auch Hanneh, die lieblichste unter den Blumen, kenne ich bereits, und ebenso auch Kara Ben Halef, seinen Sohn, der einst noch viel berühmter als sein Vater sein wird. Effendi, ich bin ihm entflohen, weil er die Absicht hatte, mich zu loben und zu preisen. Er wollte unten bei den Steinen beginnen und erst oben am Himmel aufhören. aber nicht ich verdiene dieses Lob, sondern er selbst. Er funkelt wie ein Edelstein und leuchtet wie ein Stern. Zwischen beiden liegt das Pflanzen-, das Tier- und das Menschenreich mit all den schönen Namen, die auf ihn noch besser passen würden, als auf mich. Seine Liebe zu Dir aber ist so innig, so grenzenlos und so rührend, wie die Liebe des Leibes zur Seele. Sie hat ihm sofort mein ganzes Herz gewonnen!«
Wie die Liebe des Leibes zur Seele! Welch ein Ausdruck, welch ein Vergleich! Von einem so jungen Mädchen! Ich sah von der Seite in ihr liebes, schönes Gesicht hinunter. Der Ausdruck desselben war gar nicht so, als ob sie etwas Besonderes gesagt hätte. Wenn dieser Ton für sie der gewöhnliche war, in dem sie mit ihrem Vater verkehrte, so stand mir die Freude bevor, heut einen hochdenkenden Orientalen kennen zu lernen.
Der Weg war an vielen Stellen so schmal oder so steil, daß Merhameh vorangehen mußte. Eine Unterhaltung zu führen, war also nicht bequem. Sie zog aber auch ohnedies meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Eine jede ihrer kräftig schönen, harmonischen Bewegungen nahm das Auge gefangen. Sie kam mir vor wie ein Gedicht, wie ein lebendiges Sonett, von Gott selbst in Fleisch und Blut geschrieben, um zu der Schönheit ihres Namens die gleiche Schönheit ihres Körpers zu gesellen.
|145A Kurz, bevor wir oben ankamen, holte uns Halef ein. Er hatte sich gesputet, meine Begrüßung mit Abd el Fadl nicht zu versäumen. Ich sah ihm an, daß er, als er uns erreichte, eine scherzhafte Bemerkung für die Tochter auf der Zunge hatte; dieser Scherz aber zog sich vor dem Ernste und der Erhabenheit des Ausblickes zurück, der sich uns jetzt bot, da wir die Höhe erreichten. Wir standen jetzt auf dem einen, dem westlichen Pfeiler des Tores und hatten nur noch die Querplatte zu erklimmen, welche den obern Schluß der Öffnung bildete. Als wir das getan hatten, sahen wir zu beiden Seiten das unendlich weite Meer und hinter und vor uns die scheinbar ebenso weite Wüste liegen. Kein Schiff, kein Boot belebte den Ozean, der nicht, wie gestern, in langgestreckten, blauen Wogen, sondern in kurzen, dunkelgrünen, schaumgekrönten Wellen ging. Es sah aus, als bestehe dieser Schaum aus den Atmungsperlen eines sich unten in der Tiefe vollziehenden, geheimnisvollen Lebens, welches sich zwar nach oben sehne, dieser Sehnsucht aber nur in Gestalt dieser Perlen folgen könne. Zurückblickend, sahen wir weiter nichts, als ganz draußen am Rande der sandigen Öde eine kleine winzige Erhöhung, die man kaum noch zu erkennen vermochte. Das war der Brunnen mit dem Engel. Und vorwärts schauend, flog der Blick über eine ungemessene, trostlos erscheinende Wüsteneinsamkeit, die für unser Auge durch die vulkanischen Rauchwolken Dschinnistans abgeschlossen wurde. Und mitten in dieser Ausgeschlossenheit und Verlassenheit der schmale, steinerne Engpaß von Chatar, der an jedem Augenblick verschwinden kann, verschlungen von den beiden Meeren, die, unaufhörlich nagend, an ihm zehren. Und auf dem schmalen Tore dieses Passes wir paar armselig schwachen Geschöpfe, die wir uns trotz dieser Armseligkeit mit großen Plänen trugen! Wenn wir von oben hinunterblickten, erschien es uns infolge der optischen Täuschung, als ob die Landenge auf dem Wasser schwimme und immerwährend hin und hergeworfen werde, um plötzlich umzukippen und mit uns in den Fluten zu verschwinden. Halef setzte sich schnell nieder und sagte:
»Sihdi, ich kann nicht stehen bleiben, denn mir kommt der Schwindel ins Gehirn. Ich muß mich niederlassen, sonst fliege ich hinab. Geht es Dir nicht auch so?«
»Ein wenig, ja. Doch hoffe ich, daß es nur vorübergehend ist.«
»Bei mir nicht. Ich fühle, daß ich nicht bleiben kann, sondern hinunter muß. Das Meer sperrt beide Rachen auf, einen rechts und einen links, um mich zu verschlingen!«
Und sich an Merhameh wendend, fuhr er fort:
»Was müßt Ihr für Augen und für Nerven haben, Du und Dein Vater! Ich sitze hier auf der Mitte des Tores und bin doch voller Angst und voller Grauen. Ihr aber standet, als Ihr gestern und heute sangt, ganz draußen auf der äußersten Ecke. Ich würde da schon gleich im ersten Augenblick hinunterstürzen!«
»Wir sind es gewohnt,« sagte sie einfach. »Es ist uns unmöglich, den festen sichern Felsen mit dem trügerischen, beweglichen Wasser zu verwechseln.«
»Ich habe mir während des Emporsteigens eine Begrüßungsrede einstudiert, die ich Deinem Vater halten wollte. Nun sitze ich leider da und kann sie nicht halten! Das tut meinem Herzen weh!«
»So erlaube, daß ich Dir dieses Weh vom Herzen nehme! Steh auf und komm! Ich werde Dich führen.«
»Du? Mich? Hm! Ja, das ginge vielleicht. Aber hältst Du mich wohl auch fest?«
»So fest, daß Du gar nicht wanken kannst! Schau, dort ist der Vater. Er wartet. Komm!«
Wie schon erwähnt, lag hier oben auf der Höhe des Tores ein Steinhaufen, von Büschen umgeben. Diese Büsche wurzelten in der steinernen Querplatte. Wie sie da ihr Leben fristeten, erschien mir wie ein Rätsel. Jetzt sah ich, daß dieser Steinhaufen eigentlich eine Hütte war. Abd el Fadl trat soeben heraus. |145B Er war barfuß wie seine Tochter und ebenso äußerst sauberweiß gekleidet. Das einfache, haïkartige Gewand wurde an den Hüften von einer Schnur zusammengehalten. Um den Kopf war ein weißes Tuch von billigster Leinwand derart gewunden, daß zwei Zipfel in sehr eigenartiger, von mir noch nie gesehener Weise bis auf die Schultern niederhingen. Darin steckte vorn eine Nadel, deren Knopf aus einer ganz gewöhnlichen, bleiernen Flintenkugel bestand. Der eigenartige Faltenwurf dieses Kopftuches brachte mich auf die Vermutung, daß er nicht zufällig sei, sondern irgend einen gewissen Zweck habe. Später stellte sich heraus, daß diese Vermutung richtig war.
Abd el Fadl war von hoher, edler Gestalt. Seine ruhigen, sichern Bewegungen verrieten Charakterfestigkeit und Klarheit über sich selbst. Sein Gesicht war das eines Mannes von schon über sechzig Jahren, der innerlich aber noch Jüngling ist. Die Familienähnlichkeit mit seiner schönen Tochter war nicht zu verkennen. Er besaß alle ihre Züge, nur daß die seinen ausgeprägter, gereifter, fester waren. Sowohl aus ihnen wie aus seinen Augen, seiner Stimme, seinem ganzen Wesen sprach der Ausdruck einer Güte, einer duldsamen Mäßigung und einer wohlwollenden Ritterlichkeit, die mich sofort für ihn gefangen nahmen, und zwar nicht etwa nur für diesen ersten, kurzen Augenblick, sondern für immer.
Unsere Begrüßung gestaltete sich ganz anders, als zu vermuten gewesen war, besonders aber ganz anders, als Halef es sich gedacht hatte. Dieser Letztere stand, sobald Abd el Fadl erschien, von seinem Sitze wieder auf und reichte Merhameh die Hand, um sich von ihr halten und führen zu lassen. Aber der Anblick des tief unten flutenden Meeres benahm seinen Schritten alle Festigkeit. Er wankte wie ein Betrunkener. Er streckte den einen, freien Arm weit aus und warf ihn hin und her, als ob er eine Balancierstange hielte. Ich ging mit den Hunden lange hinter ihm her. So näherten wir uns dem uns erwartungsvoll entgegenschauenden Vater unserer jungen Führerin. Halef konnte sich nicht entschließen, zu schweigen. Er wollte seine Rede loslassen und rief ihm also, noch ehe wir ihn erreichten, zu:
»Wir nahen Dir, o Besitzer dieses festen Felsentores - - - na - - - pfui - - - das wackelt alles! - - - um Dir zu sagen, daß uns Deine Tochter - - - Tochter - - - Allah w' Allah, sie wird mich hinunterstürzen lassen! - - - zu Dir heraufbegleitet hat, damit wir Dich und Du uns kennen - - - kennen lernen - - - o weh, o weh! - - - kennen lernen sollen sollst! Indem ich Dir sage, wer wir sind, hoffe ich, daß - - - o Unglück, o Verhängnis! Ich glaube gar, das Tor bricht ein, noch ehe ich mit meiner Rede - - - Rede fertig bin! - - - hoffe ich, daß wir bei Dir Auskunft finden, welche wir von Dir erwarten. Vor allen Dingen - - - Handulillah - - - Allah sei Dank! Da ist die Hütte offen! Ich mache, daß ich hineinkomme! Da sehe ich hoffentlich das viele Wasser da unten nicht mehr! Effendi, sprich Du weiter! Ich muß mich wieder setzen!«
Es gibt in Deutschland einen Ausdruck, der heißt: >eine Lerche schießen<. Eine in der Luft geschossene Lerche pflegt in schnurgerader Linie auf den Acker niederzustürzen. Eine >Lerche schießen< heißt also: ganz plötzlich, wie aus einer Pistole geschossen oder wie auf den Kopf geschlagen, in schnurgerader Linie auf die Seite hinübertaumeln. Es gibt keinen bezeichnenderen Ausdruck für diese Art von unfreiwilliger und doch beabsichtigter Bewegung, die nur bei Betrunkenen oder vom Schwindel Ergriffenen vorzukommen pflegt. So auch jetzt bei Halef. Er riß sich von dem Mädchen los und schoß wie eine Lerche nach links hinüber und grad in die Hütte hinein, wo er sich rund um seine eigene Achse drehte und dann sehr vollgewichtig niedersetzte.
»Da bin ich!« sagte er, indem er sehr erleichtert Atem holte. »So bald stehe ich wohl nicht wieder auf!«
Ich hatte innerlich das Gefühl, als ob ich mich über diese Art, uns vorzustellen, vor Abd el Fadl etwas zu schämen hätte; aber |146A die >Lerche<, die Halef schoß, sah so possierlich aus, daß ich das laute Lachen kaum verbeißen konnte. Merhameh aber lachte hell und aufrichtig heraus, und auch auf dem Gesichte ihres Vaters glänzte eine so herzliche und so offene Fröhlichkeit, daß es gar nicht dazu kam, mich verlegen zu fühlen, zumal er im Tone entschuldigender Güte sagte:
»Er ist der erste nicht. Es ging fast allen so. Es ist nicht jedem Menschen gegeben, zu gleicher Zeit die Tiefe und die Höhe zu erfassen, ohne den eigenen Halt zu verlieren.«
Das war eine ebenso vielsagende Ausdrucksweise wie vorhin bei seiner Tochter. Dabei waren seine Augen mehr auf Aacht und Uucht als auf Halef und mich gerichtet. Die beiden Hunde schienen ihn außerordentlich zu interessieren. Doch fügte er zu seiner Rede noch die Worte:
»Dein Begleiter ist nicht auf Bergeshöhen geboren.«
»Nein,« antwortete ich. »Seine Heimat ist die Ebene der Wüste. Darum vermißt er hier auf Deiner Höhe das Gefühl für das Gleichgewicht.«
»Er ist Araber,« vervollständigte Merhameh. »der Scheik eines berühmten Stammes. Er heißt Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud el Gossarah.«
Ihr Vater hörte gar nicht auf diese lange Reihe von Namen. Er entfernte seinen Blick nicht von den Hunden.
»Verzeih,« bat er mich, »daß ich so unhöflich bin, mich zunächst nicht mit den Menschen, sondern mit diesen Tieren zu beschäftigen! Aber sie sind mir von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Ich sah ein Paar Hunde, nicht diese hier, sondern ähnliche, die von Süden nach Norden gingen, als Geschenk. Und ich sah ein Paar andere Hunde, die von Norden nach Süden gingen, auch als Geschenk - - -«
»Das erste Paar ging nach Dschinnistan, das zweite in das Land der Ussul,« fiel ich beistimmend ein.
»Und diese hier?« fragte er schnell.
»Sind Bruder und Schwester, die Kreuzung beider Rassen,« antwortete ich.
Da trat er einen Schritt zurück, sah mich mit jenem langen, in zwei Hälften geteilten Blicke an, den meine Leser bereits kennen, und erkundigte sich:
»Sind sie Dein Eigentum?«
»Ja. Sie wurden mir geschenkt.«
»Geschenkt?« rief er in frohem Tone aus. »So bist Du - - - bist Du - - - bist - - - ?«
Er wagte den angefangenen Satz nicht auszusprechen; aber seine Tochter fiel schnell ein:
»Er ist's, mein Vater, er ist's: er hat den Schild! Hörst Du?«
Sie trat zu mir heran und klopfte mir auf die Brust, so daß er den Ton des Metalls hörte. Darauf klopfte sie auch an seine Brust, und ich vernahm genau denselben Klang. Da ging ein sonnenhelles Lächeln des Glückes über sein Gesicht; aber er machte nicht viele Worte. Er nahm mich bei der Hand und sagte nur:
»Sei mir willkommen! Komm mit, an Deinen Platz.«
Er führte mich zu einer weichen grünenden Rasenbank, die neben der Hütte stand, und bat mich, auf ihr Platz zu nehmen. Ich tat dies, ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken. Sofort saßen Aacht und Uucht neben mir, zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Dann sagte er:
»Ich bitte, uns nur für einen Augenblick zu beurlauben; dann sind wir zu Deinem Dienste bereit. Komm, mein Kind!«
Er nahm seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr so weit von uns fort, wie die Felsenplatte reichte. Das war die äußerste Spitze, auf der sie standen, wenn sie sangen. Während sie dorthin gingen, sprach Merhameh zu ihrem Vater. Sie schien ihm kurz zu berichten, was sie von Halef und mir erfahren hatte. Dann standen sie eng nebeneinander, sie ihr Köpfchen an seine Schulter gelehnt, still, fast ohne sich zu bewegen, hinausschauend in die irdische Ferne und auch hinauf zum Himmel, mit dem sie sprachen, ohne daß ein Wort davon zu hören war.
»Sihdi, ich glaube, sie beten,« sagte Halef.
Ich antwortete nicht. Es war hier oben so ungewöhnlich, so sonderbar, so heilig. Ich fühlte, daß unsichtbare Rätsel um |146B mich schwebten, daß ihre Lösung aber nur scheinbar da draußen in der weiten Meeres- und Wüstenferne, in Wirklichkeit aber in mir selber liege. Als Vater und Tochter zurückkehrten, waren ihre Augen feucht, und auf ihren Gesichtern lag es wie eine besorgte Frage. Er setzte sich zu meinen Füßen nieder, während seine Tochter eine bescheiden zurück-, aber doch so liegende Stelle suchte, daß sie hörte, was wir sprachen. Abd el Fadl begann:
»Meine Tochter hat mir gesagt, daß Du aus dem Lande der Germani bist und Effendi oder Sihdi genannt wirst. Erlaubst Du, daß auch ich Dich so nenne?«
Ich neigte zustimmend den Kopf. Da fuhr er fort:
»Du hast den Schild; ich habe ihn auch. Wir brauchen uns nicht zu kennen und kennen uns aber doch! Wer und was Du in Deiner Heimat bist und wer und was ich in der meinigen bin, das ist in dieser Stunde und an diesem Orte Nebensache; wir wollen uns nicht damit beschäftigen. Ich bitte Dich, mir zu sagen, von wem Du den Schild hast, ob wirklich von Marah Durimeh!«
»Von ihr selbst. Sie gab ihn mir in Ikbal, als ich mit meinem Hadschi Halef Omar Gast ihres Schlosses war. Ich bekam ihn, als sie mir den Auftrag gab, nach Dschinnistan zu reisen.«
»So bist Du der, den ich erwarte, doch nicht Dich allein. Noch einer ist dabei, der auch den Schild besitzt.«
»Auch er wird kommen, in wenigen Tagen schon.«
»Wer ist es?«
»Ein junger Mann aus dem Lande der Ussul. Man pflegt ihn dort den Dschirbani zu nennen.«
»Den Räudigen? Auch hält man ihn für wahnsinnig?«
»Ja.«
»Allah sei Dank! Und Dir für diese Botschaft ebenso!« Den Blick auf seine Tochter richtend, nickte er ihr freudig zu und fuhr fort: »Er ist es; er ist es! Es gibt wohl keine große Idee auf Erden, die nicht in den ersten Tagen ihrer Zeit für Wahnsinn galt. Die Stunde der Erfüllung scheint zu nahen. Die Berge brennen. Das Eis des Nordens strebt dem Süden zu. Die Wüste füllt sich mit Speise und Trank. Der >Wahnsinn<, der uns den Frieden bringen soll, kann kommen! Aber wie kommt er? in welcher Weise?«
Diese letzten, fragenden Worte waren wieder an mich gerichtet. Aber ich kam nicht dazu, sie zu beantworten, denn Halef fiel schnell ein, und zwar in seiner allbekannten, prunkvollen Weise:
»Er kommt nicht klein, sondern groß, nicht allein, sondern an der Spitze eines ganzen Heeres, nicht als Bittender, sondern als Befehlender, dem alle Welt zu gehorchen hat.«
»An der Spitz eines Heeres?« fragte Abd el Fadl.
»Ja.«
»Gegen wen?«
»Gegen die Tschoban. Sie kommen herangezogen, um die Ussul zu überfallen und auszurauben. Die Mutigen unter den Ussul aber, die man Hukara nennt, ziehen ihnen unter der Anführung des Dschirbani entgegen. Beide Heere werden grad hier, an diesem Engpasse, aufeinanderstoßen - - -«
»Wann, wann?« unterbrach ihn Abd el Fadl.
»In einigen Tagen. Wir sind dem Heere vorausgeritten, um den Engpaß zu prüfen und die Annäherung der Tschoban zu erkundschaften.«
»Also Krieg?« rief der >Diener der Güte< aus, indem er hoch erregt die Hände zusammenschlug. »Krieg und Blutvergießen! Weil sich der Friede nur durch Blut erringen läßt!«
»Nein, kein Blutvergießen!« widersprach Halef. »Wir wollen durch List und Güte siegen, nicht durch Haß und Blut.«
»Unmöglich!«
»Wie? Nicht möglich? Ich sage Dir, daß wir Übung haben in dieser Art, zu siegen. Ich werde Euch erzählen. Hört zu!«
Schon öffnete ich den Mund, um ihn zu verhindern, seine Absicht auszuführen, da kam er mir schnell zuvor:
»Schweig, Sihdi, schweig! Ich bitte Dich! Du kannst alles, aber reden kannst Du nicht! Mir aber hat Allah die Gabe verliehen, die Welt mit dem Munde zu beherrschen. So bist Du also verpflichtet, zu schweigen, mich aber reden zu lassen. Zudem |147A weißt Du doch, daß ich krank bin, daß ich den Schwindel habe und hier in dieser Hütte sitzen muß, um nicht von dieser Höhe hinab und mitten in das Meer hineinzufallen. Kranken aber hat man den Willen zu tun, sonst werden sie nicht wieder gesund!«
»Was das betrifft,« antwortete ich ihm lachend, »so will ich Dich schon wieder gesund bringen, ohne daß Du - - -«
»Nein, niemals ohne daß!« fiel er mir in die Rede. »Also, ich darf?«
»Ich bitte Dich, laß ihn sprechen,« nahm sich Abd el Fadl seiner an. »Er gefällt mir auch, dein berühmter Hadschi Halef!«
»Mir ebenso!« lächelte Merhameh, indem sie mit einem leisen, heimlichen Augenzwinkern an meine Nachsicht appelierte. Dieses liebe Einverständnis, in welches sie sich zu mir stellte, entwaffnete mich vollständig.
»So sprich!« nickte ich dem kleinen Hadschi zu. »Aber mach es gnädig!«
»Ich werde es so gnädig machen, daß selbst Du von dieser meiner Gnade nicht nur gerührt, sondern auch überwältigt bist,« antwortete er.
Und er hielt Wort. Er erzählte zwar in seiner poetischen Weise, aber er hütete sich vor jeder Übertreibung. Er sprach so objektiv und sachgemäß, wie ich es aus seinem Munde noch nie gehört hatte. Es war dieses Mal wirklich eine Freude, ihm zuzuhören, auch für mich. Das war um so mehr zu verwundern, als er doch so hochtrabend begonnen hatte. Aber es gab in der ganzen Zeit, während er sprach, einen pfiffig-ironischen Zug in seinem Gesicht, von dem ich mir die Aufklärung über diese ungewöhnliche, rednerische Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung versprach. Und richtig, es kam auch wirklich ganz so, wie ich dachte! Er erzählte aus vergangenen Zeiten, vom >Tal der Stufen< und von verschiedenen Ereignissen aus unserm Leben, welche bewiesen, daß die Klugheit über die Gewalt und die Güte über das Unrecht geht. Dann erzählte er, wo und wie wir mit Marah Durimeh bekannt geworden waren und sie dann wieder getroffen hatten. So kam er schließlich nach Sitara und von da aus zu den Ussul. Er sprach dabei so kurz und bündig, so treffend und so vorsichtig, daß er seine gewöhnliche Art und Weise vollständig verleugnete. Und was er bisher noch niemals fertig gebracht hatte, dieses Mal gelang es ihm: Er vermied alles Indiskrete; er griff mir nicht vor, und er unterließ jedes Lob und jeden Tadel, der nicht in der Sache selbst lag und also unvermeidlich war. Er ließ von unsern Erlebnissen bei den Ussul und während unsers Rittes hierher nichts weg, so daß am Schlusse Abd el Fadl über alles unterrichtet war, was er wissen mußte. Als Halef geschlossen hatte, wendete er sich an mich:
»Nun, Sihdi, bist Du mit mir zufrieden? Ich hoffe, daß Du an dem, was ich gesprochen habe, nichts auszusetzen hast?«
»Es war gut, sehr gut!« lobte ich ihn.
Er nickte mir herablassend und verzeihend zu und fragte dann Merhameh, indem er die ironische Pfiffigkeit seines Gesichtes deutlicher hervortreten ließ:
»Und Du? Bist auch zufrieden?«
»Ja,« versicherte sie.
»Nein! Gewiß nicht!« behauptete er.
»Warum nicht?«
»Weil Du meinem Effendi heimlich mit den Augen zugezwinkert hast! Du dachtest aber, ich sehe es nicht; ich bemerkte es gar wohl. Darum habe ich genau wie Kara Ben Nemsi gesprochen, nicht aber wie Hadschi Halef, der im Reden berühmter ist als jeder andere Mensch. Du hast also nicht mich gehört, sondern ihn. Das ist meine Rache erstens für das hinterlistige Zwinkern und zweitens auch dafür, daß Du mir vorhin ausgerissen bist, als ich alle Stein- und Pflanzen-, Tier- und Menschenreiche zu Deinem Lobe in Bewegung setzte. Du hörtest mich jetzt sprechen, aber nicht reden! Das hast Du nun davon!«
Vater und Tochter hatten mit außerordentlicher Spannung zugehört. Die Wirkung auf Abd el Fadl war eine ungewöhnliche. Er sagte nichts. Er stand von seinem Sitze auf und ging langsamen Schrittes dorthin, wo er vorhin mit Merhameh gestanden hatte. Sie bat:
»Verzeih es ihm, daß er sich entfernt, ohne zu sprechen! Er ist tief bewegt. Wir baten vorhin Gott, daß der, den wir |147B erwarteten, nicht ein Mann der Gewalt, sondern ein Held der Güte sein möge. Und nun wir gehört haben, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, ging Vater fort, um Allah Dank zu sagen. Er tat stets so; er kann nicht anders! Wir haben uns Euch zwei Jahre lang entgegengesehnt. Wie wir uns auf Euch gefreut haben, kann ich Dir nicht sagen. Aber der Teppich, auf dem Du sitzest, sagt es Dir.«
Sie deutete auf die Rasenbank. Ich schaute an mir hernieder und auf die weiche, grünende Fläche, die ich durch das Gewicht meines Körpers niederdrückte. Da ging mir plötzlich das Verständnis dessen auf, woran ich gar nicht gedacht hatte, als ich mich vorhin niedersetzte. Ich stand schnell auf.
»Dieser Teppich!« rief ich aus. »Er ist eine Kostbarkeit in dieser Gegend! Habt Ihr Wasser?«
»Wir sammeln den Tau de Nacht und trinken den Saft der Narasfrüchte,« antwortete sie.
»Aber dieses Gras stand nicht ursprünglich hier? Ihr habt es gesät?«
»Ja. Wir holten den Samen aus der Ferne.«
»Und womit habt Ihr es begossen?«
»Mit dem Tau, den wir nicht tranken, damit der Teppich wachsen möge.«
»Und für wen sollte er wachsen?«
»Für - - - für - - - für - - - «
Sie sagte es nicht sogleich. Sie sah sich ängstlich um, als ob sie nicht gehört werden dürfe.
»Ich darf nicht davon sprechen. Es ist ein Geheimnis. Aber Dir möchte ich es doch sagen, Dir, nur Dir allein. Der Vater schaut nicht hierher, und Dein Halef hört es auch nicht, wenn ich leise spreche. So sollst Du es erfahren. Aber ich bitte Dich, sage es keinem Menschen wieder, keinem einzigen!«
Sie trat ganz nahe zu mir heran, legte beide Hände an den Mund und raunte mir zu:
»Für - - - für den neuen 'Mir von Dschinnistan!«
»Ist denn der alte tot?« fragte ich schnell.
»O nein! Das möge Gott verhüten!«
»Und doch gibt es einen neuen?«
»Wir hoffen es!«
»Sonderbar! Und für den soll dieser köstliche Teppich sein?«
»Ja.«
»Kommt er denn hierher?«
»Wenn die Weissagung in Erfüllung geht, so kommt er über diese Landenge gezogen.«
»Warum mußte da ich mich auf den für ihn bereiteten, seltenen Teppich setzen? Ich bin es doch nicht!«
»Das kannst Du doch nicht wissen!«
»Nicht?« fragte ich erstaunt. »Ein Europäer kann doch ganz unmöglich 'Mir von Dschinnistan werden?«
»Warum sollte er nicht? Wenn er nun der Betreffende ist?«
»Der Betreffende? Welcher? Ich verstehe Dich nicht!«
»Du wirst mich schon verstehen lernen. Da kommt der Vater zurück. Ich bitte Dich, zu schweigen. Ich habe Dir nichts gesagt!«
Das brachte mich ihm gegenüber in Verlegenheit, denn es wäre mir unmöglich gewesen, mich wieder auf den grünen Teppich zu setzen. Jeder einzelne Grashalm hätte mir leid getan, ganz abgesehen davon, daß auf keinen Fall ich es war, der auf diesen Sitz gehörte. Nachdem er mich wiederholt gebeten hatte, mich wieder zu setzen und ich mich schließlich nicht auf, sondern neben die Bank niederließ, wurde er aufmerksam. Er sah mich und seine Tochter prüfend an und bemerkte, daß sie tief und verlegen errötete.
»Warum setzt sich der Effendi anders?« fragte er sie.
»Weil ich es ihm gesagt habe,« gestand sie sofort ein, indem sie die Hände bittend zusammenlegte.
»Was hast Du ihm gesagt?«
»Daß die Bank für den neuen 'Mir von Dschinnistan ist.«
Da erhob er nur den Zeigefinger; eine andere Strafe gab es nicht. Zu mir aber sagte er:
»Und Du hast Dich wohl nicht für den neuen 'Mir gehalten?«
»Weder für den neuen noch für den alten,« lächelte ich.
»Wer der Letztere ist, das steht fest. Wer aber der Erstere ist, das kann noch niemand sagen.«
|148A »Aber ich bin es jedenfalls nicht!«
»Weißt Du das wirklich?«
»Ja.«
»Nein! Denn niemals wird der neue 'Mir von Dschinnistan in Dschinnistan geboren und erzogen!«
»Aber in Europa wahrscheinlich nicht!«
»O doch! Nichts hindert, daß er sogar aus Amerika zu uns kommt! In Dschinnistan gibt es sehr eigene Gesetze. Im gegenwärtigen Fall weiß ich allerdings, daß Du der neue 'Mir nicht bist; aber Dein Kommen hängt mit dem seinigen so eng zusammen, und Du hast, wie ich Dir aufrichtig sage, gleich als ich Dich sah, die Wirkung auf mich ausgeübt, daß ich Dich bat, Dich auf den Platz zu setzen, der eigentlich nur für ihn bereitet ist. Von Dir kommt der Gedanke, die Tschoban hier zu fassen. Und nur von Dir geht der gütige Vorsatz aus, dies ohne Blutvergießen zu tun. Darum ist es mir, als ob der von mir bereitete Sitz eigentlich viel mehr Dir gehöre als dem andern, von dem wir sprechen. Nach allem, was der Scheik der Haddedihn soeben erzählte, ist es Euch wohl zuzutrauen, daß Euch gelingt, was Ihr Euch vorgenommen habt, aber ich bitte, Euch auch unseres Beistandes zu bedienen, falls es uns beiden möglich sein sollte, Euch nützlich sein zu können.«
»Ich weise Eure Hilfe nicht zurück, sondern ich bitte Euch sogar ganz besonders darum, sie uns zu erweisen. Freilich muß ich dabei eine Bedingung stellen, von deren Erfüllung ich nicht abgehen kann.«
»Welche ist es?« fragte er.
»Die Verschwiegenheit. Es soll sein, als ob alles direkt vom Dschirbani ausgehe. Man soll nicht von uns sprechen, sondern von ihm. Auf ihn sollen Ruhm und Ehre fallen; aber uns zu rühmen und zu preisen, daran soll man gar nicht denken.«
»Maschallah!« rief Abd el Fadl da aus. »Gibt es bei Euch in Deinem Vaterlande auch ein Dschinnistan?«
»Wie meinst Du das?« fragte Halef, der den Ausdruck nicht sogleich verstand.
»Ein Dschinnistan vielleicht auch bei Euch in Arabien? Ich meine einen Kreis von höher stehenden, weiter denkenden und tiefer fühlenden Menschen, bei dem ein jeder verpflichtet ist, der gute Engel eines seiner Nächsten zu sein, ohne daß dieser eine Ahnung davon hat? Denn das ist es doch, was Ihr Euch vorgenommen habt! Ihr wollt die Schutzengel des Dschirbani sein, ohne daß er oder ein anderer davon erfährt. Das ist ja von Euch derart im Sinne von Dschinnistan gedacht, daß ich Euch von Herzen gern meine Hilfe zur Verfügung stelle und mit ihr auch unsere Verschwiegenheit. Nur möchte ich da wissen, in welcher Richtung und in welcher Weise wir Euch unterstützen können. Großes freilich werden wir Euch nicht bieten können, Ihr seht, wir sind arm.«
»Wie der Reiche oft ärmer als der Arme ist, so ist auch der Arme oft reicher als der Reiche,« sagte ich. »Ihr könnt uns wahrscheinlich mehr geben, als Ihr selbst denkt oder ahnt. Ich will Dir sagen, wie ich mir den Zusammenstoß der Tschoban |148B mit den Ussul denke. Dann wird sich leicht finden, ob und womit Ihr uns unterstützen könnt.«
Ich teilte ihm mit, was der Leser bereits weiß, und fügte noch einige Gedanken hinzu, die mir gekommen waren, während ich mich seit gestern hier an Ort und Stelle befand. Er stimmte nicht nur bei, sondern er fühlte sich begeistert. Er fand nicht das Geringste an dem, was ich beschlossen hatte, zu ändern. Dann fügte er hinzu:
»Ich bin Dir unendlich dankbar, Sihdi, daß Du uns für wert gehalten hast, diese Mitteilungen aus Deinem Munde zu hören. Nun wissen wir ja, daß es uns möglich ist, das Unsere zum Gelingen beizutragen. Unsere Hilfe wird sich über zwei Gebiete erstrecken, nämlich über den Engpaß selbst und sodann auch über die Steppe und Wüste der Tschoban, durch die ich so oft in meinem Leben gekommen bin, daß wohl keiner Dir bessere Auskunft geben kann als ich. Den Engpaß kennen wir beide ganz genau. Wir haben volle zwei Jahre Zeit gehabt, ihn bis in seinen kleinsten Winkel zu durchsuchen. Erlaubst Du mir, Dir einen Vorschlag zu machen?«
»Ich bitte Dich, ihn auszusprechen!«
»Ihr reitet heute nicht weiter, sondern Ihr bleibt bis morgen hier. Der Paß ist für Euch von so großer Wichtigkeit, daß Ihr ihn nicht vernachlässigen dürft. Ihr müßt ihn kennen lernen; ich zeige ihn Euch. Das geschieht zu Fuß; Eure Pferde haben also Ruhetag. Am Vormittag werden wir die eine Hälfte und am Nachmittag die andere Hälfte der Landenge durchforschen. Merhameh bleibt hier, um uns für den Mittag und für den Abend das Mahl zu bereiten, wenn wir nach Hause kommen.«
»Zu diesem Mahle kann ich ihr Fleisch und auch noch anderes liefern,« fiel ich ein.
»Wir danken Dir!« antwortete er abwehrend. »Eure Vorräte sollen nicht angegriffen werden. Wir brauchen nicht zu hungern. Das Meer liefert uns köstliche Fische; aus der Wüste holen wir uns Manna, und an der Küste ziehen wir uns schmackhafte Narasäpfel, die Euch sicher schmecken werden. Morgen aber bleibt der Scheik der Haddedihn bei Merhameh hier zurück, weil Ihr nur zwei Pferde habt; wir beide aber, Du und ich, wir reiten nach dem Norden auf Kundschaft aus, um nach den Kriegern der Tschoban zu spähen. Die Gegend ist mir bekannt. Wir werden also wahrscheinlich mehr Erfolg haben, als wenn Du mit Halef rittest, der doch hier vonnöten ist, für den Fall, daß während unserer Abwesenheit etwas nicht Vorausgesehenes geschieht.«
Dieser Vorschlag gefiel dem Hadschi so, daß er ohne lange Überlegung ausrief:
»Allah, w' Allah, Tallah! Das finde ich sehr gut! Ich bleibe morgen hier, den ganzen, langen Tag! Da werde ich wohl sehen, wohin Merhameh überall laufen wird, um vor meinen Diamanten, Blumen, Paradiesvögeln, Prinzessinnen und Engeln auszureißen! Ich stimme also bei! Du natürlich auch, Effendi! Oder nicht?«
Ja. Auch ich gab meine Einwilligung, wenn auch aus andern Gründen als er. |149A Dieser Vater und seine Tochter waren uns ja fast wie von der Vorsehung gesandt! Daß sie unter Geheimnissen standen, die sie uns nicht gleich in der ersten Stunde des Bekanntwerdens entdecken konnten, das war kein Grund für mich, ihre Güte und ihre Hilfe zurückzuweisen. Und was beschlossen war, das wurde sofort ausgeführt. Wir brachen auf, um wieder hinabzusteigen und Abd el Fadl mitzunehmen. Hoch oben mußte Halef wieder geführt werden. Sobald ihm aber die wogende See aus dem Auge verschwand, war er seiner Füße wieder ganz sicher.
Unten angekommen, führte mich Merhameh nach dem Verstecke der Pferde. Dieser Ort war sehr pfiffig ausgedacht und als ganz sicher zu bezeichnen. Wir sattelten ab, nicht nur die Pferde, sondern auch die Hunde. Die Letzteren sollten uns begleiten und also frei von ihren Lasten sein. Unser Wasser und unsere Speisevorräte übergaben wir Merhameh, unsere Gewehre auch, meinen Stutzen ausgenommen. Es genügte, daß ich nur diesen mitnahm, da eine Gelegenheit oder gar ein Zwang, zu schießen, wohl kaum zu erwarten war. Wir brauchten den Vormittag, um denjenigen Teil des Engpasses, durch den wir gestern gekommen waren, genau kennen zu lernen. Der Nachmittag war dem Teile gewidmet, der noch vor uns lag, also nach der Seite der Tschoban. Es liegt kein Grund vor, dieses schmale Felsenband, welches aus dem einen Lande in das andere hinüberführte, ausführlich zu beschreiben. Es gab einige so schmale Stellen, daß man von Ufer zu Ufer rufen konnte und deutlich verstanden wurde. Seine größte Breite war in einer kleinen Viertelstunde zu überschreiten. Seine Ufer fielen auf beiden Seiten so steil in die Tiefe, daß es ganz unmöglich war, da hinabzuklettern. Wenn Abd el Fadl fischen wollte, so ging er nach dem südlichen Ende der Landenge, also dahin, wo sie an das Land der Ussul stieß. Dort hatte er zwischen Felsen ein Rutenfloß versteckt, mit dem eine Uferfahrt und Fischpartie zu wagen war, aber nur bei ruhiger, nicht aber auch bei stürmischer See. Dort hatte er sich ein kleines, sehr gut verstecktes Bassin gebaut, in welchem die gefangenen Fische aufgehoben wurden, für die Zeit, in der er sich nicht auf das Wasser wagen konnte. Und auf derselben Seite, doch nicht direkt am Wasser, sondern eine ziemliche Strecke in das Land hinein, gab es eine halb natürliche, halb künstliche Pflanzung von einer Art Kukurbitacee, die er Naras nannte, obwohl es nicht die eigentliche Naras war, die meines Wissens nur in Südafrika vorkommt. Aber sie hatte große Ähnlichkeit mit Acanthosicyos horrida und bedeckte mit ihren vielverzweigten, durcheinander gewirrten Ranken eine so bedeutende Strecke, daß man mit ihren Früchten ganze Wagen hätte füllen können. Diese Früchte haben die Größe einer Apfelsine bis zu der eines kleinen Zierkürbis. Unreif schmecken sie bitter, später aber sehr angenehm aromatisch. Getrocknet werden sie als Nahrungsmittel aufbewahrt. Die Samen schmecken wie Nüsse und sind auch ebenso nahrhaft wie sie. Wir waren gestern von weitem an dieser Stelle vorübergeritten, ohne sie zu sehen und ohne zu ahnen, daß hier mitten im Hunger der Felsen-, Sand- und Wasserwüste ein Brotkorb geöffnet stand, an dem sich viele Menschen erquicken konnten.
Diese Früchte waren es, von denen uns Merhameh zu Mittag ein Gericht vorsetzte, das ich fast als köstlich bezeichnen möchte. Hierzu gab es Fische und eine Art Mannabrot, das aus dem stärkehaltigen Thallus einer Lecanoraart bereitet wird, die in Wüstengegenden nicht nur vereinzelt, sondern sogar in großen Mengen vorzukommen pflegt. Diese kleinen Thallusbrocken gleichen den Weizenkörnern, sind aber so leicht, daß sie durch den Wind emporgehoben werden, der sie über Strecken trägt und in den Vertiefungen der Wüste sammelt. Man pflegt dann zu sagen, daß es Manna geregnet habe. Es gibt in jenen Wüsten Löcher, die man, wenn sie mit Wasser gefüllt wären, als Teiche oder Seen bezeichnen würde. Sie enthalten aber nicht Wasser, sondern Lecanorakörner, die vom Winde so tief zusammengetrieben worden sind, daß er sie nicht wieder emporheben und forttragen kann. Indem er sie dann noch mit einer Schicht von Sand bedeckt, so daß die Stelle der Umgebung völlig gleich ausschaut, legt er verborgene Brotkammern an, von denen eine einzige, falls man sie zur rechten Zeit entdeckt, imstande ist, eine Karawane vom Hungertode zu erretten. Abd el Fadl sagte mir, daß eine solche Kammer nur |149B eine halbe Stunde im Nordosten der Landenge liege; er habe sie nur durch Zufall entdeckt, da er keinen Mannahund besitze.
»Gibt es denn Hunde, mit deren Hilfe man das Manna findet?« fragte ich.
»Ja,« antwortete er. »Weißt Du das etwa noch nicht?«
»Nein. Ich habe noch nichts davon gehört. Welche Rasse mag das sein?«
Da nahm sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Er nickte leise und bedeutungsvoll vor sich hin und fragte:
»Aber das weißt Du, daß die Hunde der Ussul das Wasser finden?«
»Ja.«
»So finden die Hunde von Dschinnistan das Brot. Kein Ussulhund wird stehen bleiben, wenn er über Manna läuft; er merkt es gar nicht. Der Hund von Dschinnistan aber meldet es sofort, nämlich der Hund von echter, reiner Rasse, und deren gibt es nicht etwa sehr viele. Ihr Preis ist außerordentlich hoch.«
Als er das sagte, ging mir, wie man sich auszudrücken pflegt, ein Licht auf.
»Also darum die Kreuzung!« rief ich aus. »Hunde, deren Nasen auf beides gerichtet sind, nicht nur auf Wasser allein! Wie weitsichtig und bedachtsam von dem 'Mir! Und das erste Paar dieser neuen Hunde wird grad mir geschenkt, der ich - - «
»Das erste Paar?« fragte er, mich unterbrechend.
»Ja doch?«
»O nein! Der 'Mir von Dschinnistan war doch der erste, der ein Hundepaar vom Scheik der Ussul empfing. Er machte sofort die Probe, und erst als die Kreuzung glückte, erwiderte er das Geschenk mit zwei Exemplaren seiner edlen Dschinnistanirasse. Der erste, der diese neue Rasse besaß, ist also er.«
»Wie ist sein Name? Ich hörte ihn nie. Man spricht stets nur vom >'Mir von Dschinnistan<, sagt aber niemals, wie er heißt.«
»Weil er keinen Namen hat!«
»Keinen Namen?« rief Halef verwundert aus. »Der Name ist doch die Hauptsache! Denke zum Beispiel an den meinen!«
»Das ist in Deinem Lande Sitte, in dem meinen aber nicht. Es gibt Länder, in denen der unverträglichste Mensch Friedrich heißen kann; ein Ungläubiger wird Gottlieb und Gottlob genannt, und einer, der vor lauter Kummer, Not und Sorge nicht weiß, wohin, wird Felix gerufen; das heißt der >Glückliche<. Das kommt in Dschinnistan nicht vor. Dort ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf. Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein >Diener der Güte< zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet Ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur 'Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. 'Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen? Bei uns gibt es keine Herrscherlisten mit Hunderten von Namen und Zahlen, die man auswendig zu lernen hat. Bei uns gibt es nur den 'Mir, den 'Mir. Du willst zu ihm; Du wirst ihn sehen, vielleicht gar ihn kennen lernen. Darum kann ich darauf verzichten, Dir lange Reden über ihn und uns zu halten, die doch nicht sagen, was zu sagen ist.«
Als wir gegen Abend mit unserer Rekognoszierung fertig waren und ich annahm, den ganzen Engpaß kennen gelernt zu haben, drückte ich Abd el Fadl meine große Befriedigung über die Lage und Beschaffenheit desselben aus. Die Örtlichkeit konnte für unsere Zwecke gar nicht passender sein. Wenn es uns gelang, die Tschoban zwischen das Felsenloch und das Felsentor zu bekommen, so war uns der Erfolg im höchsten Grade sicher. Der einzige Wunsch, der mir versagt zu bleiben schien, war der, auch oben in der Höhe einen Verbindungsweg zwischen dem Loch und dem Tor zu haben. Wenn die Feinde als Gefangene unten steckten und es einen verborgenen Weg in der Höhe gab, auf dem man zwischen unsern Abteilungen hin und her gelangen konnte, ohne daß die Tschoban es bemerkten, so |150A hatte man Vorteile in der Hand, die großen Wert besaßen. Als ich dies Abd el Fadl mitteilte, zeigte er mir ein sehr befriedigtes Gesicht und sagte:
»Ein solcher Weg ist da. Er führt von der Höhe des Loches nach der Höhe des Tores hin. Du hast aber weder seinen Anfang noch sein Ende gesehen, weil er sich nicht im Gebrauch befindet und also nicht ausgetreten ist. Ich und meine Tochter gehen immer nur unten hin, nicht aber da oben.«
»Kann man von diesem Höhenpfade nach unten gelangen?«
»Nein, nicht ganz. Wir haben es versucht, konnten aber von der letzten, unteren Felsenplatte nicht weiter.«
»Ist es dann noch sehr weit hinab?«
»O nein. Wenn man auf dieser Platte steht, befindet man sich höchstens drei Mann hoch über dem Ufer des Flusses.«
»Das ist ja doch nicht viel. Habt Ihr nicht versucht, den Weg bis vollends hinab zu führen?«
»Nein. Der Stein ist zu hart, und es fehlen uns die Werkzeuge, ihn zu bearbeiten. Willst Du die Stelle sehen?«
»Ich bitte Dich, mir diesen Höhenweg überhaupt zu zeigen. Dann wird es sich finden, ob der Pfad, der nicht ganz nach unten führt, uns nützlich werden kann oder nicht.«
Als wir dies besprachen, befanden wir uns in dem Versteck unserer Pferde, für welche Merhameh auf das Beste gesorgt hatte. Sie fraßen Mannakörner, und es war mir eine große Genugtuung zu sehen, daß ihnen dies für sie ganz ungewohnte Futter vortrefflich schmeckte. Es schien sogar eine Delikatesse für sie zu sein. Nun war die sehr wichtige Frage nach der Fütterung unserer Pferde in der Wüste nicht mehr imstande, mir Sorge zu bereiten.
Wir stiegen von da zum Tore empor. Noch ehe wir seine Zinne erreichten, zweigte der Höhenweg ab. Nur weil er nicht begangen wurde und also keine Spuren vorhanden waren, hatten wir ihn gestern, als wir zum ersten Male vorüberkamen, nicht entdeckt. Nur sein Anfang verlief in Verborgenheit; dann aber fiel er ganz von selbst in die Augen. Später wurde er sogar bequem und verlor diese Eigenschaft erst in der Nähe des Felsenloches, wo er wieder unbemerkbar wurde. Erst hatte ich einen solchen Weg nicht für möglich gehalten, und nun war es nicht nur erwiesen, daß es einen gab, sondern jetzt, wo es Mondschein gab, getraute ich mir sogar, ihn auch des Nachts zu gehen. Das konnte für uns außerordentlich nützlich sein. Wir waren ihn jetzt direkt von seinem Anfang bis an sein Ende gegangen, ohne daß Abd el Fadl uns die Stelle gezeigt hatte, an der ein Seitenpfad von ihm nach unten führte. Nun aber, als wir zurückkehrten und die Stelle erreichten, bogen wir um eine Felsenkante, die wir vorhin gar nicht beachtet hatten, und bemerkten, hinter derselben angelangt, eine ganze Reihe von ausgewitterten natürlichen Stufen und Absätzen, welche den Abstieg so weit ermöglichten, bis man auf die Platte gelangte, von der Abd el Fadl gesprochen hatte. Diese Platte lag gewiß fünf Meter hoch über dem unteren Weg, der längs des Flußufers hinführte, und war so groß, daß man, wenn man auf ihr lag, von unten nicht gesehen werden konnte. Höchst willkommenerweise lagen die Stufen, die nach der Platte führten, nicht etwa frei, sondern sie führten in Gestalt einer Rinne nach unten, welche den, der von oben herunterkam, den Blicken der Untenstehenden entzog, das war ein Umstand, den ich für außerordentlich günstig hielt. Für die Zwecke, die ich im Auge hatte, nämlich ein heimliches Eindringen mitten unter die Feinde, war mir die Höhe der Platte nicht hinderlich. Mein Lasso war genügend lang, um da hinabzureichen, und Spitzen, Löcher und Spalten gab es genug, ihn so zu befestigen, daß man sich ihm anvertrauen konnte. Doch sagte ich jetzt hiervon nichts. Später, wenn es sich als nötig zeigte, war immer noch Zeit genug dazu, es auch andern mitzuteilen.
Als wir am Felsentore wieder ankamen, neigte sich die Sonne zwar schon dem Untergange zu, aber ich wollte gern sehen, was Abd el Fadl für ein Reiter sei, und uns für unsern morgigen Ritt mit frischem Wasser versorgen. Darum schlug ich ihm vor, noch vor Nacht mit mir nach dem Brunnenengel zu reiten, den er zwar kannte, ohne aber zu wissen, daß sich ein vollgefülltes Bassin unter ihm befinde. Er hatte das nun erst |150B von uns erfahren und war sofort und gern bereit, das Innere des hochinteressanten, uralten Wasserwerkes kennen zu lernen. Wir leerten sämtliche Schläuche für Merhameh und nahmen dann alle vier Hunde mit, um volle Wasserlast zurückzubringen.
Abd el Fadl war aus der Übung gekommen, ritt aber nicht schlecht. Wir kamen sehr schnell hin zum Engel, aber nicht so rasch wieder fort. Das Innere des Brunnens beschäftigte meinen neuen Freund in außerordentlicher Weise. Er sagte, daß in der >Stadt der Geister< genau ganz derselbe Engel stehe, ohne daß aber jemand wisse, welchen Zwecken er gedient habe, als die Geisterstadt noch voller Leben war. Als ich ihn fragte, was er unter dieser >Stadt der Geister< verstehe, und wo sie liege, sagte er mir, daß es die alte Hauptstadt von Ardistan sei, die verlassen werden mußte, als der >Fluß des Friedens< plötzlich umgekehrt und nach Dschinnistan und dem Paradiese zurückgekehrt war. Diese herrlichste und ernsteste aller Ruinenstädte der Erde liege zwar nicht auf unserm jetzigen, geraden Wege nach Dschinnistan, aber er rate uns trotzdem, sie zu besuchen, weil sich uns im ganzen Leben niemals wieder ein solcher Anblick bieten werde.
Als wir nach dem Felsentore zurückgekehrt waren, nahmen wir drei, er, seine Tochter und ich, das Abendessen oben ein, während Halef es sich hinunterholte. Er sagte zwar, dies geschehe der Pferde wegen, bei denen er während der Nacht schlafen werde, in Wahrheit aber erschien ihm die Gefahr des Abstürzens in der Nacht noch größer als am Tage, und darum hatte er sich entschlossen, in der sichern Tiefe zu bleiben. Ich aber zog die Höhe vor, erstens um ihretwillen überhaupt, zweitens um der beiden lieben, hochinteressanten Menschen willen, mit denen ich den Abend verbringen wollte, um sie besser kennen zu lernen, und drittens um des vulkanischen Feuers willen, welches man unten nicht sehen, oben auf dem hohen Tore aber jedenfalls noch besser beobachten konnte als auf der zwischen Baumkronen liegenden Tempelzinne der Ussul.
Während ich mit Abd el Fadl beim Brunnenengel und seine Tochter mit Halef allein gewesen war, hatte letzterer die Gelegenheit benutzt, ihr soviel wie möglich von sich und mir zu erzählen. In ihrer Unbefangenheit wiederholte sie während des Essens das alles, damit auch ihr Vater es kennen lernen möge. Als er hörte, daß ich Schriftsteller sei und schon mehr als ein Buch geschrieben habe, schien sich sein Interesse für mich plötzlich zu verdoppeln. Er sagte aber noch nichts, sondern fragte mich zunächst nach dem Zweck und dem Inhalte dieser Bücher. Ich gab ihm Bescheid. Da schlug Merhameh die kleinen Hände zusammen und rief voller Freude aus:
»So schreibst Du ja über ganz dasselbe, worüber auch Vater schon so viel geschrieben hat! Du wirst in Dschinnistan ein lieber und willkommener Gast unsers Palastes sein und da in der Bibliothek die Bücher sehen, deren Verfasser er ist - - .«
Sie hatte wohl noch mehr sagen wollen, hörte aber schon nach diesem Satze auf, weil sie den freundlich strafenden Blick bemerkte, den ihr Vater auf sie warf. Sie errötete. Wahrscheinlich hatte sie nicht verraten sollen, daß er, der hier so einfach, ja ärmlich gekleidete Mann, daheim Paläste und Schlösser besaß und einer der höchsten Würdenträger des Reiches war. Er suchte den Eindruck ihrer Worte sofort wieder zu verwischen, indem er in bescheidenem Tone sagte:
»Ich habe nur ein einziges Buch geschrieben, mit dem ich, ehrlich gestanden, noch gar nicht fertig bin. Der Reichtum des Stoffes erfordert viele Bände.«
»Darf ich den Titel erfahren?« fragte ich.
»Kann es nach unsern Gesetzen ein anderer sein als nur mein Name? Du würdest wahrscheinlich >Insanija< sagen, die Menschlichkeit, die Humanität, ich aber, der ich Fadl heiße, sage nur >die Güte<. Du hast Dir die Aufgabe gestellt, in Reiseerzählungen nachzuweisen, daß es in jedem Konflikt des Lebens keine dauernde Siegerin geben kann als nur die wahre Humanität, die wahre Menschlichkeit. Ich behaupte ganz dasselbe von der wahren, menschenwürdigen Güte. Wir sind Brüder, Du und ich! Unser Vater ist der Verstand und unsere Mutter die Güte. Laß uns als Geschwister gegeneinander handeln und auch alle unsere Leser bitten, dies zu tun, Du die Deinen und ich die meinen!«
|151A Er reichte mir seine Hand. Wie gern schlug ich da ein!
Nach diesem Anfange konnte das weitere Gespräch sich unmöglich über alltägliche Dinge erstrecken. Ich entdeckte an diesem köstlichen Abende immer neue Vorzüge an dem hochgebildeten Vater unserer lieben, schönen Merhameh. Er war Staatsmann und Gelehrter; er war auch Dichter. Und ebenso war er auch Krieger, und zwar was für ein Krieger! Wir werden es im Verlaufe der Tatsachen erfahren! Er schien für gewöhnlich ein schweigsamer Mann zu sein; heut aber sprach er gern. Und ich hörte ebenso gern zu. Es war für mich eine ganz unerwartete Bereicherung, ein schnelles, freudiges, geistig erhebendes Lernen. Ich erfuhr an diesem Abende über die Psychologie des Orients mehr, als ich sonst in Monaten, ja vielleicht in Jahren erfahren hatte. Dazu verwandelten sich die Rauchwolken des Nordens nach und nach wieder in glühende Flammen. Die Berge warfen ihre großen, strahlenden, ewigen Worte in unser Gespräch. Kurz, es ist mir unmöglich, diesen Abend zu beschreiben. Merhameh saß nur immer mit gefalteten Händen da und sagte nichts, gar nichts. Welch ein Glück, das Kind eines solchen Vaters sein und von Jugend auf in so hoher, reiner Atmosphäre leben zu dürfen!
Ich habe Abd el Fadl einen Staatsmann genannt. Er war ein geborener Diplomat. Er hatte eine so eigene, durch ihre Güte unwiderstehliche Weise, zu erfahren, was er wissen wollte. Obgleich ich eigentlich nur sehr wenig sprach, befand er sich doch sehr bald im Besitze alles Wissens über meine literarischen Zwecke und Ziele und über die im Abendlande noch ungewohnte Art und Weise, in welcher ich diese Ziele zu erreichen suche. Ganz selbstverständlich interessierte er sich besonders auch für die Frage, ob ich die Absicht habe, auch die gegenwärtige Reise zu beschreiben. Als ich dies bejahte, erkundigte er sich:
»Wo wirst Du beginnen? Natürlich schon bei den Ussul, weil sie die fruchtbare Humuserde bilden, aus welcher sich Dein Werk zu erheben hat, um emporzustreben und Blüten und Früchte zu bringen?«
»Allerdings,« antwortete ich.
»So wird der erste Teil Deines Buches langweilig werden!«
»Das kann ich leider nicht vermeiden!«
»Der Humus ist ja für den Leser niemals interessant. Und tust Du noch so sehr Deine Pflicht, ihn mit den Wurzeln der kommenden Ereignisse zu beseelen, so wird man Dich trotzdem nicht begreifen. Man wird Dir vorwerfen, mystisch zu sein, weil jede Bewurzelung, auch die schriftstellerische, sich im mystischen Dunkel vollzieht. Man wird Geheimnisse finden wollen, die Du selbst nicht kennst. Man wird Dich tadeln, vielleicht sogar verdächtigen. Aber laß Dich das ja nicht anfechten! Du mußt hacken, düngen, pflanzen und bewurzeln, ganz gleich, ob dies denen, die keine Gärtner sind, gefällt oder nicht! Wenn sich dann die Erde öffnet und die ersten gesunden, frischen Keimblätter erscheinen, aus denen der Stamm emporzuwachsen hat, dann wird man anderer Meinung werden und Dir recht zu geben beginnen. Kennst Du die Stelle, an der diese Blätter sich zeigen werden?«
»Ja.«
»Wo?«
»Hier, bei Euch. Die ersten Lebenszeichen, mit denen mein Baum aus der Ussulerde steigt, seid Ihr beide, Du und Deine Tochter, die Güte und die Barmherzigkeit. Aus ihnen wird sich in kurzer Zeit die Kraft des Stammes entwickeln - - -«
»Des Dschirbani?« unterbrach er mich.
»Ja. Denn nur dieser ist es, an dem, mit dem und durch den wir andern alle wachsen werden.«
»Du hast es begriffen, Du hast es begriffen!« rief er in aufrichtiger, herzlicher Freude aus. »Laß sie tadeln, laß sie tadeln! Wie das Land der Ussul hinter Dir liegt, so wird auch bald dieser Tadel hinter Dir liegen. Du hast zunächst in den dumpfen Niederungen und den dunklen Wäldern des Moderlandes zu schreiben. Das einzige Licht, das es da gab, kam aus Vulkanen. Kein Wunder, daß man da Dich selbst für rätselnd und für mystisch hält, während Du doch nur von wirklichen, alltäglichen Dingen berichtest, die aber noch niemand kennt. Die Landenge, auf der wir uns heut und hier befinden, führt nicht nur Dich, sondern auch Deine Feder aus dem Lande |151B der notwendigen, natürlichen Unklarheiten hinüber in das Land des offenen, ungehinderten Sonnenscheines, wo sich das Leben nicht im Verborgenen, sondern offen und ungescheut vor Gottes Auge und dem Auge der Menschheit vollzieht. Schon morgen werden wir dieses Land betreten. Und von morgen an werden so, wie Deine Leser es wünschen, sich Tausende von Gestalten und Hunderte von Taten und Ereignissen aus der Wüste der Tschoban und aus den Gefilden der Dschunub erheben, um denen, die an Deinem Buche zweifeln, zu beweisen, daß Du in Deiner Schilderung der Ussul ganz richtig gehandelt hast und gar nicht anders konntest! Ich kenne dieses Land. Ich weiß, wie überraschend sich sogar die Wüste zu beleben versteht. Wir wissen auch sonst, was uns bevorsteht. Die Tschoban und die Ussul ziehen heran, um ihre rohen Kräfte miteinander zu messen. Die Dschunub sammeln sich von weitem, um über diese beiden herzufallen. Der 'Mir von Ardistan rüstet gegen dem 'Mir von Dschinnistan. Und hier stehen vier arme, schwache Menschen, welche aber ein so gütiges Wollen und ein so großes Gottvertrauen besitzen, daß sie fest entschlossen sind, den Kampf gegen alle diese Heere aufzunehmen und in Liebe und Versöhnung zu schlichten! Effendi, Du wurdest nicht in dem Erdteile geboren, über den Du schreiben willst; ich aber stamme aus Dschinnistan und weiß, was kommen und sich ereignen wird. Wir werden viel erleben, und Du wirst sehr viel zu erzählen haben. Deine Leser werden zufrieden mit Dir sein!«
Er reichte mir die Hand, als ob er mir ein festes Versprechen gebe. Dann war es Zeit, zur Ruhe zu gehen, denn nach dem Stande der Sterne befanden wir uns schon jenseits der Mitternacht, und am nächsten Tage wollten wir unsern Rekognoszierungsritt in möglichst früher Stunde beginnen. Als ich mich niederlegte, erglänzte der nördliche Himmel von zuckenden, goldenen Strahlen, die wie Engelsflügel nach dem Süden strebten. Und als ich wieder erwachte, stand das Morgenrot im Osten und Merhameh hatte schon das Frühstück gerüstet. Wir nahmen es ein und stiegen dann zu Halef hinunter, der uns erwartete. Die Pferde und meine beiden Hunde waren gesattelt. Die seinigen gingen natürlich nicht mit; sie blieben bei ihm. Ich berechnete unsere Abwesenheit auf zwei Tage, einen hin und einen zurück. Wahrscheinlich hatten wir in diesen zwei Tagen wenigstens vier gewöhnliche Tagesritte zurückzulegen. Das konnte ich unsern Pferden wohl zumuten; ob aber auch meinem Begleiter, das hatte sich erst zu zeigen.
Ich instruierte Halef für alle Fälle, deren Eintritt mir möglich erschien. Merhameh hörte sehr aufmerksam zu. In ihren Augen lag eine so große Offenheit und Ruhe des Verständnisses, daß ich mich auf sie fast ebenso verließ wie auf den Hadschi selbst. Abd el Fadl war heut nicht barfuß. Er hatte leichte, lederne Reitstrümpfe an, durch welche seine arme Habe, die er hier besaß, vervollständigt wurde. Anstatt der Hüftschnur trug er einen breiten Linnengürtel, in dem ein Messer und zwei Pistolen steckten. Als mein Blick auf diese Waffen fiel, sagte er in entschuldigendem Tone:
»Sie sind nicht für den Angriff, sondern nur für die Verteidigung bestimmt, falls es gar nicht anders geht.«
Die Sonne stieg soeben aus der See empor, als wir aufbrachen. Der Abschied war kurz. Wir nahmen nicht an, daß wir Gefahren entgegengingen. Die Wasserschläuche waren gefüllt; da gab es keine Not. Und in Beziehung auf den Proviant waren wir auch vollauf versehen. Merhameh hatte uns, während wir schliefen, Mannabrot gebacken und unsern Fleischvorrat so trefflich angebraten, daß er sich ganz gewiß noch bis morgen abend hielt. Um Feuer zum Backen und Braten zu machen, besaß sie Holz genug. Zwar war es unmöglich, dies aus der Nähe zu beziehen, aber die täglich vom Süden heraufsteigende Meeresflut trug aus den Küstenwaldungen der Ussul so viel Brennstoff herbei, daß er niemals fehlte.
Gleich in der ersten Viertelstunde unsers Rittes wurde mir von seiten der Hunde eine Freude zuteil, die ich hier erwähnen muß, weil sie sich auf später sehr wichtig Werdendes bezog. Noch hatten wir uns nämlich, in gerad nördlicher Richtung reitend, nicht weit von dem Engpaß entfernt, so blieben Aacht und Uucht plötzlich stehen und gaben Laut. Sie baten durch Gebärden, nach links hinüber zu dürfen. Abd el Fadl lächelte.
|152A »Laß ihnen den Willen!« sagte er. »Sie wollen Dir zeigen, was sie können. Zum ersten Male in ihrem Leben und, wie es scheint, sogleich mit größter Sicherheit.«
Wir folgten den Hunden in die angegebene Richtung. Schon nach kurzer Zeit hielten sie an, untersuchten mit gesenkten Nasen den Boden und begannen dann, ihn aufzukratzen, und zwar an einer Stelle, wo sichtbare Spuren bewiesen, daß schon vor uns jemand hier gewesen war und an demselben Punkt nachgegraben hatte.
»Was gibt es da?« fragte ich. »Wohl Manna?«
»Ja,« antwortete mein Begleiter. »Das ist die Mannakammer, die wir entdeckt haben, und von der wir seitdem zehren. Ich habe Dir zwar nichts vorher gesagt, aber ich war außerordentlich gespannt darauf, ob sie den Ort finden und uns zeigen würden. Daß sie es getan haben, beruhigt mich für alle fernere Zeit. So lange diese Hunde bei uns sind, werden wir nicht zu hungern brauchen. Schlagen wir unsere Richtung getrost wieder ein!«
Er wollte weiter. Ich aber stieg vom Pferde, um die braven Hunde zu beloben. Ich holte eine Handvoll Mannakörner unter dem Sande hervor, hielt sie ihnen hin, streichelte und liebkoste sie mit der andern Hand und wiederholte dabei den Namen Manna so oft, bis sie einsahen, daß ich damit diese Körner meinte, die sie gefunden hatten. Durch Schweifwedeln, einige fröhliche Sprünge gaben sie zu erkennen, wie sehr sie sich freuten, dies begriffen zu haben. Nun erst stieg ich wieder auf und folgte Abd el Fadl, der bereits vorangeritten war.
Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß er Ben Rih, den Rappen Halefs, ritt, denn auf meinen Syrr hätte ich wohl keinesfalls verzichtet. Die Gegend, durch welche wir kamen, zu beschreiben, kann ich hier unterlassen, weil ich sie später wieder zu berühren habe. Ich will nur kurz in das Gedächtnis zurückrufen, daß der südliche Teil des Tschobangebietes Wüste war, |152B der nördliche aber Steppe. Durch beide ging das leere Bett des ausgetrockneten Flusses, das Land in eine östliche und eine westliche Hälfte teilend. Die Zeichen, welche auf der Karte des Dschinnistani Wasser bedeuteten, lagen auf der westlichen Hälfte. Auch Abd el Fadl war der Ansicht, daß dieser Teil des Landes mehr verborgenes Wasser besitze als der andere Teil. Es gab allerdings auch ausgetrocknete Wasserrinnen, welche noch heut davon zeugten, daß es außer dem Hauptstrome hier noch andere Flüsse und Flüßchen gegeben habe. Andere Leute aber, nämlich die Ussul und auch die Tschoban selbst behaupteten, daß die östliche Landeshälfte wasserreicher sei, weil es da eine Anzahl oasenähnlicher Punkte gab, die sich von Zeit zu Zeit mit frischem Grün bekleideten und den Pferden, Kamelen, Rindern, Eseln, Schafen und Ziegen der nomadisierenden Bewohner Nahrung boten. Ich freilich führte das nicht auf eine größere Wassermenge, sondern auf eine andere Beschaffenheit des Bodens zurück, der hier weicher und erdiger war und den oft mehrere Meter langen Wurzeln gewisser Calligonum- und Mimosenarten gestattete, senkrecht in größere Tiefe zu steigen, bis die Grundfeuchtigkeit erreicht ist. Ich hätte also zu jeder Wanderung, sei es nun eine kriegerische oder eine friedliche, den westlichen Teil des Landes vorgezogen; da aber bei den Tschoban der Osten für feuchter galt, so war mit Sicherheit anzunehmen, daß ihr Kriegszug gegen die Ussul nach dort verlegt worden sei. Wir konnten also getrost so tun, als ob der Westen gar nicht vorhanden sei, und unsere Aufmerksamkeit nur auf den Osten richten. Darum ritten wir bis zur Hälfte des Nachmittages genau nach Norden, wobei wir uns in der Nähe des alten Flusses hielten, denn dieser bildete die äußerste westliche Linie, die von dem Heere der Tschoban berührt werden konnte. Wahrscheinlich aber hatten sie einen weiter östlich liegenden Weg gewählt, der von der südlichsten Oase ausging, auf der ihre Tiere die letzte Gelegenheit zur Weide fanden. Darum bogen wir |153A nun aus unserer bisherigen Richtung in einem rechten Winkel genau nach Osten ab, um auf alle Fälle unsern Zweck zu erreichen. Denn falls sie schon vorüber waren, so trafen wir ganz unbedingt auf ihre Fährte und wußten dann also, woran wir waren. Und falls wir keine Spuren entdeckten, so waren sie eben noch nicht unterwegs und wir konnten in aller Ruhe auf ihr Kommen warten.
Wir hatten nur einmal kurz nach Mittag, in der größten Sonnenhitze, Rast gemacht und wollten auch nicht eher wieder aus dem Sattel steigen, bis es Abend geworden war oder uns ein besonderer Grund zwang, es zu tun. Gesehen hatten wir bisher nichts, gar nichts. Die Pferde waren zu loben und Abd el Fadl auch; sie hatten sich vortrefflich gehalten. Zwar hatte die Spannkraft ganz selbstverständlich nachgelassen, aber ein Zeichen der wirklichen Ermüdung gab es nicht, obgleich wir bis jetzt, um die Mitte des Nachmittags, eine Strecke zurückgelegt hatten, zu welcher das Heer der Tschoban voraussichtlich über zwei Tage brauchte. Und wir ritten noch einige Stunden weiter, bis die bisher vollständig glatte, langweilige Ebene sich mit jenen Erhöhungen zu beleben begann, welche der arabisch sprechende Beduine mit dem Namen >Shiwahn el Handal< zu bezeichnen pflegt. Dieser Ausdruck bedeutet soviel wie >Koloquintenzelt< und ist aus dem Grunde gewählt worden, weil diese Erhöhungen meist die Form eines größeren oder kleineren, oft riesigen Zeltes besitzen und ihre Entstehung den Koloquinten oder ähnlichen Wüstenpflanzen verdanken. Durch den Widerstand, den der regelmäßige Tageswind an den Ranken der Gewächse findet, wird er bewogen, sie zu übersanden. Die Pflanze ist bemüht, aus diesem Sand emporzusteigen; sie treibt neue Ranken nach der Seite und nach oben, welche der Wind dann wieder bedeckt. Aus diesem Kampf zwischen Wind und Vegetation steigt nach und nach ein Hügel empor, der meist die Form eines runden, oft aber auch vielseitigen Zeltes besitzt und zu bedeutender Höhe gelangen kann. Ist die Unterlage anstatt einer Koloquinte eine Naraspflanze, deren armdicke Ranken und Wurzeln eine Länge von fünfzehn Metern erreichen, so können sich Sanddünen bilden, die zwanzig Meter hoch sind. Eine von solchen >Shiwahn el Handal< durchzogene Gegend bietet von weitem den Anblick eines Zeltlagers, welcher aber nur den Neuling täuschen kann. Aber die seelische Wirkung äußert sich auch auf den Kenner. Wer sich zwischen diesen natürlichen Sandbauten befindet, den überkommt ein Gefühl der Unsicherheit. Es ist ihm, als ob jeden Augenblick ein Feind oder sonst irgend eine unliebe Überraschung zwischen den Zelten hervortreten werde.
Darum war ich eigentlich nicht dafür, inmitten dieser Erhöhungen zu übernachten; aber sie erstreckten sich, so weit der Blick reichte, und nun stand die Sonne schon fast am Verscheiden. Es blieb also nichts übrig, als den Umständen Rechnung zu tragen. Wir suchten daher eine passende Stelle, einen Platz, der rundum von Sandhügeln umgeben war und uns die notwendige Verborgenheit bot. Er war bald gefunden; wir stiegen ab, und ich umging ihn in einem weiteren Umkreise, um mich zu überzeugen, daß sich nicht etwa schon andere Leute in der Nähe befanden. Es zeigte sich keine Spur irgend eines lebenden Wesens, und so sattelten wir ab und machten es nicht nur uns, sondern auch unsern Pferden und Hunden bequem. Sie hatten ihre Pflicht vollauf getan und die Fürsorge gar wohl verdient, die der Mensch so edlen, arbeitswilligen und treuen Geschöpfen schuldig ist. Schon unterwegs hatten wir ihnen die Lippen und Nüstern wiederholt mit Wasser gekühlt; während der Mittagspause waren ihnen, ebenso wie uns, nur einige Schluck gestattet worden; jetzt aber bekamen sie ein vollauf genügendes Quantum zu trinken und dann auch so viel Futter, daß sie gesättigt wurden. Ich darf nicht vergessen, zu erwähnen, daß Aacht und Uucht uns im Laufe des Tages noch zweimal auf Mannalager aufmerksam gemacht hatten. Beide Gelegenheiten waren von mir benützt worden, ihnen das Wort Manna so oft vorzusagen, daß sie es nun genau kannten.
Wir waren nun müde, und schliefen sehr bald ein. Zu wachen brauchten wir nicht, denn wir konnten uns auf die scharfen Sinne und ebenso auch auf die Klugheit der Hunde verlassen. Daß dies der Fall sei, wurde uns gleich heut, am ersten Abend unsers Rittes, bewiesen. Nach dem Stande der |153B Sterne war es noch nicht Mitternacht, so weckten mich die Hunde. Das hatte einen Grund. Ich setzte mich auf und lauschte. Zu sehen und zu hören war nichts. Aber ein ganz eigenartig scharfer und bitterlicher, mir bisher unbekannter Geruch war zu spüren, und zwar so leise, daß eine gute Nase dazu gehörte, ihn zu bemerken. Die Stelle, der er entströmte, lag also nicht so in unserer Nähe, daß wir befürchten mußten, entdeckt zu werden. Ich roch, daß er von einem Feuer kam. Es handelte sich ohne Zweifel um Menschen, und so verstand es sich ganz von selbst, daß ich nachschauen mußte, wer und wo sie waren. Ich weckte also Abd el Fadl auf und teilte ihm das Nötige mit; dann ging ich fort, dem Geruch entgegen, der, je weiter ich kam, immer stärker wurde. Die Hunde ließ ich zurück; ich brauchte sie nicht.
Schon nach kurzer Zeit erkannte ich den Geruch. Es war der unangenehme Bitterstoff der Koloquinten. Man hatte die abgestorbenen dürren Wurzeln dieser Pflanzen aus dem Sande gegraben und als Brennmaterial verwendet. Klug war das nicht. Ich schloß daraus, daß wir es nicht mit vorsichtigen und erfahrenen Leuten zu tun hatten. Ich mußte mich zwischen einer ganzen Anzahl von Sandzelten hindurchwinden, ehe ich die Stelle erreichte, um die es sich handelte. Da fand ich drei Menschen, drei Pferde und drei Kamele. Das Feuer war so klein, daß es viel mehr stank als leuchtete. Ich sah und roch sofort, daß es nur dem Zwecke gedient hatte, Kaffee zu kochen. Der war soeben fertig geworden, und nun ließ man das Feuer ausgehen. Es kam mir höchst sonderbar vor, mit stinkendem Koloquintenholze sich aromatisch duftenden Kaffee kochen zu wollen; für uns aber war es gut, daß man es getan hatte, denn wer weiß, was geschehen wäre, wenn uns nicht grad diese Unklugheit in den Stand gesetzt hätte, diese Leute zu entdecken.
Nichts konnte mir beim Heranschleichen und Belauschen förderlicher sein als die Sanderhöhungen, hinter denen man so leicht verborgen bleiben konnte. Der Mond, der an unserm ersten Abend bei den Ussul uns nur als schmale Sichel erschienen war, hatte jetzt den Halbkreis erreicht. Sein Licht genügte, mir das, was ich sah, so deutlich zu zeigen, daß ich mich nicht irren konnte, wenn es auch nicht möglich war, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten zu erkennen. Was ich jetzt nicht sehen konnte, das sah ich dann am folgenden Morgen um so deutlicher, und so ist es mir schon heut möglich, unsere neue Bekanntschaft eingehender zu beschreiben, als ich sie jetzt hier liegen sah. Ich fange bei den Tieren an. Die Kamele waren nicht zwei-, sondern einhöckerig; ihr schlanker, lang gegliederter Bau verriet, daß sie nicht Last-, sondern Reitkamele, ja sogar vielleicht Eilkamele seien. Jetzt allerdings wurden sie nicht zum Reiten, sondern zum Lasttragen benützt. Das zeigten die Sättel, die man ihnen abgenommen und neben sie gelegt hatte. Ihre Ladung bestand aus Wasserschläuchen, Proviant und einigen wenigen Kleidungsstücken und Decken. Aus dem Umstande, daß man diese Art von Kamelen gewählt hatte, war zu schließen, daß der Ritt ein eiliger sei. Zwei von den Pferden waren von demselben hohen, knochigen, aber nicht so schweren unbeholfenen Schlage, den ich an den Pferden der drei von uns gefangenen Tschoban beschrieben habe. Sie waren zwar keine Renner, jedenfalls aber gute, ausdauernde Läufer. Das dritte Pferd war edler. Es gehörte zu derselben Perserrasse, zu der die Schimmel des Maha-Lama und des obersten Ministers der Dschunub zu zählen waren. Was nun die drei Männer betrifft, so war einer von ihnen allem Anschein nach ein gewöhnlicher Mensch. Seine Kleidung bestand nur aus einem Kopftuche und einem hemdartigen Haïk. Er saß abseits und war, wie ich am nächsten Tage erfuhr, von den beiden andern als Führer mitgenommen. Diese beiden saßen miteinander am Feuer. Der eine von ihnen hatte den Kaffee gekocht und goß ihn jetzt aus der mitgebrachten Bronzekanne in kleine Tassen. Er tat dies mit sehr wenig Geschick. Es war anzunehmen, daß er sonst ganz andere Dinge zu tun hatte, als Kaffee kochen. Ein gewöhnlicher Mann war er nicht. Seine Kleidung war die eines wohlhabenden Nomaden. Die grüne Farbe seines Turbans zeigte, daß er als Nachkomme Mohammeds galt und also den Ehrentitel >Sejjid< führte. Er war ein schon älterer Mann, behandelte aber seinen viel jüngeren |154A Genossen mit einer Liebe und Aufmerksamkeit, aus der zu ersehen war, daß der letztere im Range doch über ihm stand. Dieser jüngere kam mir gleich beim ersten Blick bekannt vor. Es war mir, als ob ich ihn schon einmal gesehen hätte. Sein Alter schätzte ich gegen dreißig Jahre. Er trug weißen Turban, Hose, Weste, Jacke und einen mantelähnlichen Umhang in bunten Farben, dazu lederne Halbstiefel mit sehr großräderigen Sporen. Sein Gesicht war äußerst sympathisch, obgleich es durch zwei vorne herabhängende Haarzöpfe einen fremdartigen, fast möchte ich sagen, hunnenhaften Ausdruck bekam. Seine Waffen bestanden, wie auch bei den andern, aus Lanze und Flinte, Pfeil, Bogen und Messer. Als ich ihn so betrachtete, stieg in mir das Gefühl oder vielmehr die Überzeugung auf, daß er zu den nicht sehr oft anzutreffenden Menschen gehöre, die man lieb haben muß, man mag wollen oder nicht.
Seine beiden, vorn herabhängenden Zöpfe verrieten mir, warum er mir so bekannt vorkam. Zwei solche Zöpfe trug unser Gefangener, Palang, der Panther, der >Erstgeborene< des Volkes der Tschoban. Der jetzt vor mir sitzende junge Mann war einige Jahre älter als der Palang, sah ihm aber so ähnlich, daß der Gedanke, er müsse verwandt mit ihm sein, sehr nahe lag. Jedenfalls gefiel er mir aber viel besser als der >Panther<. Aus dieser Ähnlichkeit und aus diesem starkknochigen Bau der Pferde war, wenn auch nicht grad mit Sicherheit, zu schließen, daß die Leute, die ich belauschte, Tschoban seien. Wenn diese meine Vermutung richtig war, so hatten wir es hier vielleicht mit den ersten Vorposten oder Kundschaftern zu tun, die dem Heere vorausgeritten waren. Aber dieser Gedanke erschien mir nicht ganz unbedingt als annehmbar. Die Zeit stimmte nicht. Ich kannte ja den Tag, an dem die Tschoban den Engpaß von Chatar passieren wollten, um vier Tage später auf der Marahka, dem alten Schlachtfelde, einzutreffen. Falls diese Zeit eingehalten wurde, mußten sie schon weiter vorgerückt sein als die drei Männer, die ich jetzt vor mir hatte. Es war ja meine Berechnung gewesen, heut hinter sie zu kommen, um aus ihren Spuren alles ersehen zu können, was uns zu wissen nötig war. Mit unsern schnellfüßigen Pferden konnte es uns dann nicht schwer fallen, ihnen wieder vorauszueilen.
Jetzt tranken beide von dem eingegossenen Kaffee. Sie führten die Tassen fast zu gleicher Zeit an den Mund. So stellte sich die Wirkung auch gleichzeitig auf beiden Seiten ein: sie spuckten das, was sie in den Mund genommen hatten, sofort wieder aus.
»Pfui!« rief der Sejjid aus. »Allah verdammen die Bitterkeit! Wer soll das trinken können!«
Er ließ eine Gebärde des höchsten Abscheues folgen und warf die Tasse in den Sand.
»Ich warnte Dich!« sagte der junge Mann herzlich lachend, indem er sich auch seiner Tasse entledigte, wenn auch in ruhiger, nicht zorniger Weise. »Es ist das erste Mal in Deinem Leben, daß Du Kaffee kochst.«
»Und grad mit solchem Holze!« zürnte der Sejjid. »Wie kann der Kaffee so unvernünftig sein, den Gestank und Geschmack der Koloquinten an sich zu ziehen! Ich bin zornig. Nicht meinetwegen, sondern Deinetwegen. Verzeihe mir, o Prinz!«
Prinz? Dieses Wort fiel mir sofort auf. Ebenso auch die Weise, in welcher der Sejjid sprach. Er begleitete alles, was er sagte, durch erklärendes Mienenspiel und durch Hand- und Fingerbewegungen, welche den Zweck hatten, die hörbaren Worte auch in sichtbare umzuwandeln. So pflegt man zu tun, wenn man mit einem Schwerhörigen oder gar Tauben spricht. Man kann sich wohl denken, daß mein Interesse durch die Beobachtung verdoppelt wurde. Prinz wurde ja auch der >Panther< genannt. Und obwohl sich dieser als >Ilkewlad<, also als >Erstgeborener< bezeichnete, war er doch nicht von Geburt Thronfolger, denn er hatte einen älteren Bruder, der eigentlich >Kronprinz< war und nur darum auf die Nachfolge verzichtet hatte, weil ihm durch eine unglückliche Ursache das Gehör geraubt worden war. Man lobte diesen wirklichen Ilkewlad, diesen eigentlichen Erstgeborenen. Man stellte ihn in jeder Beziehung über seinen Bruder. Auf jeden Fall war er beliebter als dieser. Sollte er es sein, dem ich hier mitten in der Wüste begegnete? Welch ein Glück für uns, wenn es so wäre! Eine schnelle, kluge und |154B energische Ausnutzung dieses Umstandes konnte in äußerst günstige Folgen für uns umzusetzen sein!
Der Sejjid wollte den Kaffee, der sich noch in der Kanne befand, wegschütten. Da bat der Führer, ihn trinken zu dürfen. Er bekam ihn. Die beiden Herren aber stopften sich ihre Tschibuks, um den Geruch der Koloquinte durch den Duft des Tabaks zu vertreiben.
»Nur einige Züge wollen wir tun; dann müssen wir schlafen,« sagte der, welcher Prinz genannt worden war. »Wir müssen schon vor der Sonne wieder auf. Meinst Du, daß wir den Engpaß Chatar dann morgen noch vor Nachts erreichen?«
»Ja,« antwortete der Sejjid, indem er zugleich nickte, um verstanden zu werden.
»Da dürfen wir aber unterwegs keine Ruhepause machen,« fiel der Führer ein. »Es ist von hier aus bis zum Engpaß so weit, daß unsere Krieger über zwei Tage brauchen würden, um hinzukommen. Ich glaube, daß wir es mit unsern guten Pferden und Kamelen in diesem einen Tage machen; aber sie werden, wenn wir dort eingetroffen sind, so ermüdet sein, daß sie nicht weiterkönnen.«
»Was hat er gesagt?« fragte der Prinz, der ihm angesehen hatte, daß er sprach, doch ohne ihn hören zu können.
Der Sejjid übersetzte ihm die Worte des Führers in die Zeichensprache, in der sie beide sich verstanden. Da erkundigte sich der Prinz:
»Und wann hätten wir unsere tausend Krieger erreicht, wenn wir ihnen auf ihrem Wege nachgeritten wären, anstatt diesen direkten und geraden Weg nach dem Engpaß einzuschlagen?«
»Erst übermorgen,« antwortete der Sejjid, indem er diese Worte aussprach und zugleich in Zeichen übertrug.
»So war es richtig von uns, diesen schnurgeraden Weg zu wählen, obgleich es da keinen grünen Halm für unsere Tiere gibt. Wir wollen nur hoffen, daß die Tausend nicht unterwegs zu darben haben! Sonst verzögert sich ihr Zug und wir kommen zu spät, um meinen Bruder zu retten. Welch ein Glück, daß die andern, von denen er sich getrennt hatte, ehe er mit seinen beiden Begleitern gefangen wurde, ihm dennoch nachritten, weil sie Angst um ihn bekamen! Und noch klüger war es von ihnen, daß sie keine Zeit auf die vergebliche Mühe verwendeten, ihn zu befreien, sondern sofort in einem Atem heimwärts ritten und es meinem Vater meldeten! Habe ich da recht oder nicht?«
»Du hast recht,« antwortete der Sejjid, indem er zustimmend nickte.
»Mein Bruder sollte sich an die Spitze des Kriegszuges stellen,« fuhr der Prinz fort. »Nun er aber gefangen ist, hat mein Vater die Führung selbst übernommen, da mir meine Taubheit leider verbietet, dieses wichtigen Amtes zu walten. Nun handelt es sich freilich nicht mehr um den gewöhnlichen Beutezug, sondern um die endgültige Eroberung des ganzen Gebietes von Ussulistan. Wie gern wäre ich dabei, um so viel wie möglich die Härte des Krieges zu mildern und um in Liebe zu erreichen, was im Haß so schwere Opfer kostet! Wehe den Ussul, falls wir siegen! Und daß wir siegen, daran ist nicht zu zweifeln! Ich würde es ihnen verzeihen; ja, ich finde es sogar ganz selbstverständlich und richtig, daß sie meinen Bruder festgenommen haben. Er aber kennt keine Gnade; er wird es ihnen blutig entgelten lassen. Er wird das Leben unserer eigenen Krieger nicht schonen, um Rache an den Ussul nehmen zu können. Es wird zu Kämpfen kommen, die auch auf unserer Seite viele Menschenleben kosten werden. Und doch brauchen wir diese Menschen grad jetzt viel nötiger als sonst - - -«
»Die Dschunub, die Dschunub!« fiel der Sejjid lebhaft ein, indem er mit der Hand nach Norden deutete.
Der Prinz verstand diesen Wink sofort.
»Du meinst Dschunubistan,« sagte er. »Ja, wer hätte an einen so plötzlichen Krieg mit den Dschunub gedacht! Und grad jetzt, wo tausend unserer Krieger, und zwar die besten und bewährtesten, nach Süden gezogen sind, den Vater an ihrer Spitze! Er weiß noch kein Wort von dieser Gefahr. Durfte ich ihn durch einen Boten unterrichten?«
»Nein,« antwortete der Sejjid, indem er den Kopf schüttelte.
|155A »Nein! Die Sache ist zu wichtig. Ich muß ihm diese schlimme Botschaft selbst überbringen, muß mich mit ihm besprechen, muß aus seinem Munde selbst hören, was er bestimmt, damit ich es richtig auszuführen vermag. Das Geratenste ist, daß wir uns möglichst beeilen, Ussulia mit einem schnellen Handstreich zu überrumpeln. Nicht erst nach dem alten Kampfplatz Marahka ziehen und lange, unnütze Reden halten, sondern über die Stadt herfallen wie ein Dieb in der Nacht. Ich bin überzeugt, daß sie sich da ergibt, ohne Widerstand zu leisten. Das bietet uns Grund und Gelegenheit, human und menschlich zu verfahren. Auch wird dadurch mein Bruder sofort frei und kann die Unterwerfung von Ussulistan zu Ende führen, während hingegen mein Vater Zeit gewinnt, schleunigst in die Heimat zurückzukehren und sich gegen die Dschunub zu wenden. Mein Freund, ich ahne, es naht eine schwere Zeit, aber auch eine große Zeit. Es gilt, diese Zeit zu begreifen! Glaube mir, der Säbel ist es nicht mehr, der entscheidet! Ich sage Dir, die Schlachten der Völker wurden früher durch die rohe Faust und später durch die Intelligenz gewonnen. Heut ist auch diese Intelligenz nicht stark genug, den Sieg allein zu erringen. Es kommt noch etwas Neues, etwas in der Kriegsgeschichte bisher Unbekanntes hinzu, nämlich die Menschlichkeit, die Schonung, die Güte und Barmherzigkeit! Ohne diese neue Heldengestalt ist jede Schlacht verloren, selbst wenn man sie gewinnt - -!«
Er sprang von seinem Sitze auf und sprach begeistert weiter. Dabei blieb er aber nicht auf seinem Platze stehen, sondern er ging hin und her. Er kam mir dabei wiederholt so nahe, daß es nur noch eines Schrittes bedurfte, so mußte er mich sehen. Ich hielt es also für geraten, mich zurückzuziehen. Ich hatte ja genug erfahren, und was ich noch nicht wußte, das konnte ich mir durch einiges Nachdenken selbst ergänzen. Übrigens stand es schon jetzt bei mir fest, daß ich mit diesem prächtigen Menschen schon morgen noch ganz anders sprechen würde, als er jetzt mit seinem Sejjid sprach. Ich zog mich also aus meinem Versteck zurück und ging nach unserm Lagerplatz, wo Abd el Fadl auf mich wartete.
Wie erstaunte er, als er hörte, wen ich gesehen hatte! Und wie überrascht war er von dem, was gesprochen worden war!
Als ich meinen Bericht beendet hatte, sagte er:
»Es sind also doch noch mehr Kundschafter der Tschoban in Ussulistan gewesen, als man dachte! Ich habe sie nicht gesehen. Wer feindliche Absichten hat, der passiert den Engpaß meist des Nachts, weil da die Gefahr, jemandem zu begegnen, wegen der Enge des Raumes am allergrößten ist. Sie wissen, daß Prinz >Panther< gefangen ist! Der alte Scheik hat darum den Oberbefehl selbst übernommen! Und hierauf erfährt der in Tschobanistan zurückgebliebene, ältere Prinz, daß die Dschunub es mit den Tschoban grad so machen wollen, wie diese mit den Ussul! Er reitet seinem Vater schleunigst nach, um ihm dies zu melden und ihn zu warnen! Aber er reitet in sehr kluger Weise direkt nach dem Engpaß, während sie sich weiter östlich gehalten haben, um einiger weniger, schlechter Futterplätze willen, die ihnen gar nichts nutzen, sondern ihren Zug nur aufhalten können! Das ist ein Zeichen, daß sie schlecht mit Proviant und Futter versehen sind. Sie rechnen jedenfalls darauf, gleich jenseits des Engpasses verwüsten, brandschatzen und plündern zu können, ganz wie es ihnen beliebt! So haben sie ja stets getan. Wie aber, Effendi, denkst Du über ihren jetzigen Plan?«
»Genau so wie Du! Sie irren sich!« antwortete ich.
»Das meine ich allerdings auch. Was hast Du für heut beschlossen?«
»Wir schlafen ruhig ein und schlafen ruhig aus.«
»Ohne uns des weiteren um den Prinzen zu bekümmern?«
»Ja.«
»Wird er uns nicht entdecken?«
»Nein. Wir liegen nicht in der Richtung, die er einzuschlagen hat. Er reitet nach Süden; wir aber lagern westlich von ihm. Er will noch vor der Sonne aufbrechen, hat also keine Zeit, sich vorher lange umzusehen.«
»So willst Du ihn fortlassen, ohne mit ihm gesprochen zu haben?«
»Ja.«
»Und wohl nach weiteren Spuren der Tschoban suchen?«
|155B »Nein! Dieser Prinz ist mir wertvoller und nützlicher als tausend Spuren, die wir noch entdecken könnten. Wir suchen nicht weiter, denn wir haben mehr als genug gefunden. Wir kehren also um. Wir reiten ihm nach.«
»Um ihn gefangen zu nehmen?«
»Warum das? Der wäre doch wohl ein schlechter Polizist, der sich mit einem Menschen quälen wollte, der ganz von selbst und ohne allen Zwang nach dem Gefängnis läuft. Ich würde nur im Notfall Gewalt anwenden, nur beim Eintritt zwingender Ereignisse, von denen ich jetzt noch nichts weiß. Schlafen wir ganz ruhig wieder ein!«
»Aber wenn wir aufwachen, ist er fort!«
»Das soll er auch!«
»Vielleicht wo ganz anders hin, als Du jetzt denkst! Er kann leicht seine Beschlüsse ändern!«
»So reiten wir ihm einfach nach. Nun ich ihn einmal habe, gebe ich ihn nicht wieder her!«
»Bist Du denn Deiner Sache so sicher, ihm folgen zu können, ohne daß Du ihn siehst?«
»Vollständig! Wie hier die Verhältnisse liegen, wird seine Fährte wie eine feste, unzerreißbare Schnur sein, die ich immer in der Hand behalte. Gute Nacht, mein lieber Freund!«
»Gute Nacht, Effendi!« sagte er, tief Atem holend. »Wenn Du glaubst, zuversichtlich und zufrieden sein zu dürfen, so bin ich es auch. Allah gebe uns Frieden! Nicht nur für diese Nacht!«
Ich schlief schnell wieder ein, und zwar so fest, daß ich nicht von selbst aufwachte, sondern von Abd el Fadl geweckt werden mußte.
»Steh auf, Effendi!« sagte er. »Der Prinz ist längst schon fort.«
»Woher weißt Du das?« fragte ich.
»Ich vermute es, weil die Sonne längst schon aufgegangen ist und er doch vorher aufbrechen wollte. Willst Du nicht einmal nachsehen?«
»Sogleich!«
Ich stand auf und schlich mich zu der Stelle, an der die Tschoban gelagert hatten. Sie war leer. Es gab soviel Reste und Beweise ihrer Anwesenheit zu sehen, daß ein arabischer Beduine über eine solche Sorglosigkeit im höchsten Grade erstaunt gewesen wäre. Was es heißt, sich auf dem >Kriegspfade< zu befinden, davon schienen diese Leute keine Ahnung zu haben! Ihre Spuren waren so deutlich, als ob sie mit Absicht gemacht worden seien, und keiner von ihnen hatte sich auch nur die geringste Mühe gegeben, sie wieder zu verwischen. Als wir ihnen eine Viertelstunde später folgten, bedurfte es nicht der geringsten Anstrengung, ihre Fährte zu entdecken. Sie bildete in Wirklichkeit die feste, unzerreißbare Schnur, von der ich gesprochen hatte.
Unsere Pferde gingen ganz von selbst schneller als die ihren. Darum dauerte es gar nicht lange, bis wir ihnen so nahe waren, daß wir sie von weitem sahen; da hielten wir an. Das wiederholte sich so oft und in immer so gleicher, eintöniger Weise, daß es uns langweilig wurde. Wir beschlossen, sie zu überholen, doch nach der Seite hin, so daß sie uns nicht sehen konnten. Wir durften dies sehr wohl tun, weil sie nun stundenlang die Richtung nach dem Engpaß eingehalten hatten und es keinen Grund für uns gab, anzunehmen, daß sie von ihr abweichen würden. Wir wendeten uns also ein Stück nach Norden hinüber, und als wir glaubten, uns weit genug von ihnen entfernt zu haben, bogen wir wieder in die südliche Richtung ein, so daß wir nun eine Linie innehielten, die mit der ihren parallel ging, ihr aber nicht so nahelag, daß sie uns sehen konnten. Infolge unsers rascheren Tempos überholten wir sie sehr bald und kamen ihnen Stunde um Stunde immer weiter voran, so daß wir den Engpaß eher erreichen mußten als sie, obgleich wir zu Mittag eine Ruhepause machten, sie aber nicht. Abd el Fadl war voll des Lobes für unsere unvergleichlichen Pferde. Er behauptete, so etwas noch nie gesehen zu haben. Er hatte sie liebgewonnen und liebkoste und streichelte sie ohne Ende, denn auch zu dem meinigen langte er herüber.
Es war ungefähr zwei Stunden nach der erwähnten Ruhepause, als am Horizont zu unserer rechten Hand ein Reitertrupp |156A auftauchte, der uns ein Rätsel war. Zunächst konnten wir, der großen Entfernung wegen, den Trupp eben nur als Trupp sehen, nicht aber die einzelnen Reiter unterscheiden. Als diese Unterscheidung möglich war, zählten wir acht Personen. Sie hatten eine südliche, später mit der unseren zusammenlaufende Richtung eingehalten; als sie uns aber sahen, kamen sie auf uns zu. Hinter ihnen tauchte bald darauf ein zweiter Trupp auf, der aus vielen Kamelen und nur soviel Reitern bestand, wie nötig waren, die Kamele zu dirigieren. Das waren die Wasserschlepper für die acht vorausreitenden Personen. Diese letzteren waren sehr gut beritten, und zwar mit dunkelfarbigen Perserpferden. Nur einer von ihnen saß auf einem Schimmel, der sehr edlen Blutes war. Dieser eine ritt voran. Er war eine sehr langbeinige, aber um so kurzleibigere Gestalt. Fast konnten sich seine Füße unter dem Bauch des Pferdes berühren. Seinem Oberkörper aber fehlte es derart an der Höhe, daß es aussah, als ob ein junger, noch in der Entwicklung stehender Mensch von siebzehn Jahren im Sattel sitze. Natur und Kunst hatten versucht, diesen Mangel durch einen ganz besonders martialischen Ausdruck seines Gesichtes auszugleichen, welches außerordentlich voll- und langbärtig war. Demselben Zweck diente wohl auch die ungewöhnlich hohe, militärische Pelzmütze, auf der ein ebenso hoher Busch von Reiherfedern prangte. Auch seine sieben Begleiter trugen solche Mützen; nur waren die Reiherbüsche von so abnehmender Größe, daß der Busch des sechsten nur aus einer einzigen kleinen Feder bestand, bei dem siebenten aber ganz fehlte. Das war wohl im Rangunterschiede begründet.
Der Eindruck, den diese Leute machten, war ein außerordentlich kriegerischer. Sie waren ganz gleich gekleidet, zwar orientalisch bequem und bunt, aber nach derselben Farbe und auch demselben Schnitt. Wir hatten ihre Anzüge also als Uniformen zu betrachten. Bewaffnet waren sie mit allen im Oriente gebräuchlichen Schuß-, Hieb- und Stechinstrumenten. Eine Ausnahme hiervon machte nur der eine, der auf dem Schimmel saß. |156B Er trug einen kostbaren Säbel und im Gürtel eine Pistole, weiter nichts. Als er mit seinen Leuten uns erreichte, kommandierte er ein lautes, gebieterisches »Halt!« Sie gehorchten sofort. Wir zwei aber ritten weiter.
»Halt!« rief er nun auch uns zu.
Wir taten, als hätten wir es gar nicht gehört.
»Halt!« rief er noch einmal, und zwar mit nicht nur lauter, sondern brüllender Stimme. Wir aber ritten eben weiter. Da kam er uns nach; die andern aber blieben halten.
»Warum gehorcht Ihr nicht?« donnerte er uns an. »Haltet an, sage ich; haltet an!« -
Wir ritten trotzdem weiter. Er kam neben uns her und fuhr fort:
»Seid Ihr etwa taub, so sagt es mir! Könnt Ihr hören oder nicht?«
Ich antwortete trotz der Lächerlichkeit seiner Aufforderung:
»Wir sind nicht taub. Wir hören, was Du sagst.«
»Warum gehorcht Ihr da nicht?«
»Wer bist Du, daß wir Dir gehorchen müßten?«
»Sag mir erst, wer Du bist!«
»Ich bin Ussul.«
Diese Auskunft war ganz richtig, denn ich war ja Ussul geworden.
»Ussul?« - fragte er erstaunt, indem er mich mit verwundertem Blicke musterte. »Ich habe mir die Ussul anders gedacht! Ich will zu ihnen. Ich komme aus Dschunubistan. Weißt Du, daß vor einigen Tagen zwei sehr hohe Herren aus Dschunubistan zu Euch gekommen sind?«
»Ja; das weiß ich sehr wohl.«
»Hast Du erfahren, wer sie sind?«
»Der oberste Minister und der Maha-Lama, der höchste aller Priester.«
»Das stimmt! Wie sind sie aufgenommen worden?«
»Ganz ihrer hohen Würde und ihren Absichten gemäß.«
Da wurde sein Gesicht freundlicher und auch seine Stimme verzichtete auf den zürnenden Ton, als er sagte:
»Das freut mich! Aber Du weißt natürlich nicht, was sie bei Euch wollen!«
|157A »Warum soll ich das nicht wissen? Sie wünschen, ein Bündnis mit uns abzuschließen, ein Bündnis gegen die Tschoban.«
»Allah!« rief er aus. »Auch dieses stimmt! Wer hat es Dir gesagt?«
»Sie beide selbst.«
»Sie beide selbst? Ist das wahr?«
Er musterte mich noch schärfer als bisher.
»Warum sollte ich etwas sagen, was nicht wahr ist?« fragte ich in schärferem Tone.
»Verzeih! Die beiden hohen Herren können solche Mitteilungen keinem gewöhnlichen Ussul machen!«
»Habe ich gesagt, daß ich ein gewöhnlicher sei?«
»Nein! Und Eure Pferde - - -! Maschallah! Was für hochfeine, köstliche Tiere! Ich denke, Ihr Ussul habt nur dicke, unförmliche Ungetüme, welche den Nashörnern und Nilpferden gleichen!«
»Was das betrifft, so wirst Du noch manches andere über uns erfahren, was Dich verwundern wird!«
Er betrachtete während wir immer weiter ritten, uns, besonders aber unsere Pferde noch eingehender als bisher. Der hohe Wert der letzteren leuchtete ihm sichtbar ein. Aber meine nicht ganz einheimische Erscheinung und der ärmliche Anzug meines Begleiters beirrten ihn. Doch kam er zu dem Resultat:
»Solche Pferde, wie diese hier, kann nur ein vornehmer und reicher Ussul besitzen. Ich bitte Dich, mir zu sagen, wer Du bist!«
»Es ist bei uns Sitte, vorher zu erfahren, mit wem man spricht,« wies ich ihn zurück.
»Das sollte ich eigentlich verschweigen; aber ich höre, daß Du in das Geheimnis eingeweiht bist, und halte es also für erlaubt, Dir Auskunft zu geben. Ich bin nämlich der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne von Dschunubistan.«
Da hielt ich mein Pferd an und sagte:
»Wenn dieser Dein Titel etwa noch länger ist, so verzeih, daß ich Dich unterbreche. Schau Dich nach Deinen Leuten um! Sie warten dort, wo Du ihnen Halt geboten hast, auf Deine Erlaubnis, weiterreiten zu dürfen. Wenn Du sie ihnen nicht augenblicklich gibst, werden wir für sie verschwunden sein, noch ehe Du mit Deinem Titel ganz zu Ende bist!«
Sie hielten wirklich noch an derselben Stelle und schauten hinter uns drein, ohne ihrem Vorgesetzten folgen zu dürfen. Dieser überhörte die in meinen Worten liegende Ironie, hob den Arm befehlerisch in die Höhe und schrie zurück:
»Vorwärts, vorwärts; ich erlaube es!«
Da ritten sie weiter. Auch wir setzten unsere Pferde wieder in Bewegung, wobei er uns mitteilte, wer sie waren:
»Wer ich bin, das wißt Ihr nun, nämlich der allerhöchste Offizier von ganz Dschunubistan. Auf Ritten, wie der jetzige ist, haben mich alle Bestandteile des Heeres zu begleiten. Darum seht Ihr hier einen General, einen Oberst, einen Major, einen Hauptmann, einen Leutnant, einen Unteroffizier und einen gewöhnlichen Soldaten.«
»So ist der Zweck dieses Deines Rittes gewiß ein sehr militärischer oder, sagen wir, strategischer?« erkundigte ich mich.
Nämlich sein ganzer, langer Titel bedeutete weiter nichts als nur den einen kurzen Ausdruck >Stratege<. Er war, um mich europäisch auszudrücken, wahrscheinlich der Generalstabschef des Scheiks von Dschunubistan.
»Sogar sehr!« antwortete er, indem er mit der Hand an den Säbel schlug und sein Pferd zu einer demonstrierenden Lançade zwang. »Daß die Tschoban Euch überfallen sollen, das weißt Du schon?«
»Allerdings.«
»Und daß wir Euch helfen wollen, sie zu besiegen, auch?«
»Ja.«
»Dergleichen Bündnisse sind gewöhnlich äußerst geheim zu halten. Unser Scheik aber, der bekanntlich ein berühmter Diplomat ist, beschloß aus wohlerwogenen Gründen, auf diese Heimlichkeit zu verzichten. Wir haben ganz in der Nähe des Scheiks der Tschoban unsere besten Spione. Wir erfuhren, daß er seinen Sohn, den >Panther<, auf Kundschaft nach Ussulia geschickt habe. Diesem >Panther< fällt die Aufgabe zu, |157B die Eroberung von Ussulistan zu leiten. Er hat einen älteren Bruder, der ist zwar taub, aber ein außerordentlich kluger Mensch, den wir als Ratgeber zu fürchten haben. So lange er und sein Vater, der alte Scheik, daheimbleiben, sind wir gezwungen, zwei Heere zu halten, nämlich eines zur Beobachtung dieser beiden und eines als Verbündete für Euch. Darum sannen wir auf ein Mittel, den Scheik samt dem tauben Prinzen zu zwingen, an dem Zuge ihrer Krieger nach Ussulistan teilzunehmen. Mit den dann führerlos zurückbleibenden Tschoban hätten wir hierauf leichtes Spiel. Aber wir fanden kein derartiges Mittel. Da plötzlich sandte uns einer unserer Spione einen Eilboten mit der Nachricht, daß der >Panther< von den Ussul ergriffen worden sei und der alte Scheik sich schnell selbst an die Spitze seiner Krieger stellen werde, um den Engpaß von Chatar zu überschreiten und den Gefangenen zu befreien. Wie lieb uns diese Botschaft war, kannst Du Dir denken! Nun handelte es sich darum, auch den tauben Prinzen zu entfernen. Wir waren überzeugt, dies durch den Verrat unseres Bündnisses mit Euch zu erreichen. Wenn der Prinz erfuhr, daß wir Euch zu Hilfe kommen, war er gezwungen, seinen Vater hiervon sofort zu benachrichtigen. Eine so wichtige Botschaft aber vertraut man nicht andern an, sondern man bringt sie möglichst selbst, zumal der Sohn sich unbedingt mit dem Vater zu beraten hat, was geschehen soll, um uns sowohl im Norden bei den Tschoban als auch im Süden bei den Ussul abzuwehren. Darum schickten wir dem Sohne des Sef el Berinz seinen Eilboten schnell wieder zurück und wiesen ihn an, dem Prinzen zunächst unser Bündnis mit Euch mitzuteilen und sodann ihn auf den Gedanken zu bringen, seinem Vater diese Kunde nicht durch einen Boten, sondern in eigener Person zuzutragen.«
»Ist ihm das gelungen? Hat er das erreicht?« erkundigte ich mich, als er eine Weile Pause machte.
»Das weiß ich nicht, denn ich hatte keine Zeit, es abzuwarten,« antwortete er. »Ich bin aber überzeugt, daß der Prinz jetzt schon unterwegs ist. Aber nicht nur er, sondern ich bin es auch! Weil sie beide nach Süden sind, der Scheik der Tschoban und sein tauber Prinz, brauchen wir kein besonderes Beobachtungskorps im Norden. Unser Heer darf also beisammen bleiben und ist sofort nach dem Süden aufgebrochen, nach dem Engpaß von Chatar, um sich mit Euern Kriegern zu vereinigen. Ich aber bin selbst vorausgeeilt, um Eure Verhandlungen mit unserm Maha-Lama und unserm Minister, falls sie noch zu keinem Resultate geführt haben sollten, schnell zu Ende zu bringen. Vielleicht ist es gut, daß ich schon unterwegs auf Euch gestoßen bin. Was sagst Du dazu?«
Ich stellte mich tief nachdenklich und sagte zunächst nichts. Ich wollte Zeit gewinnen. Die unvorhergesehenen Tatsachen und Verwicklungen stürmten ja förmlich auf uns ein. Es war, als ob es hoch im Norden eine mächtige, starke Hand gebe, die uns die Ereignisse wie Kugeln zuschob, mit denen sie Kegel spielte. Wir aber hier unten dienten als Kegelknaben. Wir hatten weiter nichts zu tun, als jeden Kegel zur rechten Zeit an die richtige Stelle zu setzen.
Vor allen Dingen hatte dieser Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne einen außerordentlichen, ja unverzeihlichen Fehler begangen, ohne es zu ahnen. Er hatte in seinem Eifer einen Namen genannt, den er gar nicht nennen wollte und durfte. Er hatte damit verraten, daß der Mensch, der die Tschoban an die Dschunub verriet, der Sohn jenes >Schwert des Prinzen< sei, der unser Gefangener war. Hieraus ließen sich Schlüsse ziehen, an die ich mich in diesem gegenwärtigen Augenblicke unmöglich wagen konnte.
Sodann drängten sich dadurch, daß die Tschoban von den Dschunub nicht an der im Norden zwischen ihnen liegenden Grenze, sondern hier im Süden angegriffen werden sollten, die Tatsachen so eng und so zwingend zusammen, daß fast gar keine Zeit zum Überlegen blieb. Heut war nämlich schon Sonntag, und für morgen, also den Montag, stand das Eintreffen der Tschoban am Engpasse bevor, falls es bei dem Plane blieb, den uns der Sef el Berinz auf der Insel, als ich mit dem Scheik der Ussul lauschte, verraten hatte. Was gab es bis dahin noch alles zu tun! Würde der Dschirbani zur rechten Zeit mit seinen Hukara eintreffen? Diese höchst wichtige Frage und viele |158A andere, ebenso wichtige, wollten sich mir jetzt aufdrängen; aber ich konnte mich nicht mit ihnen beschäftigen, denn der >Stratege< mit dem langen Titel nahm mich in Anspruch. Er sagte:
»Nachdem ich Euch gesagt habe, wer wir sind, erwarte ich dieselbe Höflichkeit auch von Euch. Ich bitte zunächst Dich, mir Auskunft zu geben!«
Diese Aufforderung war an Abd el Fadl gerichtet. Er antwortete:
»Ich heiße Abd el Fadl.«
»Bist auch Ussul?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Mein Vaterland ist Dschinnistan.«
Da fuhr der >Stratege< so hoch im Sattel in die Höhe, wie es bei seinem kurzen Oberkörper möglich war, und rief im Tone des Mißtrauens aus:
»Also ein Dschinnistani, ein Feind von uns? Und gibst Dich für einen Ussul aus?«
»Wann hat er das getan?« fragte ich. »Ihr habt noch kein einziges Wort miteinander gesprochen!«
Er antwortete streng:
»Weil Du ein Ussul bist, mußte ich selbstverständlich auch ihn für einen halten! Ich bitte nun auch um Deinen Namen!«
»Man nennt mich Kara Ben Nemsi.«
Kaum hatte ich das gesagt, so hielt er sein Pferd schnell an, griff auch dem meinigen in die Zügel und fragte, noch strenger werdend:
»Ben Nemsi? Bist etwa auch Du kein Ussul?«
»Ich bin einer,« antwortete ich.
»Aber Dein Name deutet auf eine ganz andere Herkunft! Wo bist Du geboren?«
»In Dschermanistan.«
»Das zwischen Inglistan, Frankistan, Russistan und Österrandscha liegt?«
»Ja.«
»So bist Du doch nicht Ussul! Du hast mich belogen!«
In jedem andern Falle hätte ich dieses letztere Wort energisch zurückgewiesen; hier aber erklärte ich in aller Ruhe:
»Ich bin nicht als Ussul geboren und habe Dich aber trotzdem nicht belogen. Ich bin Ussul geworden. Die Ussul wünschten es so.«
»Wer nicht als Ussul geboren ist, kann auch kein Ussul sein und niemals Ussul werden! Ich glaube Euch also nicht. Die Ussul sind nicht so klein wie Ihr und haben auch nicht solche Pferde. Übrigens kommt Ihr nicht von den Ussul her, sondern Ihr reitet nach ihrer Gegend hin. Das heißt, Ihr kommt aus dem Lande der Tschoban. Das ist im höchsten Grade verdächtig. Ihr seid entweder Tschoban oder Freunde und Verbündete von ihnen. Vielleicht ist der taube Prinz doch daheimgeblieben, und Ihr seid die Boten, die er seinem Vater nachsendet, um ihn über unser Bündnis mit den Ussul zu unterrichten!«
»Aber bedenke, daß ich doch wußte, daß Euer oberster Minister und der Maha-Lama zu den Ussul geritten sind! Ich muß also Ussul sein!«
»O nein! Denn der Sohn des - - -« er hielt mitten in der Rede inne und verbesserte sich, indem er fortfuhr: »Unser Spion bei den Tschoban hat gewußt, daß wir diese beiden schicken wollten. Er hat das dem Prinzen gleich auch mit gesagt, und von dem hast dann Du es erfahren. O, ich durchschaue Dich! Ich muß mich sicher stellen. Ich nehme Euch gefangen. Hoffentlich leistest Du keinen Widerstand, der Dir schlecht bekommen würde! Ich bin der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne des Reiches Dschunubistan! Verstanden?«
»Das imponiert mir nicht,« antwortete ich.
»Aber wir sind acht Personen, und Ihr seid nur zwei. Bedenke das!«
»Auch das würde mich nicht hindern, mich zu wehren, wenn ich mich überhaupt wehren wollte. Es wäre aber Unsinn, dies zu tun; denn wir reiten zu den Ussul, und Ihr reitet zu den Ussul, und wenn wir hinkommen, wird sich sofort finden, wie die Sache steht. Ich habe also gar nicht nötig, Widerstand zu leisten.«
|158B »Das meine ich auch. Du scheinst mir, Deine Verdächtigkeit abgerechnet, ein anständiger und besonnener Mensch zu sein, den man nicht wie einen gemeinen Kerl zu behandeln braucht. Ich müßte Dir eigentlich die Waffen abnehmen, will es aber nicht tun, wenn Du mir versprichst, Dich als unsern Gefangenen zu betrachten und keinen Versuch zu machen, uns zu entfliehen.«
»Ich verspreche beides.«
»Dein Gefährte auch?«
»Ja,« antwortete Abd el Fadl.
»Das genügt!« entschied der Stratege. »Ihr werdet einsehen, daß ein Mann von meinem Range nicht mit Leuten verkehren kann, die seine Gefangenen sind; ich ziehe mich also zurück von Euch. Wir werden zwei Abteilungen bilden: vier von uns reiten vorn, vier hinten; Ihr aber reitet in der Mitte. Also, rückt ein!«
Es geschah, wie er gesagt hatte: er setzte sich mit dem General, dem Oberst und dem Major an die Spitze; der Hauptmann, der Leutnant, der Unteroffizier und der Soldat schlossen sich hinten an, und wir, na, wir, wir rückten eben ein! Dann setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Jedermann war still, auch Abd el Fadl. Ich sah, indem ich neben ihm herritt, scheinbar ohne ihn zu beachten, daß er mich wiederholt und prüfend betrachtete. Endlich gab er seinen Gedanken Ausdruck, indem er in zurückgehaltenem Tone fragte:
»Willst Du wirklich in dieser Weise weiterreiten? Als Gefangener, Effendi?«
»Ja,« antwortete ich.
»Was wird Dein Halef dazu sagen! Wie er Dich mir und meiner Tochter geschildert hat, habe ich ein ganz anderes Verhalten von Dir erwartet.«
»So hat er mich eben falsch geschildert.«
»Was würdest Du aber tun, wenn Du wirklich kein Ussul, sondern ein Freund der Tschoban wärst?«
»Ich würde den Mann mit dem unendlichen Titel auslachen und alle seine Chargen dazu. Hierzu habe ich aber doch, wie die Verhältnisse liegen, nicht den geringsten Grund. Ich würde uns, wenn ich jetzt so ganz unnötig widerstrebte, das Vergnügen verderben, welches uns daheim erwartet. Unter diesem >Daheim< verstehe ich natürlich Deinen Engpaß, auf dem Deine Wohnung liegt.«
»Das Vergnügen? Welches Vergnügen?« fragte er.
»Das Wiedersehen unserer verschiedenen Gefangenen. Als Gefangene betrachte ich schon im voraus auch alle die, die wir noch nicht eigentlich festgenommen haben.«
»Auch diese acht Offiziere hier?«
Er meinte damit die acht vor und hinter uns reitenden Personen.
»Ja,« nickte ich. »Es wird sich doch wohl sehr interessant gestalten, wenn die beiden Prinzen der Tschoban ganz unerwartet aufeinandertreffen oder wenn unsere jetzigen Begleiter nebst dem Maha-Lama und dem obersten Minister einander eingestehen müssen, daß sie trotz all ihrer vermeintlichen Klugheit, Vornehmheit und Würde unendlich dumm gehandelt haben.«
»Und wenn Du dann beide einander gegenüberstellst, die Tschoban und die Dschunub, die erst die Ussul und dann sich gegenseitig selbst überlisten und umbringen wollen und nun zu ihrer Beschämung einsehen müssen, wie sehr sie selbst überlistet worden sind!« fiel Abd el Fadl mit schnellem Verständnis ein. »Ja, Du hast recht, Sihdi; es erwarten uns höchst interessante Szenen, die vielleicht schon heut beginnen können. Wir sind nämlich dem Engpaß schon sehr nahe. In einer Stunde haben wir ihn erreicht. Wer aber ist das, da draußen?«
Er deutete bei diesen Worten nach der Ebene vor uns hin, auf der ein dickes, vierfüßiges Tier erschien, auf dem irgend etwas saß. Es kam grad auf uns zugelaufen, und zwar im Zotteltrab. Je mehr es sich uns näherte, desto größer wurde es für uns und desto deutlicher sah man auch, wer es war, den es auf seinem Rücken trug. Man kann sich denken, wie verwundert ich war, als ich Smihk, den Dicken, erkannte! Der kleine Kerl, der auf ihm saß, war Halef. Abd el Fadl hatte recht: die interessanten Szenen begannen schon heut, schon jetzt.
Die beiden sonderbaren Wesen, die, das eine auf dem andern sitzend, so gar nicht zueinander paßten, erregten erst das |159A Erstaunen und dann die Heiterkeit der Offiziere. Sie hielten an und begannen herzlich zu lachen. Ich nahm ihnen das nicht übel, denn wir lachten beide ja mit, Abd el Fadl sowohl wie auch ich selbst. Dieser Reiter auf diesem Pferde, oder dieses Pferd mit diesem Reiter, das sah allerdings schon an und für sich zu komisch aus, wurde aber noch drolliger dadurch gemacht, daß Halef, der Kleine, anhalten wollte, Smihk, der Dicke, aber nicht. Der Urgaul hatte den Kopf gesenkt, starrte nur immer grad vor sich hin und rannte in schnurgerader Linie weiter und immer weiter, ohne auf die Bitten und Drohungen, Stöße und Püffe seines Reiters zu achten. Dieser hielt zwar die Zügelstricke fest in den Händen, doch war es ihm unmöglich, mit ihrer Hilfe dem kolossalen Nacken des eigenwilligen Ungetüms eine andere Richtung zu geben. Hier konnte nur ich allein helfen. Ich ritt also einige Schritte aus dem Trupp der lachenden Dschunub heraus, sprang vom Pferde und stellte mich dem Durchbrenner mit ausgebreiteten Armen in den Weg. Da sah und erkannte mich der Hadschi.
»Handulillah!« jubelte er auf. »Du, Sihdi, Du? Rette mich, rette mich! Das Vieh ist übergeschnappt! Die Bestie ist verrückt geworden! Halte sie an, die Lokomotive; halte sie an!«
Jetzt war der Gaul mir nahe.
»Smihk, Smihk!« rief ich ihm entgegen. »Smihk, Smiiihhhk!«
Er erkannte meine Stimme. Er hob den Kopf. Aber die Kraft der Beharrung wirkte derart auf seine Bewegungsnerven und infolge dessen auf seine ungeheure Fleisch-, Fett- und Knochenmasse, daß es ihm unmöglich war, sogleich stehenzubleiben. Ich mußte auf die Seite springen; er rannte vorüber. Aber indem er das tat, sah und erkannte er mich und stieß einen Schrei der Freude aus, der aber so entsetzlich klang, als ob ihm durch diesen meinen Anblick die ganze Seele mitten entzwei gerissen worden sei. Dann endlich gelang es ihm, zu stoppen. Er drehte sich nach mir um, blieb aber fest, wie angenagelt stehen, warf den Kopf hoch empor, riß das Maul sperrangelweit auf und vollführte dann ein Geschrei, ein Gebrüll, ein Freudengeheul, als ob einige Dutzend Drehorgeln und Leierkasten auf uns losgelassen worden seien. Da verwandelte sich das Lachen der Dschunub auch in ein förmliches Brüllen. Sie konnten nicht anders; sie mußten. Es war gradezu unmöglich, der Lächerlichkeit der Szene zu widerstehen. Auch ich brüllte mit; aber Smihk, der Dicke, überbrüllte uns alle! Dann machte er einen gewaltigen Sprung, noch einen und noch einen, bis zu mir her, zog mir seine Zunge erst quer und dann lang von unten herauf über das Gesicht und war mir für die Ohrfeige, die ich ihm dafür gab und die er wahrscheinlich für eine Liebkosung hielt, so dankbar, daß er vor lauter Wonne wieherte, grunzte, kläffte, blökte, meckerte, schnurrte, gluckste, gackerte, kollerte und girrte, als ob er im Besitze aller Tierstimmen sei, durch die es möglich ist, diejenige Art der Zuneigung auszudrücken, welcher auch die tief unter dem Menschen stehenden Geschöpfe fähig sind. Ich sah und hörte im Leben wohl viele Menschen lachen, aber mit solcher Urkraft und Ausdauer wie damals die Offiziere der Dschunub nie wieder. Nur einer von uns allen lachte nicht mit, und dieser eine war grad der Held dieses homerischen Gelächters, nämlich mein kleiner Halef Omar, der gar wohl einsah, was für eine komische Rolle er spielte und uns darum unsere laute Lustigkeit nicht übel nahm, sich an ihr aber nur mit einem ganz kleinen, leisen Lächeln beteiligte. Er wartete geduldig, bis wir aufgehört hatten, und sagte dann zu mir:
»Ich danke Dir, Sihdi! Mit Dir ist das Viehzeug ins Wasser gesprungen. Mit mir wollte es in fünf Minuten rund um die Erde. Wer sind diese lästigen Leute hier?«
Ich legte meine beiden Hände eng zusammen, was in der Gebärdensprache der Haddedihn die Aufforderung ist, vorsichtig zu sein, und ja nichts zu verraten, und antwortete hierauf, indem ich auf den Strategen deutete:
»Dieser hier ist der Tertib We Tabrik Kuwweti Harbie Fenninde Mahir Kimesne des Scheikes von Dschunubistan, und die andern sind seine Offiziere.«
Halef war gewiß verwundert, als er dies hörte, ließ sich das aber nicht merken, sondern zuckte die Achseln und antwortete mit einem Blick auf den kurzen Oberkörper des Genannten:
|159B »Sein Titel ist länger als er selbst. Wenn er auf Smihk, dem Dicken, säße, würde er wohl nicht königlicher aussehen als ich! Soll ich mit ihm tauschen? Sein Schimmel gefällt mir sehr!«
»Schweig!« fuhr ich ihn scheinbar zornig an. »Ich bitte mir Achtung aus vor diesem Helden! Wir sind nämlich seine Gefangenen!«
»Seine Gefangenen? Ihr? Du? Gefangener dieser paar Menschen?« fragte er.
Sein Blick, den er im Kreise rund herumgehen ließ, war zunächst ein überraschter, nahm aber sehr schnell einen ganz andern Ausdruck an. Sein Gesicht wurde heiter und immer heiterer. In seinen Mund- und Augenwinkeln begann jener Schalk zu spielen, den ich sehr wohl kannte. Wenn die kleinen Fältchen da so zuckten und zitterten wie jetzt, war stets ein Streich unterwegs, mit dem er einen andern übertölpelte. Da fragte zu seinem eigenen Schaden der Stratege:
»Wer ist dieser kleine Kerl, dieser Mensch, der es wagt, mit mir tauschen zu wollen?«
»Wer ich bin?« gegenfragte Halef. »Ein Bewunderer Deines Schimmels! Das habe ich Dir ja schon gesagt! Gib ihn her! Ich will Dir zeigen, wie schnell es mit der Gefangenschaft meines Effendi zu Ende ist!«
Er trennte sich mit einem schnellen Sprunge von dem Urgaul, den er stehen ließ. Mit einem zweiten Sprunge schnellte er sich zu dem Strategen hin, und mit einem dritten schwang er sich zu ihm auf den Schimmel, so daß er hinter dem Sattel zu knien kam, riß den Reiter aus den Bügeln, warf ihn vom Pferde, setzte sich selbst fest, griff nach den Zügeln und ritt davon, indem er mir zurief:
»Der Tausch ist gemacht. Er reite nun den Smihk!«
Er eilte im Galopp dahin, woher er gekommen war, also dem Engpasse zu. Der zur Erde gestürzte Stratege sprang wieder auf und tat das Allerdümmste, was er tun konnte, nämlich, er rief seinen Leuten zu:
»Ihm nach, ihm nach! Sofort! Fangt ihn! Schießt ihn nieder! Bringt mir mein Pferd zurück!«
Sie gehorchten. Sie ritten davon, aber genau dem Range nach. Erst der General, zuletzt der >gemeine Soldat<. Jeder wartete, bis sein Vorgesetzter die Verfolgung begonnen hatte, und ritt erst dann hinter ihm her, nachdem dies geschehen war. Das sah nicht nur dumm aus, sondern war auch wirklich dumm, denn Halef bekam dadurch einen Zeitvorsprung, der sich dadurch, daß der Schimmel das beste und schnellste aller Dschunubipferde war, von Minute zu Minute vergrößerte. Als der letzte, nämlich der Soldat, hinter dem Unteroffizier her in Bewegung kam, war der kleine Hadschi beinahe schon am Horizont verschwunden. Da jammerte der Mann mit dem langen Titel.
»Sie holen ihn nicht ein! Sie bekommen ihn nicht! Mein Pferd ist verloren! Ich muß ihm schleunigst nach! Herunter von Deinem Rappen! Herunter, augenblicklich!«
Dieser Befehl war nicht an mich gerichtet, denn an mich schien er sich denn doch nicht zu wagen, sondern an Abd el Fadl. Dieser sah mich fragend an, ob er absteigen und ihm Ben Rih überlassen solle. Da deutete ich auf Smihk und antwortete dem Strategen:
»Diese Rappen gehören uns. Nimm Dir das Ussulpferd!«
»Das mag ich nicht!«
»So bleib hier sitzen!«
Wir setzten uns in Bewegung. Da griff er Abd el Fadl in den Zügel und rief:
»Her mit dem Hengst! Ihr seid meine Gefangenen und habt zu gehorchen!«
Abd el Fadl aber riß ihm den Zügel wieder aus der Hand und ritt davon. Ich folgte. Als Smihk das sah, warf er den Kopf empor und begann zu jammern. Er wollte nicht mit. Der Stratege aber bekam Angst; er eilte zu ihm hin und kletterte hinauf. Das stimmte den Urgaul sofort um. Sobald er den fremden Reiter auf sich fühlte, brüllte er zornig auf und rannte uns nach, und zwar mit gleichen Beinen. Natürlich konnte er nicht mit uns Schritt halten. Das ärgerte ihn gewaltig. Er brüllte immer lauter.
Als ich nach einiger Zeit nach ihm zurückschaute, sah ich, daß der Stratege sich trotz seiner langen Beine alle Mühe geben |160A mußte, sich auf dem breiten Rücken des Pferdes festzuhalten. Er saß nicht mehr, sondern er lag auf ihm. Indem er sich mit beiden Händen an der Mähne festhielt, war von ihm weiter nichts als nur die Kopfbedeckung zu sehen, und es bekam dadurch den Anschein, als ob sich der hohe, wedelnde Federbusch auf dem Schädel Smihks befinde. Das sah unendlich drollig aus, konnte von uns aber leider nicht ausgekostet werden, weil wir keine Zeit hatten, uns weiter um dieses Pferd und diesen Reiter zu bekümmern. Wir hatten uns zu bemühen, die vor uns reitenden Dschunub zu überholen, und zwar so rasch und so weit wie möglich. Darum machte ich kurzen Prozeß und rief unsern |160B beiden Hengsten ihre Geheimnisse zu. Was das bedeutet, weiß jeder meiner Leser. Kaum hatten die Rappen die betreffenden Worte gehört, so schienen sie nicht mehr zu laufen, sondern zu fliegen. Der Beduine sagt von dieser fast unglaublichen Schnelligkeit: »Die Hufe fressen die Erde!«
Die Rangordnung verbot, daß irgend einer der Dschunub seinen vor ihm reitenden Vorgesetzten überholte. darum ritten sie so, wie sie einander gefolgt waren, nämlich genau in der Rangordnung, und wir überholten sie so, wie sie einander in derselben folgten, nur umgekehrt, nämlich zuerst den Soldaten und zuletzt den General. Wie erstaunt sie waren, als wir wie |161A im Sturme an ihnen vorüberflogen! Nun hatten wir nur noch Halef einzuholen, den wir jetzt noch nicht sahen, so weit war er ihnen voraus.
So lächerlich die Begegnung mit Smihk gewesen war, so ernst und so wichtig hatten wir sie zu nehmen. Hinter uns kamen die Heere unserer Feinde, der Tschoban und der Dschunub, doch ließen beide mich in diesem Augenblicke vollständig unbesorgt; ich glaubte an den Sieg. Viel mehr beunruhigte mich das so ganz unerwartete Erscheinen meines Hadschi und des Urgaules. Wo Smihk war, war natürlich auch sein Herr, der Scheik der Ussul. Warum war er gekommen? Was wollte er? War der Dschirbani auch schon da? Es mußte etwas außerordentlich Wichtiges geschehen sein, sonst hätte Halef den Engpaß und Merhameh gewiß nicht verlassen, um uns in die Wüste hinein entgegenzureiten. Ich ahnte, daß wir jetzt während dieses schnellen Rittes ganz ungewöhnlichen Dingen entgegenflogen, und daß mich diese Ahnung nicht täuschte, wird schon die nächste Folge der vorliegenden Erzählung beweisen, die eigentlich jetzt erst zu leben beginnt.