Wenn ich die Ereignisse der letzten Tage überdenke, so stellen sie sich mir derart zwingend und drängend dar, daß es fast zum Verwundern ist. Am Montag war es, als die Ussul meinen Halef ergriffen und ich dafür ihren Scheik gefangen nahm. Am Dienstag waren wir nach Ussulia geritten, und nachts stand ich mit der Priesterin und Taldscha auf dem Tempel. Am Mittwoch, also gestern, wurde der Kriegszug gegen die Tschoban und unsere Beteiligung daran zur fest beschlossenen Sache. Und am Donnerstag, heut, befand ich mich mit Halef schon unterwegs, um nach dem Schauplatz dessen, was geschehen sollte, voranzureiten. Das war doch wohl ein Stringendo, welches zum Nachdenken trieb. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß, wenn die Ereignisse einander so trieben, der Schluß fast immer kein befriedigender war. Warum wohl das? Höchst wahrscheinlich aus dem Grunde, daß der Mensch dabei die innere Ruhe und den scharfen Blick des Auges verliert, die beide unumgänglich nötig sind, wenn man wünscht, Herr der Begebenheiten zu bleiben. Was die Schärfe des Blickes betrifft, so war sie mir wohl nicht verloren gegangen; ich hatte vielmehr Gelegenheit gefunden, sie zu üben. Auch die innere Ruhe war mir geblieben. Nichts hatte mich aus dem Gleichgewicht gebracht, und selbst wenn so etwas geschehen wäre, so hätte mir die tiefe Einsamkeit und Stille des Urwaldes, durch den wir heut während des ganzen Tages geritten waren, die vortrefflichste Gelegenheit gegeben, mich selbst wieder finden zu lassen.
Es waren große, verantwortungsvolle Pflichten vor mir aufgetaucht, aber ich stand ihnen außerordentlich sachlich gegenüber. Ich war plötzlich sozusagen unpersönlich geworden. Ich befand mich in einer mir unbekannten Stimmung und hatte das Gefühl, als ob sich das, was mir bevorstand, gar nicht auf mich beziehe und nur darum von mir miterlebt werden müsse, weil es bestimmt war, nicht nur den Beteiligten, sondern auch mir zum Segen zu gereichen. Es kam mir vor, wie eine Übung in der schweren Kunst, Gottes führende Hand im Leben zu erkennen, um dadurch die Befähigung zu erlangen, dann auch mit eigenen Händen die Zügel der Ereignisse zu führen. Es gibt Menschen, die nicht leben, sondern gelebt werden, weil sie erst lernen müssen, was leben heißt. Einst hatte auch ich zu ihnen gehört. Ich war gelebt worden und hatte dies mit schwerem, bitterem, viele Jahre langem Weh bezahlen müssen. Dann hatte ich mich von denen, die mich lebten, freigemacht. Eine böse, mühe- und enttäuschungsvolle Lehr- und Gesellenzeit war gefolgt. Und heute nun sah ich mich endlich, endlich vor die Notwendigkeit des Beweises gestellt, nicht mehr Knecht, sondern Herr meiner selbst zu sein.
|118B Das war es, was ich bei Beginn unseres weiten Rittes über mein Inneres zu sagen habe. Halef mag für sich selbst sprechen. Ich will nur andeuten, daß er sehr ernst gestimmt war, ernst und weich. Er sprach ganz wenig, nur das Allernotwendigste. Infolgedessen, was ich ihm am gestrigen Abend auf der Zinne des Tempels gesagt hatte, schaute er heute tief in sein Inneres hinab und suchte mir dies dadurch zu verbergen, daß er sich äußerlich sehr lebhaft mit Hu und Hi, seinen beiden Hunden, beschäftigte. Er hatte sich vor unserer Abreise über ihre Dressur genau instruiert und versuchte nun zunächst, sie in allen ihren Stücken durchzuprobieren. Es freute mich, daß sie sich als sehr brauchbar erwiesen. Meine beiden Riesen Aacht und Uucht standen aber auch in dieser Beziehung hoch über ihnen. Sie gingen auf Mann und Tier in jeder Lage. Sie rissen den Reiter im Galopp vom Pferde; sie gehorchten in allen Stücken sofort und unbedingt. Aber was sie taten, das taten sie nicht aus Angewöhnung, sondern mit Einsicht und Überlegung. Sie wußten mit beinahe menschlicher Intelligenz sehr wohl zwischen den rechten und den falschen Mitteln zu unterscheiden, und es wird sich im Laufe der Ereignisse wohl oft herausstellen, daß sie richtiger und klüger handelten als ich selbst.
Alle vier Hunde waren mit Riemenzeug und einer Art von Sattel ausgerüstet, auf dem sie ihren eigenen Proviant und einen Wasserschlauch trugen. Der letztere war für Gegenden bestimmt, die jenseits der Tschobangrenze lagen. Die Traglast war so berechnet, daß sie ihnen nicht zu schwer wurde. Sie freuten sich im Gegenteile, so oft sie ihnen angeschnallt wurde. Diese Freude tat sich niemals in lautem, unnützem Bellen kund, sondern nur im Mienenspiele. Einer ihrer größten Vorzüge war die Schweigsamkeit, die sie stets beobachteten. Wir kamen ja sehr oft in Lagen, in denen jeder laute Ton zu vermeiden war. Gelegentlich aber, wenn es ohne Nachteil geschehen konnte, gab ich den braven Tieren dann auch gleich selbst die Veranlassung, sich nach Herzenslust auszubellen.
Was nun unsere eigene Ausrüstung betrifft, so waren wir so vortrefflich beritten als nur immer möglich. Ben Rih, den Halef ritt, ist schon oft beschrieben worden. Wie ich zu meinem Syrr kam, ist in meiner Erzählung >Im Reiche des silbernen Löwen< zu lesen; dort sind auch die hervorragendsten Eigenschaften dieses unvergleichlichen Pferdes beschrieben. Auch unsere Waffen waren vortrefflich, die meinigen sogar unschätzbar, wir selbst dabei kerngesund und frohen Mutes, voller Unternehmungslust und Zukunftsfreude. Mehr kann man von zwei Menschen, von denen der eine der Sohn eines blutarmen, deutschen Leinewebers und der andere der Sprosse einer ebenso armen, nordafrikanischen Beduinenfamilie war, wohl kaum verlangen.
Wir waren von heut früh an fast den ganzen Tag geritten, hatten nur zu Mittag eine Stunde Rast gemacht und sahen uns darum jetzt, wo der Abend nahte, nach einem Platze um, der |119A sich zum Nachtlager eignete. Wir befanden uns mitten in einem uralten Cedrelawalde, der sich längs des Wassers, an dem wir ritten, hinzog. Leider aber waren diese Cedrelen von der Gattung Toana, deren Rinde, Blätter und Früchte einen starken, knoblauchartigen Geruch aushauchen. Es war ratsam, eine Rast unter solchen Bäumen zu vermeiden, und so wollten wir nicht eher halten, als bis wir eine andere und weniger duftende Vegetation erreichten. Das geschah erst dann, als es bereits zu dämmern begann. Da ging der Toanabestand in einen fast ganz reinen, lederblättrigen Schoreawald über, der nur dann und wann von einer Gruppe von Sissubäumen unterbrochen wurde. Das Unterholz bestand teils aus immer-, teils aus nur sommergrünen Sträuchern.
Wir hielten an. Auch die Hunde blieben stehen. An Hu und Hi war nichts zu bemerken. Aacht und Uucht aber schauten mich fragend an, als ob sie sagen wollten: »Ihr haltet hier? Warum gehen wir nicht weiter?« Das war jedenfalls nicht ohne Grund. Uucht ging noch einige Schritte vor, hob den rechten Vorderfuß, sog die Luft in die Nasenflügel und richtete, leise mit dem Schwanze wedelnd, die Augen dann wieder auf mich.
»Da vorne gibt es etwas!« sagte Halef.
»Und zwar Menschen!« stimmte ich bei.
»So bleibe ich mit den Hunden und Pferden hier?«
»Ja. Und ich gehe, um zu sehen, wer es ist. Sorge dafür, das alles still bleibt!«
Wir stiegen ab und ließen die Pferde sich legen. Die wußten nun, daß sie nicht schnauben und überhaupt nicht laut werden durften. Die Hunde mußten sich zu ihnen setzen und bekamen das Zeichen, sitzen zu bleiben und sich ruhig zu verhalten. Dann legte ich die beiden Gewehre ab, die mich im Anschleichen gehindert hätten und ging zunächst, um mich unsichtbar zu machen, vom Flusse weg, etwas tiefer in den Wald hinein, worauf ich die Richtung einschlug, die ich eigentlich beabsichtigte. Am Flusse, über dem der freie Himmel lag, war es noch hell gewesen; hier unter den Bäumen aber, deren Kronen ein dichtes Dach bildeten, war es fast schon ganz dunkel. Dennoch versäumte ich nicht die gebotene Vorsicht, von Baum zu Baum hinter den starken Stämmen Deckung zu suchen, um nicht etwa eher entdeckt zu werden, als bis ich entdeckt sein wollte. Ich legte mehrere hundert Meter zurück, ohne etwas zu spüren. Indem ich parallel mit dem Flusse ging und den Wasserstreifen, der zwischen den Büschen und Baumstämmen schimmerte, nicht aus den Augen ließ, mußte ich alles entdecken, was nicht in diesen Teil des Waldes gehörte. Kein Lüftchen regte sich. Kein Geräusch war zu vernehmen. Aber der Geruch, der bekanntlich der schärfste aller Sinne ist, sagte mir, was Gesicht und Gehör mir jetzt noch nicht sagen konnten: ich roch Feuer. Erst leise, ganz leise, dann aber, je weiter ich ging, immer stärker und stärker. Zunächst roch es nur ein klein wenig nach Kien, dann nach schwälendem Harz, hierauf nach Holz und rußendem Harz und endlich nach bratendem Fleisch. Der Schoreabaum liefert bekanntlich ein sehr reichliches, wertvolles Harz, welches sogar bis nach Europa durch den Handel vertrieben wird. Aber Fleisch an harzigem Holze zu braten, dessen Geruch und Geschmack es annimmt, das fällt doch keinem Menschen ein, der auch nur einigermaßen vertraut ist mit dem Leben im freien Feld und im freien Walde und so wurde mir durch diesen einzigen Umstand schon verraten, daß die Personen, welche da ihr Abendessen bereiteten, weder Ussul noch Tschoban sein konnten. Sie waren auf alle Fälle Leute, welche die Pfahlbauten-, Jäger-, Fischer- und Nomadenzeit überstanden hatten und nun schon nicht mehr wußten, wie ein saftiger, reinschmeckender Braten unter freiem Himmel zubereitet werden muß.
Endlich, nachdem ich fast einen Kilometer weit gegangen war, sah ich das Feuer. Man denke sich, wie glücklich ich mich fühlte, zwei Hunde mit so scharfen Sinnen zu besitzen! Um so weniger bewunderte ich die Leute, die so unvorsichtig gewesen waren, dicht am Flußufer ein so großes Feuer anzuzünden, daß man einen Ochsen daran hätte braten können. Der Fluß bildete eine sehr breite, für das Auge völlig freiliegende Strecke. Ein an seinen Ufern brennendes Feuer mußte weithin gesehen werden. Es war gewiß nur Zufall, daß er hier eine |119B Biegung machte, sonst hätten wir die Flamme sicher schon vor einer Stunde entdeckt. Vielleicht hatten diese Leute es nicht nötig, sich zu verbergen, um so geratener aber war es für mich, nicht offen hinzugehen, sondern mich heimlich anzuschleichen, um zunächst zu sehen, wer sie waren. Ich hatte mich also dem Flusse nun wieder zu nähern.
Es war inzwischen Nacht geworden. Das Feuer blendete, und so kam es, daß ich auch den Fluß nicht mehr von weitem sah. Als ich mich genug genähert hatte und hinter einem der letzten Bäume stand, war es mir möglich, den Lagerplatz zu übersehen. Hier herrschte die Zahl Sechs. Ich zählte sechs Männer, sechs Pferde und sechs Kamele. Man schien bereits seit Stunden hier zu lagern. Das Feuer wurde wirklich mit kienigem Schoreaholz genährt. Es stammte von alten, abgefallenen Ästen, die in der hiesigen Feuchtigkeit sehr schnell vermodert waren, so daß der unzerstörbare Rückstand harzige Knorren bildete, die zwar leicht brannten, im übrigen aber nicht nur wertlos, sondern schädlich waren. Die Kamele waren schwere Lastkamele. Man hatte ihnen die Lasten abgenommen. Sie lagen frei und ungefesselt und kauten wieder. Sie hatten eine ziemliche Anzahl von Wasserschläuchen und einige wenige Pakete zu tragen gehabt. Die lagern jetzt neben ihnen, zu einem Haufen aufgestapelt. Die Pferde waren nicht übel; sie gefielen mir sogar sehr. Eine persisch-indische Kreuzung, bei der aber nur der persische, nicht auch der indische Teil von wirklichem Adel war. Wer weithin leuchtende Schimmel zu reiten wagt, darf keine bösen Absichten haben, oder er ist ein dummer, unerfahrener Mensch! Vier von den Männern waren Untergebene; das sah man ihnen mit dem ersten Blicke an. Sie beschäftigten sich teils mit den Tieren, teils auch mit dem Fleisch, das über dem Feuer hing. Es schien von einer Tschikara zu sein und war durch den Qualm des Harzes schon ganz verdorben. Die beiden übrigen Männer waren die Herren. Sie saßen abseits, an den dicken Stamm eines uralten Sissubaumes gelehnt, von Feuer, Mensch und Tier so weit entfernt, als ob sie fürchteten, durch die Berührung mit ihnen verunreinigt zu werden. Solche Absonderung kommt doch nur bei den Kastengenossenschaften Indiens vor! Wer waren also diese beiden? Sie trugen krumme Säbel in ledernen Scheiden; aber die Ringe, Schnallen und andere Metallteile dieser Scheiden und Wehrgehenke waren aus purem Golde. Ihre Gürtel und ihre Pistolengriffe funkelten von Halbedelsteinen. An ihren Händen blitzten schwere Diamanten, Rubine und Smaragde. Ihre Turbane, nach indischer Art gewunden, waren mit Perlenschnüren verziert, und der eine von ihnen, der Augengläser trug, hatte es sogar fertig gebracht, in die Scharniere seiner Brille rechts und links einen Diamanten von der doppelten Größe einer ausgewachsenen Linse einsetzen zu lassen. Er schien der Vornehmere von ihnen zu sein. Wozu im Urwalde solche Pracht? Diese beiden Männer trugen Anzüge aus jenem unendlich feinen, gelblichweiß glänzenden Dholeragespinste, welches in hindostanischen Gedichten als >gewebte Luft< gepriesen wird! Was sollte man hierzu sagen?
Ich bitte meine Leser, mich nicht falsch zu verstehen, wenn ich eine solche Frage ausspreche. Ich war zu ihr nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet. Diese sechs Männer kamen von Norden, nicht von den Tschoban, sondern noch weiter her. Sie ritten nach Süden, also zu den Ussul. Wer waren sie und was wollten sie? Hinter den Weidegebieten der Tschoban liegt Dschunubistan und dann das eigentliche Ardistan. Konnte von dorther etwas Gutes kommen? Zumal in jetziger Zeit, wo die Tschoban hier hereinbrechen wollten? Hing die Absicht dieser Leute etwa mit diesem Einbruch zusammen? Warum kleidete man sich in dieser sumpfigen, dunstigen Niederung genau so köstlich wie auf der offenen Straße oder dem sonnenbeleuchteten Tempelvorplatze von Delhi oder Benares? Doch nicht nur, um zu prunken! Vor wem denn wohl? Natürlich nur, um auf den einfachen, bescheidenen Ussul gleich beim ersten Zusammentreffen solchen Eindruck zu machen und sie derart zu blenden, daß man das, was man wollte, ebenso schnell wie sicher erreichte. Aber was wollte man? Ich hoffte, etwas hierüber zu erfahren, falls es mir gelang, zu hören, was man sprach.
|120A Die Erfüllung dieses Wunsches war nicht nur möglich, sondern sogar sehr leicht. Der Sissustamm, an dem die beiden Herren saßen, wurde rechts und links von so fetten und so dicht stehenden Farrenkräutern flankiert, daß man bis zur anderen Seite des Stammes kriechen und sich dort unter den schützenden Wedeln verbergen konnte, ohne gesehen zu werden. Es fiel mir gar nicht schwer, dies zu tun. Ich erreichte den Stamm des Sissu, ohne bemerkt zu werden, und lag dann, auf der weichen Modererde lang ausgestreckt, so bequem wie auf einem Kanapee. Nur der Baum trennte mich von den beiden Männern. Sie sprachen nicht laut, sondern mit halber Stimme, aber doch so, daß ich alles hörte, was sie sagten. Eben als ich diese meine Stellung eingenommen hatte, schnitt einer der Diener zwei Stücke Fleisch von dem Braten und legte sie auf eine funkelnde Metallplatte, die gewiß aus Gold war. Er tat zwei kleine Kuchen dazu, die schon vorher gebacken worden waren, und trug die Platte dann den beiden Herren zu. Der eine von ihnen schien Hunger zu haben. Er zog sein Messer aus dem Gürtel, um sofort mit dem Essen zu beginnen. Der andere aber, der die Diamantenbrille trug, hielt ihm die Hand und sagte:
»Nicht so! Ich verbiete es Dir! Vergiß nicht, daß Du der oberste Minister des Scheiks von Dschunubistan bist und zur höchsten Klasse der Menschheit gehörst! Du darfst keine Speise genießen, die von der Hand einer niederen Kaste berührt worden ist, außer sie wird vorher von Priesterhand gesegnet und geheiligt!«
»Das weiß ich wohl,« antwortete der Gescholtene. »Aber auf der Reise ist es doch erlaubt!«
»Nur dann, wenn kein Priester vorhanden ist. Ich aber bin nicht nur Priester, sondern sogar der höchste aller Priester, die es gibt. Ich bin der Maha-Lama von Dschunubistan! Ich bin sogar noch mehr! Ich bin Gott! ich werde, wenn ich in dem einen Leibe sterbe, in dem andern immer wieder von neuem als Gott geboren! Es würde also nicht nur zehnfache, sondern hundert- und tausendfache Sünde von Dir sein, in meiner himmlischen Gegenwart eine Speise zu genießen, die aus der Hand eines Menschen kommt, der niedriger steht als Du! Halte sie mir her! Ich werde sie von der Sünde befreien und für uns genießbar machen.«
Der >Minister< hielt ihm die goldene Platte hin; der >Maha-Lama< machte mit beiden Händen die Bewegung des Segnens darüber, und dann begannen sie zu essen, und zwar in jener lauten, schmatzenden Weise, die bei gewissen Leuten für vornehm gilt. Diese beiden hohen oder gar allerhöchsten Personen aßen wie die Ferkel. Sie verschlangen das Fleisch und das Gebäck fast ungekaut und ließen sich noch zweimal neue Portionen geben, die ebenso wie die erste gesegnet wurden. Während des Essens fiel kein einziges Wort. Es wurde dabei soviel geschnalzt, geschmatzt, geschnauft und gerülpst, daß weder Zeit noch Raum für eine gesprochene Silbe blieb. Auch die Dienerschaft aß nun, also die Niedrigstehenden, die Verachteten, deren Berührung den Vornehmen verunreinigt; aber sie taten es in stiller, anständiger Weise und machten darum einen viel besseren Eindruck auf mich als ihre Herren.
Meine Leser wissen, daß es für mich keinen Zufall gibt. Darum kann ich auch nicht sagen, es sei ein günstiger Zufall für mich gewesen, daß ich gleich bei den ersten Worten dieser Leute erfuhr, wer sie waren. Der eine bezeichnete sich selbst als den Maha-Lama von Dschunubistan. Maha-Lama heißt so viel wie >Großpriester<. Aber damit nicht genug. Er nannte sich sogar >den höchsten aller Priester, die es gibt<. Es ist möglich, daß sich hier oder da irgend jemand findet, der dies für unbescheiden hält. Der andere war der >oberste Minister des Scheiks von Dschunubistan<. So hohe Personen waren wohl noch nie von auswärts her nach dem Lande der Ussul gekommen. Was wollten sie da? Offiziell war ihre Reise wohl nicht, denn ihr Stand hätte in diesem Falle eine viel größere, prunkende Begleitung verlangt. Sie kamen vielmehr in ganz auffällig heimlicher Weise, wie es schien. Aber heimlich für wen? Für die Ussul oder für die Tschoban? Jedenfalls für die letzteren. Aber diese Karawane von sechs Reitern, sechs Pferden und sechs Kamelen hatte doch durch das Gebiet der Tschoban gemußt! War es gelungen, es unbemerkt zu passieren? Die Bewohner von Dschunubistan werden Dschunub genannt; |120B ein einzelner ist ein Dschunubi. Sie leben mit den Tschoban in Feindschaft. Wenn der Scheik der Dschunub eine Botschaft zu den Ussul sendet, die sich heimlich durch das Land der Tschoban zu schleichen hat, so muß der Grund wohl ein wichtiger sein. Und wenn er mit dieser Botschaft nur seinen höchsten Geistlichen und seinen höchsten Minister betraut, so hat man sich diese Wichtigkeit als eine ganz außergewöhnliche zu denken. Ich muß gestehen, daß ich gespannt war, etwas hierüber zu erlauschen; aber es hatte nicht den Anschein, als ob die hohen Herren gesonnen seien, sich hierüber zu äußern. Sie verhielten sich auch nach dem Essen noch eine ganze Weile still. Dann sprachen sie sehr einsilbig über gewöhnliche Dinge, die mich gar nicht interessierten. Aber die Diener, die jetzt mit ihrer Arbeit und auch mit dem Essen fertig waren und nur tabakrauchend beieinandersaßen, führten ein Gespräch, welches zwar leise begonnen hatte, aber nach und nach lauter wurde, so daß ich wenigstens einen guten Teil von dem zu hören bekam, was sie sagten. Sie unterhielten sich über den Verlauf ihrer bisherigen Reise. Den eigentlichen Zweck derselben schienen sie nicht zu kennen, aber daß er den Tschoban verschwiegen zu bleiben hatte, das wußten sie. Ebenso wußten sie, daß die Tschoban einen Kriegszug planten, um in das Land der Ussul einzufallen. Die Tschoban hatten aus diesem Grunde ihre Krieger in der Mitte ihres Landes zusammengezogen und die Seiten von ihnen entblößt. Darum war es den Dschunub gelungen, ihre heimliche Reise durch den westlichen Teil längs der Meeresküste auszuführen, ohne auch nur ein einzigesmal bemerkt zu werden. Dieses gute Gelingen war besonders dem Umstande zuzuschreiben gewesen, daß sie sich, wie bereits erwähnt, sehr reichlich mit gefüllten Wasserschläuchen versehen hatten und also nicht gezwungen gewesen waren, im Lande nach Wasser herumzusuchen und sich dabei erwischen zu lassen. Vorgestern hatten sie den Engpaß von Chatar erreicht und dort übernachtet. Gestern früh waren sie von dort aufgebrochen und dem Flusse bis hierher gefolgt, um nach einem zweiten und dem heutigen dritten Nachtlager morgen früh nach Ussulia weiterzureiten.
Als das Gespräch der Dienerschaft bis hierher gelangt war, fühlten sich nun endlich auch die beiden Herren angeregt, ein Wort dazu zu sagen, aber nur unter sich, ohne daß die Untergebenen es hörten. Ich aber lag nahe genug bei ihnen, um die halblaut gesprochenen Sätze zu vernehmen, die sie miteinander wechselten. Der >Minister< begann zuerst. Er sagte:
»Nur weiter solches Glück, wie bisher! Die Tschoban sahen uns nicht. Ob wohl die Ussul uns zu sehen bekommen?«
»Körperlich jedenfalls, denn das wollen wir ja, doch geistig aber nicht!« antwortete der Maha-Lama.
»Du meinst, sie dürfen uns sehen, aber nicht durchschauen?«
»Ja, das meine ich.«
»Nichts leichter als das! Der Scheik ist ein Dummkopf. Seine Frau ist klüger, aber arglos. Sie glaubt alles. Sie wird auch glauben, daß wir nur das Glück ihres Volkes wollen. Wie aber steht es mit der Priesterin? Sie soll großen Einfluß haben.«
»Das glaube ich nicht,« entgegnete der Lama in geringschätzigem Tone. »Wie kann ein Weib als Priesterin von Einfluß sein!«
»Dann aber wohl ihr Mann, der Zauberer, der Sahahr?«
»Auch dieser nicht. Er ist ja nur der Abglanz oder vielmehr der Schatten seines Weibes! Und was für eine Religion ist das! Ein Gott, der geistig verborgen bleibt! Der nie sich zeigt, niemals geboren wird, wie ich geboren bin und immer von neuem geboren werde! Wer mich sieht, der sieht Gott. Wer mit mir spricht, der spricht mit Gott! Also, wer mich hat, der hat Gott! Wen aber haben die Ussul? Ein Nichts, eine Null, einen Dunst, ein Schemen, das sie als Gott bezeichnen. Der Sahahr ist der einzige Mann dieses unwissenden Volkes, von dem zu glauben ist, daß man mit ihm sprechen kann. Was aber ist er gegen mich, der ich als wahrer, wirklicher Gott und Herr der Welt in menschlicher Gestalt erschienen bin! Wenn er den Mund zu öffnen wagt, schmettere ich ihn mit zwei, drei Worten derart nieder, daß er ihn für immer schließt und niemals wieder öffnet! Ich bin vom Himmel herniedergestiegen, um so lange immer wieder von neuem geboren |121A zu werden, bis ich die Menschheit von den Leiden des irdischen Kreislaufes befreit habe. Dies geschieht, indem alles, was auf Erden lebt, in das Nirwana sinkt. Ist dies geschehen, so ist mein irdisches Werk vollbracht und ich steige zu andern Sternen auf, um es dort fortzusetzen. In dieser meiner Erlösungstat bin ich jetzt bis Dschunubistan gelangt und beabsichtige nun, die Gebiete der Tschoban und der Ussul hinzuzufügen. Unser Scheik hat mich begriffen. Er vereint seine weltliche Macht mit meiner geistigen und geistlichen. Indem er das tut, wird er alles Land, welches südlich von uns liegt, erobern. Wir schließen einen Bund mit den Ussul. Wir sagen ihnen, daß wir ihnen die Tschoban zugetrieben bringen. Indem wir die Tschoban zwischen uns und den Ussul zerquetschen, zermalmen und vernichten, ziehen wir in das Land der Ussul ein, darauf Bedacht nehmend, daß auch sie durch die Tschoban aufgerieben werden. Dieser Einzug wird eine Besitzergreifung sein, denn wir werden das Land der Ussul nie wieder verlassen - - -«
»Vorausgesetzt, daß es uns gelingt, jetzt Glauben dort zu finden!« fiel der Minister ihm hier in die Rede.
Da warf der Maha-Lama einen Blick so unendlichen Erstaunens und so unendlicher Entrüstung auf ihn, als ob er ihn damit vernichten wolle, beobachtete ein minutenlanges, empörtes Schweigen und antwortete dann mit ganz besonderer Betonung:
»Als ob es überhaupt einen Menschen geben könnte, der mir keinen Glauben schenkt, sobald ich persönlich mit ihm spreche! Ich bin der Maha-Lama von Dschunubistan, der höchste aller Priester, die es gibt! Das merke Dir! Wie der Glanz unserer äußeren Personen die Ussul augenblicklich für uns gewinnen wird, so werden sie sich auch innerlich sofort beugen, sobald ich nur erscheine und meine Stimme erschallen lasse. Bedenke die Ehre, die ungeheure Ehre, die ihnen widerfährt, indem wir zu ihnen kommen und sie mit unserer Gegenwart beglücken!«
»Kämen wir mit großem, glänzendem Gefolge, würde es mehr Eindruck machen!«
»Sehr richtig! Man stehe innerlich noch so hoch, so darf man doch das Äußere nicht versäumen. Selbst Gott, der Geist, braucht die Körperwelt, um angebetet zu werden. Aber wir mußten für diesesmal verzichten. Die Tschoban durften nichts erfahren. Es war die strengste Heimlichkeit geboten. Aber auch das hat Vorteile, die von hohem Werte sind, wenn wir sie nur zu benutzen wissen. Was uns an Prunk und Pomp verloren geht, gewinnen wir an Vertraulichkeit und Wohlwollen zehnfach wieder. Diese niedrig stehende Menschheit mag an Liebe glauben, an Humanität, Barmherzigkeit und Frieden auf der Erde. Sie ist nicht reif. Sie würde sich entsetzen, wenn sie die Wahrheit hörte. Die Liebe ist die größte Lüge, die es gibt; nur der Haß allein ist wahr. Jedes lebende Wesen trachtet nach sich selbst, ist Egoist. Auch Gott! Je größer ein Wesen ist, desto gewaltiger ist seine Selbstsucht. Gott ist der Größte, der Höchste; darum ist sein Egoismus ohnegleichen. Es ist ein Wahnsinn, ihn als >Vater< zu beschreiben. Er ist nur der Verderber, weiter nichts. Er gibt nicht das Leben, sondern nur den Tod, nicht den Frieden, sondern nur den Kampf, den Streit, die Vernichtung. Als er das All schuf, vernichtete er sich selbst. Der Geist verwandelte sich in Stoff; der Schöpfer wurde Geschöpf. Um sich als Gott wiederherzustellen, muß er den Stoff in Geist zurückverwandeln, muß er die Schöpfung wieder vernichten, Schritt um Schritt, in umgekehrter Reihenfolge, wie sie entstanden ist. Das ist nicht Liebe und Leben, sondern Haß und Tod, Zerstörung, ewiger, endloser Weltenmord! Je höher Gott wächst, um so kleiner wird das Geschöpf. In dem Augenblicke, an dem der letzte Rest des Alls verschwindet, wird Gott am größten sein. Darum klug und selig der Mensch, der nicht nach Erdenglück und Menschenwohl, sondern nur nach Gottes Größe trachtet! Er wird immer unwägbarer, immer kleiner und kleiner werden, bis seine Existenz vollständig zu Ende ist und er ganz in Gott verschwindet. Dieses Aufhören alles eigenen Seins, dieses völlige, restlose Aufgehen in Gott, so daß es nicht mehr die geringste Spur von Erinnerung gibt, ist unsere Seligkeit, ist unser einziges und höchstes Ziel, ist - - Nirwana!«
Er hatte, während er sprach, seinen Sitz verändert, war mehr nach der Seite gerückt. Darum sah ich jetzt sein Gesicht, |121B zwar im Halbprofil, aber wenn er es dem Minister zuwendete, hatte ich es beinahe en face vor mir. Es war ein schönes, beinahe ehrwürdiges, geistreiches Männergesicht mit silberglänzendem Vollbart; aber es hatte einen Fehler, der ihm alle seine Schönheit und Würde wieder benahm; er schielte nämlich, und zwar so stark, daß es jedermann gleich beim ersten Blicke auffallen mußte, sogar solchen Leuten, die nicht gewohnt sind, auf die Fehler ihrer Mitmenschen aufzupassen. Ließ schon dieses sein Äußeres erraten, daß er kein gewöhnlicher Mensch sei, so zeigten auch seine Worte, daß er ebenso auf intellektuellem Gebiete auf Wegen wandelte, die der Fuß alltäglich denkender Menschen nicht betritt. Er schien sich sogar über die Grenzen, welche den Gedanken der Sterblichen gezogen sind, hinausgewagt zu haben. Ich bin überzeugt, daß gar mancher andere an meiner Stelle das, was ich gehört hatte, für puren Wahnsinn erklären würde; ich aber war geneigt, es einstweilen als die allerdings höchst seltsame Übertreibung einer an sich ganz gesunden Idee zu betrachten, der man im geistigen Leben der Völker auf Schritt und Tritt zu begegnen pflegt, ohne sie sonderlich zu beachten. Während diese Idee dem gebildeten Europäer nur als nebensächlich erscheint, lieferte sie dem Maha-Lama das Milieu, in dem er aufgewachsen und unterrichtet worden war. Aus ihr bestand seine ganze Atmosphäre. Er atmete in ihr. Sie verursachte die religiöse Überspanntheit, an der er litt. Darum fiel es mir nicht ein, mich über das, was er gesagt hatte, zu wundern oder gar darüber zu lächeln. Ich sah ihn in diesem Augenblicke nicht als das Oberhaupt einer zahlreichen Glaubenssekte vor mir, sondern als einen mächtigen, hoch interessanten Gegner meiner Freunde, der gekommen war, sie zu überlisten und um ihre Selbständigkeit zu betrügen. Grad jetzt, in diesem Augenblicke, wo sie einem raffinierten Feinde so viele und so gefährliche Angriffspunkte boten! Ich konnte über das, was ich zu tun hatte, nicht im Zweifel sein. Ich hatte erreicht, was ich erreichen wollte. Ich wußte, wen ich vor mir hatte. Ich kannte sogar die Absichten, welche diese beiden Männer verfolgten. Nun fragte es sich, ob ich mich wieder zurückziehen oder ob ich bleiben sollte, um vielleicht noch mehr zu erfahren. Da wendete sich der Lama den Dienern zu und sagte in befehlendem Tone:
»Die Zeit des Nachtgebetes ist gekommen!«
Einer von ihnen stand auf und holte einen Gong, der bei den Gepäckstücken lag. Dann beiseite tretend, verbeugte er sich nach den vier Himmelsrichtungen und ließ bei jeder dieser Verbeugungen das Metallbecken dreimal erklingen. Dann kniete er nieder und betete. Auch die andern falteten die Hände und murmelten die vorgeschriebenen Worte. Nur der Maha-Lama betete nicht. Er war ja Gott selbst. Zu sich selbst zu beten, hielt er für unsinnig; aber sich für Gott selbst zu halten, das dünkte ihm kein Wahnsinn! Es waren nur wenige Augenblicke, aber sie ergriffen mich doch sehr tief. Vor mir hatte ich das langsam sich bewegende Wasser des Flusses, der mit phosphoreszierendem Schein aus dem Dunkel des Urwaldes trat und dann quer durch den farbigen Glanz des brennenden Feuers flutete; die phantastisch beleuchteten Gestalten der Pferde und Kamele; die fünf am Boden knienden Beter; den einzigen Sechsten, der nicht betete, sondern hoch und stolz erhobenen Angesichtes hinauf zu den Sternen sah, als ob er die emporsteigenden Gebete da oben in Empfang zu nehmen habe. Die zwölf Schläge des Gong hatten jenseits des Flusses an der dichten Wand des Urforstes ein zwölffaches Echo erweckt, welches abwärts bis an die Krümmung des Wassers schallte und von dort wieder zurückgeworfen wurde. Das gab in die bisherige Stille hinein ein plötzliches, schmetterndes Rasseln, Donnern und Dröhnen, als ob alle die Kämpfe, die man in das friedliche Land der Ussul schleppen wollte, schon ausgebrochen seien. ich sah unwillkürlich hinter mich. Es überkam mich eine Art von Angst. Nicht daß ich mich etwa um mich selbst sorgte; o nein! Aber es ergriff mich eine Art von Grauen um den vor mir sitzenden, immer wieder von neuem geborenen Gott, in dessen Gefolge dieses Getöse entstand, ohne daß er davon berührt zu werden schien. Es gehört zur Eigenart solcher überspannter Wesen, daß sie bei allem Unheil, welches sie anzurichten pflegen, so ruhig bleiben, als ob sie völlig unschuldig daran seien. So saß auch der |122A Maha-Lama da. Sein Bart glänzte; sein Angesicht leuchtete im Scheine der flackernden Flammen. Er schien tief in seine persönliche Gottheit versunken und ganz entzückt zu sein. Da war nicht daran zu denken, noch etwas weiteres zu erfahren. Ich gab meinen Lauscherposten auf und zog mich so leise und so vorsichtig zurück, wie ich gekommen war.
Mittlerweile war es nicht nur unter den Bäumen, sondern auch draußen am freien Flusse Nacht geworden. Ich hatte also nicht nötig, mich, um nicht gesehen zu werden, im tiefen Schutze des Waldes zu halten, wie es beim Herbeischleichen notwendig gewesen war. Ich blieb nur so lange unter den Bäumen, bis ich den Schein des Feuers hinter mir hatte; dann aber trat ich heraus auf den baumlosen Uferstreifen und konnte nun den Rückweg verfolgen, ohne auf Schritt und Tritt gegen die Bäume zu stoßen.
Als ich bei Halef ankam, fand ich ihn genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Ich setzte mich an seine Seite und erstattete ihm Bericht. Früher hätte er in seiner bekannten Lebhaftigkeit meine Erzählung gewiß zehn- und zwanzigmal unterbrochen. Aber seit er sich als >Schutzengel< fühlte, gab er sich redliche Mühe, ein anderer zu sein, als bisher. Er hörte mich ruhig an. Als ich geendet hatte, ließ er ein kurzes, vergnügtes Lachen hören und sagte:
»Also Gott ist da! Allah, der allmächtige und allweise Herr und Schöpfer des Himmels und der Erde! Und den nehmen wir gefangen! Dem fesseln wir die Hände und die Füße! Den binden wir auf sein Pferd, damit es ihm nicht einfallen kann, uns auszureißen! Welcher Mensch hat wohl schon so etwas fertig gebracht!«
»Du wohl nicht!« antwortete ich.
»Nein, noch nicht! Allah war noch nicht so dumm, mir in die Hände zu laufen. Jetzt aber kommt er doch! Er sitzt schon da! Bei seinen Kamelen und Pferden! Und ich gehe hin, um ihm zu zeigen, daß Hadschi Halef Omar, der Scheik |122B der Haddedihn, sogar den Schöpfer und Regierer aller Welt beim Kragen nimmt!«
»Das wirst Du bleiben lassen!«
»Bleiben lassen? Ich? Fällt mir gar nicht ein! Ich bin ein Freund der Ussul! Ich bin sogar ihr Schutzengel! Ich habe sie zu behüten und bewahren! Und das werde ich tun, denn es ist meine Pflicht! Ich würde sie gegen den Teufel verteidigen, wenn er käme, um sie zu bekämpfen! Und ich werde mich ihrer auch gegen den falschen Allah annehmen, der da am Fluß herabgeritten kommt, um sie zu überlisten! ich halte ihn fest und zwinge ihn, auf die Fortsetzung seiner Reise zu verzichten!« Er sagte das in sehr energischem Tone; ich aber wiederholte meine Worte:
»Das wirst Du bleiben lassen!« und fügte dann hinzu: »Du kommst ja gar nicht dorthin, wo er jetzt lagert. Du bekommst ihn gar nicht zu sehen, wirst gar nicht mit ihm sprechen.«
»Nicht sehen? Nicht sprechen?« fragte er erstaunt. »Aber wir müssen doch unbedingt hin, um ihn gefangen zu nehmen!«
»Nein, das müssen wir nicht, und das werden wir nicht. Unsere Aufgabe ist, so schnell wie möglich nach dem Engpaß Chatar zu reiten, um dort die Einleitung für spätere Ereignisse zu treffen. Meinst Du, daß wir uns da mit Gefangenen herumschleppen können?«
»Hm!« brummte er. »Freilich! Sie zählen sechs Personen; wir aber sind nur zwei! Aber laufen lassen können wir sie doch auch nicht!«
»Warum nicht?«
»Weil, weil - - - hm, ja! Wenn man wüßte, daß sie dem Dschirbani in die Hände fallen und daß der sie genau so behandelt, wie wir sie behandeln würden.«
»Ich bin überzeugt, daß er das tut.«
»Ich nicht.«
»So können wir es auch nicht ändern. Er ist sein eigener Herr und tut, was ihm beliebt.«
|123A »Oho!« fuhr er auf. »Du willst sagen, was uns beliebt, nicht aber ihm!«
»O nein!«
»So begreife ich Dich nicht. Der Mensch hat doch wohl zu tun, was sein Schutzgeist und sein Schutzengel wollen!«
»Nein, sondern er hat zu tun, was er selbst will. Der Mensch ist kein Sklave, sondern ein freier Herr. Er kann zwischen gut und bös, zwischen falsch und richtig wählen. Die Folgen fallen dann auf ihn.«
»Aber ich als sein Schutzengel habe dafür zu sorgen, daß er das Richtige wählt, nicht aber das Falsche!«
»Kannst Du das?«
»Ja!«
»Nein! Selbst wenn Du Schutzengel bist, bist Du eben nur Schutzengel, nicht aber Gott. Denke Dir die Wesen, die wir als Engel bezeichnen, ja nicht so allmächtig und allwissend wie Gott selbst! Bilde Dir zum Beispiel einmal ein, daß der alte Oberst, dem Du fünfmalhunderttausend Piaster Gehalt versprochen hast, Dein Schutzengel sei. Würdest Du alles tun, was er von Dir verlangt?«
»Fällt mir gar nicht ein! Der ist ja noch viel dümmer als ich selbst!«
»Oder stelle Dir einmal vor, daß Du mein Schutzengel seist! Kannst Du Dir denken, daß ich mich in jedem Falle nach Deinem Willen richten würde?«
»Nein, gewiß nicht! Du würdest ja hundertmal gescheidter als Dein Schutzengel sein!«
»Ich danke Dir für diese Deine Aufrichtigkeit, mein lieber Hadschi Halef! Und ich bitte Dich, aus dieser Deiner Offenheit genau denselben Schluß zu ziehen, den ich aus ihr ziehe! Nämlich der Dschirbani steht mir an Intelligenz wenigstens gleich. Es gibt sogar gewisse Punkte, in denen er mich bedeutend übertrifft. Folglich ist auch er wenigstens hundertmal gescheidter, als Du bist. Und nun denke Dir, was daraus entstehen würde, wenn er alles nur so tun dürfte, wie Du als sein Schutzengel von ihm verlangst! Begreifst Du, was ich meine?«
»Ha! ich begreife nur, daß es sich eigentlich gar nicht sehr verlohnt, der Schutzengel eines Menschen zu sein, der gescheidter ist als ich selbst!«
»Allerdings! Es soll Leute geben, welche nur befähigt sind, die Engel von Dummköpfen zu sein!«
»Werde nicht anzüglich, Effendi! Ich habe als Schutzengel das Recht, Achtung von Dir zu verlangen, ganz gleich, ob ich intelligent bin oder albern. Das merke Dir! Wie es unter hunderttausend dummen Teufeln auch einmal einen gescheidten gibt, so kann es unter dreißig Millionen gescheidten Engeln auch einmal einen weniger gescheidten geben. Das sehe ich gar wohl ein. Aber daß grad ich dieser einzige unter so vielen bin, das mußt Du erst beweisen! kannst Du das?«
»Nein!«
»Das ist Dein Glück! Sonst wäre ich grob geworden! Und weil Du mir eine so vernünftige Antwort gibst, will ich auch vernünftig sein und nicht darauf bestehen, daß der Maha-Lama von Dschunubistan nicht weiterreiten darf. Ich hoffe, daß er dem Dschirbani in die Hände fällt und dieser ihn mit nach dem Engpaß bringt, wo wir ihn zwischen die Fäuste nehmen werden, um ihm zu zeigen, daß wir ihn sofort in sein Nirwana sperren, wenn er uns nicht gehorcht. Aber sehen werde ich ihn doch, denn wir müssen ja morgen früh aneinander vorüber.«
»Nein. Wir tun das schon heut.«
»In dieser Dunkelheit?«
»Ja. Und zwar nicht am Flusse hin, sondern in einem Bogen durch den Wald, um sie herum.«
»Das ist in hohem Grade unbequem. Wir rennen an die Bäume!«
»Ja, das würde allerdings geschehen, wenn wir diesen Umweg zu Fuß machen und unsern Pferden vorangehen wollten. Aber wir reiten. Du weißt, daß die Pferde des Nachts besser sehen als wir. Der Wald hat nur am Rande Unterholz. In der Tiefe sind die Zwischenräume frei. Es wird also besser gehen, als Du denkst. Übrigens gibt es hier viel langes, dünnes Stangenholz am Wasser. Wenn wir uns jeder eine solche Stange herausschneiden und sie so, wie die Schnecken ihre |123B Fühler, voraushalten, bewahren wir uns vor solchen Zusammenstößen, wie Du fürchtest.«
»Sehr richtig, Effendi! Der Emir Kara Ben Nemsi und der Scheik der Haddedihn sind zwei Schnecken, jede mit einem hölzernen Fühlhorn vorn am Pferdekopf! Sihdi, das wird gemacht, und zwar gleich! Je länger wir hier bleiben, desto mehr drücken wir das Gras nieder, und das muß doch morgen früh wieder aufgestanden sein, damit die Leute aus Dschunubistan, wenn sie hier vorüberkommen, nicht sehen, daß jemand hier gewesen ist. Ich werde die Fühlhörner schneiden, ich selbst, weil ich es als meine Aufgabe betrachte, Dir die kluge Vorsicht und die zarte Empfindlichkeit der hiesigen großen, schwarzen Waldschnecken beizubringen. Du siehst, wie entzückt ich darüber bin, daß Du, wie überall so auch hier, Dich bemühst, nur edlen Vorbildern nachzustreben.«
Er wählte zwei lange Schößlinge aus, schnitt sie ab und gab mir einen davon. Dann stiegen wir auf die Pferde und begannen, um die Stelle, an der sich die Fremden befanden, langsam einen Halbkreis zu reiten, dessen Halbmesser so groß war, daß wir von ihnen nicht gehört werden konnten. Für unsere Pferde ebensowohl wie auch für unsere Hunde genügte das einfache Wort >uskut<, sie zu veranlassen, jeden Laut und jedes Geräusch zu vermeiden. Indem wir die Stangen wie Lanzen vor uns hielten, war es uns nicht schwer, jedem Baumstamm, der uns im Wege stand, auszuweichen. Übrigens waren die Augen unserer Pferde so gut, daß wir auf diese >Fühlhörner< füglich hätten verzichten können. Trotzdem dauerte es eine ziemlich lange Zeit, bis wir den Bogen geschlagen hatten und weit oberhalb der Dschunub das Ufer des Flusses wieder erreichten. Wir stiegen da noch nicht ab, sondern wir ritten noch einige Kilometer weiter, um ganz sicher zu sein, auf keinen Fall bemerkt werden zu können. Dann machten wir Halt und lagerten zur Ruhe für die Nacht, ohne ein Feuer anzuzünden.
|124A Ich habe nicht die Topographie des Landes, durch welches wir ritten, zu behandeln, sondern meine Leser wünschen, daß ich ihnen soviel wie möglich Ereignisse bringe, für die sie sich interessieren. Da wir von jetzt an unterwegs nichts erlebten, überschlage ich die Zeit, bis wir unser Ziel erreichten, und beginne da von neuem, wo das allmähliche Versiegen des Wassers uns darauf aufmerksam machte, daß wir uns der Landesgrenze näherten. Der Fluß wurde immer seichter und seichter. Seine Breite blieb, denn die war von alters her, als er noch aus dem hochgelegenen Norden kam, fest in das Land gegraben, aber der Inhalt schwand und verlor sich in dem porösen, schwammig weichen Boden. Der Grund trat zutage, erst stellenweise, so daß sich Inseln bildeten, die nach und nach immer größer und immer häufiger wurden. Dann bildete er längere, zusammenhängende Bänke, die durch schmale Wasserstreifen, später nur durch Pfützen voneinander getrennt wurden. Und endlich verliefen diese Streifen und Pfützen in ganz vereinzelte Tümpel, deren Wasser immer schlechter schmeckte und zuletzt gar nicht mehr zu genießen war. Da machte Halef ein sehr bedenkliches Gesicht und sagte:
»Sihdi, Du hast einen großen Fehler begangen!«
»Welchen?« fragte ich.
»Du hättest da, wo das Wasser noch schmeckte, anhalten sollen, um unsere Schläuche zu füllen.«
»Wer? Ich?«
»Ja, Du!«
»Du nicht auch?«
»Nein, ich nicht! Was gehen denn grad mich die Fehler an, die gemacht werden? Ich bin doch nicht verpflichtet, mir welche auszusinnen. Das überlasse ich Dir.«
»Schön!« lachte ich. »So denke wenigstens darüber nach, in welcher Weise es möglich ist, diesen Fehler wieder gutzumachen!«
»Ja, Sihdi, das werde ich. Und ich bin überzeugt, daß es gar nicht lange dauern wird, so habe ich es gefunden.«
Von jetzt an zeigte sein Gesicht einen sehr tiefsinnigen Ausdruck. Ich sollte hieraus ersehen, wie angestrengt er nachdachte. Zuweilen tat er einen tiefen Atemzug, oder es erklang ein schwerer Seufzer. Die Trinkwasserversorgung hat schon manchem Oberbürgermeister von London, Paris, Peking, Berlin und ähnlichen Orten viel Kopfschmerzen bereitet. Mein guter Hadschi Halef war jetzt von ähnlichen Sorgen erfüllt. Seine Brauen zogen sich immer mehr zusammen; seine Mundwinkel hingen abwärts, und seine Augen bekamen einen sehr finstern, verhängnisvollen Blick. Endlich, nach fast einer Stunde, stieß er einen Jubelruf aus, schnalzte mit der Zunge und rief mir zu:
»Hamdulillah! Ich hab's! Komm, Sihdi, komm!«
Er drehte seine Pferd herum und machte Miene, dahinzureiten, woher wir soeben kamen.
|124B »Wohin?« fragte ich.
»Zurück! Selbstverständlich zurück! Das ist das Einzige, das unbedingt Richtige!«
»Beweise es!«
»Beweise? Wozu? Das sagt doch schon der gesunde Menschenverstand!«
»Was?«
»Daß wir umkehren und zurückreiten müssen bis dahin, wo das Wasser noch trinkbar war. Dort füllen wir unsere Schläuche!«
»Hm! Dieser Gedanke kommt Dir erst jetzt?«
»Ja, erst jetzt! Und ich bin ganz glücklich darüber, daß er mir überhaupt gekommen ist. Du nicht auch? Ohne ihn würden wir für heut kein Wasser haben.«
»Also dauert es bei Dir eine volle Stunde, ehe Dir das kommt, was Du als den gesunden Menschenverstand bezeichnest! Was hattest Du denn vorher für eine Art von Verstand?«
»Deinen jedenfalls nicht, Effendi! Denn der wäre wohl nicht auf den einzig richtigen Gedanken gekommen, wieder umzukehren!«
»Allerdings nicht!«
»So komm, und folge mir zurück! Ich führe Dich dorthin, wo wir heut früh getrunken haben. Dort war das Wasser noch gut.«
»Also über sechs Stunden weit rückwärts, denn jetzt ist es Mittagszeit! Ich danke!«
»Du willst nicht mit?«
»Nein.«
»So reite ich allein!«
»Tue es! Leb wohl, Halef! Laß Deinen gesunden Menschenverstand ja nicht in das Trinkwasser fallen. Du wirst ihn nötig haben, um mich im Laufe dieses Jahres wieder einzuholen!«
Ich ritt weiter; er aber blieb halten. Er schickte mir verschiedene Rufe und Ermahnungen nach. Ich antwortete nicht; ich sah mich gar nicht einmal um. Nach einiger Zeit wurde es hinter mir still. Dann hörte ich die Sprünge und lauten Atemzüge seiner Hunde, die bei ihm geblieben waren, mir aber jetzt nachkamen. Und als hierauf wieder eine Weile vergangen war, ertönte hinter meinem Rücken der scharfe Trab seines Pferdes. Er holte mich ein, kam an meine Seite und klagte in seinem vorwurfsvollsten Tone:
»Sihdi, es ist nicht auszuhalten mit Dir! Willst Du es denn mit Gewalt herbeiführen, daß wir verschmachten und verdursten?«
»Willst Du ewig im Sumpf und Moor der Ussul bleiben?« antwortete ich.
»Wie kommst Du zu dieser Frage? ich begreife sie nicht!«
»So sag, wo wollen wir hin?«
|125A »Zunächst nach dem Engpaß Chatar und dann in das Land der Tschoban.«
»Kennst Du dort Wasserquellen?«
»Nein!«
»Willst Du alle Tage zurückreiten, um hier Wasser zu holen?«
»Gewiß nicht! Da kämen wir ja gar keinen Schritt vorwärts!«
»Aber Wasser brauchen wir dort doch auch!«
»Wir werden schon welches finden!«
»Wo?«
»Das weiß ich freilich nicht. Ich verlasse mich da ganz auf Dich.«
»Ah, so! Also ganz auf mich! Warum denn nicht auf Deinen gesunden Menschenverstand?«
»Allah w' Allah! Das ist Hohn! Das ist Spott! Das ist nicht schön von Dir! Sihdi, Du willst mich höhnen! Bedenke, daß Du als Schutzgeist verpflichtet bist, stets edelmütig zu handeln!«
»Und Du als Schutzengel hast immer vorwärts, nie aber rückwärts zu trachten! Merke Dir das! Wer in seinem Leben so glücklich ist, das Land des Sumpfes hinter sich zu haben, der soll lieber verschmachten, als sich vom ordinären Durst verleiten lassen, in den Sumpf zurückzukehren! Wasser gibt es überall, sogar auch in der ödesten, trockensten Wüste; man muß es nur zu finden wissen. Und daß es im Sande der Wüste reiner und bekömmlicher ist als im Moderboden des Schwemmlandes, das weißt Du, der Du aus der Wüste stammst, doch ebenso gut wie ich.«
»Ja freilich!« nickte er. »Aber was Du da sagst, das klingt, als ob Du auf solches reines, lauteres Sandwasser rechnetest?«
»Das tue ich allerdings. Der Fluß kann doch unmöglich aus dem Gebiete der Tschoban gekommen sein, ohne den dortigen Sand mit herüber zu schwemmen. Je mehr wir uns dem Engpasse nähern, desto größer wird für uns die Wahrscheinlichkeit, auf sandige Stellen zu stoßen - - - «
»Aber nicht auf Wasser,« unterbrach er mich.
»O doch! Nach den Dir allerdings vollständig unbekannten Gesetzen der Fenni mizani mejah und nach den Regeln der - - - «
»Schweig!« fiel er mir in die Rede, indem er sich für einige Augenblicke mit den Händen beide Ohren zuhielt. »Ich mag von dieser Deiner Fenni mizani mejah ebensowenig wissen wie von allen Deinen anderen Wissenschaften! Es kommt dabei doch weiter nichts heraus, als daß man aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein klettert und aus diesem schmählich wieder herunterstürzt! Ich habe das erlebt! Nein, wenn ich Durst habe, will ich keine Fenni mizani mejah, sondern Wasser trinken, und ich bitte Dich also - - -«
Er hielt mitten in der Rede inne. Er sah etwas, was ihn verstummen ließ. Das war eine helle Stelle im alten, dunkeln Moorboden des Flußlaufes. ich sagte nichts, sondern lächelte nur. Als er mich wieder anblickte, und dieses Lächeln bemerkte, senkte er den Blick und gestand mir in seiner lieben, aufrichtigsten Weise unumwunden zu:
»Sihdi, ich bin ein Ochse, ein Esel, ein Schaf, kurz und gut, ein jämmerlicher Kerl, bei dem der gesunde Menschenverstand eine ganze, volle Stunde braucht, um sich auf sich selbst zu besinnen. Und selbst dann, wenn er das getan hat, kommt nichts Gutes heraus, sondern immer nur etwas Dummes! Nicht wahr, diese lichte Stelle da drüben ist Sand?«
»Ich vermute es. Laß uns nachsehen! Wir nähern uns dem Engpaß. Ich hoffe, daß wir ihn schon lange vor Abend erreichen.«
Wir stiegen von den Pferden und gingen nach der betreffenden Stelle. Ja, sie bestand aus Sand, der nur wenige Zentimeter tief trocken war, dann aber feucht zu werden begann. Diese Feuchtigkeit wuchs mit der Tiefe. Halef pflegte jeden Fehler oder Irrtum, den er eingesehen hatte, mit wahrer Begeisterung wieder gutzumachen; so auch hier. Er eilte zu den |125B Pferden zurück und schnallte seine beiden metallenen, arabischen Steigbügelschuhe aus den Riemen. Ihrer Gestalt nach waren sie zu Handscharren vortrefflich geeignet. Er nahm einen und ich einen. Wir gruben in kürzester Zeit ein Loch, in welchem sich ein klares, wohlschmeckendes Wasser sammelte. Es war durch den Sand filtriert. Wir tranken uns beide satt. Auch die Hunde bekamen genug. Wir erweiterten die Grube und tränkten auch die Pferde. Dann sickerte das Wasser so rasch nach, daß wir es abklären lassen und die Schläuche füllen konnten. Als wir damit fertig waren, hatten wir zu alledem nicht viel über eine halbe Stunde gebraucht. Nun stiegen wir wieder auf und ritten weiter. Halef fühlte sich beschämt. Er sagte:
»Wie rasch und bequem das gegangen ist! Ich aber hätte über zwölf Stunden gebraucht, um Wasser zu finden und Dich wieder einzuholen!«
»Falls ich gewartet hätte, ja! Ich aber wäre weitergeritten, und so hättest Du mich in zwölf Stunden nicht erreicht. Zudem mußt Du bedenken, daß wir jetzt gutes, gereinigtes Sandwasser haben, während Du nur gewöhnliches Moorwasser hättest bringen können.«
»Meinst Du, daß wir auch jenseits des Engpasses immer Wasser haben werden?«
»Ich hoffe es.«
»Aber die dortige Wüste ist berüchtigt. Sie soll die trockenste sein, die es gibt.«
»Das glaube ich nicht. Ich bin überzeugt, daß sie besser ist als ihr Ruf. Sie ist im Norden von Bergen umkränzt, hinter und über denen sich die Gebirgsmassen von Dschinnistan erheben. Das erzielt einen Wasserdruck, der jedenfalls auch bis in das Land der Tschoban reicht. Übrigens habe ich auf der Landkarte, welche der Dschirbani mir gegeben hat, Ortszeichen gefunden, welche jedenfalls Wasserstellen bedeuten. Sie stammten von seinem Vater, der die Wüste oft durchquerte und sie darum sehr gut kannte. Man sagt, er habe das Gelingen dieser seiner Reisen nur dem Spürsinn seiner Hunde zu verdanken. Ich will das nicht in Abrede stellen, füge aber hinzu, daß seine eigene Kenntnis der Wasserstellen noch wichtiger gewesen ist als die Nasen seiner vierfüßigen Begleiter. Ich glaube nicht, daß Du ahnst, wie groß diese Wichtigkeit auch für uns werden kann.«
»Für uns? Wieso?«
»Wir wollen doch die Tschoban besiegen. Nicht?«
»Ja. Aber wir wollen nicht nur das, sondern wir wollen sie unterwerfen, wollen von ihrem Land Besitz ergreifen.«
»Ganz recht! Was aber gehört zu einem solchen Siege?«
»Tapferkeit.«
»Weiter nichts?«
»Freilich noch viel mehr. Mut, List, Klugheit, Übung, Ausdauer, Geschicklichkeit und noch vieles andere. Sihdi, Du lächelst! Du machst Dich lustig über mich. Gestehe es!«
»Ein wenig allerdings. Deine Aufzählung paßt ebenso gut auf jede Prügelei unter zweien. Wie wir seit gestern abend wissen, wird es nicht nur einen Kampf zwischen den Ussul und Tschoban geben, sondern auch die Dschunub werden sich beteiligen. Den Sieger kenne ich schon heut.«
»Der sind natürlich wir!«
»Oho! Der wirkliche Sieger heißt ganz anders als wir.«
»Kenne ich ihn?«
»Ja.«
»Wie heißt er?«
»Wasserschlauch.«
»Was - - -!«
Das Wort blieb ihm im Munde stecken Er sah mir ganz verständnislos in das Gesicht. Dann aber schien ihm die Einsicht zu kommen. Er schloß den Mund, der ihm offen geblieben war, nickte mir zu, machte ein pfiffiges Gesicht und fuhr fort:
»- - - serschlauch! Ganz richtig! Der Wasserschlauch! Wer genug Wasser hat, der hält es am längsten aus. Wer aber keines hat, der muß verschmachten, und sei er noch so stark oder noch so klug. Daher also die Tausende von Wasserschläuchen, die Du bestellt hast! Du, Sihdi, ich glaube, der Hinweis auf diese Schläuche war Schutzengelei. Nicht?«
»Vielleicht hast Du nicht ganz unrecht, wenn Du es so nennst.«
|126A »Aber woher das Wasser nehmen für eine solche Menge von Gefäßen?«
»Du meinst, für eine solche Menge von Tieren und Menschen. Denn diese sind doch die Hauptsache, die Gefäße aber Nebensache.«
»Mir wird angst, wenn ich daran denke!«
»Mir nicht.«
»Aber grad von Dir wird man es fordern! Auf Dich wird die Verantwortung fallen! Wirst Du sie tragen können?«
»Wahrscheinlich. Ich habe da drei Verbündete, die mich nicht im Stiche lassen werden.«
»Höre, Sihdi, was machst Du für ein Gesicht, indem Du das sagst! Diese Deine Miene kenne ich! Wenn Du die vorsteckst, so hast Du immer einen guten, pfiffigen Gedanken! Bin etwa ich einer von diesen Deinen drei Verbündeten?«
»Nein, mein lieber Halef, Du leider nicht, So viel Wasser, wie ich brauche, wirst Du mir wohl nicht schaffen können.«
»Ganz sicher nicht! Aber auch Du hast doch nicht, wie einst Musa, einen Stock, mit dem Du nur an den Felsen zu schlagen brauchst, damit Wasser aus ihm springe!«
»Ich habe sogar drei solche Stöcke.«
»Wo? Wieso? Du meinst das natürlich nur bildlich?«
»Allerdings. Ich meine unsere drei Verbündeten. Der erste von ihnen ist die Landkarte des Dschirbani, die ich hier in meiner Tasche habe. Ich glaube, daß sie sich außerordentlich gut bewähren wird.«
»Wenn Du Dich nicht täuschest!«
»Ob ich mich täusche, wird sich noch heut vor Abend zeigen. Täusche ich mich aber nicht, so ist diese Karte von einem Werte, den man gar nicht taxieren kann.«
»Weiß das der Dschirbani?«
»Nein. Es handelt sich um ein geheimnisvolles Zeichen des Dschinnistani auf der Karte. Wenn ich es richtig deute, werden wir wohl nie zu dürsten brauchen.«
»Und der zweite Verbündete?«
»Ist eben mein Zweifel daran, daß die Wüste der Tschoban so ganz und gar wasserlos ist. Wie ich Dir bereits andeutete, weisen die Gesetze der Fenni mizani mejah darauf hin, daß - - «
»Allah sei mir gnädig!« fiel er mir da schnell in die Rede. »Laß mich mit dieser Deiner Fenni mizani mejah in Ruhe, und sage mir lieber, wer Dein dritter Verbündeter ist!«
»Mein dritter sind die Vulkane von Dschinnistan.«
»Die feuerspeienden Berge?«
»Ja.«
»Die jetzt allabendlich in Glanz und Flammen stehen?«
»Dieselben.«
»Deine Verbündeten? Das begreife ich nicht!«
»Du mußt bedenken, daß sie nicht nur allabendlich in Glanz und Flammen stehen, wie Du sagst, sondern Tag und Nacht, also immerfort, nur daß man es beim Licht des Tages nicht so sehen kann wie während der Dunkelheit der Nacht. Diese vulkanischen Ausbrüche kehren, wie Taldscha und die Priesterin erzählten, in Zwischenräumen von ungefähr hundert Jahren wieder, und jetzt besinne ich mich, in der Bibliothek unserer Marah Durimeh gelesen zu haben, daß Ssul, der Fluß, der ausgetrocknet ist, weil er gezwungen war, nach seiner Quelle zurückzufließen, in jedem Jahrhundert einmal den Versuch macht, aus dem Paradiese zurückzukehren. Es stand da: >Dann wird sein Lauf von Sehnsuchtstränen feucht, und Nachtigallen trinken Morgentau, wo sonst sogar der Stein vor Durst verschmachtet!< Diese beiden Sagen, nämlich daß die Vulkane alle hundert Jahre leuchten und daß Ssul, der Fluß des Friedens, in jedem Jahrhundert einmal seinen Lauf befeuchtet, scheinen meiner Ansicht nach im Zusammenhange miteinander zu stehen. Das eine scheint die Ursache oder die Folge von dem andern zu sein.«
»Daß die Vulkane speien, wenn der Fluß feucht wird?« fragte Halef ernst.
»O nein,« lachte ich. »Sondern grad umgekehrt. Nämlich, daß der Fluß Wasser bekommt, wenn die Vulkane sich in Tätigkeit befinden. Denke Dir die Massen ewigen Eises, welche da oben in den Bergen aufgestapelt liegen. Dieses Eis, welches man |126B mit dem Tode vergleicht, verbirgt eine unendliche Fülle des Lebens; nur muß man das dem kurzsichtigen Menschen erst extra zeigen und sagen. Und denke Dir zu diesem Eise eine wochen- oder gar monatelange Periode vulkanischer Ausbrüche, durch welche eine Glut entwickelt wird, der keine Kälte, und sei sie noch so stark, widerstehen kann. Da schmelzen ganz gewaltige Mengen Eises. Sie werden zu Wasser. Sie rauschen, stürzen und fließen zum Tale. Je größer die Hitze ist und je länger sie dauert, um so mehr wird das tiefere Land vom Wasser getränkt und gesättigt. Die Feuchtigkeit füllt nicht nur Bäche und Flüsse, sie wird auch von der durstigen Erde aufgesaugt wie von einem ausgetrockneten Schwamme und geht in seinen Poren heimlich und ungesehen abwärts bis in die Wüste, wo sie gezwungen ist, in den tiefen Rinnen alter, verschmachteter Wasserläufe zutage zu treten und sich zu offenbaren. Ich halte es für ein großes Glück für uns, daß grad jetzt eine solche Periode begonnen hat. Sie wird unsere Verbündete sein. Sie wird uns selbst in der trockensten Wüste der Tschoban das Wasser geben, welches wir brauchen, um unsere Zwecke zu erreichen. Wir haben weiter gar nichts nötig, als daß wir die Gegend, durch die wir ziehen, nach den Gesichtspunkten der Wasf ul arz oder der Ilmi tabakat-i-arz auswählen. Wenn wir das tun, so - - -«
»Sei still, sei still!« fiel er mir in die Rede. »Wir brauchen Wasser, aber keine Wasf ul arz und auch keine Ilmi tabakat-i-arz. Nimm Rücksicht auf mein Unterbewußtsein, wenn ich oben sitze, und erbarme Dich meines Oberbewußtseins, wenn ich unten liege, aber verschone mich mit diesen Wissenschaften, die man weder in Schläuche füllen noch in der Kaffeekanne wärmen kann!«
»Gut, lieber Halef! Ich wollte Dir nur andeuten, daß es gar nicht schwer ist, eine Gegend daraufhin zu betrachten, welcher Teil von ihr verborgenes Wasser enthält. Wir werden welches finden; ich bin fast überzeugt davon. Und das wird dann wie die Erfüllung einer Verheißung sein, wie die Offenbarung eines großen, seligmachenden Zusammenhanges. Da oben in Dschinnistan öffnen sich in feuersprühender Nacht die Pforten des Paradieses, und die Flammen leuchten die Engelsfrage in alle Welt hinaus, ob endlich Friede sei auf Erden. In der Glut dieser Flammen schmelzen die Gletscher und Firnen und kommen dem Menschen mit ihrer Hilfe sogar bis in die Wüste entgegen, damit es möglich sei, den Frieden, der ihm von aller Welt verweigert wird, mit dem Säbel zu erzwingen!«
Da zuckte ein Strahl des Glückes über das Gesicht meines guten Hadschi und er rief aus:
»Effendi, du weißt, daß ich die Feigheit hasse, die Tapferkeit aber liebe und mich vor keinem Feinde fürchte. Der Kampf ist mir, wenn er gute Gründe hat und ehrlich vor sich geht, eine Wonne. Aber ich sehe ebenso ein wie Du, daß der Friede besser ist als der Krieg. Wir beide, Du und ich, haben kriegerischen Ruhm wohl mehr als genug geerntet; es ist uns erlaubt, nun nach dem Frieden zu trachten, ohne daß man uns für mutlos hält. Wir können heimziehen aus der Welt, die sich niemals verträgt und darum unaufhörlich schlägt. Wir können uns Wohnungen bauen, in die der Haß und Streit nicht dringen können. Ich kehre heim zu meiner Hanneh, der herrlichsten Blume, die auf Erden duftet, und bringe ihr zehn Kamelladungen von Teppichen, Decken, Schals und Leinwanden mit, um ihr das schönste aller Zelte zu bauen, das man jemals gesehen hat. Und auch Du kehrst heim zum harrenden Weibe, welches Du Deine >Seele< nennst. Du bringst ihr - - - ja, Sihdi, was bringst Du ihr denn mit? Ihr wohnt ja nicht in Zelten, die man aus leinenen oder baumwollenen Stoffen macht, sondern in Häusern, die man aus - - - höre, Sihdi, woraus werden diese Häuser gemacht?«
»Aus Mauer- und Ziegelsteinen, aus Holzbalken und Brettern und so weiter.«
»Womit werden sie gedeckt?«
»Mit Schiefer, Ziegeln, Schindeln, Dachpappe und so weiter.«
»Ist ein Garten drum herum?«
|127A »Bei dem meinigen, ja.«
»Und wie heißt so ein Haus, welches mitten im Garten steht und nur Vergnügen macht?«
»Man pflegt es eine Villa zu nennen.«
»Nun gut, so kannst Du Dich bei Deiner Heimkehr nicht mit Teppichen, Decken, Schals und Leinwanden beladen, welche Dir unnütz sind, sondern Du nimmst aus Ägypten, Arabien oder Persien folgendes mit nach Hause.«
Er spreizte, indem wir dabei weiterritten, die fünf Finger der linken Hand weit auseinander und zählte an ihnen mit dem Zeigefinger der rechten Hand die einzelnen Posten ab, die er der Reihe nach aufführte:
»Erstens zehn Kamelladungen Mauersteine und Ziegelsteine und so weiter. Zweitens zehn Kamelladungen hölzerne Balken und Bretter und so weiter. Drittens zehn Kamelladungen Dachschiefer und Dachziegeln und so weiter. Viertens zehn Kamelladungen Dachschindeln und Dachpappe und so weiter. Und fünftens zehn Kamelladungen heilige Erde aus Mekka, Medina, Jerusalem und Kaïrwan, auf welche Du dem Weibe Deines Herzens eine neue Villa baust. Auch in den Garten, der drumherum liegt, kannst Du von dieser Erde streuen, weil sie die köstliche Eigenschaft besitzt, alle wilden Tiere und alle bösen Menschen von Euch abzuhalten.«
»Gut, ich werde das tun,« nickte ich belustigt. »Was soll ich noch mitnehmen?«
»Weiter nichts, denn ich bin doch schon bei Fünftens angelangt und habe keine Finger mehr, um fernere Sachen daran herzuzählen. Begnüge Dich also mit dem, was ich Dir angegeben habe. Es ist genug. Bedenke, das macht schon fünfmal zehn Kamele, also fünfzig! Wenn Du die von Persien, Arabien oder Ägypten bis nach Deutschland führen, in Ordnung halten und ernähren sollst, hast Du unterwegs so viel zu tun, daß Du fast gar nicht fertig wirst. Ich rate Dir also, ja nichts weiter mitzunehmen und Dich mit dem zu bescheiden, was Du hast! Ein wahrhaft kluger Mann verlangt von Allah nie zu viel!«
»Besonders wenn es sich um Balken, Bretter und Dachschindeln handelt!«
»Schweig! Ziehe die Villa nicht ins Lächerliche! Ich habe sie ernst gemeint! Du hast überhaupt die Eigenheit, über mich zu lachen, wenn ich ernstlich rede, und mich nur dann ernst zu nehmen, wenn ich scherze. Das muß ich mir verbitten und - - - schau, Sihdi, hier hat ein Feuer gebrannt.«
Er hielt an, ich auch. Wir befanden uns noch immer an dem Flußbette aufwärts, welches aber nun ohne Wasser war. Auch heut hatten wir zu unserer Rechten den Wald, doch war er nicht so dicht wie gestern, weil hier die Feuchtigkeit fehlte. Unten im Flußbette gab es hier eine Wasserlache mit sehr trübem Inhalte, aus welcher, wie wir aus den Spuren ersahen, die Pferde und Kamele getränkt worden waren. Die Reiter hatten am Waldesrande gelagert und gegessen. Das waren natürlich die Dschunub gewesen. Wir stiegen gar nicht von den Pferden. Der Umstand, daß diese Leute hier kurzen Halt gemacht hatten, war mir von keiner Wichtigkeit. Ich überflog den Platz nur oberflächlich mit den Augen und ritt dann weiter. Halef blieb noch kurze Zeit halten und kam mir dann nach. Aber er war unruhig. Er drehte sich wiederholt um und schaute zurück.
»Was hast Du?« fragte ich ihn.
»Eigentlich nichts, gar nichts,« antwortete er. »Aber es ist mir so sonderbar.«
»Wie?«
»Wie eine Ahnung.«
»Was für eine Ahnung?«
»Daß wir dort noch hätten bleiben sollen.«
»Etwa wie ein böses Gewissen? Wie eine Angst, als ob wir etwas Gutes unterlassen hätten?«
»Ja, eine Angst! So, genau so ist es.«
»Das kenne ich! Wir kehren zurück und werden den Platz genau untersuchen. Ich bin überzeugt, daß wir etwas finden werden, was nichts Gleichgültiges ist.«
Wir lenkten also wieder um. An dem Platze angekommen, stiegen wir ab und untersuchten ihn, fanden aber nichts. Wir |127B wiederholten das Nachforschen, doch ebenso vergeblich. Die Spuren stammten zwar von gestern, waren aber noch ziemlich deutlich zu sehen, weil die Dschunub keine Veranlassung gekannt hatten, vorsichtiger zu sein. Zwei Diener waren mit den Pferden und Kamelen unten an der Wasserpfütze gewesen. Die andern zwei hatten oben am Rande gesessen und dem Tränken zugeschaut. Die beiden Herren hatten sich abseits davon nebeneinander an einer Stelle niedergelassen, die eine sehr dunkelbraune, sammetweiche Moosdecke hatte. Weggeworfene Haut- und Sehnenstücke des genossenen Fleisches bewiesen, daß gegessen worden war. Aber weiter als das war trotz alles Suchens nicht zu entdecken. Ich ging also zu meinem Pferde zurück und gab das vergebliche Forschen auf. Da warnte mich Halef:
»Effendi, bleibe noch! Es wird mir bang, ganz eigentümlich bang, wenn ich sehe, daß Du fort willst. Es muß etwas hier geben, was wir wissen sollen; es muß, es muß! Ich habe noch nie in meinem Leben eine solche Angst gehabt wie jetzt. Schau mich an!«
Er kam zu mir herbei, damit ich ihn betrachten möge. Ich sah, daß seine Wangen feucht waren. Über seinen Brauen glänzte die Stirn von Schweiß.
»Das ist Angstschweiß!« sagte er, indem er ihn wegwischte. »Ich bin noch nie so voller Unruhe gewesen wie in diesem Augenblick. Mein Herz schlägt so laut, daß ich es innerlich höre. Ich bitte Dich, suchen wir noch einmal!«
»So wird auch mir fast angst! Derartige innere Erregungen pflegen ihren guten Grund zu haben. Verfahren wir also sorgfältiger! Wir haben bis jetzt nur stehend gesucht. Knien wir nun nieder! Wenn etwas Wichtiges zu finden ist, liegt es wahrscheinlich da, wo die beiden Gebieter gesessen haben. Also komm!«
Wir kehrten zu der betreffenden Stelle zurück und knieten nieder, um das Moos nun nicht nur mit den Augen, sondern auch mit den Fingern abzutasten. Kaum war das geschehen, so rief Halef: »Hamdulillah, ich hab's!« und ich sagte zu gleicher Zeit: »Hier ist es, da im Moose!« Und in demselben Augenblicke griff er zu und auch ich. Wir zogen, er mit seiner Rechten und ich mit meiner Rechten, ein Messer heraus, das bis ans Heft im Moose steckte. Dieses Heft war von Metall, aber so gedunkelt, gealtert, verrostet oder vergrünspant, daß es ganz genau die Farbe des Mooses hatte und, von oben betrachtet, nicht von ihm zu unterscheiden gewesen war. Erst als wir niedergekniet waren und unsere Blicke nun von der Seite kamen, hatten wir es bemerkt und zwar sofort. Die Klinge war blank und scharf, als käme sie erst heut vom Messerschmied, war aber doch vom feinsten, besten, altindischen Stahle. Man konnte mit ihrer Schärfe ein frei schwebendes Haar durchschneiden. Bei näherer Betrachtung sah man, daß das Heft eingravierte Linien und Punkte zeigte, doch waren sie nicht deutlich zu erkennen, und wir gaben uns in diesem ersten Augenblicke ganz selbstverständlich nicht gleich die Mühe, diese Figuren zu enträtseln. Unsere Aufmerksamkeit richtete sich vielmehr sofort auf den starken, sonderbaren Rücken der Klinge, welcher rechtwinkelig eingekerbt war, und zwar verschiedentlich breit und tief. Ich kann das nicht deutlicher machen, als indem ich bitte, an unsere neuen, seit einiger Zeit in Mode gekommenen Kofferschlüssel zu denken, die nur aus dem breiten Bart bestehen und deren eingeschnittene Kerben mit den im Schlosse vorhandenen Sicherheitsstiften korrespondieren. Diese eigentümliche Klinge steckte nicht fest und unbeweglich im Hefte, sondern sie war durch ein Scharnier mit ihm verbunden und konnte also eingebogen werden.
»Ein Messer, ein Taschenmesser!« sagte Halef. »Das hat entweder der >erste Minister< oder der >höchste aller Priester, die es gibt<, während des Essens hier in das Moos gesteckt und dann vergessen. Wenn es dem letzteren gehörte, so haben wir das Messer gefunden, mit dem der >Gott< ißt! Hier, nimm es, Sihdi! Und nimm noch etwas dazu!«
Er gab mir das Messer, welches er festgehalten hatte, und zu gleicher Zeit auch einen Kuß grad auf dem Mund. Auf den fragenden Blick, der ihn deshalb aus meinen Augen traf, entschuldigte er sich:
»Verzeih den Kuß, Sihdi! Ich kann nicht anders, Ich mußte ihn Dir geben. Aus Dankbarkeit, daß Du erlaubt hast, |128A
noch einmal zu suchen. Es ist etwas in mir, was ich nicht selbst bin. Dieses Etwas freut sich unendlich darüber, daß wir das Messer gefunden haben. Es ist für uns bestimmt. Sein Eigentümer ist gezwungen worden, es hier in das Moos zu spießen und dann stecken zu lassen. Dieses innerliche Etwas sagt mir, daß dieses Messer von einem Werte für uns ist, den wir noch gar nicht ahnen. Ich bin so froh, so glücklich, daß es von uns entdeckt worden ist! Begreifst Du das? Ich nicht! Die Freude gebot mir, Dich zu küssen. Wozu aber die Einschnitte im Rücken der Klinge? Ich habe das noch bei keinem andern Messer gesehen. Errätst Du ihren Zweck?«
»Ja.«
»Welcher ist es?«
»Dieses Messer war einst das Schlachtmesser für kleinere Opfertiere und zugleich der Schlüssel zu dem Tempel, in dem diese Opfer gebracht wurden.«
»Ein Schlüssel? In welcher Weise?«
»Schau her! Man schlägt das Einbiegemesser auf und steckt die Klinge in das Schlüsselloch. Dann macht man das Messer halb wieder zu, indem man das Heft nach unten drückt. Ist dies geschehen, so bildet das Heft einen Drehling, also eine Kurbel, und die Klinge den eigentlichen Schlüssel, den man am Heft so lange dreht, bis das Schloß geöffnet ist.«
Indem ich das Messer abwechselnd einbog, öffnete, halb wieder zusammenbog und dann am Griffe drehte, zeigte ich dem Hadschi, wie dieser altindische Messerschlüssel zu handhaben war. Er sah mir zu, schüttelte dann langsam den Kopf und sagte:
»Die Sache ist zwar hochinteressant, aber sie erscheint mir nicht als sehr hoffnungsvoll. Wir haben einen Schlüssel, aber kein Schloß dazu. Und wenn wir es hätten, woher nehmen wir den Tempel, zu dem es gehört? Dieser Tempel hat im alten Indien gestanden. Steht er noch? Und wo? Mit diesem Schlüssel ist es ganz dasselbe, als wenn ich zum Beispiel einen Sporen habe, aber kein Pferd dazu. Ja, wir sind sogar noch schlimmer daran, denn ein Pferd läßt sich jedenfalls eher und auch leichter beschaffen als ein alter hindostanischer Götzentempel, der höchstwahrscheinlich längst in Trümmern liegt. Ich freue mich unendlich darüber, daß mein Gefühl mich nicht betrogen, sondern uns dazu geführt hat, diesen Schlüssel zu finden; lieber aber wäre es mir, wenn wir anstatt den Schlüssel den Tempel gefunden und anstatt des Tempels nur noch den Schlüssel zu erwarten hätten!«
»Du verlangst zu viel. Mir genügt das, was ich habe.«
»Also der Schlüssel!«
»Nein. Denn wir haben nicht nur ihn, sondern noch viel mehr.«
»Möchte wissen, was!«
»Nicht was, sondern wen. Nämlich den, der ihn hierhergebracht und stecken gelassen hat. Ob dies der Maha-Lama oder der Minister ist, das bleibt sich für mich gleich. Ich werde bis zum Beweise des Gegenteiles der Ansicht sein, daß nicht der Minister sondern der Oberpriester das Messer besessen hat. Ich will zwar nicht annehmen, daß er es amtlich überkommen hat, aber der Besitz steht höchstwahrscheinlich mit seiner heiligen Würde in irgend einer Beziehung. Es ist ganz und gar nicht ausgeschlossen, daß er |128B weiß, zu welchem Gebäude der Schlüssel gehört. Ist dies der Fall, so erfahren wir es von ihm, denn wir kommen ja wieder mit ihm zusammen. Dann wird sich herausstellen, ob der heutige Fund uns irgend welchen Nutzen bringt oder nicht.«
»Wenn es nach dem Gefühle geht, welches mich zwang, wieder umzukehren und nochmals nachzuforschen, so ist er uns von Nutzen, und zwar von einem sehr großen. Ich bitte Dich, Sihdi, das Messer gut aufzuheben. Wenn Du wirklich ahnst, daß wir das finden werden, was dazu gehört, nämlich den Tempel, dessen Schlösser es öffnet, so will ich meinen Ausdruck, daß die Sache nicht sehr hoffnungsvoll sei, hiermit zurücknehmen. Auf alle Fälle habe ich hier etwas gelernt, was ich nicht wußte, nämlich daß es geheimnisvolle Dinge oder gar Personen außer uns gibt, deren Stimmen bis tief in unser Inneres reichen. Denn die Mahnung, zurückzukehren und noch einmal zu suchen, stammte nicht von mir selbst, sondern sie kam von außen; das habe ich deutlich gefühlt. Ich bitte Dich, jetzt nicht mit mir zu sprechen. Die Sache kommt mir außerordentlich wichtig vor. Ich werde über sie nachdenken.«
Als er dies sagte, kam mir ein ironischer Hinweis auf seinen >gesunden Menschenverstand< auf die Lippen, ich drängte ihn aber zurück, weil der liebe Kleine hier nur Aufmunterung, nicht aber Spott verdiente. Er verhielt sich, während wir nun weiterritten, vollständig schweigend. Auch ich war still, doch in Gedanken ebenso beschäftigt wie er, wenn auch auf anderem Gebiete. Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gegend, durch die wir kamen, und auf die Veränderung, welche sie erlitt, je weiter wir vorwärts rückten. Der Boden veränderte sich. Der Humus verschwand. Die Moorerde ging in Sanderde über. Es versteht sich von selbst, daß diese Veränderung sich auch auf die Pflanzenwelt erstreckte. Unser Weg lag zwischen den beiden Extremen des Urwaldes und der Wüste. Er führte von dem einen zu dem andern. Es war im höchsten Grade interessant, nicht nur an den Bäumen, sondern auch an den Büschen, Sträuchern, Stauden, Kräutern und Gräsern zu beobachten, wie sie verschwanden, um von ähnlichen, aber doch ganz anderen ersetzt zu werden. Es war, als ob wir jetzt den Vorzug hätten, den weiten Weg von der hinterindischen Dschungel nach den westafrikanischen Wüstenregionen in der Zeit von wenigen Stunden zurückzulegen. Der Wald verschwand schließlich ganz. Wir ritten durch eine Steppe, die der Kalahari glich. Ich sah Bastard- und Kameldorne stehen, und daß sich da auch sofort die wilde Gurke einstellte, ist selbstverständlich. Nur da, wo der Sand noch Moor enthielt, traten noch einzelne oder weitläufig gruppierte Bäume auf, doch glichen sie den weitästigen Lebbach- und anderen schattenlosen Albizziarten, welche den Ausdruck der Wüste nicht mildern, sondern steigern.
Halef schien von dem allen nichts zu bemerken. Sein Blick irrte zwar überall herum, war aber inhaltslos. Auch die Arm- oder Fußbewegungen, welche die Verbindung mit dem Pferde forderte, waren rein mechanisch. Er sann und sann und ließ zuweilen einen entweder freudigen oder verdrießlichen, kurzen Ausdruck hören, je nachdem er etwas gefunden zu haben glaubte oder nicht. Endlich aber, nach langer, |129A langer Zeit, warf er plötzlich beide Arme hoch in die Luft und rief aus:
»Hamdulillah! Ich hab's, ich hab's! Effendi, ich hab's?«
»Was?« fragte ich.
»Das Geheimnis!«
»So! Zwar weiß ich nicht, was für ein Geheimnis Du meinst, aber ich gestatte mir dennoch die Frage, ob Du es lösen kannst.«
»Lösen? Nein, lösen kann ich es nicht,« antwortete er.
»So behalte es für Dich!«
»Fällt mir gar nicht ein! Ich habe es Dir unbedingt zu sagen!«
»Aber ich mag es nicht hören!«
»Du mußt! Es ist zu wichtig!«
»Das bezweifle ich sehr stark! Jeder, der ein Geheimnis hat, pflegt es für wichtig zu halten; wenn aber dann die Lösung kommt, ist es mit der Wichtigkeit meist vorüber. Behalte das Deinige für Dich. Ich bin so von allerlei Geheimnissen überfüllt, die ich nicht lösen kann, daß ich mich dagegen verwahren muß, auch noch mit an den Deinigen zu schleppen!«
»Du brauchst es doch nicht zu behalten!« wendete er ein. »Wenn es Dir nicht gefällt, so gibst Du mir es wieder!«
»Du wirst Dich hüten, es wieder zu nehmen,« lachte ich.»Du bist froh, wenn Du es los bist!«
»Nein, wirklich nicht, Sihdi,« beteuerte er. »Es ist keine Last, die ich Dir aufladen will. Sondern es ist etwas Unsichtbares, was ich Dir zeigen will, um zu erfahren, ob Du es vielleicht sichtbar machen kannst. Ich kann es nämlich nicht.«
»So sage es! Hängt es mit unserm Messerfunde zusammen?«
»Ja. Freilich, mit dem Messer eigentlich nicht, sondern mit der inneren Stimme, der ich gehorchte, als ich Dich veranlaßte, wieder umzukehren. Kennst auch Du solche Stimmen?«
»Ja.«
»Wo kommen sie her?«
»Doch wohl aus dem Innern!«
»Wieso?«
»Das liegt in dem Ausdruck, den Du gebrauchst. Würdest Du wohl von innern Stimmen sprechen, wenn sie nicht aus dem Innern kämen?«
»Hm! Diese Frage ist richtig, und doch ist sie falsch. Ich nenne diese Stimme innerlich, weil wir sie nur innerlich hören. Damit ist aber doch noch nicht gesagt, daß sie auch nur von innen kommen. Kann ihr Ursprung nicht von außen sein?«
»Mein lieber Halef, ich bitte Dich, auf meine Antwort zu verzichten.«
»Warum?«
»Weil Du mir verboten hast, Dir Dein Ober- und Dein Unterbewußtsein zu verwirren. Deine Frage kann nämlich nur von der Müdschewwedet beantwortet werden, und daß Dir diese nicht imponiert, das hast Du mir ja schon wiederholt beteuert.«
»Ganz richtig!« nickte er. »Deine Müdschewwedet taugt nichts. Sie ist im höchsten Grade unwissend und behauptet doch, alles zu wissen. Und wer das tut, der macht sich nicht nur lächerlich, sondern der ist sogar als schädlich zu bezeichnen!«
»Wie willst Du wissen, daß die Wissenschaft unwissend ist?«
»Sag: Ist der ein Schlosser, der nicht weiß, was ein Schloß ist?«
»Nein.«
»Oder ist der ein Schuhmacher, der den Schuh einen Stiefel, den Stiefel einen Pantoffel und den Pantoffel einen Schuh nennt? Der Dir also den Unterschied zwischen dem Schuh, dem Stiefel und dem Pantoffel weder zeigen noch erklären kann?«
»Nein.«
»Nun, Deine >Seelenlehre< gleicht diesem Schlosser, der nicht sagen kann, was ein Schloß ist, denn sie hat mir nicht einmal zu sagen vermocht, was eine Seele ist. Und Deine Seelenlehre gleicht diesem Schuhmacher, der noch nicht einmal Pantoffeln, Schuhe und Stiefeln voneinanderkennt, denn sie weiß noch nicht einmal zwischen Anima, Geist und Seele zu unterscheiden; |129B sie spricht von diesen drei Dingen, ohne zu wissen, wer und was sie sind; sie verwechselt eines mit dem andern; heut sagt sie, das sei alles eins, und morgen behauptet sie, daß es gar keine größeren Unterschiede geben könne als die, die hier zu machen seien. Kurz und gut, wenn ich mir Deine berühmte Müdschewwedet genau betrachte, so kommt sie mir wie Dein ebenso berühmter Hadschi Halef vor, als er vom Pferde auf die Erde gesetzt worden war und nicht mehr wußte, ob er das Oberbewußtsein unten und das Unterbewußtsein oben habe oder nicht! An diese sonderbare Wissenschaft werde ich niemals eine Frage richten, auf die ich eine Antwort erwarte, denn sie kann mir keine geben. Die Frage, die ich aussprach, hat nicht ihr, sondern Dir gegolten, und ich hoffe, daß Du Dich nicht plötzlich und ohne allen Grund in eine Wissenschaft verwandelt hast, die sich Müdschewwedet nennen läßt, ohne Müdschewwedet zu sein! Ich sage Dir, Effendi, ich habe nun volle zwei Stunden lang in einem einzigen Atem über meine Frage nachgedacht. Der Kopf tut mir vor Anstrengung weh; der Hals ist mir vor lauter Gedanken vollständig steif geworden, und über den Hüften fühle ich die heftigen Schmerzen des Kreuzes, weil ich mein Gehirn überlastet und meinen Scharfsinn überbürdet habe. Und nun ich die Frucht dieser meiner geistigen Anstrengung in Deine Hände lege, um Auskunft zu erhalten, was tust Du da? Du verlangst von mir, auf Antwort zu verzichten! Das hättest Du mir sagen sollen, ehe ich anfing, nachzudenken; da hätte ich diese Arbeit unterlassen! Aber mich diese schwere, saure Plackerei zu Ende bringen lassen und mir dann den wohlverdienten Erfolg versagen, das ist hinterlistig, das ist heimtückisch, das ist schlecht von Dir! Das brauche ich nicht zu dulden!«
»So dulde es nicht!«
»Werde ja nicht auch noch höhnisch! Ich werde es allerdings nicht dulden, sondern ich verlange von Dir, daß Du gescheidter bist als Deine Psychologie, die schon Millionen Bücher über den Geist und über die Seele geschrieben hat, ohne zu wissen, wer diese beiden eigentlich sind, woher sie stammen, wo sie stecken, was sie hier bei uns sollen und wohin sie wieder gehen, wenn ihr Werkzeug, der Leib, nicht mehr existiert. Ich frage Dich also zum letzten Male, ob Du mir antworten willst oder nicht!«
»Was tust Du denn, wenn ich nicht will?«
»Ich - - ich - - - hm! Sihdi, Du bist ein fürchterlicher Mensch! Fühlst Du denn nicht, daß Du durch diese Deine Frage die Sache gleich auf die höchste Spitze treibst?«
»Du aber wohl nicht?«
»Ich? Hm! Das ist etwas ganz anderes! Ich habe das Recht, von Dir belehrt zu werden, weil Du der Klügere von uns beiden bist. Wenn Du mir diese Belehrung verweigerst, machst Du Dich einer Unterlassung schuldig, vor der ich Dich bewahren will. Wenn ich jetzt dringlich gewesen bin, ist es also nur zu Deinem Heil geschehen. Wirst Du mir nun antworten?«
»Ja. Und zwar nur deshalb, weil Du zugegeben hast, daß ich der Klügere von uns beiden bin.«
»Höre, Sihdi, fang ja nicht wieder an! Ich habe nicht behauptet, daß Du stets und in allen Dingen der Klügere seist, sondern ich meinte nur in Beziehung auf grad den Fall, den wir besprechen. Es handelt sich da um die Stimmen, die wir in unserm Innern erklingen hören. Ich fragte Dich, ob es nicht möglich sei, daß sie von außen stammen. Ich will diese Frage nicht von Deiner unwissenden Müdschewwedet beantwortet haben, sondern von Dir selbst. Ich bitte Dich, mir aufrichtig zu sagen, ob es auch in Deinem Innern solche Stimmen gibt.«
»Das weiß ich nicht.«
»Wie? Was? Du weißt es nicht? Aber Du mußt es doch wissen!«
»Nein.«
»So bist Du dümmer, als ich dachte! O, Sihdi, wie habe ich mich in Dir geirrt! Ich habe Deine Müdschewwedet unwissend genannt, und jetzt stellt es sich heraus, daß Du noch viel weniger weißt als sie, nämlich nichts! Wer hätte das gedacht! Ich nicht!«
»Ich auch nicht! Aber tröste Dich, lieber Halef! Die Dummheit liegt nicht auf meiner Seite, sondern auf der Deinigen.«
»Oho!«
|130A »Ja, auf der Deinigen!«
»Wieso?«
»Du hast Dich falsch ausgedrückt. Du hast mich gefragt, ob es in meinem Innern solche Stimmen gebe, und doch ist, wo es sie gibt, grad das, was wir nicht wissen! Du wolltest jedenfalls fragen, ob auch ich solche Stimmen in meinem Innern höre, und da antworte ich bejahend. Ich habe von jeher auf diese Stimmen geachtet. Ich höre sie in mir; aber wo sie entstehen oder woher sie kommen, das ist eine Frage, die ich offen lassen muß!«
»Schön! Das freut mich! Denn wenn Du sie offen lässest, so schlüpfe ich hinein. Ich sage Dir, Sihdi, diese Stimmen erklingen in uns, aber sie entstehen nicht in uns, sondern sie kommen von außen hinein.«
»Beweis!«
»Sofort! Warte nur, bis ich meine Gedanken alle wieder beisammen habe! Du hast sie mir ganz wirr gemacht! Nämlich daß diese Stimmen nicht von mir kommen, sondern von außen, das ist es, worüber ich in den letzten zwei Stunden nachgedacht habe. Ich konnte lange, lange nichts finden, bis mir endlich die heilige Fatha einfiel, die erste Sure des Koran, die ich täglich des Morgens und des Abends bete und auch tagesüber bei jeder passenden Gelegenheit. Dabei fiel es mir ein, daß ich sie niemals genau so beten kann, wie ich will.«
»Wieso?«
»Ich meine ohne Störung. Ohne daß mir etwas anderes dazwischen kommt. Ich nehme mir vor, und zwar ganz fest und bestimmt, nur ganz allein dieses mein Gebet zu sprechen und dabei an ganz und gar nichts anderes zu denken. Aber kaum habe ich begonnen >Lob und Preis sei dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichtes - - <, so kommt irgend ein anderes Wort oder ein vollständig falscher, fremder Gegenstand geflogen, nämlich in meinem Innern, und fällt mitten in mein Gebet hinein, um mir die Andacht zu verderben. Du ahnst gar nicht, wie viele tausend Male mich das schon geärgert hat.«
»Ist es vielleicht die Umgebung, die Dich so stört?« fragte ich mit Vorbedacht.
»Nein.«
»Wahrscheinlich das, was Du hörst, was Du siehst, während Du betest?«
»Auch nicht. Ich habe genug Kraft in mir, das alles auszuschließen und mich so zu sammeln, daß es mich nicht stören kann. Diese fremden Dinge, die mir das Gebet verderben, kommen weder durch die Augen noch durch die Ohren in mein Inneres hinein, sondern auf einem andern Wege, den ich aber nicht kenne. Es sind Dinge, die mir gar nicht vor den Augen und Ohren liegen, während ich bete. Ich lege mich zum Beispiel im dichten Urwalde zur Ruhe. Es ist völlig finster. Ich sehe und höre nichts, gar nichts. Da bete ich die dreiundfünfzigste Sure, von dem Stern, der da untergeht. Und während ich mich bemühe, an gar nichts anderes als nur an den Wortlaut dieser Sure zu denken, kommen mir mitten in meinen frömmsten Gedanken allerlei Personen gelaufen oder allerlei Gegenstände geflogen, die gar nicht in diese Sure gehören. Obgleich ich gar nicht darandenken will, denke ich da plötzlich mitten in den Zeilen des Gebetes an den Pantoffel meiner Hanneh, an den Schnupfen, den ich vor drei Jahren hatte, an die Prügel, die ich als Kind bekommen habe, oder gar an eine der vielen Dummheiten, die ich auch noch später, in reiferen Jahren, beging. Nun frage ich Dich, Sihdi: Bin etwa ich es, der an diese Sachen denkt?«
»Wohl kaum!«
»Nein! Ganz gewiß nicht! Denn ich will ja nur allein an die Sure denken! Ich gebe mir sogar die größte Mühe, keinen einzigen Augenblick von ihr abzuweichen. Es ist also ein anderer, der mir diese Gedanken zuwirft, um mich zu stören und zu ärgern. Wer aber ist dieser Schurke?«
»Denke nach! Vielleicht findest Du ihn!«
»Denke nach! Das ist sehr leicht gesagt! Aber indem ich nachdenke, um ihn zu erwischen, fährt er in seiner Bosheit fort und wirft mir Dinge herein, die ihn mir so verbergen, daß ich ihn ganz unmöglich entdecken kann. Sihdi, Du hast gar keine Ahnung, wie das ist!«
|130B »Irre Dich nicht!«
»Nicht irren? Hm! Also auch Du?«
»Ja, auch ich, mein lieber Halef! Und nicht nur Du und ich, sondern auch jeder andere Mensch, der über sich selbst nachdenkt und dabei nach innen schaut. Das Beispiel von der Fatha, welches Du bringst, ist ebenso drastisch wie überzeugend. Ganz dasselbe ist mir unzählige Male beim Beten des Vaterunsers geschehen. Millionen beten es, und allen diesen Millionen ergeht es genau wie Dir und mir, aber leider sind nur wenige unter ihnen, die es beachten und betrachten, um die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen.«
»Also auch Du! Also auch Du!« wiederholte er. »Und Du hast natürlich viel eher und viel richtiger darüber nachgedacht als ich! Aber weißt Du, Effendi, es ist nicht bloß beim Gebete, sondern auch bei andern Gelegenheiten! Fast immer, wenn es etwas Ernstes oder Wichtiges zu tun und zu überlegen gibt, kommen diese Unterbrechungen geflogen. Es ist genau so, als ob, während ich in meinem Garten arbeite und pflanze, ein böser Nachbar draußen stehe und mir allerlei Steine und Unkrautsamen hereinwerfe, um mich zu schädigen!«
»Darum nanntest Du ihn einen Schurken!«
»Das ist er auch! Ein Schurke, ein Schuft, ein Betrüger und Fälscher, der mir meine besten Gedanken verdirbt, um mir das Gute, das ich will, in Böses zu verwandeln. Sihdi, ich glaube, dieser Kerl ist an allen Dummheiten schuld, die ich gemacht habe und - Allah sei es geklagt - wahrscheinlich auch noch machen werde!«
»Dieser Verdacht hat guten Grund.«
»Aber wer ist dieser Kerl? Sag es mir, damit ich ihn finde und ihn fassen kann! Ist er in mir? Oder ist er draußen? Bin ich in mir? Oder bin ich draußen? Sind wir alle beide in mir? Oder sind wir alle beide draußen? Ich bin der, der das Gute will, und er ist der, der das Böse will. Ich kann also nicht er, und er kann also nicht ich sein. Wir sind zwei ganz verschiedene Personen. Meinst Du nicht auch, Effendi?«
»Wer Ihr beide seid, das interessiert mich in diesem Augenblicke weniger,« antwortete ich. »Viel lieber möchte ich wissen, woher die Gegenstände geflogen kommen, mit denen er Deine Gedanken unterbricht.«
»Woher? Hm! Du meinst, ob sie von außen oder von innen kommen? Aus mir selbst oder wo anders her?«
»Ja. Bitte, denke darüber nach! Aber recht sorgfältig und genau!«
Er sann längere Zeit und gewissenhaft nach und antwortete dann:
»Nein. Es sind immer Dinge gewesen, die ich schon kannte.«
»Also der, den Du einen Schuft und Schurken nennst, wirft Dir Deine eigenen Steine und Dein eigenes Unkraut in den Garten zurück. Ich sage mit Absicht: >zurück<. Wo befindet er sich also?«
»Draußen.«
»Und die Steine?«
»Auch draußen.«
»Wo aber haben sie sich erst befunden, da sie ja Deine eigenen sind?«
»Drin! Im Garten! In meinem Innern! Sihdi, halt ein, halt ein! Ich sehe ein, wie töricht es vorhin von mir war, über Dich zornig zu werden. Du hattest ganz recht, mich auf die Gefährlichkeit der Müdschewwedet zu verweisen. Ich zwang Dich trotzdem, mir zu antworten, und habe nun die schweren Folgen zu tragen. Bis heut hatte ich mich nur über das Oberbewußtsein und das Unterbewußtsein zu ärgern. Von heute an habe ich nun bei Tage und bei Nacht nur immer aufzupassen, ob der Schurke mit seinen Steinen und seinem Unkraut drinnen oder draußen ist. Mir tut vor lauter Nachdenken schon alles weh, mein Kopf, mein Hals, mein Kreuz und meine Hüften, und wenn sich das - - -«
Er unterbrach sich mitten in der Rede, hielt sein Pferd an und warf einen langen, beinahe verwunderten Blick rundum.
|131A Endlich schien mein Halef genug gesehen zu haben, und nun rief er:
»Maschallah - Wunder Gottes! Seit ich mich nur immer von innen betrachtet und gar nicht mehr nach außen geschaut habe, ist ja die Gegend ganz anders geworden! Ganz anders und viel schöner, viel schöner!«
»Schöner? Wirklich?« fragte ich.
»Ja, wirklich schöner!« antwortete er. »Der Wald ist weg! Der Fluß ist weg! Die Bäume, Sträucher und Gräser sind weg! Die fruchtbare Erde ist weg! Es ist nichts mehr zu sehen als Sand, nur immer Sand, weiter nichts als Sand!«
»Und das nennst Du schöner?«
»Natürlich! Genau so wie hier, war es da, wo ich geboren wurde! In den Wüsten des Moghreb, wo ich geboren wurde! Der Mensch findet alles schön, was ihn an seine Heimat, an seine Jugend, an das Glück seiner Kinderzeit erinnert. Schau, wie unsere Pferde hier ganz anders atmen! Wie ihre Muskeln schwellen, ihre Schweife wehen und ihre Hufe spielen! Das kommt vom Sonnenschein, vom Licht und von der freien Luft. Kein stehendes Gewässer dunstet mehr; kein Moderholz, kein giftiger Schwamm hemmt unsern Weg! Der reinste Sand rundum, wie durch ein feines Sieb herabgeweht, im Lichte bläulich wie Perlmutter schimmernd. Das ist die Wüste, die ich liebe! Komm, machen wir den Pferden diese Freude! Laß uns einmal jagen! Galopp, Galopp, Galopp!«
Er ließ sein Pferd ausgreifen, und ich war ihm ganz und gern zu Willen. Wir flogen über die vollständig vegetationslose Ebene wie im Sturme dahin. Ben Rih schnaubte vor Wonne. Die Hunde bellten jauchzend. Mein edler Syrr war still, aber jeder Schritt oder Sprung, den er tat, war ein ebenso schöner wie beredter Ausdruck des Entzückens, welches in ihm wohnte und seinen herrlichen Gliedern heut einen ganz besonderen Bewegungsausdruck gab.
Wir ritten so, daß wir eng nebeneinander blieben.
»Schau, Sihdi!« sagte Halef, indem er nach vorn deutete. »Siehst Du es?«
»Ja,« antwortete ich.
»Wie herrlich! Was mag es sein?«
Es gab da vor uns ein Leuchten, Blitzen, Sprühen und Glühen, wie aus einem mitten aus der Wüstenebene hoch emporragenden Leuchtturme, der aber nicht nur oben auf seiner Zinne leuchtete, sondern in seinem ganzen Bau aus Flammen bestand. Aber dieses Feuer loderte nicht. Es blitzte in kurzen, durcheinander gezückten Strahlen, wie aus lauter eng aneinander liegenden, geschliffenen Fazetten. Es war, als rage dort ein riesiger Diamant empor, an dem Millionen von Edelsteinschleifern jahrhundertelang gearbeitet hätten, um seiner ganzen, |131B ungeheuren Fläche die Fähigkeit zu erteilen, das große, ewiggewaltige Unisono des Sonnenlichtes in unzählbare, zeitlichkurze Minuten und Sekunden zu differenzieren. Nach langem, schwerem Urwalddunkel bot dieser Strahlenjubel auf unbegrenzter, offener Erdenfläche einen Anblick, den kein Mensch, der ihn gehabt hat, in seinem Leben jemals vergessen kann.
»Was mag das sein?« fragte der Hadschi, indem er sein Pferd zügelte, um wieder langsam zu reiten und so das Schauspiel länger zu genießen.
»Das läßt sich wissenschaftlich leicht erklären. Was wir das vor uns sehen, ist ein aus dem Boden ragendes, glimmerreiches Felsenstück, dessen glasähnliche Partikelchen im Sonnenstrahle funkeln.«
»So! Das ist eine wissenschaftliche Erklärung?«
»Ja.«
»So sage dieser Deiner Wissenschaft, daß ich ihr nicht erlaube, mir das Wunder, welches ich vor mir sehe, zu verkleinern. Was Glimmer ist, weiß ich nicht. Ob dieses Zeug in das Reich der Pflanzen oder der Elefanten gehört, ist mir gleichgültig; ich mag es gar nicht wissen. Ich sehe nur, daß es funkelt, viel schöner und viel entzückender als Deine ganze, dunkle Wissenschaft, und daß nicht der Glimmer, sondern dieses Funkeln für mich ein Wunder und eine Wonne ist, das darfst Du mir wohl glauben! Schon eher möchte ich fragen, wie dieser hohe Stein hier mitten in die niedrige Wüste kommt?«
»Wahrscheinlich befinden wir uns eben nicht mitten drin. Wir nähern uns der Landenge, von der wir wissen, daß sie aus Felsblöcken besteht, welche die Überreste eines gewalttätigen Naturereignisses sind. Wahrscheinlich ist dieser Glimmerfelsen der am weitesten vorgeschobene Block aus jener Periode und - - - ah, schau! Jetzt wird er dunkel. Siehst Du die Gestalt?«
Von dem feuchten Lande, welches hinter uns lag, war eine Wolke aufgestiegen und so vor die Sonnen getreten, daß ihr Schatten zu uns her nach Norden fiel. Er verdunkelte den Felsen für eine kurze Zeit, so daß seine Konturen hervortraten und die Figur, die er bildete, in ihrer ganzen Schärfe zu sehen war.
»Ein Melek, ein Melek! Wahrhaftig, ein Melek!« rief Halef aus. »Mit einem Friedenszweige in der Hand! Er hat zwei Flügel und steht auf einem Postament von mehreren Felsentrümmern!«
Es war so, wie Halef sagte; der Steinkoloß besaß die von ihm beschriebene Gestalt. Als ich das sah, hielt ich mein Pferd ganz an und griff in die Tasche, um die Karte hervorzuziehen, welche mir der Dschirbani gegeben hatte.
»Was willst Du? Warum hältst Du an?« fragte Halef.
|132A »Um die Landkarte zu befragen. Ich sagte Dir, ob sie uns täusche, das werde sich heut noch vor Abend finden. Diese Zeit ist nun gekommen.«
»Es handelte sich da aber nicht um das Funkeln dieses Steines, sondern um das Vorhandensein von Wasser!«
»Ich werde mich auch nicht um das Funkeln, sondern nur um das Wasser bekümmern.«
Ich trieb mein Pferd ganz eng an das seinige hin, schlug die Karte auf, zeigte sie ihm vor und fuhr dann fort:
»Hier ist der Engpaß, die Grenze zwischen dem Lande der Ussul und dem Gebiete der Tschoban. Das letztere ist zum großen Teile wüst. In diese Wüste siehst Du hier eine Reihe von Punkten gezeichnet, welche sich von Süd nach Nord ziehen und allem mit einem Mim und einem Hah bezeichnet sind. Erkennst Du sie?«
»Ja,« nickte er. »Was sind das für Punkte, für Orte?«
»Ich weiß es nicht.«
»Aber Du scheinst etwas zu vermuten?«
»Allerdings. Diese Punkte, welche mitten durch die Wüste führen, haben unbedingt etwas zu bezeichnen, was für die Wüste wichtig ist. Und was ist da wohl als das Wichtigste zu nennen?«
»Wasser?«
»Ja, freilich! Ich nehme also an, daß wir es hier mit Stellen zu tun haben, an denen Wasser gefunden wird, und zwar kein salziges oder überhaupt ungenießbares, sondern trinkbares.«
»Und was sollen da diese beiden Buchstaben m¨h¨ bedeuten?«
»Moje hilwe; es ist fast gar nicht anders möglich. Meinst Du nicht, Halef?«
»Ja; das meine ich auch. Diese Punkte liegen jedenfalls auf dem Wege, den der Dschinnistani jedesmal eingeschlagen hat, wenn er nach seiner Heimat reiste. Für sich brauchte er diese Aufzeichnung nicht, aber wohl für seinen Sohn, dem die Karte gewidmet war.«
»Wenn das stimmt, so ist uns der Sieg fast nach allen Richtungen hin gewiß, denn wir haben die Hauptsache, nämlich Wasser.«
»Was aber hat das mit dem heutigen Tage zu tun? Daß wir noch vor Abend sehen werden, ob die Karte stimmt?«
»Schau her! Hier liegt der Engpaß. Ganz nahe, südlich davon, ist ein Punkt, der als >El Melek< bezeichnet wird, also, der Engel, den wir da vor uns sehen. Und darunter stehen dabei dieselben Buchstaben m¨h¨, die wir als >Wasser< deuten. Wenn wir jetzt bei dem Engel Wasser finden, so ist es für mich gewiß, daß es auch in der Wüste der Tschoban an allen den Punkten Wasser gibt, die mit m¨h¨ bezeichnet sind. Begreifst Du nun, wie wichtig dieser Felsen hier für uns ist?«
»Gewiß! Aber, Effendi, erlaube mir, ein wenig zu zweifeln. Ich frage Dich, wo hier das Wasser herkommen soll? Betrachte diesen Sand! Es ist Flugsand, fast wie Mehl so fein! Von dem Winde aus der Wüste der Tschoban über die Landenge herübergetragen. Und er ist tief, sehr tief. Kein einziger Grashalm läßt sich hier sehen! Ich glaube, hier wird kein einziger Tropfen Wasser zu finden sein.«
»Warten wir es ab. Wer nach Wasser sucht, der darf nicht nach dem Sande der Oberfläche urteilen. Die darunter liegende Formation hat das entscheidende Wort zu sprechen.«
»Aha! Jetzt kommt wieder Deine berühmte Ilmi tabakat-i-arz! Laß sie sein; laß sie sein! Ich mag nichts von ihr hören! Wenn wir Wasser finden, bin ich zufriedengestellt, denn nicht die Ilmi, sondern das Wasser will ich haben!«
»So komm! Ich hoffe, wir werden es finden!«
Wir ritten weiter. Die Wolke war inzwischen fortgegangen; darum funkelte der Engel nun wieder, doch nicht für lange Zeit, denn je mehr wir uns dem Felsen näherten, um so mehr veränderte sich sein Sonnenwinkel zu uns, und endlich waren alle die strahlenden Reflexe verschwunden, obgleich die Sonne noch immer schien. Und nun sahen wir etwas, was mich mit Freude erfüllte. Nämlich der Felsen des Engels war, obgleich er mitten in unfruchtbarem Flugsande lag, von Sträuchern umgeben, über welche sogar die kräftigen Wipfel einiger Bäume emporragten. |132B Und ringsum wuchs Gras, welches um so gesünder und saftiger war, je näher es dem Engel stand.
»Sihdi, du hattest doch recht. Es gibt hier wirklich Wasser,« sagte Halef, indem er sein Pferd traben ließ, um die letzte Strecke schnell zurückzulegen. Ich aber blieb bei dem bisherigen Tempo. Ich wußte wohl, was er beabsichtigte. Er wollte vor mir am Felsen sein, um des Ruhmes willen, das Wasser entdeckt zu haben. Er pflegte dann aber fast stets das Gegenteil von dem zu erreichen, was er erreichen wollte. So auch diesesmal. Als ich bei dem Engel ankam, war Halef schon längst vom Pferd gestiegen und kroch hin und her rund um den Felsen herum, ohne aber eine Spur von Wasser zu finden. Ich wartete geduldig, bis er schließlich eingestand:
»Ich finde nichts, Sihdi, gar nichts! Wir haben uns getäuscht.«
»Das glaube ich nicht,« antwortete ich.
»O doch! Wäre Wasser hier, so müßte ich es doch finden!«
»Warum grad Du? Bist Du klug genug dazu?«
»Ich denke doch!« fuhr er auf.
»Wirklich? So hast Du also nachgedacht, ehe Du suchtest?«
»Nein. Ich habe eben gesucht. Ist das nicht genug?«
»Ja, es ist allerdings genug, nämlich um nichts zu finden! Schau, ich bin noch nicht einmal vom Pferde gestiegen. Vielleicht suche ich gar nicht, sondern ich bleibe im Sattel sitzen und finde das Wasser doch. Und warum? Weil ich überlege, anstatt blind daraufloszusuchen.«
»Erlaubst Du mir, mit zu überlegen?«
»Ja. Zwei bringen immer mehr fertig als nur einer.«
»So laß uns anfangen, nachzudenken! Wer soll beginnen? Ich oder Du.«
»Du natürlich, denn Du bist eher dagewesen, als ich.«
»Ich danke Dir, Sihdi! Aber beim Nachdenken ist es immer besser, daß Du den ersten machst, und ich komm später dazu, um die Sache zu bestätigen. Denn, weißt Du, in der Bestätigung liegt ja alles!«
»Sehr richtig! Fangen wir also an! Du wirst gleich sehen, wie schnell wir auf das Wasser kommen, ohne daß wir lange suchen. Sag mir vor allen Dingen, wo es zu finden ist!«
»Sonderbare Frage!« antwortete er verwundert. »Natürlich da unten, in der Erde! Hoffentlich suchst Du es nicht da oben in jener Wolke, die übrigens nun vorüber ist.«
»Spotte nicht, sondern denke nach! Was nützt es uns da unten? Wir brauchen es hier oben!«
»Das weiß ich ebensogut wie Du! Es wird wohl eine Stelle geben, die da hinunterführt!«
»Aber wo?«
»Das weiß ich nicht.«
»So such nach ihr!«
»Suchen? Ich? Höre, Effendi, ich begreife Dich nicht! Erst lachst Du mich aus, daß ich gesucht habe, ohne vorher nachzudenken, und nun störst Du mich im tiefsten Nachdenken, damit ich suchen soll! Ich sage Dir, mein Nachdenken ging so tief, daß ich beinahe schon unten beim Wasser war! Warum hast Du mich gestört? Wenn ich nun nichts finde, bist nur Du daran schuld!«
»Ich habe nicht gemeint, daß Du ausschließlich nur denken und sinnen sollst. Du sollst auch sehen! Schau Dir den Engel an! Meinst Du, daß seine Gestalt eine rein natürliche, nur zufällige ist? Je länger ich ihn betrachte, desto wahrscheinlicher kommt es mir vor, daß Menschenhände nachgeholfen haben. Das Wasser in der Wüste gleicht einem Rettungsengel. Dieser Stein inmitten der Wüste hatte eine Form, aus der sich leicht ein Engel hauen ließ. Man tat dies, allerdings nur in der rohen, kunstlosen Weise, die Du vor Dir siehst. Wir stehen wahrscheinlich an einem uralten Brunnen, der aber nur für Freunde war; der Weg zum Wasser wurde verborgen gehalten.«
»Und Du willst ihn finden? So schnell? Nach so langer, langer Zeit?«
»Vielleicht habe ich ihn schon!«
»Oho!«
»Jawohl! Der Eingang zum Wasser kann nicht in der Ferne, sondern muß hier in der Nähe sein. Er ist nicht offen, sondern verborgen, verdeckt. Es gibt ein Loch, welches hinabführt, |133A mit einem Deckel darauf. Wenn dieses Loch im Sande oder im Grase läge, würde sich seine Form und seine Stelle trotz des Deckels abzeichnen, infolge der Feuchtigkeit, welche den Deckel von unten herauf direkt berührt. Siehst Du eine solche Stelle?«
»Nein.«
»Ich auch nicht.«
»So liegt diese Stelle nicht im Sande und nicht im Grase, sondern im Gesträuch.«
»Nein. So sehr viele Büsche gibt es hier nicht, daß man ein Wasserloch zwischen ihnen verbergen könnte. Und zu denken, daß man es mit Erde bedeckt und auf diese Erde dann Sträucher gepflanzt habe, wäre ganz und gar verfehlt, weil jeder Gang zum Wasser diese Sträucher töten würde, und dann wäre das Geheimnis verraten. Bleibt also nur noch der Stein selbst.«
»Wie? Du meinst, im Felsen selbst sei der Weg zum Wasser hinab?«
»Ja, ganz unbedingt.«
»So muß ich gleich suchen!«
»Unten herum?«
»Natürlich!«
»Würde vergeblich sein. Das Loch ist oben.«
»Maschallah! Bist Du allwissend?«
»Nein. Aber ich öffne die Augen und denke nach. Wäre das Loch in die Seiten des Felsens gehauen, so würde sich die Decke desselben gewiß auf irgend eine Weise verraten. Man hat es also da angebracht, wohin das Auge nicht dringt, und das ist oben auf der Höhe des Blockes, auf dem der Engel steht. Es scheint, man kann nicht hinauf; aber in die hintere, linke Kante sind Vertiefungen gehauen, von denen ich annehme, daß sie für die Fußspitzen und Finger bestimmt worden sind. Traust Du Dir es zu, da hinaufzuklettern?«
»Aber gewiß! Paß auf, wie schnell das geht!«
Er ging nach der angegebenen Stelle, griff sich sehr leicht an der Kante empor, sah sich oben um und sagte dann:
»Auch da ist nichts zu sehen, am allerwenigsten aber ein Loch!«
»Das habe ich gar nicht anders erwartet. Oder meinst Du, daß man so töricht gewesen sei, das Loch zu einem verborgenen Brunnen offen zu lassen?«
»Aber ich sehe auch keinen Deckel!«
»Wenn der Deckel so dumm gearbeitet wäre, daß man ihn sofort sieht, so hätte man das Loch doch lieber gleich offen lassen können! Wahrscheinlich ist die Fläche da oben, auf der Du stehst, mit Flugsand überweht?«
»Ja, das ist sie.«
»Sehr hoch?«
Halef bückte sich, um zu probieren, und antwortete dann:
»Fast einen ganzen Finger hoch.«
»Und ist dieser Flugsand unberührt?«
»Ja. Es gibt einige Spuren von Vogelfüßen, weiter nichts.«
»So ist höchstwahrscheinlich niemand da oben gewesen, seit der Dschinnistani seine Frau holte und sich hier mit Wasser versorgte. Es steht zu erwarten, daß die Brunnenöffnung sich an einer der Seiten des Steines befindet, nicht aber in der Mitte, also entweder rechts oder links.«
»Warum nicht in der Mitte? Ich hätte grad das gedacht!«
»Weil es sich hier ganz unmöglich um einen Ziehbrunnen, sondern einzig nur um einen Steigbrunnen handeln kann. Es führen also Stufen hinab. Stufen aber brauchen Platz. Sie gehen nicht senkrecht, sondern schief nach unten. Führen sie von rechts nach links, so ist das Loch auf der rechten Seite des Felsens zu suchen. Führen sie von links nach rechts hinab, so liegt es auf der linken Seite. In der Mitte würde es nur dann sein, wenn die Stufen gerade und senkrecht nach unten gingen, was ich aber für ausgeschlossen halte. In diesem Falle würde es sich nicht um eine Treppe mit Stufen, sondern um eine sogenannte >Fahrt<, also um eine Leiter mit Sprossen handeln, und das wäre ganz und gar gegen die Gewohnheiten derer, von denen vor vielen Jahrhunderten dieser Brunnen angelegt worden ist.«
»Du meinst also, daß ich zunächst nur an den Seiten suche?«
»Ja.«
|133B »Gut! Also zunächst hier links.«
Halef war an der linken Seite des Felsens emporgeklettert. Er stand noch dort. Jetzt band er sich seinen Schal von den Hüften, legte ihn mehrfach zusammen und begann an der Stelle, wo er sich befand, den Flugsand fortzustäuben. Nachdem er eine ziemliche Stelle freigelegt hatte, erklärte er:
»Hier ist nichts. Ich werde es also drüben auf der rechten Seite versuchen.«
Er ging hinüber. Der Engel stand nicht, wie der Hadschi von weitem gemeint hatte, auf einem Postament von mehreren Felsentrümmern, sondern auf einem einzigen, kompakten, riesigen Block. Nur infolge der Bäume hatte es aus der Entfernung den Anschein gehabt, als ob dieser Block geteilt sei. Die Figur des Engels war nicht etwa nach ihrer Anfertigung auf den Felsen gestellt worden, sondern sie gehörte zu ihm; sie war sein oberster Teil; sie bildete mit ihm ein Ganzes. Der untere Teil, das Postament, war breiter als der obere. Als ich dann selbst hinaufstieg, sah ich, daß hier künstlich nachgeholfen und mittels Werkzeugen eine ebene Fläche gebildet worden war, auf die sich das breite, faltige Gewand des Engels stützte, ohne daß die Füße aus demselben hervortraten. Kaum hatte Halef angefangen, in der Nähe der äußersten rechten Falte des Gewandes die Sanddecke zu entfernen, so hielt er wieder inne, bückte sich zum Boden nieder, betrachtete ihn und rief:
»Hier ist etwas, Sihdi! Etwas, was von Menschen stammt, nicht von der Natur.«
»Was?« fragte ich.
»Eine Figur mit drei Spitzen.«
»Was für eine Figur und was für Spitzen?«
»Frag doch nicht so unklug, Sihdi! Es ist eine Figur mit drei Spitzen! Anders kann ich es doch nicht sagen!«
»Aber die Figur muß doch eine Gestalt haben!«
»Nein. Sie hat keine Gestalt, sondern nur die drei Spitzen!«
»Sonderbar! Warte! Ich komme selbst hinauf!«
»So komm! Aber Du wirst es auch nicht anders finden, als ich es gefunden habe!«
Ich sprang aus dem Sattel und stieg in derselben Weise hinauf, wie Halef hinaufgestiegen war. Als ich zu ihm getreten war und die Stelle sah, die er meinte, mußte ich lachen.
»Da sagt man doch nicht, das ist eine Figur mit drei Spitzen!« verbesserte ich ihn.
»Wie denn?« fragte er.
»Man sagt sehr einfach, das ist ein Dreieck!«
»So! Ein Dreieck! Ich ahne schon! Da willst Du mir wieder einmal mit irgendeiner Wissenschaft kommen! Wie heißt sie? Sprich!«
»Ilm el mesacha.«
»So? Also Ilm el mesacha? Bilde Dir ja nicht ein, daß Du stolz auf diese Deine Mesacha sein darfst! Es geht Dir mit ihr nicht besser, als mit allen Deinen andern Wissenschaften, die gar keine Wissenschaften sind, sondern denen, die sich mit ihnen befassen, nur die Köpfe und den Verstand verdrehen. Schau Dir den Stein hier an! Ist das, was Du da siehst, eine Figur oder keine?«
»Es ist eine,« antwortete ich, innerlich belustigt.
»Also habe ich recht! Ferner: Wie viel Ecken hat sie? Etwa vier oder fünf?«
»Nur drei.«
»Also habe ich recht! Ferner: Sind diese Ecken etwa rund?«
»Nein.«
»Sondern wie?«
»Spitz.«
»Also habe ich recht! Ich wiederhole infolgedessen mit allergrößter Feierlichkeit: Eine Figur mit drei Spitzen! Du siehst also, wie schlimm es um Deine Wissenschaften steht. Sie sind mir vollständig gleichgültig! Auch diese lächerliche Ilm el mesacha, die nicht einmal weiß, daß jede Ecke spitz verläuft! Aber der Klügere ist immer auch der Noblere. Ich will mich also zu Deiner Ausdrucksweise herablassen und mich so stellen, als ob |134A wir hier nicht eine Figur mit drei Spitzen, sondern ein Dreieck vor uns hätten, und frage Dich, von wem dieses Dreieck stammt.«
»Das werden wir sehr bald erfahren.«
Indem ich dieses sagte, kniete ich nieder, um die Figur genau zu betrachten. Das Dreieck war vertieft, sein Inneres aber wieder als Relief behandelt. Die Vertiefung war mit feinstem, mehligem Flugsande ausgefüllt, welchen der nächtliche Tau in eine Kruste verwandelt hatte, die man nicht einfach durch Fortblasen entfernen konnte. Ich mußte die Spitze des Messers zu Hilfe nehmen, und indem ich dies tat, trat der Inhalt des Dreieckes immer deutlicher als ein Auge hervor, ungefähr in der Weise, wie es als Symbol Gottes, des Vaters, gebraucht zu werden pflegt, nur daß an dem, welches ich hier vor mir hatte, auch die oberen und unteren Wimperhärchen angebracht waren, und zwar in einer Anordnung und Freiheit, durch welche der Bildner dieses Symbols als Künstler erschien.
»Ein Auge!« rief Halef aus. »Ein richtiges, wirkliches Auge! Ich frage Dich, was es sagen soll? Was hat es zu bedeuten?«
»Wie ich von Sitara her weiß, ist dieses Auge das Handzeichen und Siegel des 'Mir von Dschinnistan,« antwortete ich. »Wir wissen also, daß dieser Engel weder von den Ussul noch von den Tschoban stammt, sondern auf Anregungen aus Dschinnistan entstanden ist. Wann, wie und warum dies geschah, muß uns jetzt gleichgültig sein. Wir haben es nur mit der Frage zu tun, was dieses Auge grad hier an dieser Stelle soll.«
»Das ist doch sehr einfach und leicht zu sagen! Man soll dadurch erfahren, wer der Schöpfer des Brunnens ist.«
»O nein! Hätte das Auge nur diesen Zweck, so wäre es an einer ganz anderen Stelle angebracht worden. Hier ist es von unten nicht zu sehen, und die Stelle ist, wenn kein anderer Grund vorläge, so vollständig unsymmetrisch und täppisch gewählt, daß man sich darüber verwundern müßte. ich bin überzeugt, daß dieses Symbol grad die Stelle betonen soll, auf der es angebracht worden ist. Diese Stelle ist wichtig! Von welcher Art aber kann diese Wichtigkeit nur sein?«
»Meinst Du, daß sie sich auf den Eingang zum Brunnen bezieht, Sihdi?«
»Das meine ich allerdings. Das Auge ist das Zeichen für den Brunnendeckel. Ich nehme an, daß man es nicht am Rande, sondern in der Mitte des Deckels angebracht hat. Wir haben also rund um das Auge herum nach der Linie zu suchen, welche die Kante des Deckels mit dem Steine bildet. Haben wir sie entdeckt, so ist der Deckel gefunden.«
»Das soll wohl schnell geschehen!« meinte Halef, indem er sich zu mir niederkauerte, um suchen zu helfen.
Aber es ging nicht so rasch, wie er dachte. Es zeigte sich nicht die geringste Spur einer Spalte, eines Risses, einer Linie. Der Stein schien kompakt zu sein, und nichts, gar nichts deutete darauf, daß es möglich sei, einen Teil von ihm zu entfernen.
»Sihdi, es ist nichts, und es wird nichts!« sagte Halef. »Du hast Dich geirrt. All Dein Denken ist überflüssig gewesen! Das meinige aber nicht! Hättest Du mich nicht gestört, als ich mit meinen Gedanken fast unten beim Wasser war, so wäre uns jetzt das nutzlose Suchen erspart!«
»Und das Auge, das wir gefunden haben?«
»Das Auge? Hm, das ist allerdings etwas!«
»Und, horch!«
Ich klopfte in der Nähe des Auges auf den Stein, und ich tat es in angemessener Entfernung von ihm.
»Das klingt allerdings anders, ganz anders,« gestand der Hadschi ein.
»Es klingt nicht nur anders, sondern es sieht auch anders aus. Schau her!«
Die von dem Auge entfernte Stelle war durch die Berührung meiner Hände und durch das Klopfen vom Flugsande frei geworden. Der Fels erschien, und es fiel mir sogleich auf, daß er von anderer Beschaffenheit und anderer Farbe war. Diese Verschiedenheit war freilich keine große und in die Augen springende, entging mir aber nicht. Ich untersuchte, betastete und verglich, bis sich das erfreuliche Resultat ergab:
|134B »Dieser Dschinnistani ist ein außerordentlich kluger, umsichtiger Mann. Er versteht es, mit Tatsachen zu rechnen, an die kein anderer denken würde. Er hat den Brunnendeckel mit Wasser begossen und dann Flugsand daraufgestreut. Unter der hierdurch entstandenen Kruste sind die Spuren des Deckels derart verschwunden, daß kein Auge sie entdecken kann. Der Wind hat dann das übrige getan und die Umrisse völlig verweht. Hol Wasser, Halef, hol Wasser! Steig hinab und binde mir einen der vollen Hundeschläuche an den Lasso! Ich ziehe ihn mir herauf, und dann wirst Du sehen, wie schnell sich uns das Geheimnis dieses Engels und seines Brunnens offenbart!«
Er stieg hinab und tat, was ich ihm aufgetragen hatte; dann kam er wieder herauf. Ich befeuchtete den Stein rings um das Auge her, und er scheuerte gleich mit der bloßen Hand die sich rasch auflösende Kruste weg. Und richtig, da geschah, was ich erwartet hatte: Die Umrisse des Brunnendeckels erschienen, und zwar sehr deutlich, scharf und bestimmt. Auch darin hatte ich recht gehabt, daß sich das Auge mitten auf dem Deckel befinde. Diesen Umrissen nach war der Deckel ungefähr anderthalb Meter lang und ebenso breit und stieß eng an die letzte, rechte Falte des steinernen Gewandes der Figur. Aber wie nun den Deckel entfernen? Sein Gewicht war auf weit einen Zentner zu taxieren; er lag in tiefen, fest geschlossenen Fugen und besaß weder ein Loch oder einen Griff noch irgend eine Spur einer Vorrichtung, die es ermöglicht hätte, ihn zu fassen, zu heben und zu bewegen. Ich sann und sann; ich versuchte alles und alles, doch vergeblich. Die Ritze zwischen Deckel und Stein schloß so vorzüglich, daß man nicht die dünnste Messerklinge zwischen sie hineinschieben konnte. Und selbst wenn dies möglich gewesen wäre, hätte man darandenken können, eine zentnerschwere Last mit einer solchen Klinge emporwuchten zu können? Halef machte seinem Mißmute Luft, indem er klagte:
»Da sitzen wir nun wie die Kamele, kauen wieder und sehen einander an! Ich bin mit meinem ganzen Witz zu Ende, und Du wohl auch!«
»Ich noch nicht! Es fällt mir gar nicht ein, das Spiel schon aufzugeben. Es handelt sich nur darum, unser Nachdenken nicht auf falsche Wege geraten zu lassen. Das kann nur durch mechanische Kraft geschehen. Aber von welcher besonderen Art ist diese mechanische Kraft? Werkzeuge sind ausgeschlossen, denn es gibt weder ein Schlüsselloch noch sonst etwas, wo ein Werkzeug angesetzt werden könnte. Die Steinplatte, welche wir vor uns haben, ist also lediglich durch sich selbst zu bewegen. Aber wie? Geht sie auf Rollen oder Rädern? Nein! Ist sie zu verschieben? Nein! Wahrscheinlich handelt es sich um eine sehr einfache und sehr leichte Verlegung des Schwerpunktes, die an sich weder Kraft noch Anstrengung erfordert! Für den, der es weiß, ist es zum Lachen, daß man darüber nachdenkt, ohne es zu finden!«
»Den Kerl, wenn ich ihn erwische, haue ich die Peitsche über das Gesicht, sobald er lacht!« zürnte Halef in seiner drolligen Weise. Und in ironischem Tone fügte er hinzu: »Sei doch so gut, und wende Dich an Deine Wissenschaften, auf welche Du so große Stücke hältst! Ist es ihnen dann nicht möglich, Dich aus dieser Verlegenheit zu reißen?«
»Nur möglich? Ich sage Dir, sie können und werden mir helfen! Nur darf ich nicht so dumm sein, mich in verkehrter Weise an sie zu wenden.«
»Wie heißen sie denn? Nämlich diejenigen, welche?«
»Es sind ihrer nur zwei: die Ilm tabijat und die Dscherri eskal. Ich habe sie bereits zu Rate gezogen, denn die Fragen, die ich soeben aussprach, waren an sie gerichtet.«
»Und da antworten sie nicht?«
»O doch! Sie haben mir ja gesagt, daß es sich jedenfalls um eine höchst einfache und sehr mühelose Verlegung des Schwerpunktes handelt. Wir müssen also nachforschen, wo er jetzt liegt, und wohin wir ihn sodann zu verlegen haben.«
»So bitte ich Dich, diese Aufgabe zwischen uns zu teilen: Du schaust jetzt nach, wo er liegt, und ich lege ihn dann weiter; wohin, das wird sich finden! Übrigens, wer ist denn das eigentlich, dieser Schwerpunkt? Wenn er nicht bald aufhört, uns den |135A Punkt so schwer zu machen, wie bisher, kann er uns nicht zumuten, uns noch länger mit ihm abzugeben! Es ist jammerschade, daß der Engel, zu dessen Füßen wir uns über Deine Ilmi tabijat und Dscherri eskal die Köpfe zerbrechen, nur von Stein ist. Wenn er ein wirklicher Schutzengel wäre, wie ich jetzt einer bin, so würde ich mich an seine Hilfe wenden und - - -«
»Er ist einer; er ist einer!« unterbrach ich den Hadschi. »Paß auf, er wird uns helfen!«
»Er? Der Engel? Dieser hier?« fragte der Hadschi verwundert.
»Ja, er, dieser Engel,« antwortete ich. »In dem Augenblick, an dem Du ihn nanntest, kam mir der Gedanke, der höchst wahrscheinlich der richtige ist. Und als mein Auge diesem Gedanken folgte, stieß es auf das, was uns bisher entgangen ist, obwohl wir es sofort hätten sehen sollen. Halef, wir sind dumm gewesen, außerordentlich dumm!«
»Ihr? Also Du und Deine Wissenschaften? Da sagst Du mir nichts Neues! Das weiß ich ja schon längst! Sie werden Dir nie von Nutzen sein! Dagegen aber ich! Schau mich an, Sihdi! Kaum öffne ich den Mund, um von dem Engel zu sprechen, so kommt Dir sofort der richtige Gedanke! Der ist also doch von mir! Hoffentlich siehst Du nun endlich einmal ein, wie hoch ich über Deiner Gelehrsamkeit stehe, die Dich stets und grad dann im Stiche läßt, wenn Du sie brauchst! Aber sag, was ist denn das, was Du erst jetzt gesehen hast und was wir doch sofort hätten sehen sollen?«
»Ich frage Dich, welche Form hat die Steinplatte, welche den Deckel des Brunnens bildet?«
»Sie ist viereckig.«
|135B »Wieviel Kanten muß sie also haben?«
»Vier. Das ist ja selbstverständlich!«
»Zeige sie mir, nämlich diese vier!«
Das Viereck lag vor uns, aber nur von drei Seiten sichtbar umrissen. Die vierte stieß an die schon erwähnte Gewandfalte des Engels, und es gab da weder eine Spalte noch auch den dünnsten Strich oder Riß, welcher die Platte von der Falte trennte. Beide, Platte und Falte, bildeten vielmehr ein Ganzes; sie gehörten zusammen. Das war es, was ich erst jetzt gesehen hatte, und dann allerdings auch noch etwas anderes dazu. Halef kam meiner Aufforderung nach und zählte die Seiten des Viereckes, indem er auf die sichtbar gewordenen Umrisse deutete:
»Hier die erste; hier die zweite; hier die dritte, und hier - - -«
Da hielt er inne, denn nun sah auch er, daß die Platte nicht aufhörte, wo sie die Falte erreichte, sondern mit ihr ein Ganzes bildete.
»Sihdi, sie hat nur drei; die vierte fehlt,« fuhr er fort.
»Sie fehlt nicht; nur ist sie an einer anderen Stelle, nämlich höchst wahrscheinlich weiter oben, quer über die Falte,« antwortete ich. »Wir haben bisher nicht beachtet, daß auch der Saum dieser Falte über einen Meter hinauf mit der künstlichen Sandkruste überzogen ist, die wir von der Platte zu waschen hatten.«
»Maschallah!« rief er aus, indem er die Stelle betrachtete und befühlte. »Das ist richtig! Also Wasser her, Wasser! Wir wollen uns sofort Gewißheit schaffen!«
Er griff wider zum Schlauche, benetzte die Falte mit Wasser und scheuerte dann die Kruste weg. Da geschah, was |136A ich erwartet hatte. Es erschienen die bisher verborgenen Umrisse, und nun sah man ganz deutlich, daß die Platte nicht eine gerade Fläche, sondern einen rechten Winkel bildete und halb zum wagrecht liegenden Fußboden, halb aber zur senkrecht auf ihn stoßenden Falte des Gewandes gehörte. Sie ruhte da, wo sie den Winkel bildete, wahrscheinlich auf einer im Loche befestigten Achse, auf der sie sich bewegte. Ihre aufrecht stehende Hälfte war genau so hoch wie die Breite oder Länge ihres wagrecht liegenden Teiles. Es war also anzunehmen, daß beide einander das Gleichgewicht hielten und es eines gar nicht bedeutenden Druckes bedurfte, den Schwerpunkt zu verlegen und die Platte dadurch zu bewegen, daß man den aufrechten Teil in das Innere der hohlen Falte drückte und dadurch den liegenden Teil in die Höhe hob. Es machte mir Spaß, dies nicht selbst zu tun, sondern es Halef tun zu lassen. Er stand vor der Gewandfalte, betrachtete sie und sagte:
»Sihdi, Deine Wissenschaften sind doch vielleicht nicht ganz so dumm wie ich dachte; aber daß auch ein Teil des Gewandes dieses Engels mit zum Brunnendeckel gehört, darauf bist Du nur durch mich gekommen. Was aber soll nun geschehen?«
»Schiebe den Teil des Deckels, der zur Falte gehört, in die Falte hinein!« forderte ich ihn auf.
Er versuchte, es zu tun, brachte es aber nicht fertig, weil er auf dem andern Teil des Deckels, der gehoben werden sollte, stand.
»Es geht nicht, Sihdi,« sagte er. »Wie kommst Du überhaupt auf die Idee, daß hier etwas hineingeschoben werden kann?«
»Tritt vom Deckel herunter, auf die Seite, und schieb noch einmal!« antwortete ich.
Er tat es und schrie fast erschrocken auf, als der Teil des steinernen Gewandes, den er berührte, unter seinem Drucke wich und nach innen ging, während die wagrechte Hälfte des Deckels zu seinen Füßen sich aus dem Boden hob und nun das Brunnenloch zu sehen war, nach dem wir trachteten. Nie habe ich bei ihm ein so sehr erstauntes, ja fast betroffenes Gesicht gesehen wie jetzt, in diesem Augenblick. Er starrte mich, das viereckige Loch in der Falte und die Brunnenöffnung abwechselnd an, blieb eine Zeitlang offenen Mundes stumm und jubelte dann:
»Hamdulillah! Das Loch ist gefunden! Sihdi, Du bist ein Zauberer, ein Hexenmeister! Zwar Deine Wissenschaften taugen alle nichts, doch bist Du glücklicherweise zuweilen so klug, Deine eigenen Gedanken zusammen zu nehmen, und dann sind wir immer, besonders wenn ich auch die meinigen dazu gebe, eines guten Erfolges sicher. So auch hier! Schiebe ich die Falte ganz hinein?«
»Ja.«
Indem er den quadratischen Teil der Falte, welcher beweglich war, in diese hineinschob, wurde der andere Teil, welcher den eigentlichen Brunnendeckel bildete, so völlig in die Höhe geschoben, daß sich das Brunnenloch vollständig öffnete. Wir schauten hinein. Es führten Stufen hinunter, feste, steinerne Stufen, von rechts nach links in den harten Fels gehauen. Sie waren fast gar nicht feucht, und die kühle Luft, welche aus dem Innern stieg, zeigte nicht die geringste Spur von Moder und ähnlichen Dingen. Wir stiegen hinab. Das Innere bestand aus mehreren untereinander liegenden Abteilungen, die ich als Stockwerke bezeichnen will. Zu dem oberen Stock führten genau zwanzig Stufen. Als wir die letzte hinter uns hatten, drang das Licht des Tages nur als Dämmerung zu uns herab. Aber schon nach kurzer Zeit, als unsere Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnten wir deutlicher sehen. Zur rechten Hand von uns stand ein großer, steinerner Würfel, auf dem einen dünne Steinplatte lag, die sich verschieben ließ. Als wir sie ein Stück zurückschoben, sahen wir, daß er hohl war und also einer Lade oder einer Kiste glich, in der sich allerlei Gegenstände befanden, die uns natürlich in hohem Grade interessierten. Obenauf lagen Rollen aus starkem Leder, die oben und unten zugebunden waren, um ihren Inhalt gegen Feuchtigkeit zu schützen. Wir öffneten eine. Sie enthielt eine sehr gut erhaltene Kerze, aus ungereinigtem Bienenwachs hergestellt. Wir wickelten noch eine zweite aus und brannten beide an. Sie hatten dicke, gut brennbare Dochte und spendeten Licht genug für unsere Zwecke. |136B Außer diesen Kerzen gab es ein sehr wohl verwahrtes, uraltes Fiedelbogen-Instrument zum Licht- und Feuermachen. Wir brauchten es nicht, weil wir Zündhölzer bei uns hatten. Auch Schnuren, Stricke, Schläuche und ähnliche Dinge waren da, die mit dem Zweck des Ortes in Verbindung standen. Es gab lange, breite Riemen aus festem Rindsleder, deren Zweck uns nicht sofort in die Augen fiel. Bald aber sahen wir, daß sie zur Reparatur des Schöpfwerkes dienen sollten, welches uns zunächst in die Augen fiel.
Nämlich in der Mitte des ziemlich großen, unterirdischen Raumes, in dem wir uns befanden, stand ein langer, breiter Felsentrog mit je einem Rade vorn und hinten. Wenn man das eine drehte, so bewegte sich auch das andere mit. Über die beiden Räder war ein Lederriemen gelegt, an dem in gewissen Abständen Krüge hingen, die, mit geschöpftem Wasser gefüllt, auf der einen Seite aus dem Boden kamen, im Weitergleiten sich ihres Inhaltes in den Trog entleerten und dann auf der andern Seite nach unten zurückkehrten. Zur Reparatur des Riemens, der die Krüge trug, lagen die andern Riemen gewiß schon seit vielen Jahrhunderten da. Der Schöpfer dieses Werkes hatte einen Blick besessen, der sich durch keine zeitliche Schranke beirren ließ. Wer war er gewesen? Hoch über der Treppe, die wir heruntergekommen waren, sah ich das Zeichen des 'Mir von Dschinnistan eingegraben und darunter im alten Brahmavartadialekt das einzige Wort >Erbaut<. Dieses Wort bildete den Anfang eines Satzes; die Fortsetzung und das Ende desselben fanden wir, indem wir weiter abwärts stiegen, was uns durch die Kerzen sehr erleichtert wurde.
Im nächst tieferen Stock fanden wir ganz dieselbe Einrichtung und auch dieselben Gegenstände. nur daß hier der Krüge tragende Riemen dazukam, der nach oben führte. Über der Treppe war unter demselben Zeichen und in demselben Brahmavartadialekt das Wort >zum Sieg< zu lesen. Eine weitere Treppe tiefer, wo der Raum den beiden vorigen Räumen bis auf das Tüpfelchen glich, stand unter dem Auge >im Kampfe< eingemeißelt. Und ganz unten, wohin die vierte Treppe führte, standen wir vor einem weiten, sehr tiefen Wasserbassin, dessen Inhalt für viele Hunderte von Menschen und Tieren reichte, und, wie es schien, aus adernweise eingesprengtem Sandgeschiebe immer nachfiltriert und nachgesickert kam. Hier schöpfte das unterste Rad, um den Bottich der nächst höheren Etage zu füllen. So wurde das Wasser von Trog zu Trog nach oben getragen, und indem dies geschah, kam es derart mit der Luft in Berührung, daß es sich mit Kohlensäure sättigte und die Eigenschaft annahm, nicht nur durstlöschend, sondern auch erquickend zu sein. Über der Treppe war hier unter dem Auge die Inschrift >Für den Frieden< zu sehen, so daß der ganze Satz nun lautete:
»Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden.« Wie mich das ergriff! Auch Halef wurde doppelt ernst, als ich ihm die Zeichen, die er nicht kannte, erklärte. Wir standen im Innern der Erde. Achtzig Stufen tief. Über uns der Engel von Stein. Inmitten der Wüste. Sie hatte Sonne, aber nicht Wasser. Hier aber gab es Wasser die Hülle und die Fülle, doch keinen Sonnenstrahl. Um die Wüste zu befruchten, hatte das Wasser zur Sonne emporzusteigen. So tief und noch viel tiefer, als dieses Wasser lag, stand die Vergangenheit, in der dieser Brunnen erbaut worden war, unter der Gegenwart, in der wir beide, Halef und ich, vor seinem Wasser standen. Auch sie, die Vergangenheit, hatte, um für die Gegenwart fruchtbar zu werden, zur Sonne emporzusteigen, und Gott, der allweise und allgütige 'Mir von Dschinnistan, hat auch zum Wohle der Gegenwart einen hochragenden, weit über die Wüste dahinleuchtenden Engel erbaut, in dessen wunderbaren Gedankeninnern wir in die Tiefe zu steigen haben, um mit dem befruchtenden Wasser der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft zu durchtränken. Wer dieser Engel ist, bedarf wohl nicht erst der Frage.
|137A Wir kosteten von dem Wasser des Bassins. Es war sehr frisch und rein und ohne jede Spur von Beigeschmack, aber tot. Da begannen wir, die Räder zu drehen. Ich hatte gedacht, daß dies nach so langem Stillstande ein lautes Knarren und Kreischen ergeben werde; dem war aber nicht so, denn die Achsen bewegten sich in einer dicken, fettartigen Masse, die zwar eingetrocknet war, durch die Reibungswärme aber sofort wieder in ihren ursprünglichen halbweichen, elastischen Zustand zurückgeführt wurde. Als das Wasser von Trog zu Trog nach oben gestiegen war und wir dann oben in der höchsten Etage kosteten, war es nicht mehr tot, sondern hatte beinahe den lebendigen Geschmack einer fließenden Quelle. Dieses Wasser war bedeutend besser als das, welches sich in unsern Schläuchen befand; wir ließen das letztere also auslaufen, um sie mit dem ersteren zu füllen und gaben auch unsern Pferden und Hunden soviel zu trinken, als sie konnten. Nachdem dies geschehen war, verschlossen wir das Brunnenloch, indem wir den Deckelstein in seine vorherige Lage zurückbrachten.
»Streuen wir nun auch Sand auf Wasser, um die Spuren und Ritzen verschwinden zu lassen?« fragte Halef.
»Nein,« antwortete ich. »Diese Vorsicht ist für uns nicht nötig, weil es keinen Feind gibt, der den Brunnen entdecken wird und wir ihn unsern Freunden nicht zu verbergen, sondern vielmehr bekannt zu geben haben. Ich sage Dir, lieber Halef, daß dieser Brunnen mir als wahrer Engel erschienen ist, und zwar nicht nur aus einem einzigen Grunde. Erstens hat er mich aus aller Sorge um unsern Zug durch die Wüste der Tschoban befreit, denn so genau wie die Karte des Dschinnistani hier an dieser Stelle stimmt, wird sie gewiß auch an den andern Punkten stimmen, und ich kann also sicher sein, daß wir nicht dürsten werden. Und zweitens erleichtert uns dieser Brunnen den Sieg an der Landenge in höchst willkommener Weise. Nämlich, um Blutvergießen zu vermeiden, werden wir die Tschoban auszuhungern und auszudursten haben. Um dies zu können, müssen wir aber selbst sehr reichlich mit Proviant und Wasser versehen sein. Das letztere ist die Hauptsache. Wir hätten eine immerwährend bewegte Reihe von Reitern gebraucht, um die große Menge des Wassers, die für uns nötig ist, vom Flusse nach der Landenge zu schaffen. Die uns nächstliegende Stelle des Flusses, die ein solches Quantum liefert, ist aber wenigstens einen und einen halben Tagesritt von hier entfernt. So lang müßte die Reihe der Reiter sein, und Du kannst Dir also denken, welche Zahl von Menschen und Pferden und welche Zeit und Arbeit uns dieser Brunnen erspart, der so nahe an der Landenge liegt, daß man die Entfernung gar nicht mit in Berechnung zu ziehen braucht.«
»Glaubst Du wirklich, daß wir uns ihr bereits so sehr genähert haben?«
|137B »Ja.«
»Aber man sieht noch keine Spur von ihr!«
»Das glaube ich. Aber die Spur von ihrem Gegenteil!«
»Ihr Gegenteil? Was ist das?«
»Das Meer.«
»Alla w' Allah! Du siehst es?«
»Ja.«
»Wo?«
»Da rechts, genau im Osten. Schau hinaus, ganz, ganz hinaus!«
»Das tue ich ja. Aber ich sehe nichts, als nur den Sand der Wüste, der vom Lichte der sich neigenden Sonne leicht gerötet wird.«
»Und dann? Noch weiter hinaus?«
»Dann kommt der Himmel, der unten, wo er auf der Erde liegt, einen Glanz wie Silber zeigt.«
»Dieses Silber ist nicht der Himmel, sondern das Meer. Stände die Sonne im Osten, so würde dieser jetzt lichte Streifen dunkel erscheinen; da sie aber im Westen steht, so sehen wir ihn im silbernen Lichte. Wenn aber das Meer so nahe herangetreten ist, daß wir es bereits sehen können, so dürfen wir annehmen, daß wir bis zur Landenge nicht mehr weit zu reiten haben.«
»Seit wann siehst Du schon das Meer?«
»Erst nur seit wenigen Augenblicken. Indem ich von dem Engel sprach, fiel mein Blick dort in die Ferne hinaus. Wenn wir uns nicht hier oben auf der Figur befänden, hätte ich es wohl noch gar nicht bemerkt. Steigen wir hinab, und reiten wir weiter!«
Unten von der Erde aus war die See allerdings kaum mehr zu sehen, aber je weiter wir nun kamen, desto näher trat sie uns. Ihr Streifen wurde breiter und breiter, verlor aber dadurch seinen Silberglanz. Man sah, daß das, was dort lag, eine Wasserfläche war. Bald bemerkte man auch, daß sie sich in Bewegung befand. Es schien, als ob sie atme. Auch der Boden unter uns veränderte sich. Der Sand begann, sich in Grus und Geröll zu verwandeln, und dieses vermischte sich nach und nach mit Steinbrocken, die an Größe immer mehr wuchsen. Es erschienen Felsenstücke, die zerstreut im weiten Kreise umherlagen, bald aber sich einander näherten und dabei zur Höhe wuchsen. Das alte, eigentliche Flußbett trat mit größerer Deutlichkeit hervor als bisher. Es war steil und tief und von Blöcken besät, deren abgerundete Kanten Zeugnis dafür ablegten, daß sie in früheren Zeiten mit dem Wasser in langer Berührung gestanden hatten. Die Ufer wurden von Felswänden begleitet, deren Höhe sich immerwährend vergrößerte. Sie bildeten Hügel, dann sogar Berge, die sich kulissenförmig ineinander schoben und das Auge verhinderten, einen freien Ausblick nach rechts oder links zu suchen. Wir konnten also das Meer nicht mehr sehen, aber das Grün, mit dem diese Felsenzüge bewachsen |138A waren, deutete seine Nähe an. Ohne die Feuchtigkeit der See wäre diese Vegetation unmöglich gewesen. Sie bestand allerdings nur aus Salzstauden, Gestrüpp und niedrigen Büschen; ein Baum war nicht zu sehen.
Wir mochten wohl eine Viertelstunde lang zwischen diesen Höhen dahingeritten sein, als sie ganz nahe aneinandertraten und eine Stelle bildeten, welche genau so aussah, als ob ein Geschlecht von Giganten hier vor Tausenden von Jahren aus riesigen, rohen Felsstücken einen Tunnel gebaut habe, um die Landenge quer abzuschließen, dabei aber dem Wasser des Flusses die Fortsetzung seines Weges zu gestatten. Einem der größten Quader waren die Worte eingegraben >Fum eß Ssachr<, was soviel wie >Felsenmündung< oder >Felsenloch< bedeutet. Der Durchmesser dieses Loches war höchstens fünf oder sechs Schritte größer als die Breite des Flußbettes. Zu beiden Seiten aber stiegen die Felsen so steil in die Höhe, daß es nur an einer einzigen Stelle möglich war, zu Fuß emporzuklettern. Das letztere taten wir, nachdem wir von den Pferden gestiegen waren. Der Zweck, der uns hierher geführt hatte, machte es uns zur Pflicht, gerade diesen wichtigen Teil der Gegend so genau wie möglich kennen zu lernen. Die beiden Hunde Halefs blieben bei den Pferden, ohne daß wir es ihnen besonders zu befehlen brauchten. Als aber die meinigen sahen, daß es sich um eine Kletterpartie handelte, gaben sie ihren Wunsch mitzudürfen, in zwar nicht lauter aber doch so bittender Weise zu erkennen, daß ich ihn erfüllte. Unser Ziel lag hoch oben im Berglande, und so wollte ich gern sehen, was sie für Kletterer seien. Sie machten mir Freude. Kaum hatten sie die Erlaubnis bekommen, so schnellten sie uns voran von Kante zu Kante, von Zacke zu Zacke die in steilem Winkel ansteigenden Felsen hinan, nicht laut, sondern still, und nicht etwa unvorsichtig und unbedächtig, sondern von Schritt zu Schritt vorausschauend und überlegend, wo leichter und sicherer Fuß zu fassen sei, hier oder an einer anderen Stelle. Es war, als ob sie sich die Aufgabe gestellt hätten, den besten Weg für uns zu suchen, und als wir ihnen folgten, sahen wir allerdings, daß wir nicht klüger hätten wählen können als sie. Und dabei trugen sie ihre vollen Packsättel auf dem Rücken! Wir hatten noch nicht den vierten Teil des Aufstieges hinter uns, so standen sie schon oben auf der höchsten Felsenkante, grad senkrecht über dem >Fum eß Ssachr<, eng nebeneinander und mit den Schweifen uns die Bitte zuwedelnd, ihnen doch schnell nachzukommen. Andere Hunde hätten gebellt oder wenigstens Laute gegeben; sie aber taten das nicht; sie waren von echtem Adel und, wie wir gesehen haben, auch streng erzogen.
Es gab eine Überraschung, die unser da oben wartete. Wir befanden uns auf der Ostseite. Noch hatten wir die Höhe nicht ganz erklommen, so traten da, wo wir waren, die Spitzen der Felsen auseinander, und was sahen wir vor uns liegen? Das Meer, das Meer, das weite, blaue Meer, welches inzwischen ganz zu uns herangetreten war, ohne daß wir es hatten bemerken können. Und als wir den höchsten Punkt erreichten, wo die Hunde auf uns warteten und nun auch die andere Seite vor uns lag, schrie Halef vor Verwunderung laut auf, denn auch da war inzwischen das Meer erschienen und, einen jähen, tiefen Einschnitt des Landes benutzend, so schnell und so nahe zu uns herangekommen, daß es nun grad und genau zu unseren Füßen lag.
»Die See! Das Meer! Der Ozean!« rief Halef aus, die Hände zusammenschlagend. »Hältst Du das für möglich, Sihdi? Hast Du Dir das gedacht? Das herrliche, blauwallende Wunder ist da! Nicht bloß hier, sondern auch dort! Auf beiden Seiten! Und was ist das da draußen, ganz im Norden? Es sieht aus wie ein Baum von so riesiger Höhe, daß er bis zum Himmel ragt. Man sieht den Stamm, und man sieht auch die Krone, die er trägt. Es scheint, als ob Bewegung in ihr sei!«
»Das ist die Rauchsäule der Vulkane von Dschinnistan,« antwortete ich.
»Welche des Nachts zur Feuersäule wird, ganz so, wie es im heiligen Buche und von dem Volke Gottes geschrieben steht! Der Herr ging ihm voran, des Tages in einer Rauch- und des Nachts in einer Feuersäule. Und schau, wie sonderbar! Dies Tor, grad vor uns! Es scheint, genau wie diese unsere Sperre, |138B auch die ganze Breite der Landenge einzunehmen. Wir können nicht weiter, weder nach hüben noch drüben; wir müssen wieder hinab, woher wir emporgestiegen sind.«
Das >Tor<, von dem er sprach, lag grad im Norden von uns, vielleicht eine halbe Wegstunde entfernt. Es war gewiß auf ganz natürliche Weise so entstanden, hatte aber auch das Aussehen, als ob es ein Werk von Menschen- oder vielmehr von Titanenhänden sei. Eine hohe, festgefügte Mauer lag quer über der Enge, von Küste zu Küste, von Wasser zu Wasser. Grad in der Mitte der Landzunge ging eine einzige Lücke von oben nach unten durch diese Mauer. Sie war so breit, daß einst der Fluß und neben ihm ein schmaler Weg hindurchgekonnt hatten. Oben lag eine Felsenplatte querüber, auf der es einige Büsche und eine von uns aus winzig erscheinende Erhöhung gab, die man für einen Steinhaufen halten mußte. Wenn diese Mauer keinen andern Durchlaß hatte, als nur die Mittelspalte, die wir sahen, so war der Raum zwischen uns und ihr die vortrefflichste Falle für die Tschoban. Als ich dem Hadschi das sagte, stimmte er mir gern bei. Leider war es für heut zu spät, noch bis dorthin zu kommen. Die Sonne stand bereits am Horizonte, und die Nacht bricht in jenen Gegenden so schnell herein, daß es uns gar nichts genutzt hätte, uns zu beeilen. Wir hätten die Mauer höchstens erreicht, aber doch keine Zeit gefunden, sie noch heut zu untersuchen. Wir begnügten uns also damit, festzustellen, daß es wenigstens hier am >Felsenloch< kein anderes Durchkommen gab als eben nur durch dieses Loch. Dann stiegen wir wieder hinab, um unten die Passage zu betrachten.
Sie war, wie schon gesagt, so eng, daß, wenn der Fluß Wasser gehabt hätte, nur ein vielleicht drei Meter breiter Weg geblieben wäre, um durch das Loch zu kommen. Dieser Weg war wohl fünfzig Schritte lang; er ging durch Felsen, war also unterirdisch, verlief aber so frei, daß er auf seiner ganzen Strecke mit Kugeln bestrichen werden konnte. Die unten im Flußbette zerstreut liegenden großen Steinblöcke boten zwar einigen Schutz gegen Schüsse, aber nur vereinzelten Personen, nicht etwa ganzen Ansammlungen von Menschen. Das war uns sehr günstig.
Wir stiegen wieder auf und ritten durch das Loch. Jenseits desselben war es unmöglich, die Höhe zu ersteigen, und zwar auf beiden Seiten. Wenn sich meine Vermutung bestätigte und die vor uns liegende, eine halbe Gehstunde lange Strecke als Falle für die Tschoban ausersehen werden sollte, so war vor allen Dingen die Frage zu erledigen, ob die Felswände, welche die Seiten des Engpasses bildeten, leicht gangbar seien oder nicht. Dieser Paß hieß Chatar, ein Name, der soviel wie >Gefahr< bedeutet. Das ließ vermuten, daß es nicht ungewagt sei, ihn im Kriegsfalle zu passieren. Wahrscheinlich hatten Ereignisse dies bewiesen. Wir durften also annehmen, daß die Beschaffenheit der Strecke für uns günstig, für die Tschoban aber ungünstig sei, und es stellte sich auch sehr bald in Wirklichkeit heraus, daß es so war. Wir ritten nur langsam vorwärts, um beide Seiten des Weges genau zu betrachten. Wir legten wohl drei Vierteile seiner Länge zurück und kamen dem Felsentore, welches wir von weitem gesehen hatten, ziemlich nahe, ohne eine einzige Stelle gefunden zu haben, an der es möglich war, an den regellosen, schroffen, oft sogar weit überhängenden Steinwänden emporzusteigen. Wenn es uns gelang, die Tschoban hier herein zu locken, so gab es für sie kein Entrinnen.
Auch die Wasserverhältnisse waren für uns günstig. Wir hatten ganz selbstverständlich angenommen, daß es hier gar kein trinkbares Wasser gebe, und waren daher einigermaßen überrascht, als wir an einer tieferen und sandigen Stelle des Flußbettes bemerkten, daß sie feucht sei. Wir stiegen sofort hinab, um sie zu untersuchen. Da stellte sich zu unserer Beruhigung heraus, daß sie bei längerem Nachgraben allerdings Wasser gab, aber dieses enthielt soviel Salz und widerlich schmeckende Bestandteile, daß es sowohl für Mensch als auch für Tier vollständig ungenießbar war. Diese Stelle hing mit dem Meere zusammen, welches hier am Engpaß nur eine geringe Tiefe besaß. Die gutes Trinkwasser führende Ton- oder überhaupt undurchdringliche Schicht, welche von den fernen Bergen kam und sich im Brunnenengel öffnete, schien tiefer als im Meeresboden zu verstreichen.
|139A Wir fanden, noch ehe die Dämmerung verstrichen war, eine Stelle, welche sich zum Lagern eignete. Gras gab es freilich nicht, aber weich war das Fleckchen doch, weil es aus einer Ansammlung von Flugsand bestand, der eine kleine, abgeschlossene Bucht im Felsen bildete. Da machten wir es uns bequem. Die Hunde bekamen jeder ein Stück Fleisch, die Pferde ihre erste Wüstenration getrockneter Körner, und für die Menschen, nämlich für Halef und mich, hatte Taldscha so gut gesorgt, daß wir noch auf Tage hinaus mit Delikatessen versehen waren, nämlich aber, was bei den Ussul als Delikatesse bezeichnet wird. Mit dem Wasser wurde gespart. Pferde und Hunde bekamen nur einige Schlucke, mehr um sich die Mäuler anzufeuchten, als um den Durst zu stillen, den sie auch gar nicht haben konnten, weil sie sich am Engelsbrunnen mehr als satt getrunken hatten. Ein Feuer wurde nicht angebrannt, einesteils weil es keine besondern Gründe gab, es zu tun, und andernteils weil es hier schwer war, das nötige Brennmaterial zusammenzusuchen. Auch war keineswegs anzunehmen, daß wir vollständig sicher seien, nicht gesehen zu werden. So einsam die Gegend war, in der wir uns befanden, wer von drüben herüber und von hüben hinüber wollte, mußte sie doch passieren; der Prinz der Tschoban war hier vorübergekommen, ebenso der Maha-Lama und der oberste Minister von Dschunubistan; es konnten also wohl auch andere kommen, vor denen wir uns nicht sehen lassen durften. Wir nahmen uns vor, recht baldigst einzuschlafen. Das konnten wir, denn die Hunde hielten Wacht.
Es wurde Nacht; aber ihr Dunkel dauerte nicht lange; der zunehmende Mond stieg herauf. Es herrschte ringsum tiefe Stille, und doch war diese Stille nicht vollständig still. Was war es doch, die Meeresbewegung oder etwas anderes, was ich vernahm, als ob es nicht innerlich, sondern äußerlich und doch nicht äußerlich, sondern innerlich sei? Es schien in der Luft zu sein, und doch auch in der Erde, auf der wir lagen. Der Mond war sonderbar goldig gelb. Sah man ihm direkt in das freundliche Profil, so erschienen seine Strahlen bläulich gefärbt, wohl infolge der Feuchtigkeit der Luft. Es ging ein leises, heiliges Auf- und Niederatmen durch die sonst vollständig ruhende Welt. Kam das etwa von den Bewegungen der See? Halef betete still, ich auch. Eben hatte ich in meinem Innern Amen gesagt, da klang es plötzlich laut und vernehmlich durch die stillhelle Nacht:
»Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!«
Es kam wie von oben, wie von einer schönen, volltönenden, reinen Altstimme, die aus dem geöffneten Himmel niederklingt. Und als ob dieser Gottesgruß im Herabschweben auch eine tiefere Stimme erhalte, wiederholte er sich im weithin schallenden Bariton:
»Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!«
»Sihdi, was ist das? Wer ist das? Wo kommt es her?« fragte Halef, indem er sich überrascht in die sitzende Stellung aufrichtete.
»Still!« bat ich »Hören wir weiter!«
»Glaubst Du, daß es sich wiederholt?«
Ja, es wiederholte sich und zwar mit vereinten Stimmen. Im Alt und Bariton zugleich scholl es zu uns herab:
»Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!«
Das klang so un- oder überirdisch! Es war, als ob Geister über uns schwebten, deren Stimmen uns fassen wollten, um uns hinaufzuheben. Nach einer kurzen Stille folgte diesen einleitenden Ausrufungen etwas vollständig Unbeschreibliches, für das wir in unserer abendländischen Musik und Kunst nicht einen einzigen Ausdruck haben, mit dem es möglich wäre, das, was wir hörten, auch nur annähernd zu bezeichnen. Es waren zwei Stimmen. Ein wunderbarer, jugendlich frischer Alt oder Mezzosopran und ein ebenso wunderbarer, tief ergreifender Baßtenor, bei uns Bariton genannt, die so fern voneinander und doch so nahe beieinander klangen, als seien alle himmlischen und alle irdischen Lobpreisungen in diesem einen >Ja Kudah< und was darauf folgte, vereint. Und was nun hoch in den Lüften über uns betete und flutete, das war ein Duett und dennoch keines; |139B das waren Lieder, ohne Lieder zu sein; das war Gesang in seiner allerhöchsten, weil einfachsten Kunst, und doch kein Gesang, sondern nichts als Sprache, nur Sprache, aber jene vollendete Sprache, die erst dann über die ganze Erde klingen wird, wenn die Kunst nicht mehr zu herrschen, sondern zu dienen strebt und die Güte und Barmherzigkeit die Grammatik des einen, großen, humanisierten Menschenvolkes lehren.
Warum ich da grad die köstlichen Eigenschaften der >Güte< und der >Barmherzigkeit< in Erwähnung bringe, wird der Leser wohl morgen früh schon merken, wenn wir erfahren, wessen Stimmen es waren, die wir hörten. Es handelte sich jedenfalls um eine männliche und eine weibliche Person, welche, wie es schien, hoch oben auf der Platte des Felsentores standen. Sehen konnten wir sie nicht. Höchst wahrscheinlich aber hatten sie uns gesehen. Daß sie trotzdem sangen, sich also nicht vor uns verbargen, war ein Beweis ihrer Friedfertigkeit und Ungefährlichkeit. Und auch fromme Menschen waren sie. Wer an nichts glaubt und kein Bedürfnis hat, sich innerlich zu erheben, dem fehlen Worte und Töne, wie die waren, die wie auf Engelsflügeln jetzt droben im Mondschein schwammen. Sie verklangen in einer langsamen, feierlichen Melodie, welche von dem Alt gesungen, vom Bariton begleitet wurde und mit demselben Rufe schloß, mit dem der Gesang begonnen hatte: »Ja Kudah - - o Gott!«
Als nun wieder Stille um uns herrschte, wollte Halef, seiner Gewohnheit nach, sich in Fragen und Vermutungen über den Sänger und die Sängerin ergehen; ich aber wollte mir den tiefen Eindruck, den die Stimmen auf mich gemacht hatten, nicht hinwegschwatzen lassen und gab ihm eine so kurze Antwort, daß er mich begriff und infolgedessen schwieg. Als ich dann einschlief, trat ein lieber, holder Traum zu mir heran und zeigte mir herrliche Wesen, die mich umschwebten. Ihre Farbe war die des leuchtenden Goldes und weißer, duftiger Rosen. Ihre Gestalten erschienen mir köstlicher und schöner, als Menschen je gestaltet gewesen sind. Und ihre Stimmen erklangen in liebevollen, beglückenden Tönen, die mir die Brust so weit und selig machten, daß ich tief Atem holte, die frische, weiche Morgenluft einsog und dann die Augen öffnete. Ich wachte auf. Die Gestalten waren nicht mehr zu sehen, aber ihre Stimmen erklangen weiter, nicht mehr so nahe bei mir, sondern, wie gestern abend, von hoch oben herab. Ich schaute hinauf und konnte die beiden Singenden ganz deutlich erkennen. Es war so, wie ich vermutet hatte: Sie standen auf der Querplatte des Felsentores, ganz vorn, auf einer kühn vorspringenden Stelle. Sie mußten völlig schwindelfrei sein, um dies zu wagen. Es war eine männliche und eine weibliche Person, deren Alter ich der Entfernung wegen nicht bestimmen konnte. Ihre hellen, weiten Gewänder flatterten im Hauche des jungen Tages, der da oben natürlich kräftiger war als hier unten bei uns in der geschützten Tiefe. Vom Morgenrot umflossen, erhielten sie dadurch, daß die Falten ihrer Kleidung sich bewegten, den Anschein, als ob sie selbst in Bewegung seien und den Fels verlassen wollten, um zu uns niederzuschweben.
»Sihdi, die springen noch herab!« sagte Halef, der schon munterer als ich und nur noch nicht aufgestanden war, um mich nicht zu stören. Jetzt sprang er auf, wirbelte die beiden Arme in der Luft und schrie zum Fels empor, daß man sich doch um Allahs willen in acht nehme und ja nicht heruntergeflogen, sondern heruntergelaufen kommen möge.
Da verstummte der Gesang. Sie lauschten. Sie hatten zwar gesehen und gehört, daß er sprach, ihn aber nicht verstanden. Er legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und wiederholte, was er gesagt hatte. Da wurde er verstanden. Die Sängerin machte mit ihren Händen denselben Gebrauch wie er mit den seinen, und rief uns zu:
»So wartet! Ich komme hinunter!« Dann traten beide von der gefährlichen Stelle zurück, worauf sie verschwanden. Halef sagte, indem er erleichtert aufatmete:
»Allah sei Dank! Das war ja gar nicht mehr anzusehen! Soviel Augenblicke es gab, so vielmal schienen sie im Abstürzen zu sein! Darf ich denn endlich von ihnen sprechen? Gestern abend war es verboten.«
|140A »Weil man so tiefe, heilige Regungen zu achten hat, lieber Halef! Auch jetzt wäre es besser gewesen, wenn Du ihren Gesang nicht vor dem Schlusse abgebrochen hättest.«
»Verzeih, Effendi! Ich konnte es nicht länger aushalten. Ich hatte Angst, sie würden stürzen. Sag, wer werden sie sein?«
»Das weiß ich nicht. Ihre Sprache ist kein Dialekt, sondern rein und edel, wie nur ein vornehmer Mund sich auszudrücken pflegt. Wir werden ja sehen. Wir reiten ihr die wenigen Schritte entgegen.«
Gereinigt und gesattelt war schnell. Dann stiegen wir auf und wendeten uns dem Tore zu, welches zu erreichen nur ganz kurze Zeit erforderte. Auch bis dorthin gab es weder auf der einen noch auf der andern Seite des Flußbettes eine Stelle, an der man emporklettern konnte. Die Falle war also in unserm Sinne vollständig tadellos gebaut. Auch die beiden Sänger hatten nicht hier hinaufgekonnt. Der Weg, der die Altistin herunterführte, mußte jenseits des Tores liegen, auf der Nord- oder Außenseite desselben. Wir ritten also hindurch. Jenseits angekommen, ritten wir nur noch einige Schritte weiter und hielten dann, um die Ankunft der Frau - oder war es ein Mädchen? - zu erwarten.
Es vergingen einige Minuten. Halef wurde ungeduldig. Er meinte, daß wir noch ein Stück weiter vorwärts müßten; ich aber riet, zu bleiben. Ich hielt still; er dagegen ritt langsam hin und her. Da sah ich, daß er plötzlich eine Bewegung der Überraschung machte, die Hand nach seinem Gesicht bewegte und dann nach oben sah.
»Was ist?« fragte ich.
»Es fiel ein Steinchen herab,« antwortete er.
Nach einiger Zeit machte er dieselbe Bewegung, und dann auch noch zum dritten Male.
»Sihdi, man wirft!« sagte er, indem er wieder nach oben schaute. »Man zielt sehr genau, nämlich immer nach meinem Gesicht. Da oben steckt jemand!«
»Wohl kaum! Kein Mensch kann da hinauf und wieder herunter!«