1. Kapitel. Eine Mission.

Allen Lesern unseres lieben »Hausschatz« ein herzliches Grüß Gott! Es tat mir unendlich leid, daß die Reihe meiner für sie bestimmten Reiseerzählungen in unserem Lieblingsblatt unterbrochen werden mußte, denn diese Erzählungen hatten einen tiefen, menschheits-psychologischen Zweck und führten nach einem hohen kulturgeschichtlichen Ziele. Was ich inzwischen weitererzählt habe, ist für diesen Zweck und dieses Ziel von solcher Wichtigkeit, daß ich bitte, es in meinen »Gesammelten Reiseerzählungen« nachzulesen, damit nicht eine Lücke entstehe, die später nicht mehr auszufüllen ist. Es gewährt mir eine aufrichtige Freude, nun wieder an der alten Stelle und zu den alten Freunden sprechen zu können, und ich bitte um die Erlaubnis, es auch wieder in der alten, ungekünstelten Weise tun zu dürfen, die vom Herzen zum Herzen spricht!

Meine neue Erzählung beginnt in Sitara, dem in Europa fast gänzlich unbekannten »Land der Sternenblumen«, von dem ich im »Reiche des silbernen Löwen« erzählt habe. Die Sultanin dieses Reiches ist Marah Durimeh, die allen meinen Lesern wohlbekannte Herrscherin aus uraltem Königsgeschlecht. Zu Sitara gehört auch das in meinem Buche »Babel und Bibel« erwähnte, weit ausgestreckte Gebiet von Märdistan mit dem geheimnisvollen Walde von Kulub, in dessen tiefster Schlucht, wie man sich heimlich erzählt, die Geisterschmiede liegt, in der die Seelen durch Schmerz und Qual zu Stahl und Geist geschmiedet werden. Ein späterer, hochinteressanter Ritt wird uns Gelegenheit geben, diesen Wald und diese Schmiede kennen zu lernen. Für heut verzichten wir auf diesen Ort der Marter und der Pein und wandeln durch die Gärten von Ikbal, um alles Leid der Erde zu vergessen.

Ikbal ist eine der schönsten Residenzen Marah Durimehs. Ihre fürstliche Wohnung, mehr einem Tempel als einem Schlosse gleichend, hebt sich wie die aus weißem Marmor gedichtete Strophe eines salomonischen Psalmes hell, klar, rein und leuchtend von dem dunklen Hintergrunde der himmelanstrebenden Berge ab. Diese liegen im Norden. Nach Süden dehnt sich die blaue, von silbernen Fäden durchzogene See, leise atmend, wie ein schlafendes, glückliches Kind, welches im Traume lächelt. Und wie köstliche, schimmernde Perlen, die von einer reichen, kunstsinnigen Fee aus der Meerestiefe emporgeholt und am Ufer in grünende Gärten gebettet wurden, so haben sich die Häuser der Untergebenen dem Palaste der geliebten Gebieterin zu Füßen hingestreckt. Die Seeluft mildert die Glut der strahlenden Sonne. Schattige Wege führen vom Tale zu Berge, vom Berge zu |5B Tal. Goldige Früchte winken aus dunklem Laub. Jede Bewegung der Luft spendet süßen Blumenduft. Ed Din, der Fluß, tritt, unberührt von dem Schmutze des täglichen Lebens, wie eine Offenbarung aus höheren Welten aus dem Gebirge hervor, schließt Ikbal in zwei schwellende Arme ein und tritt dann in die See, um ihre Flut zu läutern und zu klären.

Der kleine Hafen von Ikbal ist mit der Außenwelt nur durch einen einzigen größeren Segler verbunden, welcher »Wilahde« heißt und immer segelfertig gerichtet ist. Dieses Schiff gleicht einer Arche. Sein Bau ist uralt. Es hat die Formen und die Linien vergangener Jahrtausende. Sein Tau- und Segelwerk mag im ältesten Babylonien oder Ägypten erfunden worden sein. Aber man hat trotzdem keinen Grund, irgend etwas daran zu tadeln, denn alles, was man sieht, ist genau dem Zwecke, dem es dienen soll, entsprechend eingerichtet. Wir werden diesem Fahrzeuge in meinen späteren Erzählungen noch oft begegnen; darum verzichte ich jetzt darauf, es genau zu beschreiben. Ebenso wird es Sache meiner künftigen Berichte sein, das Land Sitara und die Stadt Ikbal eingehender zu schildern. Für heute habe ich sie beide nur kurz zu erwähnen, weil sie den Ausgangspunkt der vorliegenden Erzählung bilden. - - -

Ich war mit meinem Hadschi Halef Omar, dem obersten Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar, zu Marah Durimeh gekommen, um für einige Zeit ihr Gast zu sein und bei dieser Gelegenheit das »Land der Sternenblumen« noch besser kennen zu lernen, als es mir bisher möglich gewesen war. Sie hatte mich in einer Weise aufgenommen, als ob ich ein naher Verwandter, ja, als ob ich ein Sohn von ihr sei. Wir wohnten nicht in der Stadt, sondern bei ihr im Palaste, ich in demselben Stockwerke mit ihr, Halef aber im Erdgeschoß bei den dienenden Geistern. Sie liebte auch ihn. Sie war von seiner fast beispiellosen Liebe und Treue gerührt. Sie beglückwünschte mich, ihn gefunden und mir zum Begleiter erzogen zu haben. Aber sie tadelte an ihm, daß er sich keine Mühe gab, seine Seele in Geist umzusetzen, und sie hielt gerade das, was andere an ihm lobten, nämlich seine Liebenswürdigkeit, für seine größte Schwäche. Sie, die unvergleichliche Menschenkennerin, konnte keinen Menschen für entwickelt halten, der nicht die Kraft besaß, über die Forderungen seiner körperlichen Anima hinauszukommen.

Alle diejenigen, welche die vier Bände: »Im Reiche des silbernen Löwen« gelesen haben, werden sich gerne an Schakara, die »Seele«, erinnern, welche Marah Durimeh damals zu uns sandte, um uns gegen unsere Feinde beizustehen. Diese Schakara, die mich vom beinahe sicheren Tode errettete, war ein besonderer Liebling ihrer Herrin, die sie nur dann verlassen durfte, wenn es sich um ganz besonders wichtige Dinge handelte. Sie war auch jetzt bei ihr in Ikbal und sorgte für mich in genau derselben schwesterlich aufopfernden Weise wie damals, als ich krank am Boden lag.

|6A Unsere Abreise war auf morgen festgesetzt. Am Nachmittag waren wir, nämlich Marah Durimeh, Schakara und ich, noch einmal durch die Stadt und ihre Umgebung gewandelt, um die mir liebgewordenen Plätze aufzusuchen. Dann gingen wir nach der hinter dem Palaste liegenden, üppigen Weide, wo unsere beiden Pferde grasten, bei deren Namen sich jeder meiner Leser herzlich freuen wird, ihnen wieder zu begegnen. Es waren die beiden Rappen Assil Ben Rih und Syrr, der erstere für Halef und der letztere für mich. Wer diese beiden edelsten der Pferde, die es gegeben hat, noch nicht kennt, der wird sie im Verlaufe unserer Erzählung kennen lernen. Sie hatten uns aus fernem Lande bis hierher getragen und sollten uns auf demselben Wege wieder zurückbringen. So dachten wir. Aber es sollte anders kommen, als wir uns vorgenommen hatten.

Später, einige Zeit vor Sonnenuntergang, saßen wir drei auf dem hohen Söller beim Abendessen, welches nicht aus Fleisch, sondern nur aus Brot und Früchten bestand. Unter uns im Hof saß Halef bei einer Anzahl von Dienern und Dienerinnen. Er erzählte von seinen Abenteuern. Er tat das in seiner wohlbekannten, bombastischen, nach Beifall hungrigen Weise. Aber der Erfolg, den er an jedem anderen Orte einzuheimsen verstanden hatte, hier fiel er aus. Man hörte ihm ruhig zu, kein Lob erscholl, kein Beifall ließ sich hören. Ein nachsichtiges Kopfnicken oder gar ein ironisches Lächeln, weiter gab es keinen Dank. Da stand er von seinem Platze auf, warf die Arme verächtlich in die Luft, ließ seine Zuhörer sitzen und ging zum Tor hinaus.

Wir achteten nicht auf ihn und diese seine wohlverdiente Niederlage. Wir hatten nur Augen, nur Sinne für die vor uns liegende, köstliche Gotteswelt, die im Glanze der untergehenden Sonne fast überirdisch leuchtete und glühte. Ganz draußen im äußersten Süden, da, wo das Meer sich mit dem Himmel einte, gab es einen kleinen, sich aber vergrößernden, weil immer näher kommenden Punkt, der bald wie ein Blitz aufzuckte, bald goldig schimmerte, bald silbern funkelte, bald in einer oder in mehreren der sieben Regenbogenfarben flackerte.

»Ein Bote kommt,« sagte Schakara, indem sie mit ausgestrecktem Arm nach diesem Punkt deutete.

Marah Durimeh richtete den Blick nach der bezeichneten Richtung, ließ ihn dort nur einen Augenblick lang ruhen und nickte dann näher bestimmend:

»Ja, ein Bote, aber kein fremder, sondern der unserige.«

»Welcher?« fragte Schakara.

»Der mir die Antwort bringt vom 'Mir von Dschinnistan.«

Was für Augen hatte diese Frau, deren Alter so groß war, daß man es gar nicht mehr bestimmen konnte! So sehr ich die meinigen anstrengte, ich konnte doch nur ahnen, aber nicht deutlich bemerken, daß dieser in der Sonne schillernde Punkt eigentlich ein weißes Segel war. Sie aber sah das Boot und sah wohl auch den Mann, der es regierte! Und ebenso wie die Schärfe ihres Auges verblüffte auch der Name, den sie nannte. Der 'Mir von Dschinnistan! Welcher von meinen Lesern hat schon einmal von diesem berühmten Manne, von diesem Beherrscher eines großen, hochwichtigen Reiches gehört? Wohl keiner! Auch ich war ohne Ahnung von seiner Existenz, bis ich Marah Durimeh kennen lernte und aus ihrem eigenen Munde nach und nach die Namen der zahlreichen Gebiete erfuhr, über welche sich ihr persönlicher Einfluß erstreckte. Der 'Mir von Dschinnistan stand unter ihrem ganz besonderen Schutz. Der Bote, der sich jetzt sehr schnell dem Hafen näherte, weil günstiger Wind ihn trieb, war bei ihm gewesen. Die Kunde, die sie von ihm erwartete, schien von großer Wichtigkeit für sie zu sein, denn sie stand von ihrem Sitze auf, beschattete mit der Hand ihre Augen, bog sich über die Brüstung des Söllers hinaus und verfolgte das schwimmende Boot wohl eine ganze Minute lang mit gespannter Aufmerksamkeit. Dann sagte sie:

»Ja, er ist es!« Und mit einem langen, tiefen Atemzuge fügte sie hinzu: »Nun wird es sich entscheiden!«

Dann setzte sie sich wieder auf ihren Platz zurück, sah tief nachdenklich vor sich nieder, hob dann den Blick zu mir empor und fragte:

»Mußt Du heim, Sihdi, oder mußt Du nicht heim?«

»Ich muß nie,« antwortete ich.

|6B »Das weiß ich,« nickte sie mir freundlich zu. »Vielleicht ist es gut, daß Du noch bei uns bist, daß Du uns noch nicht verlassen hast.«

»Gut? Für wen?« fragte ich.

»Für Dich, für mich und besonders auch für den 'Mir von Dschinnistan.«

Da war ich es nun, der von seinem Sitze aufsprang und überrascht ausrief:

»Für uns und auch für ihn? Wieso? Das ist ein Rätsel. Ich bitte, es zu lösen.«

Sie richtete ihre Augen groß und voll auf mich, als ob sie mit diesem Blick mein ganzes, inneres Wesen durchdringe, und antwortete dann:

»Das größte aller Rätsel bist Du selbst. Indem Du dieses lösest, lösest Du auch das des 'Mir von Dschinnistan. Setze Dich! Und warte, bis ich mit dem Boten gesprochen habe!«

Das war so ihre Art, Problem mit Problem zu beantworten. Ihr größtes Glück bestand darin, menschheitsinnerliche Werte zu verschenken, aber sie warf sie nicht billig hin, sondern man hatte sie durch eigenes Nachdenken zu finden und sich anzueignen. Daß ich ein Rätsel bin, versteht sich ganz von selbst. Jeder Mensch ist eines. Wer das erkennet, hat schon mit der Lösung begonnen. Die Antwort auf die Menschheitsfrage suchen, heißt leben. Wer da stirbt, ohne gesucht zu haben, der hat nicht gelebt, sondern nur vegetiert und wird Kompost, weiter nichts!

Das, was zunächst ein Punkt gewesen war, hatte sich inzwischen vergrößert. Es erschien als weißes Segel. Dann sah man, daß es drei Segel waren. Später bemerkte ich, daß das Boot nicht einen, sondern zwei Masten hatte, an welche die Segel kreuzweise gezogen waren. Eine solche Stellung der Leinwand hatte ich noch nie gesehen; aber sie war außerordentlich praktisch. Das Vordersegel schraubte sich als Luftbohrer in die Ferne, und die beiden Hinterbootsegel standen wie ein Pflug, mit scharfer Schneide nach vorn, nach hinten aber breit offen, so daß nicht der geringste Teil des Luftdruckes verlorengehen konnte. Bemannt war das Boot mit nur zwei Hilfspersonen, welche die Leinen und das Steuer führten; ihr Gebieter aber stand ganz vorn am äußersten Bug. Hoch aufgerichtet, weiß gekleidet, den einen Arm stolz in die Hüfte gestemmt, mit nachflatterndem Turbantuch, glich er in der gegenwärtigen Beleuchtung weniger einem gewöhnlichen, irdischen Boten, sondern vielmehr einem jener überirdischen Wesen, von denen die uralte, orientalische Sage erzählt, daß sie mit ihren Fahrzeugen ganz plötzlich aus der Tiefe des Meeres auftauchen und an den Wohnorten der Menschen landen, um ihnen den Gruß der Ewigkeit und den Segen des Himmels zu bringen.

Und jetzt, da sich das Boot dem Hafen näherte, kam der Augenblick, an dem die Sonne versank. Durch all das Licht, welches auf den Meeresfluten lag, zuckte ein durchsichtiger, leicht violetter Schatten. Die Heiterkeit des goldenen Tages verwandelte sich mit einem Schlage in den Ernst des nahenden Abends. Von der nahen Moschee erscholl der Ruf des Mueddin:

»Heeehhh alas salah! Heeehhh alal felah! Auf zum Gebete! Auf zum Heile! Die Sonne hat sich in das Meer getaucht! Die Zeit des Unterganges ist da, und mit ihr die Stunde des Gebetes. Gott ist groß! Gott ist groß! Gott ist groß!«

Von dem freien Platze herauf ertönte die Stimme des Vorbeters:

»Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Lob und Preis sei Gott, dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrschet am Tage des Gerichts! Dir wollen wir dienen, und zu Dir wollen wir flehen, auf daß Du uns führest den rechten Weg, den Weg derer, die Deiner Gnade sich freuen - - -«

Weiter konnten wir hiervon nichts mehr hören, denn nun fielen die ehernen Stimmen der christlichen Glocken ein und zogen jeden anders schwingenden und anders klingenden Ton in ihr herrliches Abendgeläute. Da stand Marah Durimeh auf und wir mit ihr. Wir falteten die Hände. Sie aber deutete nach dem Turme, wo man läutete, und sprach:

»Dies ist der Ton, der durch das Weltall klingt,
Der einzige Ton, der Glück und Frieden bringt.
In ihm verschwindet aller Erdenstreit;
Gepriesen sei der Herr in Ewigkeit!«

|7A In diesem Augenblicke hatte das Boot den Hafen erreicht. Der Bote sah seine Herrin auf dem Söller stehen. Er grüßte mit beiden Armen zu ihr herauf. Dann kniete er da, wo er gestanden hatte, nieder und faltete die Hände, um ebenso, wie alle Welt, zu beten. Der Eindruck, den dies machte, läßt sich gar nicht beschreiben. Diese ganze, unvergleichliche, erdenferne Örtlichkeit! Diese am Himmel und über die Erde hinzuckenden, mehr und mehr ersterbenden Tinten! Die dunkle Mauer des hinter uns drohenden Gebirges! Die immer magischer und mystischer werdende Färbung der See! Dieses Glockengeläute, und zwar an einem Orte, den außer mir gewiß noch kein europäischer Christ betreten hatte! Vor allen Dingen aber die hoch aufgerichtete Gestalt unserer Gebieterin! Diese Stirne, dieser Nacken, dieser Mund, diese Augen! Wie oft hatte Hadschi Halef, wenn er ernstlich über sie nachdachte, zu mir gesagt: »Sie ist kein gewöhnliches Weib; sie ist auch keine Königin. Sie ist ein Dschinni, eine Seele, ein Geist. Ja noch mehr: sie ist nicht nur Seele oder Geist, sondern sie ist die Herrin und die Gebieterin aller Seelen und aller Geister, die es gibt. Allah segne sie!«

Er versuchte sich in dieser ihm eigentümlichen Weise über sie klar zu werden, und ich muß gestehen, daß ich ihm niemals widersprochen habe, so oft er es auch tat. Und gerade jetzt, in diesem Augenblicke, überkam auch mich ein Etwas, was mehr als eine Ahnung war, daß in dieser unvergleichlichen Frau Gedanken, Gesinnungen und Kräfte lebten, die meine Schulpsychologie unmöglich zu fassen vermochte. Es war mir zumute wie einem unbefangenen, gläubigen Kinde, welches zum erstenmal in seinem Leben in das Theater kommt und nicht im geringsten daran zweifelt, daß die Zauberwelt, die sich vor seinen Augen entrollt, in Wirklichkeit vorhanden ist. Die Menschheitsseele ist in jedem Menschen tätig, in vielen einzelnen sogar in ganz besonderer Weise, in Marah Durimeh aber so, wie sonst wohl niemals wieder. Und der Mann, der da unten an der Spitze seines Bootes im Gebete kniete, kam mir vor wie ein Abgesandter der Menschheit, die nach ihrer Seele sucht und nach Rettung aus Leibesgefahr.

Nun verstummten die Glocken. Das Gebet war vorüber; die Dämmerung stieg von den Bergen. Der betende Mann im Boote erhob sich und lenkte sein Fahrzeug an das Ufer. Dort stieg er aus und verschwand zwischen den Häusern, auf dem Wege, der zu uns führte. Nach kurzer Zeit wurde gemeldet, daß er da sei und darum bitte, die Herrin sprechen zu dürfen. Sie entfernte sich, um seinen Wunsch zu erfüllen. Ich blieb mit Schakara allein. Diese hatte in ihrer schwesterlich fürsorglichen Weise den Wunsch, mich vorzubereiten. Sie sagte:

»Vielleicht wäre es besser, Du hättest uns schon verlassen. Ich befürchte, die Herrin gibt Dir Schweres zu tun!«

»Wohl gar Unmögliches?« fragte ich lächelnd.

»Nein; das tut sie nicht.«

»So sorge Dich nicht, o Schakara! Seit sie den 'Mir von Dschinnistan genannt hat, hoffe und wünsche ich sogar, daß ich noch nicht abzureisen brauche.«

»Reisen wirst Du auf jeden Fall!«

»Aber wohin, wenn nicht heim?«

»Zum 'Mir.«

»Zu ihm?« fragte ich, ebenso erfreut wie erstaunt.

»Ja, zu ihm. Du warst noch nie in Dschinnistan. Aber Du weißt, wo es liegt?«

»Ja.«

»Und wie außerordentlich unzugänglich es ist?«

»Auch das. Es gibt nur zwei Wege: entweder vom Balkasch-See aus, und der ist entsetzlich weit; oder man reitet durch das ganze Reich von Ardistan, und der ist wohl ebenso weit, aber jedenfalls bequemer.«

»Gefährlicher!« warnte sie ernst.

»Wieso?« fragte ich.

»Kennst Du den 'Mir von Ardistan?«

»Nein. Aber gehört habe ich von ihm.«

»Was?«

»Er ist ein Gewaltmensch, ein Tyrann - - -«

»Ein Freund des Krieges, ein Hasser des Friedens,« fiel sie lebhaft ein. »Jeder gesunde Mann seines Landes ist Soldat. |7B Für die Werke des Friedens hat er nur Kranke und Krüppel übrig.«

»Das ist zwar traurig, aber was geht das mich an? Ich will doch nicht zu ihm, sondern zum 'Mir von Dschinnistan. Und selbst wenn ich zu ihm wollte, würden seine kriegerischen Neigungen doch wohl kein Grund für mich sein, auf die Reise zu ihm zu verzichten. Ich glaube sogar, daß sie mir eher Nutzen als Schaden brächten.«

»Unter gewöhnlichen Verhältnissen, vielleicht. Aber auch da ist es für jeden Europäer in hohem Grade gefährlich, sein Land zu betreten. Er haßt alles, was aus dem Westen kommt; besonders aber haßt er die Menschen, die dort wohnen. Wenn er erführe, daß Du ein Europäer bist, so - - -«

Sie konnte den angefangenen Satz nicht vollenden; sie wurde unterbrochen. Marah Durimeh kehrte zurück. Sie besaß eine beispiellose Selbstbeherrschung. Trotzdem aber bemerkte ich, als sie zu sprechen begann, an dem nicht ganz zu unterdrückenden Zittern ihrer Stimme, daß sie innerlich erregt war.

»Die Audienz ist nur für einstweilen unterbrochen,« sagte sie. »Der Bote hat mir noch viel zu berichten. Er wird wiederkommen. Für jetzt mußte ich vor allen Dingen zu Euch zurück, um Euch zu sagen, daß das entsetzliche Unglück, welches ich verhüten wollte, nicht abzuwenden ist.«

Da schlug Schakara erschrocken die Hände zusammen und fragte:

»Es gibt - - - Krieg?«

»Ja - - - Krieg!« nickte Marah Durimeh.

»Zwischen wem?« fragte ich.

»Zwischen Ardistan und Dschinnistan.«

»Ist er schon erklärt?«

»Erklärt - - -? Welch ein Wort! Eine vorherige Erklärung gibt es nur zwischen zivilisierten Herrschern. Der 'Mir von Ardistan aber ist Barbar. Er schlägt los, sobald es ihm beliebt, ohne vorher zu fragen und ohne vorher etwas zu melden. Ich kann auf Deine Frage also nur die Antwort geben, daß es Krieg geben wird, daß er aber noch nicht begonnen hat. Schlimm ist, daß der 'Mir von Dschinnistan noch nichts davon zu ahnen scheint!«

»Nichts? Das ist doch unmöglich!«

»Wieso?«

»Dein Bote war ja bei ihm.«

»Der wußte ja selbst noch nichts davon, als er bei ihm war. Er hat es erst während seines Rückweges durch Ardistan erfahren. Er hat ihm zwar einen Boten geschickt, um ihn zu warnen, aber dieser Bote schwebt in größter Gefahr, unterwegs ergriffen und unschädlich gemacht zu werden. Ich muß einen andern senden - - - sofort, sofort! Einen Mann, auf den ich mich verlassen kann! Einen Mann, der sich nicht fürchtet, der bedachtsam ist, der nichts übereilt. Einen Mann, der nicht pfiffig, nicht hinterlistig, nicht verschlagen ist, sondern klug, nur klug, aber so klug, daß ihn selbst der abgefeimteste Pfiffikus weder täuschen noch betören kann!«

Nach diesen Worten wendete sie sich mir zu und fragte:

»Kennst Du einen solchen Mann, Sihdi?«

»Nein,« antwortete ich.

»Wirklich nicht?« lächelte sie.

»Wirklich nicht!« antwortete ich ernst und überzeugt.

Da fiel Schakara ein:

»O, doch gibt es einen! Und der bist Du selbst!«

»Du irrst, Liebling, Du irrst!« wies ich sie zurück. »Einen Menschen, der so klug ist, daß ihn selbst der abgefeimteste Pfiffikus weder täuschen noch betören kann, habe ich noch nie gesehen, werde wohl auch niemals einen zu sehen bekommen. Aber es gibt einen, der sich Mühe geben will, so bedachtsam, so klug und so mutig wie möglich zu handeln, und der bin allerdings ich. Wenn Du, o Herrin, in diesem Augenblick zufällig keinen Besseren hast, so bitte ich Dich, mich zu schicken!«

Die letzteren Worte waren an Marah Durimeh gerichtet. Sie antwortete nicht sogleich. Sie trat an die Brüstung des Söllers und schaute hinaus über die See und hinauf zum sich dunkler färbenden Himmelsblau, an dem die ersten Sterne zu glänzen begannen. Schakara ergriff meine Hand, drückte sie leise und flüsterte mir zu:

|8A »Ich danke Dir! So war es recht. Nun ist sie gerührt und spricht, ohne daß Du es ahnst, mit Deiner Seele. Das nennen die Menschen Liebe.«

Nach einiger Zeit drehte sich die Gebieterin uns wieder zu und gab mir den Bescheid:

»Ja, Du sollst gehen, Sihdi, Du! Ich hoffte, daß Du Dich mir anbieten würdest, freiwillig, ohne von mir aufgefordert worden zu sein. Es ist geschehen. Das freut mich so, wie ich mich selten freue. Den Dank, den ich Dir schulde, kann ich nicht geben, so von Hand zu Hand, wie ich es wohl wünschte. Du hast ihn Dir selbst zu holen, in Ardistan und Dschinnistan, wo er Dir blühen wird auf allen Wegen, die Du zu gehen hast. Aber doch eine Art von Dank soll es sein, daß ich Dir heute schon sage, warum Du es bist, dem ich diese meine Mission am liebsten anvertraue. Komm her zu mir!«

Ich trat zu ihr hin. Sie ergriff mit der Rechten meine Hand, deutete mit der Linken zum Himmel empor und fuhr fort:

»Als ich hier stand, ohne Dir zu antworten, sprach ich mit den Sternen. Schau hinauf zum Firmament! Nicht Deine heimischen Sterne leuchten, sondern die Sterne des Südens. Du siehst die Jungfrau, den Raben, den Becher und den Kelch. Hier das Herz, den Kompaß, das Schiff; dort Antares, den Wolf, den Zirkel und das Kreuz. Aber nicht diese Sterne waren es, mit denen ich sprach. Meine Astrologie ist eine andere. Ich schöpfe sie nicht aus dem sichtbaren Firmamente, welches hier über uns flammt und glüht. Aber indem ich meinen irdischen Blick an die Gestirne, die ich Dir nannte, hefte, mache ich mein inneres Auge für seelische und für geistige Firmamente frei, und da werden mir Sterne sichtbar, die andere nie erschauen. Auch den Deinen habe ich gesehen, den Deinen. Soll ich ihn Dir zeigen?«

Es war ein sonderbarer, doch nein, ein wunderbarer Augenblick! Sie stand vor mir wie eine der berühmten Wahrsagerinnen aus der Zeit, in welcher die Menschen den Turm von Babel bauten. Ihre geisterhaften Züge waren wie aus leicht angedunkeltem Alabaster gemeißelt. Ihre Augen schienen im Glanze der Sterne von einer unergründlichen, nie auszuschöpfenden Tiefe zu sein. Die beiden langen, starken, silberweißen Zöpfe ihres Haares hingen rechts und links bis nahe zum Boden herab. Ihre Stimme klang wie nicht von dieser Welt. Und um ihre ganze Gestalt wehte ein leise duftender Hauch, eine ganz eigenartige, geheimnisvolle Atmosphäre, für welche in keiner der vielen Sprachen, die es gibt, das richtige, das bezeichnende Wort zu finden ist. Was sie sagte, das verstand ich nicht ganz, aber ich ahnte von ungefähr, wie sie es meinte. Darum bat ich:

»Ja, zeige ihn mir!«

»Du sollst und wirst ihn sehen,« antwortete sie. »Aber nicht, indem ich mit dem Finger auf ihn deute und Dir sage, >da oben ist er, dort<, sondern indem ich Dir zeige, wo und wie er zu suchen ist. Denn nur derjenige Stern kann der Deinige sein, den Du selbst zu finden verstehst. Wenn Gott, der Herr, es will, wirst Du ihn in Dschinnistan erblicken, sobald er dort über Deinem Haupte steht. Du kennst dies Land noch nicht. Auch in Ardistan bist Du noch nicht gewesen. Ich werde Dich in die Bibliothek führen, um Dir die Bücher, Karten und Pläne vorzulegen, aus denen Du Dich unterrichten kannst. Vorher aber habe ich Dir ein unendlich Wichtiges zu sagen, was Du unbedingt wissen mußt, wenn Deine Sendung nach Dschinnistan gelingen soll. Setzen wir uns!«

Wir nahmen wieder Platz. Marah Durimeh begann:

»Im Abendlande würde man über das, was ich Dir sagen werde, höchst wahrscheinlich lachen. Mir ist es aber ernst, ja bitter ernst. Man würde höhnen: >Ein altes Kurdenweib spricht über hohe Politik und über die Gesetze der Zivilisation!< Ich aber stehe auf dem von Gott gegebenen Standpunkte, von welchem aus auf dem Feld von Bethlehem die Weissagung der himmlischen Heerscharen erklang: >Ehre sei Gott in der Höhe, und Friede auf Erden!< Daß man ihm, dem Weltenherrn, die Ehre zollt, die ihm gebührt, dafür sorgt er in seiner Allmacht und Weisheit am allerbesten selbst. Aber daß hier auf Erden Friede werde, das ist zwar sein Gebot, muß aber unsere Sorge sein, der wir gehorchen müssen.«

|8B »Wann wird er kommen, dieser Friede?« fragte Schakara. »Es scheint fast, nie!«

»Er kommt!« antwortete die Herrin mit schwerer Betonung. »Er muß kommen, denn Gott will es.«

»Es vergingen Tausende von Jahren, ohne daß er kam!«

»Aber es werden nicht mehr Tausende vergehen!«

»Im Abendlande regt es sich bereits,« fiel ich ein. »Die edelsten der Männer und der Frauen vereinigen sich, ihm freie Bahn zu brechen.«

»Freie Bahn?« fragte Marah Durimeh. »Im Abendlande? Ich weiß, ich weiß! Aber was können die Vorschläge selbst der edelsten Menschen fruchten, wenn man die großen, die deutlichen, die riesenhaft in die Augen fallenden Winke nicht beachtet, welche das Leben selbst erteilt? Und wenn sich hundert Kaiserinnen und tausend Königinnen vereinen, um ihre Stimmen für den sogenannten ewigen Frieden zu erheben, was wäre der Chor dieser Stimmen gegen den fürchterlichen, ununterbrochenen Schrei des Blutes, welches von Anfang an bis heute vergossen worden ist, ohne daß auch nur ein einziges Jahr erschien, von dem man sagen könnte, daß es Friede auf Erden gab.«

»Die Herrscher und Fürsten beschicken Friedenskonferenzen,« sagte ich, »auf denen - -«

»Auf denen man den Krieg, nicht aber den Frieden organisiert!« unterbrach mich Marah Durimeh.

»Man humanisiert den Krieg!«

»Das heißt, man tötet schneller und schmerzloser, aber - man tötet! Ich sage Dir, mein Freund, der stolze Krieg steigt nie zum Frieden herab, um ihm die Hand zu reichen, sondern der Friede muß zu ihm empor, um ihn, der ewig widerstreben wird, herabzuschmettern. Hat der Krieg eine eiserne Hand, so habe der Friede eine stählerne Faust! Nur die Macht imponiert, die wirkliche Macht. Will der Friede imponieren, so suche er nach Macht, so sammle er Macht, so schaffe er sich Macht. Du siehst, daß der Friede niemals wirklich Friede sein kann. Er ist es nur so lange, als er die Macht besitzt, es zu sein. Er hat stets auf Vorposten zu stehen. Sobald er sich beschleichen und überfallen läßt, tritt der Feind an seine Stelle. Alle Rüstung der Erde und alle Rüstung ihrer Völker war bisher auf den Krieg gerichtet. Als ob es unmöglich wäre, in eben derselben und noch viel nachdrücklicherer Weise auf den Frieden zu rüsten! Begreifst, Du was ich meine?«

»Ich verstehe Dich,« antwortete ich. »Krieg oder Friede. Wer von beiden die größere Macht besitzt, der wird herrschen. Woher aber bezieht der Krieg seine Macht?«

»Das wirst Du in Ardistan sehen.«

»Und woher der Friede die seinige?«

»Das sollst Du in Dschinnistan erfahren. Heute, in diesem Augenblicke, ist nicht die Zeit, über diese Fragen viele Worte zu machen. Worte tun es überhaupt nicht, sondern Taten müssen geschehen. Ihr habt Kriegswissenschaften, theoretische und praktische. Und ihr habt Friedenswissenschaften, theoretische, aber keine praktischen. Wie man den Krieg führt, das weiß jedermann; wie man den Frieden führt, das weiß kein Mensch, Ihr habt stehende Heere für den Krieg, die jährlich viele Milliarden kosten. Wo habt Ihr Eure stehenden Heere für den Frieden, die keinen einzigen Para kosten, sondern Milliarden einbringen würden? Wo sind Eure Friedensfestungen, Eure Friedensmarschälle, Eure Friedensstrategen, Eure Friedensoffiziere? Mehr Fragen will ich jetzt nicht fragen. Denn alle, alle diese Fragen werden sich in Ardistan vor Dir erheben, und die Antworten werden Dir in Dschinnistan erscheinen, doch nur dann, wenn Du die Augen offenhältst. Dein Ritt nach diesen beiden Ländern ist ein Studien- und Übungsritt, und was Du Dir da geistig aneignest, das betrachte als meinen Dank für die Bereitwilligkeit, mit der Du meinen Auftrag übernimmst. Diese beiden Länder werden Dir ein ziemlich treues Bild der Erde bieten, der Erde, ihrer Bewohner und aller möglichen Verhältnisse, in denen die Völker zueinander stehen. Und wenn Dir da Rätsel begegnen, die Du nicht lösen kannst, so denke an das Bild, welches ich Dir jetzt entwerfe.«

Sie machte eine langsame, andeutende Armbewegung nach dem Osten und fuhr dann fort:

|9A »Da hinten ist die gelbe Rasse aus einem langen, tiefen Schlaf erwacht. Sie regt nur erst die Glieder. Sie beginnt erst frei zu atmen. Wehe, wenn sie, ihre Kräfte fühlend, vom Lager aufspringt, um zu zeigen, daß sie genau so wie andere berechtigt ist, zu leben!«

Hierauf machte sie eine Armbewegung nach dem Westen und sprach weiter:

»Da drüben liegt Amerika, das Ihr so falsch als >Neue Welt< bezeichnet. Dort lebt der rote Mann, von dem Ihr meint, daß er dem Untergang gewidmet sei. Ihr irrt. Dieser rote Mann stirbt nicht. Kein Portugiese, kein Spanier, kein Englischmann, kein Yankee hat die Macht, ihn auszurotten. Und der Deutsche geht nicht hinüber, um des Indianers Feind zu sein. Sie haben beide das, was wohl kein anderer hat, nämlich Gemüt, und das wird sie vereinen. Der sogenannte >sterbende< Indianer wird wieder aufstehen. Es gibt ein übermächtiges, weltgeschichtliches Gesetz, welches befiehlt, daß der mit dem Schwert Besiegte mit dem Spaten dann der Sieger sei. Der gegenwärtige Yankee wird verschwinden, damit sich an seiner Stelle ein neuer Mensch bilde, dessen Seele germanisch-indianisch ist. Diese neue amerikanische Rasse wird eine geistig und körperlich hochbegabte sein und ihren Einfluß nicht auf die westliche Erdhälfte allein beschränken. Sie wird sich aller Ideale und aller geistigen Triebkräfte des Abendlandes bemächtigen, und wehe dem alten Europa, wenn es dem nichts anderes entgegenzusetzen hat, als nur die alten Vorurteile, die alte Selbstüberhebung, die alten Kultursünden und - - die alten Kanonen! Denn auch der Orient beginnt schon, sich zu regen. Er streckt die Glieder; er prüft die Muskeln, die Gelenke. Er glaubt, was Japan konnte, das könne er auch! Der Riese Islam, dessen mächtige Gestalt auf europäischer, asiatischer und afrikanischer Erde ruht, fürchtet sich nicht vor der scheinbaren Übermacht des Abendlandes. Das Kismet, an welches er glaubt, ist unwiderstehlich im Angriff und von unendlicher Ausdauer. Es wiegt die Übermacht der europäischen Waffen auf. Gebt dem Morgenlande gute Führer, so wird es siegen. Und siegt es nicht, so wird sein Untergang zugleich der Eure sein. Die gelbe Rasse wird sich dann mit der germanisch-indianischen in die Herrschaft über die Erde teilen. Und warum? Weil das Abendland nicht groß, gerecht und edel genug war, seine angeblichen >Interessensphären< einer humanen Nachprüfung zu unterwerfen und sich mit dem Morgenlande auszusöhnen!«

»Sich mit dem Morgenlande auszusöhnen?« fragte ich. »Das ist falsch. Es muß heißen, das Morgenland mit sich auszusöhnen, denn nicht das Abend- sondern das Morgenland ist der beleidigte, der schwer gekränkte, der unterdrückte Teil. |9B Fast alles, was das Abendland besitzt, hat es vom Morgenlande. Seine Religion, seine Kraft, seine Wissenschaft, seine ganze Bildung und Gesittung, seine Cerealien, seine Früchte. Den ganzen Grund und Boden seines äußeren und inneren Lebens. Und was es nicht unmittelbar von ihm hat, dazu ist doch wenigstens der Anstoß von ihm ausgegangen. Wie unendlich groß ist der Dank, den wir ihm schuldig sind! Und wie haben wir ihm gelohnt? Wie und womit?«

»Du fragst sehr richtig, sehr richtig!« antwortete Schakara. »Wie habt Ihr uns gelohnt, und womit? Nachdem wir Euch alles gaben, was wir besaßen, nur unsere Erde nicht, denn die gehört nicht uns, sondern Gott, kommt Ihr mit allerlei Listen und Waffen, uns auch noch diese wegzunehmen! Hätte Euch der Orient weiter nichts, weiter gar nichts, als nur das eine, einzige Wort gegeben, >Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm<, so könntet Ihr ihm diese eine Gabe nicht mit allen Sonnen, Monden und Sternen belohnen, soviele ihrer auch am Himmel stehen; Ihr aber habt nicht nur hierfür, sondern überhaupt für alles, was Ihr bekamt, keine einzige Tat des Dankes, sondern nur Blut und Krieg und Neid und Haß gegeben.«

»Wenn Du das im Abendlande sagtest, würde man darüber lachen, o Schakara,« warf ich ihr zu. »Man behauptet dort das gerade Gegenteil von dem, was Du behauptest. Man glaubt, dem Morgenlande Wohltat über Wohltat zu erweisen, indem man sich in seine Wohnung drängt - - -«

»Um ihm die Liebe aufzudringen, die es nicht mag, weil sie die falsche ist,« fiel Marah Durimeh ein. »Ich spreche nicht von der Mission, ich spreche von der Nächstenliebe der europäischen Politik. Man zeige mir ein Herz, welches durch sie gewonnen worden wäre! Es gibt keines, kein einziges! Und doch ist es die größte, die wichtigste, ja die heiligste Aufgabe des Abendlandes, das Herz des Orients zu gewinnen, wenn es zukünftige Kämpfe vermeiden will, aus denen es wohl kaum als Sieger hervorzugehen vermag. Und nicht nur nach der Liebe des Orients hat es zu trachten, sondern auch nach seiner Achtung, seinem Vertrauen!«

»Aber wie?« erkundigte ich mich.

»Das fragst Du, der Du doch schon längst auf dem rechten Wege bist, Dir alles dieses zu gewinnen? In allen Büchern, die Du schreibst, lehrst Du die Liebe zu dem Morgenlande! Aus allen Deinen Schriften lächelt die Seele des Orients - sehnsüchtig, wehmutsvoll! Es ist ein Lächeln durch Tränen! Wärst Du das Abendland, Du hättest den Orient wohl schnell gewonnen, denn Du liebst ihn, und Du kommst nicht, um ihn auszunützen. Aber Du bist nur ein einzelner Mensch, und es müßten außer Dir |10A und denen, die Dich lesen, noch viele, viele Tausende kommen, um in demselben Sinne zu wirken und zu leben. Man schicke, so wie Du, die deutsche Kunst ins Morgenland! Da lernt man es am besten kennen und lieben. Man sende auch die Wissenschaft, doch nicht nur, um in Babylon nach alten Steinen zu graben, sondern um überhaupt nach dem ruhenden Geist des Orients zu suchen. Die Wege, welche vom Abendlande zum Morgenlande führen, sollen nicht mehr Wege des Krieges, sondern Pfade des Friedens sein! Laßt Waffen- und Soldatentransporte verschwinden! Der Handel blühe! Die Wohlfahrt eile freudig hin und her, um Zwiste auszugleichen, Schäden zu heilen und Segen zu verbreiten! Dann wird der Mensch des Menschen würdig sein. Und wenn die große, schwere Stunde kommt, in der im fernen Westen wie im fernen Osten die Schicksalsfrage: ob Krieg oder Friede klingt, dann werden beide, der Orient und das Abendland, als unüberwindliche, weltgebietende Freunde beieinander stehen und die Völker der Erde zwingen, ihre Schwerter verrosten zu lassen!«

»Wann wird das sein?« fragte ich »Wie bald, wie spät?«

»Geh nach Dschinnistan; dort wird die Stunde schlagen,« antwortete sie. »Jetzt bin ich mit der Vorrede zu Ende, und das Werk kann nun beginnen. Ich führe Dich zur Bibliothek, um Dir die Karten und sonstigen Quellen zu zeigen, aus denen Du Dir Vorbereitung holst.«

Wir verließen den Söller und gingen zur Bücherei. Während ich da in den vorhandenen Werken nachschlug, um mich für die geplante Reise zu orientieren, gab Marah Durimeh den Befehl, »Wilahde«, das Segelschiff, für morgen klar zu machen. Später brachte sie mir den heute von Dschinnistan zurückgekehrten Boten, mit dem es eine längere Besprechung gab, die mir für späterhin von großem Nutzen war. Dann, gegen Mitternacht, war ich allein und ging, wie ich es täglich tat, bevor ich mich niederlegte, noch einmal hinunter zu den Pferden. Sie waren das so gewohnt, daß sie gewiß nicht eingeschlafen wären, wenn ich es einmal vergessen hätte, ihnen diesen Besuch zu machen.

Sie waren nicht allein. Halef befand sich bei ihnen. Er saß im Grase. Ich grüßte ihn; er antwortete nicht. Ich grüßte abermals; er schwieg noch immer. Ich grüßte zum dritten Male; auch da war er still. Da sagte ich:

»Gute Nacht, Halef!« und tat, als wollte ich gehen. Das wirkte. Er rief sehr schnell:

»Gute Nacht, Sihdi! Aber denke ja nicht etwa, daß Du mich hierdurch zum Sprechen bringst! Ich schweige!«

»Warum?«

»Weil ich schmolle.«

»Mit wem?«

»Mit Dir! Oder meinst Du mit den Pferden? Die besitzen mehr Bildung des Herzens und bessere Formen des persönlichen Umganges als Du! Wärst Du mein Weib, so würde ich dreimal zu Dir sagen >Wir sind geschieden!< Dann müßtest Du meinen Harem verlassen und könntest meinetwegen bei jedem anderen Manne unterkommen, aber ja nicht wieder bei mir!«

»So schlimm steht es?«

»Ja, sehr, sehr schlimm! Ich rede nicht mehr mit Dir!«

»Aber ich höre doch, daß Du sprichst!«

»Ich rede nicht für Dich, sondern nur für mich, weil Du sonst gleich wieder davonläufst und ich dann gar nichts erfahre! Oder soll ich gar nichts wissen und gar nichts hören und gar nichts erfahren? Ganz und gar nichts mehr?«

Er sprang aus dem Grase auf, trat nahe an mich heran und fuhr fort:

»Sihdi, Du weißt, wie ich Dich liebe. Ich stelle Dich dreimal, fünfmal, ja zehnmal höher als das schönste Reitkamel vom Stamme der Bischaren. Meine Achtung für Dich reicht höher, als der allerlängste Pfahl meines Zeltes. Und meine Treue zu Dir ist grenzenloser als ein Krug, der keinen Boden hat. Ich bin mit Dir geritten, gelaufen und gefahren durch alle Länder, die auf Erden sind, nur einige wenige abgerechnet, die nicht in der Nähe lagen. Ich habe mit Dir gehungert und gedürstet, gefroren und geschwitzt. Ich habe Dich geärgert, und Du hast mich geärgert. Dadurch sind unsere Seelen eng miteinander verbunden, fast noch enger als zwei Maultiere, denen man eine Sänfte aufgeladen hat. Und diesen schönen Bund |10B der Herzen willst Du zerreißen, willst Du entzweien, willst Du behandeln wie eine kurdische Hose, deren zwei Beine Du vom Bauche bis zum Rücken mitten auseinanderschneidest! Was habe ich Dir getan, daß Du von unserer unendlichen Zusammengehörigkeit so plötzlich nichts mehr wissen willst? Ich fordere Antwort, sofortige Antwort. Du kannst sie mir nicht verweigern. Du hast keinen gewöhnlichen Mann vor Dir. Ich bin Hadschi Halef Omar, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen, berühmten Stamme der Schammar. Weißt Du das?«

»Das weiß ich wohl. Aber, warum Du mir in so gar entsetzlicher Weise zürnst, das weiß ich nicht.«

»Nicht? Wirklich nicht? Sollte ich falsch berichtet worden sein? Sihdi, sei so gut und schau hinunter nach dem Hafen. Siehst Du das Schiff im Schein des Mondes liegen?«

»Ja.«

»Und siehst Du die Lichter, die sich auf dem Verdeck und im Innern bewegen?«

»Ja. Die Lücken sind alle erleuchtet.«

»Das sind Menschen, Menschen, die das Fahrzeug vorzubereiten haben, den Hafen zu verlassen. Weißt Du, wohin es fährt?«

»Nach Ardistan.«

»Und wer ist es, den es dorthin zu bringen hat?«

»Warum soll ich es nicht wissen, da Du es auch schon weißt.«

Der kleine, leicht zornige Mann wollte mir die Leviten lesen. Er besaß ein großes, leicht erregbares Ehrgefühl. Er hatte erfahren, daß wir morgen nach Ardistan fahren würden, anstatt in die Heimat zurückzukehren, und daß ich nicht sofort und direkt zu ihm gelaufen war, um ihm dies mitzuteilen, das hatte ihn beleidigt. Daß ich gewiß noch nach den Pferden sehen würde, das wußte er bestimmt. Darum hatte er sich hierhergesetzt, um mich abzulauern und mir die wohlverdiente Strafpredigt zu halten. Dergleichen Szenen waren nicht allzu selten. Sein Ärger war in allen solchen Fällen in hohem Grade ernst gemeint; ich aber pflegte der Sache so viel wie möglich eine humoristische oder für ihn überhaupt unerwartete Wendung zu geben, die ihn verblüffte. So auch hier.

»Ja, auch ich weiß es, auch ich weiß es,« rief er in seinem vorwurfvollsten Tone. »Aber nicht von Dir, sondern von fremden Menschen!«

»Genau so wie ich! Auch ich habe es von fremden Menschen erfahren, nicht aber von Dir!«

Da stutzte er. Er ahnte, daß ich jetzt wieder einmal im Begriff stand, den gegen mich gerichteten Spieß herumzudrehen. Dann fuhr er fort:

»Um es von Dir zu erfahren, mußte ich erst hierher zu den Pferden!«

»Ich ebenso! Und doch wäre es Deine Pflicht gewesen, sofort zu mir zu kommen, sobald Du es erfahren hattest. Aber anstatt dies zu tun, hast Du mir zugemutet, Dir nachzulaufen, bis ich Dich hier traf! Das muß ich mir verbitten, hörst Du, Halef, verbitten!«

Da trat er einige Schritte zurück und wiederholte in höchst erstauntem Tone den Gedankengang meiner Rede:

»Mein Pflicht - - -! Sofort zu Dir - - -! Zugemutet - - -! Nachzulaufen - - -! Verbitten - - -! Effendi, ich bin starr! Ja, bitte, erlaube mir starr zu sein, vollständig starr! Ich bin hierhergekommen, um Dir die niederschmetternde Gewalt meiner Vorwürfe in das Gesicht zu schleudern, und der nun schleudert, der bin nicht ich, sondern der bist Du! Und das Schlimmste dabei ist, daß es mir so vorkommt, als hättest Du ebenso recht wie ich.«

»Ebenso wie Du? Was fällt Dir ein! Wenn überhaupt nachgelaufen werden muß, wer ist es da, der nachzulaufen hat? Ich Dir oder Du mir?«

»Nicht Du, sondern ich!« gestand er ehrlich ein.

»Und doch bist Du nicht zu mir gekommen, sondern ich habe zu Dir müssen! Halef, Halef, das war früher nicht! Da warst Du pflichtgetreu! Da wärst Du mir rund um die Erde nachgelaufen, um mir mitzuteilen, daß etwas Wichtiges geschehen sei. Heut aber setzest Du Dich faul in das Gras und wartest, bis ich komme!«

Da trat er noch um einen Schritt weiter zurück, schlug die Hände erschrocken zusammen und stöhnte:

|11A »Faul in das Gras! Faul, faul! Ist so etwas möglich! Das geht mir über alle meine Begriffe. Ich und faul! Aber ich bin wirklich hierher gelaufen, anstatt zu Dir! Ich habe wirklich hier im Gras gesessen! Und ich habe wirklich gewartet, bis Du kamst! Das ist nicht abzuleugnen, obwohl Du vor mir stehst wie einer, der es darauf abgesehen hat, mich auf den Turban meiner Gedanken zu setzen, anstatt ihn mir auf den Kopf zu tun! Ich fühle mich ganz wirr hinter der Stirne und bitte Dich, mir zu verzeihen, daß ich nichts von Dir erfahren habe!«

Ich mußte mir Mühe geben, ernst zu bleiben, und fragte ihn:

»Wer war es, der es Dir sagte?«

»Der Oberste des Schiffes, der an mir vorüberging, als er sich an Bord begab. Ich habe mit ihm gesprochen. Wir werden über drei Tage lang auf dem Wasser sein, ehe wir die Küste von Ardistan zu sehen bekommen. Weißt Du, wie lange wir dort zu bleiben haben?«

»Nein. Es kann Monate dauern, aber auch Jahre.«

»Allah, Allah! Auch Jahre?«

»Ja. Ich weiß, Du freust Dich, die Heimat nun bald wiederzusehen - - -«

»Nicht nur die Heimat,« fiel er ein, »sondern auch Hanneh, mein Weib, die schönste und die lieblichste Blume unter allen Blumen, die es auf der Erde gibt. Und Kara Ben Halef, der Sohn meines Herzens, den ich erzogen habe zum klügsten und besten der Menschen, die unter der Sonne wohnen.«

»Und nun sollst Du nicht heim, sondern mit nach Ardistan und Dschinnistan. Das tut Dir leid!«

»Leid? Nein! Ich will Dir zwar ehrlich gestehen, daß ich lieber zu Weib und Kind zurückgekehrt wäre; aber es gibt zwei Punkte, die wohl zu erwägen sind. Der eine Punkt bist Du. Es ist mir unmöglich, Dich zu verlassen. Ich reite mit Dir, bis die Erde unter den Hufen unserer Pferde aufhört, und auch dann noch immer weiter und weiter! Und der zweite Punkt ist die Freude an der Gefahr. Und Gefahren wird es geben, mehr als Du denkst und ahnst. Das sage ich Dir voraus!«

»Wirklich?«

»Ja. Ich war zwar noch niemals dort, und es gibt überhaupt nur sehr wenige Menschen, die einmal dort gewesen sind, aber man hat mir viel davon erzählt, und was ich da gehört und erfahren habe, das könnte mir nicht nur Furcht und Angst, sondern gar Schrecken und Entsetzen einjagen, wenn ich nicht Hadschi Halef Omar wäre, der oberste Scheik der Haddedihn vom großen und berühmten Stamme der Schammar. Du weißt, Effendi, daß es für einen Haddedihn unmöglich ist, sich zu fürchten. Auch Du kennst keine Furcht. Darum kann ich Dir erzählen, was ich über Ardistan und Dschinnistan erfahren habe. Einem anderen müßte ich es verschweigen, sonst zöge es ihm die Haut vom Rücken los. Darf ich?«

»Ja.«

»So höre!«

Unsere Pferde lagen vor uns, um die allabendliche Liebkosung zu erwarten. Wir setzten uns zu ihnen nieder, Halef zu Assil Ben Rih und ich zu Syrr, der mir die Hände zärtlich leckte und mich hierdurch bat, ihm Hals und Mähne zu krauen.

»Ardistan und Dschinnistan liegen nebeneinander,« begann Halef seinen Bericht, »oder vielmehr übereinander. Denn Ardistan liegt an der See und wird nur von einigen, nicht sehr bedeutenden Höhen durchzogen; Dschinnistan aber steigt bis zu den höchsten Bergen auf, die es auf Erden gibt. Die eigentliche Grenze zwischen den beiden Ländern kennt niemand; sie ist unbestimmt. In Ardistan herrscht ein 'Mir, und in Dschinnistan herrscht ein 'Mir. Dieses Wort ist die Abkürzung von Emir, was soviel wie Fürst bedeutet. Der 'Mir von Ardistan ist ein Teufel, und der 'Mir von Dschinnistan ist ein Engel.«

»Können Menschen Engel oder Teufel sein?« fragte ich.

»Jawohl,« antwortete er. »Denn Hanneh, mein Weib, die kostbarste Perle unter allen Perlen des Meeres und der Flüsse, ist ein Engel. Das weiß ich, und das beschwöre ich. Und auf der anderen Seite weißt Du ebenso gut, daß es auch Frauen gibt, welche Teufel sind. Und was die Weiber können, das können wir Männer wohl auch. Wenn Du der Wahrheit die Ehre geben willst, so mußt Du sagen, daß ich ein Engel bin, und aus Dankbarkeit leiste ich Dir dann denselben Dienst. Übrigens |11B erzähle ich nur das, was ich gehört habe, und ob Du es glaubst, das ist nicht meine Sache, sondern Deine. Ich aber glaube es!«

»Und fürchtest Dich nicht?«

»Fürchten? Vor wem? Etwa vor dem 'Mir von Dschinnistan? Der ist ja ein Engel, und vor Engeln hat man doch keine Angst! Oder vor dem 'Mir von Ardistan? Der ist ja ein Teufel, und ich habe, solange ich lebe, stets den Wunsch gehabt, den Satan kennen zu lernen. Und nun, da mir dieser Herzenswunsch endlich, endlich in Erfüllung geht, soll ich mich vor ihm fürchten? Im Gegenteil, ich freue mich auf ihn! Übrigens, ob Engel oder Teufel, ist ganz gleich; es kann uns weder der eine noch der andere etwas schaden, denn alles, was mit uns geschieht, ist im Buche des Lebens vorgezeichnet, und nur Allah allein kann etwas daran ändern; dem aber fällt es ganz und gar nicht ein, gerade Deinet- oder meinetwegen eine Änderung vorzunehmen. Du hast von diesen beiden Gegenden wohl überhaupt noch nie etwas gehört und noch nie etwas gelesen?«

»Etwas Bestimmtes nicht. Doch vorhin gab mir Marah Durimeh Karten und Bücher, aus denen ich mich unterrichten kann. Ich nehme sie mit auf das Schiff, um sie während unserer mehrtägigen Fahrt zu studieren.«

»Und dann etwa mitzuschleppen?«

»O nein. Das wäre Torheit.«

»Ich gebe überhaupt auf solche Dinge nichts. Solche Karten sind doch nur mit Tinte gezeichnet, und die Tinte läuft bekanntlich, wohin sie will. Und mit den Büchern steht es noch schlimmer. Bücher zu schreiben, ist eine saure Arbeit. Nur dumme Menschen können so töricht sein, solche Arbeit zu verrichten. Wer klug ist, der sagt, was er weiß, der gibt sich nicht die ungeheure Mühe, es erst niederzuschreiben, dann wieder abzudrucken und es schließlich vorzulesen. Darum dient mir jedes Buch, welches ich in die Hand bekomme, als sicherer Beweis, daß der, welcher es schrieb, ein Esel ist. Und mit den Produkten solcher armer, beklagenswerter Geschöpfe solltest Du Dich auch auf dem Schiff nicht schleppen! Ich bin sehr begierig auf die Narrheiten, die in diesen Büchern stehen werden. Wenn Du klug bist, so hörst Du nicht auf sie, sondern auf mich. Hast Du denn schon hineingeschaut?«

»Ja.«

»Und auch gelesen?«

»Ja.«

»Stand etwas darin von fliegenden Menschen?«

»Nein.«

»Von Menschen mit Krokodilsköpfen?«

»Nein.«

»So taugen diese Bücher nichts! Es gibt in Ardistan Menschen, welche Krokodilstränen weinen. Hieraus folgt, daß sie Krokodilsköpfe haben müssen. Die Krokodilstränen sind Stück für Stück genau so groß wie ein Straußenei und werden - -«

»Von Elefanten ausgebrütet, nicht wahr?« fiel ich laut lachend ein.

»Du lachst?« zürnte er. »Bei so ernsten Dingen? Effendi, Effendi, nimm dich in acht. Die Bücher haben schon manches menschliche Gehirn verschoben und verschroben. Wie ungeheuer schädlich sie sind, kannst Du schon daraus ersehen, daß ein jeder, der in ein Buch vernarrt ist, sich auf das Sofa legt, um es zu lesen, und gerade das Sofa ist doch jedenfalls nur dazu da, daß man entweder nichts tue oder um einzuschlafen. Ich bitte Dich nochmals, laß Dich warnen! Vielleicht steht auch das nicht in den Büchern, daß Ardistan das Land der Flöhe, der Läuse, der Wanzen und Soldaten ist?«

»Allerdings nicht.«

»So wirf sie weg, Effendi, wirf sie weg, denn Bücher über Ardistan, in denen nichts von diesen Dingen steht, haben keinen Wert! Nimm alle Deine Gedanken in eine Hand zusammen und merke auf, was ich Dir sage! Ich werde Dir nicht nur die beiden Länder beschreiben, sondern auch die Menschen, die Tiere, die Pflanzen und dazu auch noch alles andere, was Du wissen mußt und doch jetzt noch nicht weißt. Höre mir zu! Du wirst hören, daß das, was ich in meinem Kopfe habe, tausendmal mehr wert ist als alle Bücher, alle Karten und alle Pläne, die sich nicht darin befinden. Merke also auf!«

|12A Halef begann nun einen Vortrag von so ungeheuerlichem Inhalte, als ob er alle Unmöglichkeiten der Geographie, Geschichte und Naturgeschichte extra für diese Mitternachtstunde zusammengesucht habe, um mich um den Verstand zu bringen. Und das tat er mit einem Ernste und einer Überzeugung, als gälte es zum mindesten die Seligkeit oder irgend einen andern der höchsten Geistespunkte unsers Lebens. Ich habe viel Phantastisches gelesen und viel Phantastisches gehört, so etwas aber doch noch nicht. Darum verhielt ich mich zunächst ganz still, als er fertig war, denn ich fand nicht die rechten Worte, mein Erstaunen über den Unsinn auszudrücken, den er mich glauben machen wollte. Er aber legte diesem Schweigen ganz andere Gründe unter.

»Nicht wahr, Du bist ganz weg, Sihdi?« fragte er. »Meine Kenntnisse haben Dich übermannt. Die Schönheit meiner Sprache, die Erhabenheit meiner Bilder, die Unbesiegbarkeit der Wahrheiten, die ich Dir vorgetragen habe! Ja, so etwas findest Du in keinem Buche, mag es nun gedruckt oder mag es geschrieben sein! Aber ich bin müd geworden von diesem vielen und anhaltenden Sprechen. Du nicht auch?«

»Nein, denn ich war still.«

»So kannst Du noch bleiben, ich aber muß schlafen gehen.«

»Allah sei Dank!«

Er hatte schon aufstehen wollen, ließ sich aber bei diesen meinen Worten wieder niederfallen und fragte:

»Wie meintest Du das? Was wolltest Du jetzt sagen?«

»Daß Du Dir die Ruhe verdient hast, welche der Schlaf zu bringen pflegt.«

»So! Das ist etwas anderes! Man weiß bei Dir nicht immer gleich, wie Du es meinst. Du hast zuweilen Ausdrücke, die etwas ganz anderes ausdrücken, als was durch sie ausgedrückt wird. So dachte ich auch hier; nun aber bin ich beruhigt. Lelatak mubarake - - Deine Nacht sei gesegnet!«

Nun stand er auf.

»Die Deine auch,« antwortete ich.

Er ging drei oder vier Schritte fort, blieb überlegend stehen, wendete sich dann wieder nach mir um und sagte:

»Effendi, ich bin froh, daß es morgen fortgeht, daß wir nicht länger hier bleiben.«

»Warum?«

»Es gefällt mir nicht!«

»Höre, Halef, das ist undankbar! Eine Gastfreundschaft, wie hier, haben wir noch nie gefunden!«

»Das ist wahr. Aber was nützt mir die Gastfreundschaft, wenn sie mir grad das nicht bietet, was mir das Liebste ist.«

»Was meinst Du da?«

»Den Ernst.«

»Den Ernst? Wieso? Ich meine doch, daß wir uns bei sehr ernsten Personen befinden.«

|12B »Das dachte ich auch, aber es stellte sich sehr bald heraus, daß es ein Irrtum war. Es gibt hier keinen Ernst!«

»Wirklich?«

»Ja. Sie lachen alle, alle!«

Ah, jetzt wußte ich, was er meinte. Er ärgerte sich darüber, daß man seine Übertreibungen für das nahm, was sie waren, und sich auch gar keine Mühe gab, ihm dies zu verbergen.

»Sie lachen?« fragte ich. »Über was? Über wen? Doch nicht etwa über mich?«

»Über Dich? Sihdi, das wollte ich ihnen nicht raten; da haute ich einfach zu! O nein, über mich lachen sie, über mich! Da solltest eigentlich Du zuhauen!«

»Sehr gern, sehr gern, nämlich, wenn ich es sehe!«

»Das ist es eben, was mich ärgert. Du bekommst es gar nicht zu sehen, sondern nur ich. Vor Dir haben sie Achtung; vor Dir verbergen sie es; vor mir aber nicht! Je größer, je schöner und je wunderbarer die Sachen sind, die ich ihnen erzähle, um ihr Staunen zu erregen, desto deutlicher wird ihr Lachen und desto weniger glauben sie mir. Das ist beleidigend, das ist niederträchtig; das holt meinen Zorn aus mir heraus und steckt ihn doch immer wieder in mich hinein, weil es mir als Gast verboten ist, grob zu werden. Dieser ewig hin- und hergehetzte Zorn macht mich krank. Er verdirbt mir den Appetit. Ich verliere das Fleisch. Ich fühle mehr und mehr, daß ich nicht hierher gehöre und daß ich zu vornehm bin für die Personen, bei denen ich hier wohne. Warum wohne ich nicht auch, wie Du, bei Marah Durimeh und Schakara? Die lachen nicht! So bin ich also froh, daß wir nicht länger bleiben! Lelatak sa'ide - - Deine Nacht sei glücklich!«

Er ging.

»Die Deine ebenso,« antwortete ich.

Da blieb er noch einmal stehen.

»Effendi, erlaubst Du mir eine Frage?«

»Ja, aber nur unter der Bedingung, daß Du dann wirklich gehst.«

»Ich gehe dann, gewiß!«

»So sprich!«

»Früher erlaubtest Du mir, meine Nilpferdpeitsche in den Gürtel zu stecken. Das war eine Lust. Wenn niemand mehr Verstand haben wollte, meine Kurbatsch die hatte ihn. Dann wurdest Du plötzlich gebildet und human. Du verbotest mir die Peitsche. Das tat mir wehe. Denn je weher man dem Feinde tut, desto wohler tut man dem Freund. Seit ich die Kurbatsch wegstecken mußte, haben wir kein wirkliches, kein großes Abenteuer mehr erlebt. Hierzu kam, daß Du auch auf den Gebrauch Deiner Gewehre verzichtetest. Der schwere, sicher treffende Bärentöter, der fünfundzwanzigschüssige Henrystutzen, mit denen Du uns aus so vielen Gefahren rettetest, sie wurden weggepackt. Du wolltest Dich nicht mehr auf die Waffen, sondern |13A auf die Liebe, auf die Humanität verlassen. Aber weißt Du, was dann kam? Was die Folge war?«

»Ich weiß es wohl,« gestand ich ein.

»Nun, was?«

»Die Vorsicht trat an Stelle des Mutes. Wir erlebten nichts mehr.«

»Ja, so ist es! Die Humanität brachte uns um die Abenteuer. Wir erlebten nichts mehr. Und nun kommt meine Frage: Soll das in Ardistan und Dschinnistan auch so sein? Willst Du auch dort den Waffen Schweigen gebieten?«

»Nein.«

Da kam er mit einem großen Freudensprunge auf mich zu, faßte meine Hand und rief:

»Nicht, wirklich nicht, Effendi?«

»Ich sage, nein.«

»Warum?«

»Weil es Wahnsinn wäre, in einem Lande, wie Ardistan ist, auf sie zu verzichten. Ich bin überzeugt, es wäre unser sicherer Tod.«

»Handulillah, Handulillah! Es wird wieder geschossen! Es wird wieder gestochen! Und es wird wieder gehauen!«

Er drehte sich fünf-, sechsmal um sich selbst und machte dabei die Armbewegung, als ob er eine Peitsche in der Hand habe.

»Gehauen? Wieso?« fragte ich, indem ich mich stellte, als ob ich ihn nicht begreife.

Er antwortete:

»Du meinst doch, daß ich den Bärentöter, den Henrystutzen, das Jagdmesser und die Revolver wieder auspacken darf?«

»Allerdings.«

»Und meine alte, gute, arabische Flinte auch, und das Doppelgewehr, welches Dein Geschenk ist, auch, und die beiden Pistolen auch?«

»Ja. Wir schleppen dann wieder ein ganzes Arsenal mit uns herum!«

»Und weißt Du, was zu diesem Arsenal gehört, ganz unbedingt, ganz unbedingt zu ihm gehört?«

»Was?«

»Die Kurbatsch, die Peitsche, die Nilhautpeitsche!«

»Oho!«

»Ja, die Peitsche!« jubelte er. »Du weißt doch ebenso wie ich, was ich alles mit ihr erreicht habe! Sie macht den Ungehorsamen gehorsam, den Stolzen demütig, den Untreuen treu, den Zweifler gläubig, den Geizigen wohltätig, den Groben höflich, den Langsamen schnell, den Zornigen sanft und, wenn es sein muß, sogar den Toten lebendig! Sihdi, sag, darf ich sie mit auspacken?«

Er beugte sich zu mir nieder, strich mir mit der Hand liebkosend über die Wange und bat im liebevollsten seiner Töne:

»Sihdi, wenn Du mich nur noch ein ganz, ganz klein wenig lieb hast, so erlaube mir, daß ich die Peitsche wieder tragen darf! Ich bitte Dich, ich bitte!«

Wer meinen kleinen, lieben Hadschi Halef kennt, der wundert sich gewiß nicht über diese seine Bitte; sie entsprang gewiß aus keiner schlechten Quelle und stützte sich auf die Eigenheiten der orientalischen Verhältnisse. Und wer mich kennt, der weiß, daß auch ich mich nur aus guten Gründen zu der Antwort entschloß, die ich ihm gab:

»So trag sie wieder, Halef; trage sie!«

»Ich darf?« fragte er in einem Tone, der vor Freude beinahe überschnappte.

»Du darfst. Doch stelle ich die Bedingung, daß Du Dich ihrer nur dann bedienen darfst, wenn ich es Dir gestatte.«

»Sehr gern, sehr gern! Ich danke Dir, Sihdi, ich danke Dir! Wie mich das freut! Es ist die größte Freude, die ich mir hier denken kann, wo ich nichts erlebt habe, als nur Ärger! Ich darf die Schurken niederhauen, die Schufte, die Spitzbuben, die Scheusale, die Auswürfe! Ich bin entzückt! Ich muß jubeln! Ich muß tanzen und springen! Und Du, Effendi, Du springst mit! Komm, komm!«

Er faßte mich und zog mich von meinem Sitz empor. Er wollte sich mit mir im Kreise drehen. Ich wehrte mich. Das gab Lärm. Die Pferde sprangen auf. Mein Syrr besah sich die Sache ohne Aufregung; Assil Ben Rih aber wieherte laut |13B auf, als er seinen Herrn in einer so seltenen, freudigen Erregung sah. Das befreite mich von Halef. Er ließ mich los und wendete sich zu dem Rappen:

»Recht so, Assil, recht so! Wenn der Effendi nicht mit mir tanzen will, so tanze ich mit Dir. Du hast mehr Verstand als er. Paß auf! Es geht los!«

Er schwang sich mit einem federkräftigen Satze auf den Rücken des Pferdes, jagte es einige Male im Kreise herum und galoppierte dann fort, hinaus in die mondhelle Nacht. Syrr legte sich wieder nieder. Ich verabschiedete mich von ihm und kehrte nach der Wohnung zurück. Ich bitte, nicht darüber zu lächeln, daß ich sage, ich habe mich von meinem Pferde verabschiedet. Ein so hochedles Roß wie Syrr ist ein ganz anderes Wesen als ein gewöhnlicher Gaul unseres heimischen Schlages, hat ganz andere Regungen, und muß darum auch ganz anders behandelt werden. Wir werden auf dieses ganz eigenartige und hochinteressante Gebiet noch oft zu sprechen kommen.

Es war mir unmöglich, schlafen zu gehen. Der Gedanke, die beiden geheimnisvollsten Gegenden der Erde besuchen zu dürfen, wäre mir zu jeder Zeit von höchstem Interesse gewesen. Hier aber handelte es sich um mehr, als nur um einen gewöhnlichen, zwecklosen Besuch. Ich hatte einen hochwichtigen Auftrag auszuführen. Dieser Auftrag war von Marah Durimeh als eine Mission bezeichnet worden. Worin er bestand, das wußte ich heut noch nicht, aber daß er von größter Wichtigkeit war, darüber gab es keinen Zweifel. Das erweckte in mir das Gefühl einer ungewöhnlichen Verpflichtung, einer außerordentlichen Verantwortlichkeit, welches mich unruhig machte und nach der Bibliothek trieb, wo ich bis zum frühen Morgen über den Büchern und Karten saß, um mir später sagen zu können, daß ich nichts versäumt habe, was nötig gewesen sei, den Anforderungen zu genügen, die Marah Durimeh an mich stellte.

Auch sie war schon früh munter, ebenso Schakara. Sie fanden mich in der Bibliothek. Dann gingen wir zum Frühstück auf den Söller. Dort erfuhr ich, daß die >Wilahde< genau um Mittag die Anker lichten werde. Meine Mission bestand einzig nur darin, dem 'Mir von Dschinnistan so schnell wie möglich einen Brief von Marah Durimeh zu überbringen. Das Wie und Wo wurde den Verhältnissen und meiner Einsicht überlassen. Schakara sollte mich bis zur Stunde unserer Ausschiffung begleiten, um mir bis dahin auf meine Fragen alle ihr mögliche Auskunft zu geben. Dann segelte sie direkt nach Ikbal zurück. Und der Brief, den ich zu besorgen hatte? Der war nicht auf Papier oder einen ähnlichen Stoff geschrieben, und den hätte wohl niemand, auch ich nicht, für einen Brief gehalten, wenn Marah Durimeh nicht gesagt hätte, daß er es sei.

Als unsere Utensilien für die Fahrt verpackt werden sollten, legte sie noch einige Gegenstände bei, von denen sie sich Nutzen für uns versprach. Es befand sich auch ein blank poliertes Brustschild dabei, kein ganzer Panzer für den Oberleib, sondern nur ein Schild, leicht und dünn, der nur bestimmt war, das Herz und die Lunge zu schützen. Er war aus einem mir unbekannten Metall oder einer Metallegierung und so leicht gefügig, daß man ihn unter einem ganz dünnen Gewandstoff tragen konnte, ohne daß er auffiel.

»Diesen Schutz legst Du an, noch ehe Du Ardistan betrittst,« sagte Marah Durimeh.

»Glaubst Du, daß uns dort so große Gefahren drohen?« fragte ich.

»Gefahren wird es geben, nicht wenige und nicht leichte,« antwortete sie. »Aber ich habe keine Sorge um Euch; Ihr werdet sie bestehen. Zwar ist dieser Schild wohl auch zu Deinem Schutz bestimmt und er hat Achselriemen, um auf Deiner Brust befestigt zu werden; aber an diesem Platze hat zugleich auch er den Schutz zu finden, der für ihn nötig ist, und zwar in hohem Grade. Denn er ist ja der Brief, den ich Dir anvertraue.«

»Er? Der Brief?« fragte ich, indem ich ihn nun doppelt aufmerksam betrachtete. »Ich sehe keine Schrift!«

»Du brauchst sie auch nicht zu sehen,« lächelte sie. »Er ist ja nicht an Dich gerichtet. Was Du nicht siehst, das sieht der 'Mir von Dschinnistan. Er wird ihn lesen.«

|14A Auch Schakara lächelte, aber in anderer Weise. Sie nickte nach mir hin und sagte:

»Vielleicht hat er die Schrift erkannt und entziffert, noch ehe er sie dem 'Mir überreicht!«

»Ich würde mich freuen, wenn er es zuweg brächte,« gestand Marah Durimeh. »Aber diese Schrift ist nicht Schrift, sondern mehr. So, wie hier auf diesem Schilde, schreibt man nur in Sitara, dem Lande der Sternenblumen, und diese Schrift kann nur der lesen lernen, der mich, die Herrin dieses Landes, kennt. Versuche, ob es Dir möglich ist, Effendi! Der Unterricht hierzu wird Dir werden, indem Ihr miteinander durch das gefahrvolle Ardistan reitet.«

Das war meine ganze Instruktion. Ich durfte mich zwar als Gesandten fühlen, aber als einen, mit dem man wenig Federlesens macht. Doch war es grad diese Kürze, für die ich mich unendlich dankbar fühlte.

Wir brachte unsere Pferde selbst an Bord. Sie waren so wertvoll, daß wir sie keiner anderen Person anvertrauten. Auch Schakara war dabei, und Marah Durimeh begleitete uns, einfach, bescheiden, wie ein gewöhnliches Weib, von allen, die uns unterwegs sahen, mit Ehrerbietung und Liebe gegrüßt, doch unauffällig, in selbstverständlicher und ungekünstelter Weise. So war der Abschied auch. Sie stand am Ufer und grüßte mit der Hand, als das Schiff den Anker hob. Hierauf ging sie. Kurze Zeit später sahen wir sie auf dem Söller erscheinen. Da stand sie, bis wir sie nicht mehr sehen konnten. Dann verschwand auch der Palast, die Stadt, das dunkle Gebirge, das ganze, uns bekannt gewordene Sitara, und wir sahen nichts mehr, als nur die unendlich weite See, der wir auf Treu und Glauben überliefert worden waren.

Zu jeder anderen Zeit hätte ich mich um das Schiff, seine Bemannung und seine Einrichtung gewiß sehr eingehend bekümmert; jetzt aber hatte ich keine Zeit dazu. Ich mußte jede Minute ausnutzen, um mich zu unterrichten. Die Bücher, welche ich mitgenommen hatte, mußten mit Schakara wieder zurückgehen. Ich hatte sie also bis dahin durchzunehmen und las und las und schrieb und schrieb, um alles, was ich für wichtig hielt, zu notieren. Schakara half mir dabei. Als drei Tage vorüber waren, hatte ich einen ganzen, dicken Stoß von Notizen, deren Wert gar nicht abzumessen war. Mit ihrer Hilfe war es mir möglich, mich in jeder Lage und an jedem Orte zu orientieren.

Es war uns während dieser drei Tage kein anderes Fahrzeug begegnet. Nun näherten wir uns dem Ziele unserer Fahrt. Wir durften erwarten, am Mittag des vierten Tages die Küste von Ardistan zu erreichen, aber auch da bekamen wir kein Schiff, nicht einmal einen Kahn, ein Boot zu sehen. Der Grund hiervon war, daß wir es vermieden, uns einem Hafen zu nähern. Unsere Landung mußte in der größten Heimlichkeit geschehen, und darum wählten wir einen ganz einsamen Teil der Küste, die da völlig unzugänglich zu sein schien, doch gab es eine Stelle, wo eine kleine, schmale Bucht zwar nicht erlaubte, den Anker zu werfen, aber doch Gelegenheit zum Ausbooten gab. Das Land fiel hier überall so schroff und so tief in die See hinab, daß kein Ankertau lang genug war, den Boden zu erreichen.

Kurz nach Mittag tauchte eine dunkle Linie vor uns auf, der wir uns bei gutem Winde näherten. Das war Ardistan, eine niedrige, aus Sumpf und Moor bestehende Küste.

»Das ist Dein Ziel,« sagte Schakara. »Und nun es vor Dir liegt, will ich Dir noch etwas Wichtiges sagen. Du wirst über die Bewohner dieses Landes wenig Freude haben. Sie stehen auf einer noch sehr niedrigen Stufe der Menschlichkeit. Aber es gibt doch hier und da einen Auserlesenen, dem es Bedürfnis ist, sich von dieser Niedrigkeit abzusondern und mit Gleichgesinnten zu vereinigen. So ist ein Bund entstanden, der sich >Insanija< nennt, die >Menschlichkeit<. Leider sieht er sich gezwungen, geheim zu bleiben, weil der 'Mir von Ardistan ihn nicht dulden will. Seine Mitglieder stehen miteinander im Verkehr. Sie sind edle, opferwillige Menschen. Es gibt einige unter ihnen, die Marah Durimeh gesehen oder auch wohl gar gesprochen haben und sie fast vergöttern. Von ihnen hast Du Hilfe zu erwarten, sobald Du Dich an sie wendest. Es wird Dich keiner verraten.«

|14B »Kennst Du ihre Namen?«

»Nein.«

»Ihren Stand, ihren Wohnort?«

»Auch nicht. In diese Geheimnisse unserer Herrin bin ich noch nicht eingeweiht. Aber sie hat mir das Zeichen gesagt, an welchem sie sich erkennen, und mir befohlen, es Dir mitzuteilen.«

»Das ist ja wichtig, in hohem Grade wichtig! Was für ein Zeichen ist es?«

»Jeder Insan - so nennen sich nämlich diese Leute - ist daran zu erkennen, daß er den ersten Blick, den er auf einen ihm bisher Unbekannten wirft, in drei Teile teilt, und zwar dadurch, daß er während desselben die Augenlider zweimal fallen läßt. Es entstehen dadurch drei Blicke an Stelle des einen, doch in so unauffälliger Weise, daß es nur der bemerkt, der es weiß und darum ganz besonders darauf achtet. Schau her zu mir; ich will es Dir zeigen!«

Sie richtete ihr Auge auf mich und teilte diesen Blick durch zweimaliges Senken desselben in drei Teile. Dann mußte ich es ihr nachmachen. Das war sehr leicht.

»Du darfst es eigentlich verlangen,« fuhr sie fort, »daß man Dir dieses Geheimnis mitteilt, denn Du bist ja schon längst Insan, wenn auch kein Bewohner des Landes Ardistan. Doch, paß auf! Die Segel fallen ab!«

Die Segel wurden so gestellt, daß sich die Schnelligkeit des Schiffes verminderte. Wir gingen bis auf eine halbe Seemeile an die Küste heran; dann wurde beigedreht, das heißt, die Segel bekamen eine solche Stellung, daß die Wirkung des Windes aufgehoben wurde. Wir lagen, wie vor Anker. Nun ging das große Boot zu Wasser mit den beiden, darin angebundenen Pferden. Sie verhielten sich ruhig. Übrigens saßen auch die Ruderer bei ihnen. Dann wurde das Fallreep niedergelassen; da stiegen wir nach, Halef und ich, auch Schakara, die das Steuer führen wollte.

Es war kein leichtes Manöver, der Pferde wegen; aber es gelang. An der Bucht standen einzelne Bäume, ganz nahe am Ufer. Das gab uns die Möglichkeit, das Boot derart zu befestigen, daß die Pferde ganz bequem und ohne Gefahr gelandet werden konnten. Sie waren gesattelt. Wir brauchten nur aufzusteigen. Hadschi Halef verabschiedete sich mit großem Redeschwall von Schakara. Dann reichte ich ihr die Hand. Sie sagte nichts, aber ihre Lippen zitterten, und ihre Augen waren feucht. Dann gab sie das Zeichen, das Boot vom Lande zu stoßen. Da legte sich nun das Wasser zwischen uns, die tiefe, die geheimnisvolle See! Als ob diese meine Gedanken auch die ihren seien, rief sie uns nun doch noch zu:

»Effendi, wenn Dir eine Gefahr naht, welche unbezwinglich erscheint, oder wenn die Tränen des Erdenleidens über Dir zusammenfluten, so verliere nicht den Mut, sondern glaube mir, daß Marah Durimeh und Schakara Dir immer nahe sind. Auf Wiedersehen!«

»Auf Wiedersehen!« antwortete ich.

»Nasuf wussak - - auf Wiedersehen!« rief auch Halef.

Dann schoß das Boot von der Küste ab, dem Schiffe wieder zu. Wir beide standen am Land und schauten hinterdrein. Wir sahen das Boot anlegen; wir sahen, daß es aufgewunden wurde. Die >Wilahde< stellte die Segel wieder voll und drehte sich dann unter dem Drucke des wieder festgenommenen Windes von uns ab. Ein weißer Wimpel stieg bis zur Spitze des Hauptmastes empor. Das war der letzte Gruß. Neben mir erklang ein nicht ganz unterdrücktes Schluchzen. - Halef weinte.

»Lach mich nicht aus, Sihdi!« sagte er. »Ich mag von dem Lande Sitara nichts wissen, weil man da über mich lacht, aber heulen muß ich doch. Wozu hat man die Tränen? Die müssen heraus! Ich schelte zwar zuweilen auf die Bewohner dieses Landes, aber lieb sind sie mir doch! Besonders Marah Durimeh und Schakara! Da fährt das Schiff nun hin! Ich setze mich! Und ich sehe ihm nach, bis es verschwunden ist! Eher stehe ich nicht wieder auf!«

Er sprach diese Sätze sehr einzeln und sehr stoßweise aus, im weinerlichen Tone. Ich wußte gar wohl, wie tief er Schakara, unsere junge, edle Freundin, in sein Herz geschlossen hatte. Er setzte sich wirklich |15A auf den Boden nieder, obwohl dieser sehr feucht war, und schaute dem Schiffe so lange nach, bis es am fernen Horizont verschwand. Da stand er wieder auf und sagte:

»Nun ist es vorüber! Der Abschied tut zwar weh, aber wir sind doch keine Kinder, sondern Männer. Und vor allen Dingen wissen wir, daß ein unbekanntes Land und ein Leben voll reicher Abenteuer vor uns liegt. Da müssen wir uns zusammennehmen und tapfer vorwärts schauen, anstatt zurück auf das, was hinter uns liegt. Hast Du alle Deine Sachen beisammen, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich.

»Nichts vergessen?«

»Nein.«

»Ja, allerdings, diese Erkundigung war im höchsten Grade überflüssig, denn vergeßlich bist Du nie gewesen, niemals! Aber erlaube mir die Frage nach Deinem Panzerbrief! Du solltest ihn anlegen, noch ehe Du hier dieses Land betrittst. Hast Du das getan?«

»Ja.«

»Und die Abschriften von den Landkarten, Plänen und viel tausend Namen, die Du angefertigt hast? Die hast Du doch nicht etwa vergessen?«

»Nein.«

»Wo hast Du sie?«

»Hier in der Brusttasche. Ich hatte mir den Panzerbrief gerade auf die Brust gebunden und zog die Jacke über die Weste. Die Abschriften lagen neben mir. Ich steckte sie eben ein, als Schakara kam, und da - - und - - und - - doch nein, ich irre mich! Ich steckte sie nicht ein, sondern ich wollte sie einstecken; da kam Schakara und unterbrach mich. Ich ließ die Abschriften liegen, und - - -«

»Und da liegen sie noch?« fiel Halef schnell ein.

»Ja - - nein - - nein - - ja - - unmöglich! Es ist nicht denkbar! Sie sind zu wichtig, viel, viel zu wichtig! Ich kann und kann und kann sie nicht vergessen haben!«

Ich griff in die Brusttasche; da waren sie nicht. Ich suchte in allen anderen Taschen, vergeblich. Ich hatte sie liegen lassen, gewiß und wirklich liegen lassen! Diese Abschriften, die ich mir mit so großer Mühe gemacht hatte und die ich so unendlich notwendig brauchte! So etwas war mir noch nie im Leben passiert! Eine solche Gedankenlosigkeit hatte ich bisher für unmöglich gehalten! Mir wurde ganz schlimm. Ich setzte mich nun auch nieder, trotz der Feuchtigkeit des Bodens. Ohne diese Notizen war ich ganz außer stande, mich in diesem fremden Lande und seinen mir fremden Verhältnissen selbständig zu bewegen! Jeder Zufall könnte mir zum Meister und Gebieter werden! Soeben hatte Halef uns >Männer< genannt; aber nun ich diese Aufzeichnungen nicht bei mir hatte, glichen wir Kindern, die nur Fehler begehen können, wenn es ihnen einmal einfallen sollte, einen eigenen Entschluß zu wagen! Ich war im höchsten Grade zornig auf mich selbst und zugleich auch so verstimmt, wie wohl noch nie in meinem ganzen Leben. Dazu stellte sich Halef mit weit auseinandergespreizten Beinen grad vor mich hin und sagte:

»So! Da sitzest Du nun! Grad wie vorhin ich! Es fehlt nur noch, daß Dir die Tropfen ebenso über die Backen laufen wie mir! Du hast sie also vergessen, doch vergessen?«

»Leider! Ja!« gestand ich ein.

»Das dachte ich mir!« fuhr er fort, »denn Du bist stets vergeßlich gewesen! Fürchterlich vergeßlich, solange ich Dich kenne!«

»Oho!« widersprach ich ihm.

»Ja, ja!« behauptete er. »Du hast zwar auch noch einige andere Fehler, mein lieber Sihdi, aber der größte unter ihnen war doch stets die Vergeßlichkeit; sie wird es wohl auch bleiben! Du weißt es ebenso gut wie ich, daß ich mir alle Mühe gegeben habe, Dich von dieser Gedankenlosigkeit zu befreien; aber einen Erfolg habe ich leider nicht gehabt. Dies ist zwar für einen so verständigen Mann, wie ich bin, kein Grund, Dir zu zürnen oder Dich etwa gar zu mißachten, denn Fehler, die angeboren sind, können nicht geheilt werden; aber betrübend ist es doch jedenfalls für mich, daß grad ich dazu berufen zu sein scheine, immer neue derartige Mängel an Dir zu entdecken. Daß Du diese Notizen auf dem Schiff liegen lassen konntest, ist für mich |15B geradezu unbegreiflich. Ich suche nach den Gründen dieser Deiner innerlichen Fehlerhaftigkeit. Du würdest sie wohl nicht finden; bei meinem bekannten Scharfsinn aber ist es für mich eine Kleinigkeit, sie schleunigst zu entdecken. Darf ich sie Dir nennen, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich.

Wer mich und meinen Hadschi Halef kennt, der weiß, warum ich zuweilen stillschweigend darauf einging, mir von ihm derartige Predigten halten zu lassen. Er liebte und verehrte mich aufrichtig und wahr; aber immerwährend und immerwährend nur Verehrung, das erschien ihm langweilig; er mußte zuweilen fünf Minuten haben, in denen er seine ganze Entrüstung über mich ausschütten konnte; das lag so in seiner Natur, und dann war er sofort wieder der liebe, treue, aufopfernde Mensch, von dem ich verlangen konnte, was mir beliebte, sogar den Tod. Übrigens hatte ich grad jetzt eine strenge Strafpredigt verdient, und darum ließ ich dem, was er sagte, freien Lauf.

»Es sind zwei,« fuhr er fort. »Ist es Dir vielleicht möglich, sie zu erraten?«

»Nein.«

»So will ich sie Dir nennen, ohne Deinen Verstand unnötig zu belästigen. Es ist nämlich entweder die Dummheit oder die Altersschwäche. Begreifst Du das?«

»Noch nicht.«

»So ist es nicht die Altersschwäche, sondern die Dummheit allein. Für alle Fehler, die der Mensch macht, gibt es nämlich nur einen von diesen beiden Gründen. Sie genügen für alles, was geschieht. Nach noch anderen brauchen wir also nicht zu suchen. Du bist genau so alt wie ich. Darum weiß ich ganz genau, daß Altersschwäche bei Dir ausgeschlossen ist. Also kann es sich, wenn ich nach dem Grunde Deiner Fehlerhaftigkeit forsche, nur um die Dummheit handeln. Und weil Dir diese Fehler angeboren sind, muß Dir auch die Dummheit angeboren sein. Hast Du mich verstanden?«

»Ja.«

»Das wundert mich! Wer von Geburt dumm ist, der pflegt sonst nicht so schnell zu begreifen, wie Du mich jetzt, in diesem Augenblick, begreifst. Aber ich freue mich darüber. Denn da darf ich hoffen, daß Du auch das begreifen wirst, was ich Dir noch weiter zu sagen habe.«

Er stellte den Kolben seiner Flinte auf die Erde, stütze sich mit den Händen auf den Lauf und fuhr dann fort:

»Du weißt, Effendi, daß wir nach Ardistan und Dschinnistan gesandt worden sind, um gewaltige Abenteuer zu erleben und jene Art von großen Taten zu verrichten, die keinem anderen Geschöpfe, als nur uns beiden möglich sind. Wenn Du Deine Pläne und Karten bei Dir hättest, so würde es Dir wohl nicht ganz unmöglich sein, das Vertrauen zu rechtfertigen, welches Marah Durimeh in Dich setzt. Nun Du sie aber vergessen hast, gibst Du ganz gewiß ohne weiteres zu, daß Du bei Deinen angeborenen Mängeln unfähig bist, zu tun, was sie von Dir verlangt. Hieraus folgt mit unbestreitbarer Sicherheit, daß nun ich es bin, auf den Ihr beide Euch verlassen müßt. Die großen Taten habe ich auszuführen, nicht Du! Und die berühmten Abenteuer habe ich zu erleben, nicht Du! Früher warst Du die Hauptsache, und ich, ich war die Nebensache. Jetzt aber ist es grad umgekehrt: Jetzt bin ich die Hauptperson, und die Nebenperson bist Du! Gibst Du das zu, Effendi?«

»Sehr gern,« antwortete ich.

»Sehr gern?« fragte er, indem er einen ungewissen Blick auf mich warf. »Der Ton, in dem Du das sagst, gefällt mir nicht! Ich hoffe, Du meinst es ehrlich!«

»Im höchsten Grade ehrlich!« versicherte ich. »Es ist mir geradezu eine Wonne, zu erfahren, daß Du von jetzt an die Hauptperson bist.«

»Eine Wonne? Wieso?«

»Weil ich jetzt nichts mehr zu bedenken, zu überlegen und zu verantworten habe. Ich tue nur, was Du befiehlst.«

»Hm!« brummte er. »Nicht mehr denken willst Du? Gar nicht mehr?«

»Gar nicht mehr!« versicherte ich. »Bei meiner angeborenen Dummheit ist es mir sehr lieb, daß nun Du an meiner Stelle denkst.«

|16A »Und verantworten soll ich alles?«

»Natürlich! Ich bin nur Nebensache!«

»Hm! Wenn ich nur wüßte, wie Du das meinst, ob ehrlich oder hinterlistig! Du bist nämlich in Beziehung auf die angeborene Dummheit ein höchst gefährlicher Mensch. Es ist möglich, daß Du mich damit nur in Versuchung führst. Aber da es nicht abzuleugnen ist, daß Du Deine Karten und Pläne vergessen hast, so bleibt es bei dem, was ich gesagt habe: die Hauptperson bin ich! Ich werde also während dieser ganzen Reise befehlen, und Du hast zu gehorchen. Nicht?«

»Ja.«

»So erhebe Dich jetzt vom Boden und steig aufs Pferd. Wir brechen auf!«

Ich stand auf. Wir hatten uns beide durch das Sitzen auf dem feuchten Boden beschmutzt. Das erzürnte Halef, der ungemein auf Sauberkeit hielt.

»Allah 'l Allah! Nun klebt der ganze Sumpf an unseren Kleidern!« rief er zornig aus. »Das ist Ardistan! Genau so, wie man es mir beschrieben hat! Bei uns daheim ist auch die Wüste so rein, daß sogar der Gläubige, bevor er betet, sich mit Sand anstatt mit Wasser wäscht, wenn ihm das letztere fehlt. Wer aber den Boden von Ardistan betritt, der versinkt im Schmutz schon gleich beim ersten Schritt und kann sich nicht eher von ihm befreien, als bis er die Grenze von Dschinnistan erreicht! Beeilen wir uns, diesem Dreck und Schlamm zu entweichen!«

Er stieg in den Sattel. Ich tat das auch. Nun wartete er, daß ich voranreiten werde. Ich aber machte eine abwehrende Handbewegung und forderte ihn auf:

»Zeig Du den Weg, ich bin nur Nebensache!«

»Gut, daß werde ich!« antwortete er in scheinbar zuversichtlichem Tone. Aber schon weniger zuversichtlich fügte er hinzu: »Du brauchst aber trotzdem nicht hinter mir zu reiten, sondern kannst Dich getrost an meiner Seite halten. Du kennst mich doch. Du weißt, daß ich auch als Hauptperson sehr leutselig bin!«

|16B Der kleine Schlaue wollte mich neben sich haben, um sich nach der Fühlung mit mir richten zu können. Ich ging aber nicht darauf ein, sondern blieb hinter ihm. Das brachte ihn in keine geringe Verlegenheit. Er wußte von meinen Absichten, wie man sich ländlich auszudrücken pflegt, weder Kix noch Kax und war also vollständig unfähig, auch nur die Richtung unseres Rittes zu bestimmen. Darum wendete er sich schon nach kurzer Zeit mit der Bitte an mich zurück:

»Effendi, sag mir doch wenigstens, ob ich so richtig reite!«

»Es ist richtig,« antwortet ich. »Immer gerade aus.«

»Wenn aber ein Sumpf kommt?«

»So biegen wir um ihn herum.«

»Es scheint hier überhaupt alles Sumpf zu sein. Ich finde das schrecklich. Die Pferde versinken bis an die Knie!«

»Um über die morastige Ebene zu kommen, brauchen wir drei Tage.«

»Drei Tage? Allah erbarme sich! Was gibt es da für Menschen?«

»Keine. Auf menschliche Wesen treffen wir erst jenseits dieser Niederung.«

»Welchem Volke gehören sie an?«

»Dem Stamme der Ussul.«

»Der Ussul? Weißt Du das genau?«

»Ja.«

»Ich denke, Du hast Deine Notizen vergessen? Da kannst Du doch nichts wissen!«

»Warum nicht? Ich habe mir doch sehr viel von dem gemerkt, was ich in den Büchern von Marah Durimeh gelesen und nach ihren Karten mir ausgerechnet habe.«

»Gemerkt?« fragte er. »Sihdi, das ist nicht wahr; das glaube ich nicht!«

»Warum nicht?«

»Weil ich es besser weiß! Ich habe Dir schon gesagt, daß ich Ardistan kenne, und zwar sehr genau. Darum bin ich ja die Hauptperson und reite jetzt voran. Ein jeder, der in diesem Lande gewesen ist, der weiß, daß es das Land des Vergessens ist.«

|17A »Wieso?«

»Wer es betritt, der vergißt alles, was und wo und wie und wer er vorher gewesen ist.«

»Wer hat Dir das weisgemacht?«

»Weisgemacht? Ich bitte Dich, mich nicht zu beleidigen! Ich habe mit sehr, sehr viel Leuten über Ardistan gesprochen. Der klügste von ihnen war ein alter, gelehrter und viel gereister Derwisch, der sich über zehn Jahre lang dort aufgehalten hatte und es also sehr genau kannte. Er sagte, daß es mit Ardistan ganz entschieden dieselbe Bewandtnis habe, wie mit dem Menschenleben überhaupt.«

»Wie meinst Du das?« fragte ich ihn.

»Das will ich Dir sofort erklären,« antwortete er. »Du gibst doch zu, daß wir beide nicht aus Ardistan stammen, obwohl wir uns jetzt hier befinden?«

»Ja.«

»Ebenso gibst du auch zu, daß wir nicht von der Erde stammen, obgleich wir uns auf ihr befinden?«

»Einverstanden!«

»Aber weißt Du, wo Du gewesen bist, bevor Du hier geboren wurdest?«

»Nein.«

»Damals aber, wo Du Dich dort befandest, hast Du es gewußt?«

»Höchst wahrscheinlich!«

»So hast Du es also in dem Augenblick, an dem Du geboren wurdest, vergessen. Der alte, kluge Derwisch behauptete, daß die Erde eine Strafanstalt für Geschöpfe sei, die Allah nicht gehorchen wollten. Sobald sie durch das Tor der Geburt in das diesseitige Leben treten, vergessen sie alles Frühere. Sie wissen nicht mehr, wer und was und wo sie gewesen sind, und können sich nur durch unbedingten Gehorsam und unerschütterlichen Glauben, durch treue, ehrliche Arbeit und gute Werke nach dort zurückfinden, woher sie gekommen sind. Glaubst Du das, Effendi?«

»Die Ansicht dieses alten Derwisches ist interessant; man muß über sie nachdenken.«

»So denke nach! Er sagte, daß es im Leben eines jeden Menschen Augenblicke gebe, an denen ihm die Erinnerung an das vergangene Leben aufleuchte wie ein Blitz, der ebensoschnell verschwindet, wie er kommt.«

»Und so oder ähnlich ist es auch mit Ardistan?«

»Ja. Es ist ein Land des Vergessens, wie die Erde. Man behauptet sogar, daß das Leben in Ardistan ein ganz genaues Bild des Erdenlebens sei. Du lächelst, Effendi? Ist das, was ich sage, nicht wert geglaubt zu werden?«

»Ob wert oder nicht, das kommt hier nicht in Betracht. Weißt Du, wer Du bist?«

»Ja. Wozu diese Frage?«

»Und weißt Du, wo wir gestern waren?«

»Ja.«

»Und vorgestern und alle die Tage, Wochen und Monate vorher?«

»Ja.«

»Du hast es also nicht vergessen?«

»Nein.«

»Wie kann da Ardistan das Land des Vergessens sein?«

Da hielt er sein Pferd an, blickte nachdenklich vor sich hin und brummte:

»Ja. Deine Frage ist nicht dumm, auch nicht angeboren dumm. Vielleicht verwechsele ich das eine mit dem andern. Oder ich drücke mich nicht richtig aus. Oder die Vergeßlichkeit tritt nicht mit einem Male ein, sondern langsam, nach und nach. Bei Dir ist sie ja schon da, denn Du mußt doch zugeben, daß Du Deine Karten und Schreibereien liegen gelassen hast. Streiten wir uns nicht, sondern warten wir es ab, ob uns das Gedächtnis schwindet oder nicht. Kommen wir lieber auf den Stamm der Ussul zurück, von dem wir sprachen. Kennst Du ihn?«

»Nein,« antwortete ich, indem wir weiterritten.

»So sei froh, daß ich jetzt die Hauptperson bin! Ohne mich wärest Du vollständig verloren, wenn Du zu ihnen kommst. Ich weiß nämlich, woran ich mit ihnen bin. Ich habe von ihnen gehört. Nimm Dich in acht, Effendi! Die Ussul sind nämlich ein Volk von lauter Riesen. Sie haben Beine wie |17B die Elefanten. Ihre Arme sind so lang und so stark wie zwanzigjährige Baumstämme. Ihre Haare gleichen der Mähne eines Löwen. Ihre Augen glühen wie Laternen. Ihre Stimmen machen den Lärm des Donners, und wenn sie zornig sind, zittert die Erde, auf der sie stehen. Sie wohnen in starken Burgen, die sie nur in das Wasser bauen. Sie leben vom Mord und vom Raub. Sie glauben nicht an Allah und auch nicht an den Teufel, und wer mit ihnen in Streit gerät, ist unbedingt verloren!«

»Das klingt ja außerordentlich beruhigend! Von wem hast Du das gehört? Wohl von demselben Derwisch?«

»Nein, sondern von anderen Personen, die aber nicht weniger glaubhaft und zuverlässig sind. Es ist ganz unmöglich, einen Mann vom Stamme der Ussul im Kampfe zu besiegen. Darum besteht die Leibgarde des 'Mir von Ardistan nur aus solchen Kriegern, von denen es jeder gut und gern mit dreißig bis vierzig Feinden aufnehmen kann.«

»So ist es gut, daß wir nicht vierzig sind, sondern nur zwei!«

»Warum?«

»Weil sie es da gar nicht versuchen werden, es mit uns aufzunehmen!«

»Hohnlächle nicht, Sihdi! Was ich weiß, das weiß ich genau, und was ich erzähle, das ist wahr! Als Nebenperson steht es Dir überhaupt nicht gut, über das zu lächeln, was die Hauptperson erzählt - - - was ist? Was gibt es?«

Diese beiden Fragen sprach er unwillkürlich aus, denn sein Pferd war plötzlich stehen geblieben und ließ ein warnendes Schnauben hören. Auch Syrr, mein Hengst, hielt die Schritte ein, doch ohne ein Zeichen von Angst; er stampfte vielmehr mit den beiden Vorderfüßen, als ob er die Absicht habe, einen Feind mit den Hufen zu zermalmen. Die Augen beider Pferde waren nach der linken Seite gerichtet. Wir sahen nicht gleich, um was es sich handelte. Es war ein sumpfiger Rhizophorenwald, durch den wir ritten, nicht so dicht, wie Mangrove- und Manglewälder gewöhnlich zu sein pflegen. Die Stämme, welche der Art Konjugata angehörten, standen ziemlich weit auseinander, schickten aber doch eine solche Menge von Luftwurzeln von oben herab, daß die Aussicht eine sehr gehinderte war. In die angegebene Richtung schauend, bemerkte ich erst nach ziemlich beträchtlicher Zeit, daß eine dieser Luftwurzeln sich ganz eigenartig bewegte. Halef sah es zu derselben Zeit. Er erschrak, streckte den Arm aus und rief:

»Eine Schlange! Eine Riesenschlange! Wenigstens zehn Meter lang! Siehst Du sie, Effendi?«

»Ja,« antwortete ich. »Es ist eine Peddapoda.«

»Ich werde sie sofort niederschießen, sonst verschlingt sie uns mitsamt den beiden Pferden!«

Er nahm sein Gewehr zur Hand, um seinen Entschluß auszuführen. Der gute Halef übertrieb auch hier, wie so oft. Man behauptet zwar, daß die Tigerschlange sechs Meter und noch länger werde, diese aber war ganz sicher noch nicht einmal vier Meter lang. Daß sie uns beide mitsamt den Pferden verschlingen werde, war eine jener Vergrößerungen, die der kleine Hadschi liebte. Die Riesenschlange hing mit dem Schwanze oben an einem Baume und bewegte mit nach unten gerichtetem Kopfe den Körper in einer Weise, als ob sie irgend einen Gegenstand in der Luft zu fangen habe. Sie tat das jedenfalls in der Aufregung über unser Erscheinen. Wir konnten zwar nicht sehen, wohin ihr Auge blickte, aber daß sie uns bemerkt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich nahm den Henrystutzen vom Rücken, um nachzuhelfen, falls Halefs Kugel nicht treffen sollte. Es war kein leichtes Zielen, denn der Kopf der Peddapoda blieb keinen Augenblick an derselben Stelle. Darum ging der Schuß des Hadschi fehl, und auch ich traf erst beim zweiten Male. Die durch den Kopf geschossene Schlange schlug mit dem Vorderkörper einen konvulsivisch zuckenden Kreis, hing dann eine halbe Minute lang in gerader Linie vom Baume und fiel dann, indem die Ringel des Schwanzes sich lösten, von ihm zur Erde nieder. Wir ritten hin und stiegen von den Pferden.

»Heil uns!« rief Halef. »Das erste Abenteuer im Lande Ardistan ist überstanden, ohne daß es uns das Leben gekostet |18A hat! Das Ungetüm ist tot! Sein Leben ging dahin, sobald wir kamen! Es wollte uns fressen, nun aber wird es von uns gefressen! O Glück, o Heil, daß es keine Beine hat, sonst wäre es aus Angst vor unserer Tapferkeit im Galopp davongelaufen! Schau es Dir an, Sihdi, dieses Ungeheuer, diesen Drachen, dieses Scheusal, dieses Ungetüm, diese Ausgeburt der Hölle, diesen Racker, diesen Hundesohn, diesen Abschaum, Schuft und Menschenfresser! Siehst Du das Maul, und siehst Du die Zähne? Weißt Du, daß so eine Schlange einen Ochsen verschlingt - - -«

»Das wohl nicht, mein lieber Halef,« unterbrach ich lachend seine Rede.

»Wenn nicht einen Ochsen, so doch wenigstens eine Kuh!« behauptete er.

»Nein!«

»Ein Kalb!«

»Auch nicht!«

»Einen Hammel!«

»Selbst diesen nicht! Und an einen Menschen wagt sie sich höchstens aus Versehen,«

»Wirklich?«

»Ja.«

Da machte er ein sehr enttäuschtes Gesicht und klagte:

»Aber so ist es ja gar keine Heldentat, die wir ausgeführt haben!«

»Leider nicht.«

»Wie schade, jammerschade! Konnte das Vieh nicht zwanzigmal länger sein und zehnmal dicker, als es ist? Dann würde auch unser Ruhm zwanzigmal länger und zehnmal dicker sein! Wozu haben wir sie nun erschossen? Kann man sie essen?«

»Ja. Die Neger essen Schlangen gern.«

»Allah behüte mich! Ich bin kein Neger!«

»So nehmen wir die Haut.«

»Wozu?«

»Man macht Schuhe und Taschen daraus, auch Satteldecken.«

»Satteldecken? Das ist mir recht! Bei uns daheim gibt es keine Riesenschlangen. Wenn ich da mit einer solchen Satteldecke komme, preisen mich alle Völker, und mein Lob erschallt über alle Länder der Erde. Das Fell will ich haben, das Fell!«

Wir zogen der Schlange mit Hilfe unserer Messer die rötlich braun gefleckte Haut vom Leibe und setzten dann den unterbrochenen Ritt fort. Die Haut hatte Halef an sich genommen; er betrachtete sie als seine Beute, obgleich die Schlange durch meine Kugel erlegt worden war. Ich hatte nichts dagegen. Das Zusammentreffen mit der Peddapoda hatte mir mehr gebracht als nur eine Schlangenhaut, nämlich die Freude über meinen Syrr, der beim Anblick der Reptilie keine Spur von Angst gezeigt hatte, obgleich er einem solchen Tier noch nie begegnet war. Diese Furchtlosigkeit war für mich von hohem Werte.

Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, eine zusammenhängende und lückenlose Beschreibung unseres Rittes zu geben. Ich habe lediglich das zu erzählen, was für den Grundgedanken, den ich verfolge, von Bedeutung ist, und kann daher nur sagen, daß wir volle drei Tage lang die Küstenniederung durchquerten, ohne daß etwas Wichtiges oder auch nur Erwähnenswertes geschah. Ich sorgte während dieser ganzen Zeit zwar dafür, daß wir die Richtung nach dem Binnenlande einhielten, stellte mich dabei aber so, als ob Halef der Führer sei und ich ihm ohne eigenen Willen folgte. Ich freute mich schon im voraus auf das Gesicht, welches er machen würde, sobald es sich herausstellte, daß er der gar nicht sei, für den er sich hielt.

Für Essen brauchten wir in diesen Tagen nicht zu sorgen; wir waren von Schakara mit Vorrat versehen worden. Geschlafen wurde an geeigneten Stellen des Waldes, wo es trockenen Boden und möglichst wenig Mücken gab, die überhaupt eine große Plage dieser tiefliegenden Gegend bildeten. Am Morgen des vierten Tages veränderte sich das Land. Es wurde trockener, und der Urwald bekam Bäume, welche die Nässe weniger lieben als der bisherige Mangrovewald. Es bildeten sich wiesenartige, freiliegende, grüne Flächen, die unsern Pferden gutes und wohlschmeckendes Futter boten. Wir kamen an lebendige Wasserläufe, die man getrost als Bäche bezeichnen konnte. An geeigneten |18B Stellen bildeten sich von ihnen Teiche und Seen, an und in denen es ein außerordentlich reges Tierleben gab. Auch Menschen schienen hier zuweilen zu verkehren; wir fanden Spuren davon. Diese Spuren waren alt, schon fast ganz verwischt. An einer Stelle aber, wo sie durch hohes Gras führten und sich in demselben kreuzten, als ob hier sehr eifrig nach irgend etwas gesucht worden sei, schienen sie jüngeren Datums zu sein, so daß ich es für angezeigt hielt, sie zu untersuchen. Ich hielt darum mein Pferd an.

»Warum nicht weiter?« fragte Halef.

»Siehst Du nicht diese Spuren?« antwortete ich, indem ich auf sie deutete.

»Natürlich sehe ich sie! Sie scheinen von Hirschen oder wilden Sauen zu stammen.«

»Hirsche? Wilde Sauen? Halef, schäme Dich!«

»So meinst Du wohl, von Menschen?«

»Ganz selbstverständlich. Das sieht man doch gleich bei dem ersten Blick!«

»So müssen wir sie wohl prüfen?«

»Allerdings.«

»So bitte ich Dich, abzusteigen.«

»Ich? Warum ich?«

»Sonderbare Frage! Das Prüfen von Spuren ist doch bisher immer Deine ganz besondere Arbeit gewesen. Warum nun plötzlich jetzt nicht mehr?«

»Das Spurenlesen ist sehr schwer und außerordentlich verantwortungsvoll. Ein Irrtum kann da sehr leicht das Leben kosten. Darum wird das stets nur von den Hauptpersonen befolgt. Ich aber bin doch nur Nebenperson!«

Sein Gesicht wurde um einige Zentimeter länger.

»Hm!« brummte er verlegen. »Habe ich etwa behauptet, daß ich auch in Beziehung auf das Fährtenlesen die Hauptperson bin?«

»Eine solche Behauptung war gar nicht nötig. Zum Verständnis so verworrener Spuren, wie diese hier sind, gehört eine Klugheit, die kein Mensch besitzen kann, dem die Dummheit angeboren ist. Also bist Du es, der abzusteigen hat. Vorwärts, Halef, vorwärts! Bedenke, wie gefährlich die Ussul sind, die Du mir beschrieben hast! Wenn solche Riesen hier herumliefen! Oder gar, wenn wir ihnen begegneten! Also steig ab, steig ab! Wir müssen unbedingt erfahren, was für Menschen es sind, von denen diese Fußeindrücke stammen!«

Da schwang er sich aus dem Sattel und begann die Arbeit, die ihm eine verhaßte war, weil er es niemals so weit gebracht hatte, Schluß auf Schluß zu bauen. Diese Kunst aber wird von einem jeden verlangt, der sich anmaßt, Spuren und Fährten lesen zu können. Auch ich stieg ab, doch nicht, um mich an dieser Arbeit zu beteiligen, sondern um es mir im Gras bequem zu machen und ihm zuzusehen.

Es war spaßhaft, wie unbeholfen er sich anstellte. Er hatte oft gesehen, mit welcher Sorgfalt ich so eine Spur behandelte. Sie durfte nur betrachtet, nicht aber berührt oder gar vernichtet werden. Er aber lief auf all diesen Eindrücken hin und her, trat sie nieder und löschte sie aus, ohne zu bedenken, daß dies ein unverzeihlicher Fehler war. Und als er damit fertig war, berichtete er:

»Sihdi, Du hast Unrecht, vollständig Unrecht. Das sind keine Menschen gewesen!«

»Was sonst?«

»Elefanten! Oder Nashörner! Oder Nilpferde! Solche große, mächtige Tiere!«

»Warum das?«

»Wegen der großen Stapfen. Solche Füße kann nur ein Elefant oder Hippopotamus haben!«

»Wie viel Beine hat ein Elefant?«

»Natürlich vier.«

»So stimmt es nicht. Die Untiere, die hier herumgelaufen sind, haben nicht vier, sondern nur zwei Beine gehabt.«

»Das muß ich bezweifeln! Wie willst Du das überhaupt wissen? Man sieht doch nicht die Tiere, sondern nur die Stapfen ihrer Füße; es ist also im höchsten Grade fraglich, ob zwei Stapfen oder ob vier Stapfen zu einem Exemplar gehören. Du stimmst für zwei, ich aber für vier, und es ist Dir doch |19A wohl bekannt, daß die Mehrzahl stets den Sieg behält. Es sind also Elefanten oder Nashörner, nicht aber Menschen!«

»Hast Du die Spuren nicht vielleicht auch daraufhin betrachtet, ob Sporen an den Stiefeln waren?«

»Sporen? An den Stiefeln?« Er brach in ein sehr herzlich gemeintes Gelächter aus und fuhr, immer lachend, fort: »Seit wann tragen die Elefanten Stiefel? Und gar mit Sporen daran!«

»Seit sie auf Deinen Nilpferden reiten,« antwortete ich, indem ich in das Lachen einstimmte. »Übrigens bist Du ja noch gar nicht fertig mit Deiner Arbeit. Bis jetzt hast Du bestimmt, ob es Menschen oder ob es Tiere waren. Nun gilt es, noch zu erfahren, woher sie gekommen und wohin sie gegangen sind.«

»Und da soll ich nachsehen?«

»Ganz selbstverständlich!«

»Sihdi, wenn Du mir doch dabei helfen wolltest!« bat er.

»Nein,« antwortete ich.

»Warum nicht?«

»Weil ich dadurch Deine angeborene Klugheit beeinträchtigen würde. Also geh!«

Ich sagte das in etwas scharfem Tone. Darum drang er nicht weiter in mich, sondern bemerkte nur:

»So will ich wenigstens meine Gewehre ablegen, die mich in der Bewegung hindern, wenn ich suche.«

Er hatte seine lange, arabische, reich mit Elfenbein ausgelegte Flinte und das von mir geschenkt erhaltene europäische Doppelgewehr an Riemen über den Rücken. Er nahm sie ab und schnallte sie quer über den Sattelknopf. Dann machte er sich von neuem auf die Suche. Um das neue Kommando zu verstehen, muß man sich ein Bild der Gegend machen können, in der wir uns befanden.

Von da aus, wo ich bei unseren Pferden im Grase saß, lag rechts und links ziemlich dichtes Gebüsch, an welches sich zu beiden Seiten der hohe Wald anschloß. Grad vor mir gab es die freie, grasige Lichtung, auf welcher Halef jetzt die Spuren untersuchte. Sie zog sich vielleicht zweihundert Schritte lang gerade aus, stieß dann an den Wald und ging nach links, wo sie hinter dem Gebüsch verschwand. Die Spuren kamen rechts von mir aus dem Gebüsch heraus, gingen, indem sie sich verschiedentlich durchkreuzten, über den ganzen Grasplatz hin und bogen dann mit ihm um die linke, hintere Ecke des Gebüsches. Es konnten drei bis vier Personen sein, die da gegangen waren. Das Durch- und Übereinanderlaufen der Fußeindrücke ließ mich vermuten, daß man hier nach Blumen, eßbaren Wurzeln oder sonst etwas dem Ähnliches gesucht habe. Die Stapfen sahen allerdings sehr groß aus, auch schon von weitem. Das lag zunächst an der Höhe des Grases, jedenfalls aber auch an der Art der Fußbekleidung, die man getragen hatte. Meine Frage nach Stiefel und Sporen war ganz selbstverständlich nicht ohne guten Grund gewesen. Es ist immer von großer Wichtigkeit, ob Leute, die man vor sich hat, beritten sind oder nicht.

Halef hielt es für nötig, vor allen Dingen nachzuforschen, wohin die Spuren führten. Es war seine Ansicht, daß man dann wohl gar nicht zu wissen brauchte, woher sie gekommen waren. Er verfolgte sie jetzt also über die ganze Lichtung hin, soweit ich sie überblicken konnte, und verschwand sodann nach links, hinter der schon erwähnten Ecke des Gebüsches. Ich hielt es für gar kein Wagnis, ihn in dieser Weise sich selbst zu überlassen. Er besaß zwar nicht den weiten, fernschauenden Blick und die alles scharf zusammenfassende Kombinationsgabe, ohne die man eine Reise, wie die unserige war, nicht unternehmen kann, aber er war doch klug, er war sogar pfiffig, und ich nahm keineswegs an, daß er mit Eingeborenen zusammentreffen werde, denn die Fußeindrücke waren zwar noch jung, aber doch nicht mehr so neu, daß man die Anwesenheit der betreffenden Personen hier noch vermuten konnte. Ich war also ganz ohne alle Sorge um ihn, zumal es sich doch ganz von selbst verstand, daß er sich nicht allzuweit entfernen und sofort zu mir zurückkehren werde, sobald ihm etwas Verdächtiges in die Augen fallen sollte.

|20A Halef war noch nicht lange verschwunden, als ich von Syrr, meinem Rappen, ein warnendes Zeichen bekam. Er stellte sich ganz nahe an mich heran, hob den kleinen, feinen Kopf, legte die Ohren vor und sog die Luft mit jenem leisen, sich stoßweise unterbrechenden Geräusch durch die roten Nüstern, welches ein Beweis des beginnenden Verdachtes ist. Assil Ben Rih, das Pferd Halefs, stutzte sofort auch. Beide Tiere schauten nach rechts, und zwar nach der Stelle, wo die Spuren aus dem Gebüsch traten. Sollten noch andere Leute desselben Weges kommen? Ich strengte mein Gehör an, hörte aber nichts. Ich legte den Kopf auf die Erde und lauschte. Da hörte ich nun allerdings ein Geräusch, welches sich zu nähern schien, denn es war leise, wurde aber stärker. Es klang wie langsame, schwere Schritte, die ein Blätterrauschen begleitete. Ich richtete mich wieder in sitzende Stellung auf. Jetzt war das Geräusch zu vernehmen, auch ohne daß mein Ohr die schalleitende Erde berührte. Es näherte sich wirklich. Es wurde stärker und immer stärker, zuletzt so stark, daß ich allerdings an Halefs Elefanten, Nashörner und Nilpferde dachte. Das Gezweig rauschte und schlug klatschend zurück; Zweige knackten, stampfende Schritte dröhnten. Aber diese Schritte waren wohl kaum die Schritte eines wilden Tieres. Sie klangen in genauen Intervallen, wie abgemessen, dabei behaglich, behäbig, als ob ein Riese in vortrefflicher Stimmung durch den Wald spazieren gehe und gar nicht darauf achte, daß er dabei die Büsche und den Boden zerknattert und zerstampft. Ich stand aber doch nun auf und griff nach meinen Gewehren.

Da teilte sich das Gesträuch weit auseinander, und die lebendige Ursache des Geräusches trat vor meine Augen. Man lächle nicht, wenn ich sage, daß ich bei dem Anblicke, der sich mir da bot, ganz unwillkürlich an einen heimatlichen Künstler denken mußte, nämlich an Arnold Böcklin, den berühmten Maler der rätselnden Groteska. Seine Kentauren, sein Einhorn im >Schweigen im Walde< traten mir in die Erinnerung, als ich das Wesen, oder vielmehr das Doppelwesen erblickte, welches mich ganz in derselben Weise anstaunte, wie es von mir angestaunt wurde. Oder waren es zwei verschieden Wesen, von denen das eine auf dem anderen saß? Ja, richtig! Ein Reiter! Aber was für einer? Und das Tier, auf dem er saß, war das ein ausgeartetes Nilpferd, ein entarteter Tapir, ein vorweltlicher Riesenhirsch ohne Geweih oder ein überfüttertes Kamel mit Elefantenbeinen und weggefallenem Höcker? Es hatte von alledem etwas; aber bei näherer Betrachtung konnte ich die Idee nicht von mir weisen, daß diese zoologische Merkwürdigkeit den entfernten Zweck verfolgte, ein Pferd zu sein. Hufe hatte es, und zwar ganz richtige, wirkliche Pferdehufe, aber von einer Größe, die mir noch nie vor die Augen gekommen war. Der Kopf glich dem eines Riesenelkes, besonders in Beziehung auf das Maul, oder richtiger ausgedrückt, auf die Schnauze. Die |20B Mähne war außerordentlich reich und lang, aber von so kräftiger Struktur, daß sie nicht aus Haaren, sondern aus Bindfaden zu bestehen schien. Ihre Farbe, wie überhaupt die Farbe des ganzen Tieres, war schwer zu bestimmen, denn sie war unter einem dicken, panzerartigen Schmutzüberzug vollständig verschwunden. Solche Schlammfutterale hatte ich an den nordamerikanischen Büffeln gesehen, die sich in Schmutz zu wälzen pflegten, um den Insektenstichen zu entgehen. Ganz besonders erwähnenswert an dieser auffälligen Kreatur waren die Augen und der Schwanz. Ob der letztere lange Haare hatte oder nur eine Quaste an der Spitze, das konnte ich nicht sehen. Viel Haare aber waren es jedenfalls nicht, und das Wenige, was man sah, war mit einer solchen Kruste von Schorf, Grind und Unrat überzogen, daß man viel eher an einen verunglückten Biberschwanz als an das edle Behänge eines Pferdes denken konnte. Und das Erstaunlichste hierbei war, daß dieser Schwanz trotz seiner Festigkeit und Kompaktheit in einer unausgesetzten, nicht endenwollenden Bewegung war. Er hing nie still, sonder regte und rührte sich immerfort, und zwar meist im Kreise. Es sah ganz so aus, als ob ein unsichtbarer Musikant das Pferd für einen Leierkasten und den Schwanz für den Drehling hielt. Dieser Unsichtbare stand nun hinter dem Tiere und drehte den Schwanz mit einer Begeisterung und einer Ausdauer, die geradezu ideal zu nennen war. Und eben weil man ihn nicht sah, sondern nur den immer in einer und derselben Richtung kreisenden Schwanz, machte diese Bewegung auf den Beschauer einen Eindruck, der ganz unmöglich zu beschreiben ist. Von ganz derselben Rastlosigkeit waren auch die beiden Augen. >Augen< ist eigentlich Übertreibung, es muß >Äuglein< heißen. Sie waren viel, viel zu klein für den Koloß, dessen Körper das Fleisch von zwei ausgewachsenen Ochsen in sich vereinigte. Diese Äuglein waren ganz unbegreiflich ruhelos. Es erschien fast als unmöglich, sagen zu können, wohin sie schauten. Nach rechts, nach links, nach oben, nach unten, nach hüben, nach drüben, überallhin schauten sie, und zwar, wie es schien, in demselben Augenblick. Man sah immerfort das Weiße des Augapfels. Das wirkte so außerordentlich ungewohnt, so pfiffig, ja fast beängstigend. Es sah aus, als ob in diesem dicken, plumpen, ungeschlachten Körper eine Seele wohne, die während ihres früheren Lebens irgend einem Tausendkünstler oder Geheimpolizisten angehört habe. Gleich beim ersten Blick, den man auf diese überall allgegenwärtigen Äuglein warf, mußte man sich sagen: Mit dieser Bestie darf man nur in Liebe verkehren, über das Ohr hauen läßt sie sich nicht.

Doch nun zu dem anderen Wesen, welches als Reiter auf dem soeben beschriebenen Tiere saß!

Das war ein Mensch, ja, aber was für einer? Wer ihn sah und die Bibel kannte, der mußte an Goliath, den Philister, denken, von dem die Heilige Schrift erzählt, daß er sechs Ellen |21A und eine Hand breit hoch gewesen sei. »Und er hatte einen ehernen Helm auf seinem Haupte und war mit einem schuppichten Panzer angetan, und das Gewicht des Panzers war fünftausend Seckel Erz. Und er hatte eherne Schienen an seinen Beinen, und ein eherner Schild bedeckte seine Schultern. Und der Schaft seines Spießes war wie ein Weberbaum, und selbst das Eisen seines Spießes hielt sechshundert Seckel Eisen.«

Dieser Goliath war höchst wahrscheinlich nicht größer und auch nicht stärker gewesen, als der Reiter, den ich jetzt vor mir sah und der um anderthalben Kopf länger war als ich, mit dementsprechender Schulterbreite und Muskulatur. Er trug zwar keinen ehernen Helm auf seinem Haupte und keinen erzenen Panzer um den Riesenleib, aber die Lanze in seiner rechten Faust glich auch einem Weberbaum, und das Messer, welches in seinem Gürtel steckte, hatte eine derartige Form und Schwere, daß es zugleich als Beil, wenn nicht gar als Axt gebraucht werden konnte. Auf dem Rücken hing ihm ein sehr gewichtiger, aus Krokodilsrücken gefertigter Bogen und darunter ein für Wurfspeere und Pfeile undurchdringlicher Köcher aus Schildkrötenschale, der infolge seiner Größe auch als Schild zu verwenden war. Die Füße steckten bis herauf an das Knie in dicken, stiefelähnlichen Baströhren, die dadurch festeren Halt bekamen, daß man sie mit breiten Lederriemen umwunden hatte. Die Sohlen waren von einer solchen Länge und Breite, daß sie die Größe der Stapfen im Grase mehr als hinreichend erklärten. Die Oberschenkel steckten in sehr festen, ledernen Hohlzylindern, die man unter Zuhilfenahme der Phantasie als Hose bezeichnen könnte. Von Leder war auch die Bekleidung des Leibes, eine Art von Koller, welches vorn sehr weit offen stand und eine vollständig und sehr dicht behaarte Brust sehen ließ. Man hatte bei diesem Anblicke das Gefühl, daß auch der ganze übrige Körper in der gleichen Weise behaart sein müsse. Dementsprechend war der unbedeckte Kopf durch einen dunklen Haarwald geschützt, der wie eine Mähne bis halb über den Rücken herunterhing, und vom Gesicht waren nur einige kleine Stellen Haut zu sehen; das andere alles war Bart, der vorn fast noch weiter herniederreichte als hinten das Haar des Hauptes. Die Augen dieses Mannes konnten, genau wie diejenigen seines Pferdes, nur als >Äuglein< gelten; sie waren viel zu klein für diese Hünengestalt, für diesen Riesenkopf und für dieses breite, ja fast überbreite Gesicht, in dessen Behaarung sie fast ganz verschwanden. Einen Sattel gab es nicht, Steigbügel auch nicht, und das Zaumzeug bestand sehr einfach aus einem Riemen, der dem Pferde um das Maul geschlungen war, so daß der Reiter die beiden Enden in den Händen hatte. Metallteile gab es auch nicht. Das war sehr bequem für das Tier, nicht aber für den Reiter, dem in dieser Weise weiter nichts als nur der Schenkeldruck zur Verfügung stand, sich das Pferd gefügig zu machen.

Man denke ja nicht, daß es in der Absicht dieser Beschreibung liegt, Roß und Reiter lächerlich zu machen. Ich habe ganz im Gegenteile zu konstatieren, daß die ungewöhnlichen Formen beider mich zwar überraschten, doch keineswegs nach der heiteren, sondern nur nach der ernsten Seite hin. Die Doppelfigur, die vor mir stand, machte den Eindruck der aufrichtigen ungekünstelten Natürlichkeit, der ungeschmälerten Kraft, der unbedingten Furchtlosigkeit, der überstrotzenden Gesundheit und - last not least - jener geraden, unbekümmerten Gutmütigkeit, die allen ihrem Ursprung nach ziemlich nahestehenden Wesen eigen ist. »Ursprung«, ja, das war das richtige Wort für die Vorstellung, die man sich bei dem Anblicke dieses Mannes und dieses Pferdes machte. Hätte ich ein Märchen zu schreiben, in welchem der Urmensch auf dem Urpferde zu erscheinen hat, so würde ich ganz unbedingt zu dem Bilde greifen, welches ich hier vor Augen hatte.

Der Riese betrachtete mich ebenso still und forschend, wie ich ihn. Dann fragte er:

»Wo kommst Du her?«

Ich deutete hinter mich und antwortete:

»Daher.«

»Vom Meere?«

»Ja.«

»Wo willst Du hin?«

»Dorthin.«

|21B Indem ich dies sagte, deutete ich vorwärts. Da forderte er mich auf:

»Drücke Dich bestimmter aus! Daher und dorthin, das sind keine Antworten! Du scheinst mich nicht zu kennen?«

»Ich habe Dich allerdings noch nicht gesehen.«

»So höre, was ich Dir sage, und merke es Dir! Ich bin Amihn, der oberste Scheik des unbesiegbaren Stammes der Ussul, hast Du das verstanden?«

»Ja.«

»So verhalte Dich dementsprechend! Das ganze Land, von der Küste des Meeres an bis dort hinauf, wo die Berge beginnen, ist mein Eigentum. Alles, was in diesem Lande wächst, gehört mir. Jeder, der in diesem Lande wohnt, gehört mir. Und jeder, der dieses Land betritt, gehört mir. Also auch Du! Hast Du das verstanden?«

»Ja.«

»Wenn mir der Mann gehört, so versteht es sich ganz von selbst, daß mir auch alles gehört, was er besitzt. Gibst Du das zu?«

»Ja.«

»Das freut mich. Fremder, Du scheinst überhaupt nicht dumm zu sein! So schnell wie Du, hat bisher noch keiner eingesehen, daß ich der rechtmäßige Inhaber seines Eigentumes bin. Ich werde Dich einmal genau betrachten und Deine Sachen dann auch.«

Er kam bis heran zu mir geritten und stieg von seinem Urpferde. Nun sah man erst, was dieser Mann für Füße, für Schenkel, für Arme hatte! Seine Hände waren noch einmal so breit als die meinigen. Diese Breite der Schultern! Ich stand fast wie ein Zwerg vor ihm! Er faßte mich hüben und drüben an den Oberarmen und drehte mich zweimal um mich selbst. Ich ließ mir dies ruhig gefallen, doch nicht etwa aus Angst, o nein! Hier stand der Körper dem Geiste, die rohe, ungefüge Kraft der geschulten Überlegung, der Muskel dem Gehirn gegenüber, und wer da schließlich die Oberhand behalten mußte, das kam gar nicht erst in Frage. Diese meine scheinbare Gefügigkeit schien ihn für mich einzunehmen, denn er sagte:

»Du gefällst mir! Du bist von jetzt an mein Knecht, hast also bei mir zu bleiben. Ich weiß zwar nicht, wozu Du mir dienen und welchen Nutzen Du mir bringen sollst, aber es wird sich wohl schon etwas finden, wodurch Du mir beweisen kannst, daß Du wenigstens nicht ganz und gar wertlos bist. Zeig her, was Du da hast!«

Um beide Hände frei zu bekommen, rannte er seinen Spieß in den Erdboden und griff nach meinen Gewehren, um sie zu betrachten. Den fünfundzwanzigschüssigen Henrystutzen behielt er nur einen Augenblick in der Hand, dann warf er ihn weg; er war ihm zu leicht.

»Ich kenne diese Dinger nicht, mag sie auch nicht,« sagte er in sehr verächtlichem Tone. »Spielzeug für Kinder!«

Die ungewöhnliche Schwere des Bärentöters aber imponierte ihm. Er wiegte ihn hin und her, nahm ihn dann bei den Läufen, schwang ihn durch die Luft, als ob er jemand mit dem Kolben erschlagen wollte, und ließ sich zu der lobenden Bemerkung herab:

»Diese Flinte ist besser! Die zerbricht nicht, wenn man sie einem Feinde auf den Schädel schlägt!«

Für ihn schienen Gewehre wohl nur als Keulen, nicht aber zum Schießen vorhanden zu sein. Dennoch gefiel es ihm, das Schloß der Büchse einer näheren Betrachtung zu unterziehen, doch sah ich ihm an, daß er sich gar nicht viel Kluges dabei dachte. Während der Urmensch sich mit dieser meiner Waffe beschäftigte, beliebte nun auch dem Urgaul eine Annäherung an mich. Er schob mit der Schnauze seinen Herrn ganz einfach zur Seite, kam zu mir heran, kurbelte mit dem Schwanze, beäugelte und beschnüffelte mich und schien mich für einen ganz annehmbaren Kerl zu halten, denn er tat mir die Ehre an, seine nasse Schnauze an meinem Gesicht abzutrocknen. Da gab ich ihm eine Ohrfeige, und zwar was für eine! Das beleidigte ihn aber nicht. Im Gegenteile, es schien ihm zu gefallen, denn er hob den ungeschlachten Kopf hoch empor, schloß vor lauter Glückseligkeit die beiden Äuglein zu, riß das Maul sperrangelweit auf und - - - wieherte etwa? O nein! Das, was |22A ich da zu hören bekam, das war kein Wiehern, das war kein Trompeten eines Elefanten, kein Brüllen eines Löwen, kein Nebelhorn eines Seedampfers und auch keine Hupe eines Automobils; aber es hatte etwas von alledem, und das klang so außerordentlich überraschend, daß ich am liebsten umgefallen wäre, nur weiß ich nicht, ob vor Schreck oder vor Lachen. Da drehte sich sein Herr zu ihm um und fuhr es in strafender Weise an:

»Bist Du toll? So zu brüllen! Hier im freien Feld, wo man gar nicht weiß, ob nicht noch andere Fremde da sind, die nicht wissen dürfen, wo wir uns befinden! Schäme Dich!«

Da fiel der Kopf des Gaules schnell wieder herab, noch tiefer, als er vorher gehangen hatte; der Schwanz unterbrach seinen Radumlauf; die Äuglein näherten sich einander, um beschämt an der Nase lang herabzublicken, und aus dem Herzen stieg ein so langer, schwerer, unendlich tiefer Seufzer, als ob das liebe Vieh im Begriff stehe, aus lauter Scham und Reue in die Erde zu versinken. Ich fühlte mich im Innern meiner Seele aufrichtig gerührt. Es gab gar keinen Zweifel darüber, daß dieses Urpferd zugleich auch ein Gemütspferd war!

»Er heißt Nazik,« erklärte mir der Scheik, indem er auf den Leierkasten deutete, dessen ersten Ton wir soeben zu hören bekommen hatten. »Er ist nicht der einzige, den wir haben; wir besitzen ihrer viele. Du wirst sie zu sehen bekommen.«

»Wann?«

Er ahnte nicht, wie viele Erkundigungen in diesem kurzen, einsilbigen Worte steckten, und gab mir den Bescheid:

»Morgen oder übermorgen. Heut sind wir nicht daheim, sondern auf der Jagd.«

»Wo?«

»Da drüben im Walde.«

Er streckte den Arm nach der Richtung aus, in welcher Halef verschwunden war.

»Wie viel Jäger seid Ihr?«

»Zwanzig, ohne die Frauen. Die Männer jagen; die Frauen graben nach Wurzeln, die zum Fleisch gegessen werden.«

Um nicht aufzufallen, fragte ich nicht weiter; ich wußte schon jetzt genug. Die Weiber hatten hier auf der grasigen Lichtung nach Wurzeln gesucht; daher die Spuren. Diese Spuren führten nach dem Lager, wo es zwanzig riesige Ussul gab, die, wenn sie ihrem Scheik glichen, zwar gutmütige, für uns aber dennoch gefährliche Menschen waren. Halef blieb zu lange aus. Er hatte sich zu weit entfernt. Es war sehr leicht möglich, daß man ihn gesehen und festgenommen hatte. Wenn bei den Ussul der Grundsatz herrschte, daß jeder Fremde, der ihr Gebiet betritt, ihnen gehört, und zwar mit allem, was er besitzt, so hatte man diesen Grundsatz auch an Halef geltend gemacht, und wie ich ihn kannte, mußte ich annehmen, daß ihm gar nicht eingefallen war, sich dies gefallen zu lassen. Er hatte sich dagegen gewehrt, war überwältigt worden und befand sich nun in Gefahr. Ich mußte ihm folgen, um ihm beizustehen. Da gab es für mich eine Waffe, die besser und erfolgreicher als jede andere war, nämlich den Scheik selbst, den ich festzunehmen hatte, damit er mir als Geisel dienen möge. Das gab voraussichtlich einen Kampf zwischen ihm und mir, vor dem mir aber gar nicht bange war. Die körperliche Überlegenheit dieses Gegners fürchtete ich nicht. Er war das, was man einen Simpel, einen Tolpatsch nennt, und es gehörte gar keine große, geistige Anstrengung dazu, die Chancen gleichzustellen.

Nachdem er mich in Augenschein genommen hatte, tat er dasselbe auch mit unsern Pferden. Da stellte es sich denn sofort heraus, daß er kein Kenner war. Sein Urgaul galt ihm mehr als unsere beiden Rappen zusammengenommen. Er meinte, sie seien viel zu leicht, um ihn tragen zu können, und für die hiesige Gegend habe man überhaupt auf sie zu verzichten, weil sie bei der Kleinheit ihrer Hufe bei jedem Schritt in den Sumpf einbrechen und mit ihrem Reiter ertrinken und ersticken würden. Je größer und je breiter die Hufe, desto wertvoller sei das Pferd.

Als er mir das erklärte, schlich sich Nazik, der >Köstliche<, von hinten an mich heran, um mich liebkosend in den Nacken zu beißen. Er bekam sofort eine zweite Ohrfeige, die noch weit |22B kräftiger als die erste war. Er hielt aber auch sie nur für ein Zeichen meiner Gegenliebe, denn er hob ganz genau wie vorhin den Kopf hoch empor, machte die Äuglein zu, sperrte das Maul dafür um so weiter auf, um den fürchterlichen Grundton seines Wesens zum zweiten Male hören zu lassen. Da aber fiel ihm noch im letzten Augenblicke ein, daß sein Herr ihn vorhin aufgefordert hatte, sich zu schämen; er schluckte das, was empor hatte klingen wollen, wieder hinunter, machte das Maul wieder zu, die Äuglein dagegen auf, senkte den Kopf und schielte uns beide schwanzwedelnd an, ob wir uns wohl als fähig erweisen würden, seine Selbstüberwindung zu bewundern. Das rührte mich. Das ging mir nahe und brach mir fast das Herz. Ich klopfte und klatschte ihm liebkosend den Hals. Das hatte aber grad den entgegengesetzten Erfolg. Er warf seine ganze Selbstüberwindung sofort über den Haufen, schwang den Kopf schnell wieder in die Höhe und fing an, zu brüllen, zu trompeten, zu hupen, zu wiehern, zu kreischen und zu tuten, daß mir hätte angst und bange werden mögen. Da zog der Scheik seinen Spieß aus der Erde, holte aus und schlug derart auf den Sänger ein, daß dieser sofort verstummte. Hieraus war wohl mit vollem Recht zu schließen, daß die Urpferde bei den Ussul in guter Zucht und Sitte standen.

Es war eine geradezu kindliche Naivität, mit welcher der Scheik alle Gegenstände, die ich bei mir hatte, betrachtete und sie sofort in Gedanken und Worten derart registrierte, als ob sie nun ganz zweifellos schon in seinen Besitz übergegangen seien. Meine Uhr gefiel ihm so, daß er sie mir gleich gar nicht wiedergab, sondern sie einfach zu sich steckte. Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß sie in meine, nicht aber in seine Tasche gehöre. Da sah er mich fast ohne Verständnis an, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich begreife Dich nicht! Ich habe Dir doch gesagt, daß alle diese Gegenstände mir gehören, und Du hast Dich damit vollständig einverstanden erklärt!«

»Du irrst!« widersprach ich ihm.

»Ich irre nicht!« behauptete er. »Ich will zu Deiner Ehre annehmen, daß Du ein schlechtes Gedächtnis besitzest. Wenn ich das nicht täte, müßte ich Dich für einen Lügner halten, und Du gibst doch wohl zu, daß dies das Allerschlimmste ist, was einem Menschen geschehen kann! Oder hast Du etwa auch nicht zugegeben, daß jeder Mann mir gehört, der dieses mein Land betritt?«

»Nein, das habe ich allerdings nicht zugegeben.«

»Du hast aber doch >Ja< gesagt!«

»Aber hierzu nicht! Du fragtest mich, ob ich verstanden habe, was Du sagtest; hierauf sagte ich >Ja<. Und darauf sagtest Du, wenn der Mann Dein Eigentum sein, verstehe es sich ja ganz von selbst, daß Dir auch alles gehöre, was er besitzt. Da habe ich allerdings zugestimmt. Aber bezieht sich denn das auf mich? Und wie willst Du mir beweisen, daß ich Dir gehöre, daß ich Dein Diener, Knecht oder Sklave bin?«

»Ich habe es Dir gesagt; das ist der Beweis. Eines anderen bedarf es nicht!«

»Da irrst Du eben!«

»Ich irre nie!« behauptete er. »Ich bin der oberste Scheik der Ussul, und was in meinem Stamme Recht und Sitte ist, das führe ich aus. Es ist Recht und Sitte, daß Du mein Eigentum geworden bist; dabei bleibt es!«

Er sprach jetzt in sehr bestimmtem Tone.

»Und wenn ich nicht will? Wenn ich mich dagegen wehre?« fragte ich.

Er sah mich von oben herunter an, lachte belustigt auf und antwortete:

»Du Dich wehren? Du Knirps! Schau nur hier meine Hände an! Sag noch ein Wort dagegen, so drücke ich Dir mit diesen Fäusten den dummen Kopf zusammen, daß er mir als Brei hier an den Fingern klebt!«

Bei diesen Worten hielt er mir seine Gigantenhände drohend vor das Gesicht.

»Es würde Dir keinen Segen bringen,« warnte ich ihn. »Ich bin nämlich nicht allein!«

»Nicht allein?« fragte er, indem er rund um sich schaute. »Ich sehe niemand!«

|23A »Aber Du siehst doch zwei Pferde! Hast Du wirklich noch nicht daran gedacht, daß einer der beiden Reiter fehlt?«

»Er fehlt? So? Warum? Wo befindet er sich?«

Das war mehr als kindlich naiv! Er verstellte sich nicht; es war keine Finesse, keine Kriegslist von ihm. Er dachte wirklich genau so, wie er sagte. Er suchte mit den Augen nach dem Verschwundenen. Ich aber meinte es weniger ehrlich. Ich beabsichtigte, ihn auszuforschen, und richtete meine Antwort daraufhin ein, obgleich sie keine Lüge, sondern die volle Wahrheit enthielt:

»Wo er sich jetzt befindet, weiß ich leider nicht. Er bemerkte die Spuren hier im Grase und wollte sehen, von wem sie seien. Darum ging er hinter ihnen her und ist noch nicht wieder zurückgekommen.«

»Ging er hier geradeaus und dann links um die Ecke des Gebüsches?«

»Ja.«

»So kommt er überhaupt nicht wieder.«

»Warum?«

»Er ist unser Gefangener.«

»Du meinst, daß Deine Leute ihn gesehen haben?«

»Gesehen und festgenommen! Unbedingt. Von unserm Lagerplatze aus kann man grad bis an jene Ecke sehen.«

»So lagert Ihr wohl da drüben, links, jenseits des Gebüsches, im Walde?«

»Nicht im Waldes selbst, sondern am Rande desselben. Man hat Deinen Kameraden sofort gesehen, als er um die Ecke gebogen war. Ist er ebenso klein wie Du?«

»Noch kleiner.«

»Noch kleiner?« lächelte er.»So hat man sich wohl überhaupt gar keine Mühe mit ihm gegeben.«

»Und wenn er sich gewehrt hat - - -?«

Das war meine Hauptfrage. Ich war gespannt, was er hierauf sagen werde.

»So ist er tot,« antwortete er.

»Wirklich?«

»Gewiß! Wir dulden keine Gegenwehr. Wir verlangen Gehorsam. Und so ein Zwerg, der sogar noch kleiner ist als Du, wenn der es wagt, uns widerstehen zu wollen, so machen wir es kurz, sehr kurz mit ihm. Die Erde braucht keine Zwerge. Sie sind unnütz. Alles, was zu klein ist und was krank ist, steht dem Großen, dem Gesunden im Wege. Es hat zu verschwinden. Also, wenn Dein Genosse ungehorsam gewesen ist, so ist er tot. Aber das geht Dich und mich doch gar nichts an! Ich habe nachzusehen, was Du alles besitzest. Wenn das vorüber ist, reiten wir nach dem Lager. Dort wird das, was Du bei Dir hast, geteilt. Ich aber will jetzt schon sehen, was mir gefällt, damit ich es dann bekomme.«

Das war sehr aufrichtig, aber nicht sehr beruhigend! Daß ich allerdings das Lager betreten würde, aber nicht als Gefangener, das verstand sich ganz von selbst. Dazu gehörte zunächst die Überwältigung dieses Riesen. In welcher Weise sie zu bewerkstelligen sei, das war noch nicht bestimmt. Schuß- und Stichwaffen waren ausgeschlossen. Der Scheik war ein guter, lieber und zudem auch hochinteressanter Mensch, den ich weder verletzen noch gar töten durfte. Ich mußte im Gegenteile danach trachten, mir die Zuneigung der Ussul zu gewinnen. Dieser Stamm konnte mir als Stütz- und Ausgangspunkt für alles, was später zu geschehen hatte, dienen, und dazu war zunächst erforderlich, mich jeder nicht schonenden Behandlung ihres Anführers zu enthalten. Übrigens stellte es sich als gar nicht nötig heraus, mir den Kopf darüber zu zerbrechen, in welcher Weise ich ihn in meine Gewalt bringen könne. Er kam mir nämlich hierin ganz von selbst entgegen, und zwar in so bequemer Weise, daß ich weiter gar nichts zu tun hatte, als nur zuzugreifen.

Indem er mich und meine Sachen untersuchte, fragte er nach jedem einzelnen Gegenstande, um den Gebrauch und den Wert desselben kennen zu lernen. Er wollte für die spätere Verteilung schon jetzt seine Auswahl treffen. Darum fragte er nach allem, was er sah, und ich erteilte die gewünschte Auskunft in so bereitwilliger Weise, als ob ich mich vollständig in das mir bestimmte Schicksal ergeben hätte. So kam er auch an |23B den langen, höchst künstlich zusammengeflochtenen Fangriemen, der am Halse meines Syrr hing.

»Was ist das?« fragte er, indem er ihn betrachtete und betastete.

»Ein Lasso,« antwortete ich.

»Ein Lasso? Noch nie hörte ich dieses Wort! Dieses Flechtwerk ist eine große Kunst. Auch wir flechten Riemen, aber kurz, nicht so lang. Und so fest, so gleichmäßig und so schön bringen wir es nicht fertig. Das heißt also ein Lasso! Wozu wird es gebraucht?«

»Zum Fangen der Menschen.«

Es lag natürlich nicht in meiner Absicht, ihm zu verraten, daß sich dieser Gebrauch weniger auf Menschen als vielmehr auf Tiere bezog.

»Menschen fangen mit diesem Riemen?« fragt er schnell und angelegentlich. »Also doch wohl Feinde?«

»Ja.«

»Während des Kampfes? Wenn sie entfliehen wollen?«

»Überhaupt bei jeder Gelegenheit, wenn man sie fangen will.«

»Bei jeder Gelegenheit? Die Feinde fangen? Das ist ja wichtig, im höchsten Grade wichtig! Und Du weißt, wie man das macht?«

»Ja, natürlich.«

»Kannst Du mir es zeigen?«

»Wenn Du es wünschest, gern.«

»Gleich jetzt, hier? Nicht erst dann, wenn meine Leute dabei sind und es ebenso sehen wie ich?«

»Jetzt gleich,« nickte ich.

»So tue es; ja, tue es schnell! Seine Feinde fangen, mit so einem Riemen! Das ist ja herrlich! Schau, hier an meinem Gürtel hängt auch ein ganzer Pack von Riemen. Die sind aber nicht, um die Feinde zu fangen, sondern nur, um sie zu binden; da muß man sie aber vorher erst haben. Also zeig es mir!«

»Aber an wem soll ich es Dir zeigen?« fragte ich, indem ich den Lasso vom Halse des Pferdes schlang. »Es ist ja kein Feind vorhanden, den ich fangen könnte!«

»Das schadet nichts,« meinte er. »Denke einmal, ich sei einer! Dauert es lang?«

»Nur einige Augenblicke.«

»Und tut es weh?«

»Gar nicht.«

»So fang an! Mach los! Was habe ich dabei zu tun?«

»Setz Dich auf Dein Pferd und versuch, mir auszureißen!«

»Schön! Gut! Wohin soll ich fliehen?«

Ich deutete in die Richtung zurück, aus der ich mit Halef gekommen war, denn die kannte ich. Es kam mir darauf an, den Scheik von hier zu entfernen, wo das Lager seiner Leute so verhältnismäßig nahe war. Ein Hilferuf von ihm, den sie hörten, konnte meinen ganzen Plan vereiteln. Und zu seiner Ausführung brauchte ich einen versteckt liegenden Baum, an den ich den Riesen binden konnte, ohne befürchten zu müssen, daß man ihn sobald entdecken werde.

»Flieh dorthin zu,« antwortete ich, »und zwar so schnell Du kannst!«

»Willst Du mich etwa einholen?« erkundigte er sich mit breitem Lachen.

»Ja.«

»Und dann mich fangen? Zu Pferde?«

»Ja.«

»Mit diesen kleinen Hunden, die gar keine Pferde sind? Hörst Du, ich lache Dich aus! Also versuche es! Die Schande, die Du erlebst, ist dann nicht mein, sondern Dein!«

Er hatte keinen Steigbügel, sich bequem aufzuschwingen; so kletterte er mühsam auf den breiten First seines Urgaules. Dort angekommen, setzte er sich in der behaglichen Weise zurecht, wie man es sich nach Feierabend auf den Kissen eines alten lieben Kanapees bequem zu machen pflegt, nickte dann zufrieden von oben herunter und forderte seinen Untertanen, der mit ihm davonjagen sollte, auf:

»Jetzt fort von hier! Aber schnell, sonst setzt es gewaltige Prügel!«

Das liebe Tier schien diese Worte weder zu verstehen noch auf sich zu beziehen. Es tat gar nicht, als ob es irgendwen |24A auf dem Rücken habe, oder als ob außer ihm und mir noch irgend ein anderes Wesen vorhanden sei. Es richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf mich allein. Seine Blicke bewegten sich ausschließlich immer nur auf meiner Person herum, und zwar mit einem so entschiedenen Ausdruck von Wohlwollen, daß seine Zuneigung zu mir, dem Fremden, gar nicht zu verkennen war. Anstatt den Willen seines Herrn zu tun, kam es wieder auf mich zu, rieb seine Schnauze an meinem Arme und streckte dann die lange fette Zunge heraus, um mit ihr einen liebevollen Spaziergang über mein Gesicht zu machen. Da aber riß der Scheik den Kopf des Pferdes mit Hilfe des Zügelstrickes von mir weg und rief drohend aus:

»Was fällt Dir ein? Wenn Du nicht sofort galoppierst, werde ich mir Gehorsam verschaffen! Verstehst Du mich?«

Er bückte sich bei diesen Worten zu dem Kopf des Pferdes nieder, um ihm seine drohende Faust zu zeigen. Das Tier schien ihn dieses Mal verstanden zu haben, denn es versuchte, ihm einen strafenden Blick nach hintenüber zu werfen, stieß ein höchst unwilliges, antediluvianisches Getöse aus, was ich jedenfalls als Wiehern hinzunehmen hatte, trat ganz rasch an mich heran und machte mir mit der Zunge so schnell, daß es nicht zu verhindern war, einen Querstrich über das Gesicht.

»Er hat Dich lieb; wahrhaftig, er hat Dich lieb!« wunderte sich der Scheik. »Wie es nur kommen mag, daß grad Du ihm so gefällst?«

Ich nahm diese Worte hin, ohne mich lange zu fragen, ob ich mich über sie freuen oder ärgern sollte. Doch schien das mit der Zunge auch mir eine Art von Liebeserklärung zu sein. Es fiel mir dabei ein kleines Ereignis aus meiner Jugendzeit ein, welches mir damals psychologisch hochinteressant gewesen war. Das geschah während meiner Schülerzeit. Ich ging während einer Ferienwanderung an einer langgestreckten Gebirgswiese hin, auf der das Gesinde des Besitzers >Heu machte<, wie man das da oben auszudrücken pflegt. Die Leute verrichteten ihre Arbeit sehr ernst und fleißig, einen einzigen Knecht ausgenommen, der mit der vor ihm postierten Großmagd in einem fort schäckerte. Sie war ein großes, starkes, ungeschlachtes Frauenzimmer. Eben als ich vorübergehen wollte, umfaßte er ihre riesenhafte Taille, hielt sie fest und gab der Magd einen Kuß. Dann warf er mir, dem Zeugen seiner Heldentat, einen triumphierenden Blick zu, der aber nicht von langer Dauer war, denn die Magd holte aus und gab ihm eine so gut gesalzene Ohrfeige, daß er das Gleichgewicht verlor und, so lang er war, in das Heu zu liegen kam. Ein allgemeines Gelächter erscholl, und nun war es die Magd, die mir, dem Zeugen ihrer Heldentat, einen triumphierenden Blick zuwarf. Ich kleines, gern auch einmal lustiges Männchen blieb stehen und lachte mit. Als er das sah, sprang er zornig auf und rief mir zu: »Was hast denn Du zu lachen, Du Knirps, Du nichtsnutziger, Du? Daß sie mir die Maulschelle 'geben hat, is doch der Beweis, daß sie mich gern hat! Wannst es net glaubst, so geh her und frag sie doch gleich selber!« Sie aber wartete es gar nicht ab, ob ich das tun werde, sondern sie stemmte die Arme in die Hüften, nickte mir sehr überlegen zu und belehrte mich: »Is richtig, alles richtig! Er is der Meinige. Einen andern hau ich net!« Meine damalige Menschenkenntnis |24B reichte noch lange nicht an das Verständnis dieser eigenartigen Logik heran. Darum machte ich mich schleunigst auf den Weg, um im stillen darüber nachzudenken, welche Gründe man haben kann, nur immer >den Meinigen< zu hauen, aber keinen anderen. Daß dieses scheinbare psychologische Rätsel etwas psychologisch sehr leicht Begreifbares ist, das sah ich erst nach Jahren ein. Und jetzt, wo der Scheik sich über die Zuneigung seines Urpferdes wunderte, kehrte mir die Erinnerung an jenen Ferientag zurück. Sollte das Urpferd den Ohrfeigen, die ich ihm gegeben hatte, dieselbe Bedeutung beigelegt haben? Sollte es mich für >den Seinigen< halten? Der Scheik trieb es von neuem an, zu laufen. Es blieb stehen und äugelte mit mir. Er stieß ihm die Fersen in die Weichen. Es blieb stehen und äugelte mit mir. Er schlug es mit der Faust auf den Schädel, daß ich glaubte, es müsse ein tiefes Loch entstehen. Es rührte sich nicht von der Stelle und äugelte mit mir. Da begann er, es mit dem schweren Spieß zu bearbeiten. Als auch das nichts half, rief er mir zornig zu:

»Siehst Du denn nicht, daß es nicht will? Treib es doch an! Gib ihm eins hintendrauf!«

»Ich soll es antreiben, ich?« fragte ich. »Bin denn ich der Reiter?«

»Nein. Aber es scheint seinen Narren an Dir gefressen zu haben. Es will nicht von Dir fort. Da bist Du doch verpflichtet, es von Dir fortzujagen. Es ist doch nicht Dein, sondern mein!«

Ich hatte Mühe, das Lachen zu unterdrücken, und antwortete:

»Ist das vielleicht die Schande, die Du mir vorausgesagt hast? Was soll das für ein Wettrennen werden, wenn Dein Pferd überhaupt nicht von der Stelle will! Hast Du es denn nicht in der Gewalt?«

»Natürlich habe ich es! Und wie! Wenn es vorwärts soll, drücke ich ihm meine Schenkel an den Leib - - -«

»Da geht es vorwärts?« fragte ich.

»Ja. Wenn es nach rechts soll, ziehe ich an der rechten Leine - - -«

»Da geht es nach rechts?«

»Ja. Wenn es nach links soll, ziehe ich an der linken Leine - - -«

»Da geht es nach links?«

»Ja. Wenn es stehenbleiben soll, ziehe ich an der rechten und an der linken Leine zugleich - - -«

»Da bleibt es stehen?«

»Ja.«

»Das glaube ich nicht. Beweise es mir! Du treibst es ja an; es geht aber nicht!«

»Weil ich die Einleitung vergessen habe. Ich wollte nicht wieder herabsteigen, um es nachzuholen. Darum bat ich Dich um Deine Hilfe. Aber, um Dir zu beweisen, daß es gehorcht, muß ich dennoch wieder hinunter. Paß auf!«

Er arbeitete sich schwerfällig vom Pferde zur Erde nieder, drehte seinen Spieß um, hob ihn hoch empor und schrie dem Gaule zu:

»Ich weiß, was Du willst! Du willst erst Prügel haben! Ich muß Dir jedesmal, ehe ich aufsteige, zeigen, daß ich der Herr bin, nicht aber Du; sonst glaubst Du es nicht. Da hast Du die Hiebe, da - da - da - da - und da!«

Er schlug mit aller Gewalt auf das Tier ein, daß es nur so klatschte und puffte. Das Tier senkte den Kopf, steckte ihn, |25A damit er nicht getroffen werde, so weit wie möglich zwischen die Vorderbeine und nahm im übrigen die Hiebe wie etwas Alltägliches und Vertrautes hin, das einem gewohnt und lieb geworden ist. Als es sein Deputat aufgezählt bekommen hatte, turnte sich der Scheik wieder auf seinen Sitz hinauf und sagte:

»Nun paß auf, wie es laufen wird! Wenn es durchbrennen soll, muß ich vorher Feuer machen. Dann läuft es, und wie! Keine Möglichkeit, mich einzuholen! Komm!«

Sobald er oben war, zog der Gaul seinen Kopf zwischen den Vorderbeinen hervor, warf ihn hoch empor, ließ herausfordernd seine unbeschreibliche Stimme erschallen und schoß dann vorwärts, aus Leibeskräften und in einer Art und Weise, als ob er sich vorgenommen habe, mit dem Kopfe durch alle Mauern von Ardistan zu rennen. »Komm! Hol mich ein!« rief der Scheik nochmals zurück. Dann war es aus mit dem Reden, denn er hatte sich alle Mühe zu geben, nicht aus dem Sattel geschleudert zu werden. Das ebenso plötzliche wie eilige Vorwärtsschießen des unbeholfenen, massigen Pferdekörpers machte einen so unwiderstehlich heitern Eindruck, daß ich laut auflachen mußte. Mit der Verfolgung brauchte ich mich nicht zu übereilen. Halefs Ben Rih war mehr auf Lasso eingeübt als mein Syrr. Den ersteren hatte ich jahrelang geritten, den letzteren aber nur erst kurze Zeit, und den starken, die Knochen sehr angreifenden Ruck, den der Lasso kurz nach dem Wurfe gibt, wollte ich dem hochedeln Syrr ersparen. Ich sorgte also dafür, daß die Gewehre und alles, was an Riemen hing, nicht schleudern und schlagen konnte, band Syrrs Zügel am Sattelknopfe fest, warf den Lasso in Schlingen und schwang mich auf Ben Rih. Der Lasso wurde im Sattelringe eingehakt; dann ging es vorwärts. Rih folgte ganz von selbst, ohne alle Aufforderung. Die klugen Tiere begriffen, daß es sich darum handelte, den vor uns hinstürmenden Reiter einzuholen.

Der Urgaul leistete, was er leisten konnte. Als ich in den Sattel stieg, hatte er gewiß schon vierhundert Pferdelängen zurückgelegt; aber ihn einzuholen, erforderte für uns, selbst ohne daß ich meine Pferde anzustrengen brauchte, nur eine so kurze Zeit, daß es gar nicht nötig war, sie zu berechnen. >Kleine Hunde< hatte der Scheik meine Pferde genannt, und wie Hunde, die ein Wild zu erjagen haben, flogen sie nun hinter ihm her, ohne daß es nötig gewesen war, sie vorher erst durch eine >Einleitung< mit dem Spieße zu begeistern.

Das Terrain war gar nicht ungeeignet zu einer solchen Jagd, rechts und links entweder Wald oder hoch aufstrebendes Gebüsch. Und nun schossen wir über ein Meer von Wohlgerüchen, dahin, welches niedrigen Papilionaten entströmte, die einen schmalen, sich lang hinschlängelnden, baumlosen Strich ausfüllten. Es waren zwei Arten der orientalischen Genista, die eine hochgelb, die andere metallisch weiß blühend. Diese letztere wird auch in der Heiligen Schrift erwähnt. Die gelbe glänzt genau wie Gold, die weiße wie reines, schmelzendes Silber. Ob beiden oder nur einer von ihnen der herrliche Duft entströmte, das war bei der Eile, die ich hatte, nicht festzustellen.

Die goldig silberne Bahn, der ich folgte, lief nicht gerade, sondern in häufigen Biegungen. Darum verschwand der Scheik bei jeder dieser Krümmungen vor meinen Augen. So oft er dann wieder erschien, konnte ich deutlich ersehen, um wie viel ich ihm näher gekommen war. Das ging unbeschreiblich schnell. Es waren wohl kaum zwei Minuten vergangen, seit ich ihm folgte, so trennten mich nur noch acht oder neun Pferdelängen von ihm.

»Hier bin ich!« rief ich ihm zu. »Paß auf!«

Er drehte sich um. Als er sah, wie nahe ich ihm war, rief er aus:

»Das schadet nichts. Ich fange ja nun erst an zu galoppieren!«

Das war einfach lächerlich. Sein Pferd strengte sich ehrlich an, konnte aber schon fast nicht mehr. Es stöhnte bei jedem Sprung, den es tat; das hörte ich. Es war bereits außer Atem. Und nun trieb er es mit den Füßen, mit den Fäusten und mit dem Spieße derart an, daß ich schon aus Mitleid mit dem Tiere der Sache ein Ende zu machen hatte.

»Halte Dich fest!« warnte ich ihn. »Jetzt fasse ich Dich!«

Er nahm sich gar nicht Zeit, sich wieder umzuschauen. Er rief die Antwort, die er mir gab, so vor sich hin, daß ich sie |25B nicht verstand, schlug aber mit verdoppeltem Eifer auf sein Pferd ein. Da nahm ich die wohlgeordneten Schlingen des Lasso so leicht, daß sie schnell ablaufen konnten, in die offene, linke Hand, hob die Schleife über meinen Kopf empor, gab ihr den nötigen, genau berechneten Schwung und ließ sie fliegen. Der Augenblick hiezu war günstig gewählt, denn der Scheik hatte grad jetzt seine beiden Arme gesenkt. »Andak!« rief ich meinen Pferden zu. Nur noch ein Sprung, da standen sie still. Die unzerreißbare, lederne Schleife schwebte grad über dem Kopfe des Scheiks. Eine kleine Bewegung meiner Hand und dann ein kräftiger Ruck, so fiel sie nieder und legte sich ihm um die Oberarme. Im gleichen Moment bekam Behn Rih den schon erwähnte Ruck, den er aber sehr wohl kannte. Er stellte sich schief, um nicht umgerissen zu werden, und so wurde der Scheik von dem scharf angespannten Lasso vom Pferde geschleudert. Sein Gaul tat noch einige Sprünge und blieb dann mit schlagenden Flanken stehen, um zunächst wieder zu Atem zu kommen. Als dies geschehen war, drehte er sich um, jedenfalls in der Absicht, nachzuschauen, wohin sein Herr so plötzlich verschwunden sei. Dieser aber lag so tief in den duftenden Schmetterlingsblüten, daß er gar nicht zu sehen war. Dafür sah der Gaul mich, der ich soeben aus dem Sattel sprang. Er kam augenblicklich auf mich zu, blieb vor mir stehen, warf den Kopf empor, riß das Maul auf und begann eine derartige welterschütternde Lamentation über die Zumutung, die an ihn gestellt worden war, daß höchst wahrscheinlich Steine erweicht worden wären, wenn sie dagelegen hätten. Leider durfte ich mir nicht die Zeit nehmen, die Triller und Läufer dieser noch etwas ungeschulten Stimme zu genießen, denn der Scheik stand nicht wieder auf. Er lag vollständig bewegungslos an der Stelle, auf die er gefallen war. Ich ging hin und kniete bei ihm nieder. Er lag in tiefer Ohnmacht. Jedenfalls war er mit dem Kopfe auf die Erde geprallt, und zwar so stark, daß er die Besinnung verloren hatte.

Ihm war diese Ohnmacht zu glauben. Bei einem Indianer hätte ich sie zunächst für Verstellung gehalten, in der Absicht, mich zu überlisten. Der Scheik der Ussul aber besaß wohl keine Veranlassung zu einer solchen Komödie. Seine Ohnmacht war jedenfalls echt, obwohl ich seinen Puls ziemlich deutlich schlagen fühlte. Und mir war sie hochwillkommen, denn durch sie wurde es mir möglich, ihn so vollständig und so mühelos unschädlich zu machen, wie es mir nicht möglich gewesen wäre, wenn er die Besinnung behalten hätte. Da kam mir denn der Pack Riemen gelegen, den er, wie bereits erwähnt, an seinem Gürtel hängen hatte. Ich machte ihn von meinem Lasso los, band ihm mit Hilfe dieser Riemen die Beine eng zusammen und die Arme fest an den Leib und schnitt aus dem nächsten Buschwerk einige Stangen, an die ich ihn lang ausgestreckt fesselte, um seinen eigenen Körper als Tragbahre zu benutzen, die ich meinen beiden Pferden aufladen wollte. Eben als ich die letzten Knoten schlang und er mir nun vollständig sicher war, kam er wieder zu sich. Er öffnete die Augen, die er zunächst ganz ausdruckslos auf mich richtete. Bald aber kehrte ihm auch das Gedächtnis zurück. Er erkannte mich, er besann sich.

|26A Des Scheiks erste Frage war: »Wo ist Smihk? Ich sehe ihn nicht!«

»Wer ist Smihk?« erkundigte ich mich.

»Mein Pferd,« antwortete er. »Das weißt Du noch nicht?«

»Nein, ich konnte es mir aber denken.«

Smihk heißt nämlich soviel wie >Der Dicke<.

»Du hast mich also dennoch eingeholt!« fuhr er fort. »Unglaublich!«

»Und Dich sogar gefangen genommen!« fügte ich hinzu.

Erst durch diese meine Worte wurde er darauf aufmerksam, daß er sich nicht bewegen konnte. Er versuchte zwar, die Glieder zu rühren, doch ohne Erfolg. Da rief er aus:

»Richtig! Ich bin sogar auch gefangen!«

»Wer hat also die Schande? Etwa ich?«

»Nein, Du nicht, sondern ich!« antwortete er, indem er einen grimmigen Blick an sich herniedergleiten ließ. »Das werde ich bestrafen!«

»An wem?« erkundigte ich mich.

»An Smihk! Das kannst Du Dir doch denken! Oder meinst Du etwa, ich sei schuld daran? Er ist eine faule Bestie! Ich schlage ihn tot! Wo ist er denn? Ich sehe ihn noch immer nicht!«

»Da steht er, gleich hinter Dir. Wenn er Deine Worte verstehen könnte, würde er Dich auslachen.«

»Auslachen? Warum?«

»Weil Du, der berühmte, tapfere Scheik der Ussul, nicht Mut genug besitzest, einen kleinen Fehler, den Du gemacht hast, einzugestehen, sondern ihn auf ein unschuldiges Wesen wirfst, welches sich nicht dagegen wehren kann. Das ist eine Feigheit. Ja, das ist noch mehr als Feigheit; das ist Lüge, und Du hast doch behauptet, daß die Ussul die Lüge hassen und verachten!«

»Ja, das tun wir; ja, die hassen wir! Der Lügner ist ein Feigling! Aber ich kann doch nicht einsehen, daß ich unwahr gesprochen habe. Wäre Smihk schneller gelaufen, so hättest Du mich nicht einholen und vom Pferde werfen können. Sogar gebunden und gefesselt hast Du mich! Wer ist also schuld daran? Nicht ich, sondern er!«

»Nein! Nicht er, sondern Du! Du kanntest meine Pferde nicht, die mit dem Winde um die Wette laufen. Und Du kanntest auch mich nicht, der ich weder Lust noch Veranlassung habe, mich wegen Deiner Körpergröße vor Dir zu fürchten! Es war eine unbegreifliche Unvorsichtigkeit von Dir, mich und meine Pferde gegen Dich und Deinen dicken Gaul herauszufordern. Wenn Du Verstand hast, so siehst Du das ein!«

»Hm!« brummte er nachdenklich. »Da hätte ich also diesen Smihk um Verzeihung zu bitten? Gut, ich tue es! Ich lüge nicht! Und ich habe Verstand! Ich bin der Scheik der Ussul, die nur die Wahrheit reden! Also, es war eine Dummheit |26B von mir! Das ändert aber daran nichts, daß Du ohne meine Erlaubnis in mein Reich getreten bist, und daß ich folglich Dein Gebieter bin, dem Du zu gehorchen hast. Ich befehle Dir also, mich loszubinden!«

»Sehr gern, aber jetzt noch nicht!« antwortete ich in meinem freundlichsten Tone.

»Warum nicht?« fragte er.

»Weil ich noch nicht ganz damit fertig bin, Dich gefangen zu nehmen.«

»Wieso?«

»Weißt Du denn nicht, daß die Gefangennahme eines Menschen erst dann vollendet ist, wenn er im Gefängnisse steckt?«

»Hältst Du mich etwa für so dumm, daß ich das nicht weiß?«

»Oder Du mich für so dumm, daß ich es nicht ausführe? Du hast über mich gelacht. Du hast es für unmöglich gehalten, daß ich Dich in meine Gewalt bringe. Ich muß Dir also beweisen, daß ich es kann. Daraus folgt, daß ich Dich in das Gefängnis zu schaffen habe.«

»Wo gibt es denn eins?«

»Hier ganz in der Nähe.«

»Du irrst. Das einzige Gefängnis, welches in dieser Gegend vorhanden ist, das gibt es in meinem Schlosse?«

»Wie?« fragte ich. »Du hast ein Schloß?«

»Ja. Ein großes, herrliches Schloß. Und rund um wohnt die Menge meiner Leute. Dieses Schloß kannst Du doch wohl nicht meinen?«

»Nein.«

»Ein anderes Gefängnis aber gibt es doch nicht!«

»Du irrst.«

»So sag nur, wo?«

»Ganz in der Nähe hier.«

Er lachte und rief aus:

»Du kennst als Fremder Orte, die ich als der Besitzer dieses Landes niemals sah! Und nach diesem Gefängnisse, welches ich nicht kenne, willst Du mich bringen, um Deinen Sieg zu vollenden?«

»Ja.«

»Wie willst Du das anfangen? Ich bin ja gefesselt!«

»Ich lasse Dich als Sänfte von meinen Pferden tragen. Oder ich binde Dich an den Schwanz Deines Smihk und lasse Dich durch ihn an Ort und Stelle schleppen.«

»Das muß ich mir verbitten! Ich bin weder eine Sänfte, die getragen, noch ein Holzbündel, welches geschleppt werden muß. Ich werde reiten!«

»Und mir entfliehen? Nein! Darauf gehe ich nicht ein!«

»So werde ich gehen!«

»Auch das nicht.«

»Warum nicht?«

|27A »Weil ich Dich da losbinden müßte.«

Das leuchtete ihm ein. Er war fast ebenso ein Urgeschöpf wie sein famoser >Dicker<. Er sann einige Zeit sehr beträchtlich nach und sagte dann:

»Du hast recht! In das Gefängnis muß ich, falls Du Wort halten willst. Wenn Du mich aber ganz losbindest, werde ich Dir unbedingt entfliehen. Da gibt es nur ein Mittelding, auf welches wir uns einigen können. Du gibst mir nämlich nur die Füße frei, die Arme aber nicht.«

»Gut! Einverstanden!« stimmte ich bei. »Dafür aber darfst Du Dich nicht dagegen wehren, daß ich Dich, sobald wir das Gefängnis erreichen, in festen Gewahrsam nehme!«

»Das verspreche ich Dir sehr gern,« lachte er. »Dieses Gefängnis existiert ja nur in Deiner Einbildung. Wieviel hat es Löcher?«

»Keins. Es ist so gebaut, daß die Gefangenen nicht hineingeschafft, sondern nur außerhalb, also im Freien, untergebracht werden können.«

»Im Freien? Bist Du verrückt? Und das nennst Du ein Gefängnis? Höre, daß ich Dich getroffen habe, das beginnt, mir großen Spaß zu machen. Es wollte mir erst so gar nicht passen, daß ich gefesselt und gefangen bin; in der Weise aber, wie Du es treibst, fängt es an, mir zu gefallen. Gib mir die Füße frei! Dann gehen wir.«

»Das heißt: Du gehst, ich aber reite!«

»Ich habe nichts dagegen!«

Er nahm an, daß ich mich auf eines meiner Pferde setzen werde. Ich führte sie aber zur Seite, pflockte sie an und gebot ihnen, sich zu legen. Sie gehorchten sofort, und ich wußte, daß sie hier bleiben und erst bei meiner Wiederkehr aufstehen würden. Als der Scheik das sah, fragte er verwundert:

»Du lässest sie hier? Ich denke, Du willst reiten?«

»Allerdings, aber nicht auf einem von diesen beiden Pferden.«

»So wohl gar auf meinem Smihk?«

»Allerdings.«

Da schlug er ein schmetterndes Gelächter auf und rief dabei:

»Auf meinem Smihk will er reiten! Er, der Knirps! Auf meinem Smihk, der nicht einmal mir gehorcht! Eine solche Verrücktheit ist ganz unerhört! Das Pferd schmeißt ihn doch gleich beim ersten Schritt, den es tut, herunter!«

»Wollen sehen!«

Bei diesen Worten trat ich nahe zum Gaul heran. Ich warf ihm die beiden herabhängenden Enden des Zügelstrickes nach oben, griff in den Kamm und schwang mich hinauf. Es ging vor Überraschung mit den beiden Vorderbeinen in die Höhe, stand dann aber ganz still und legte die Ohren derart nach hinten, als ob es mich mit ihnen besichtigen wolle. Auf diese kurze, schnelle und wenig umständliche Art war ihm noch niemand auf den Rücken gekommen.

»Paß auf! Jetzt fliegt Du wieder herab!« warnte mich der Scheik.

Es fiel aber dem >Dicken< gar nicht ein, sich gegen mich zu sträuben. Als er fühlte, daß ich die beiden Strickenden in die Hände nahm, warf er den Kopf in die Höhe und ließ ein so außerordentliches Triumphgeheul hören, als ob er im Begriffe stehe, vor Wonne zu platzen. Ich gab ihm beiderseitigen Schenkeldruck; er ging. Ich zog rechts, und ich zog links; er gehorchte augenblicklich. Er trabte und galoppierte, je nachdem ich den Schenkeldruck verstärkte. Und er blieb sofort stehen, als ich beide Zügel zugleich spannte. Dann stieg ich wieder ab. Da drehte er den Kopf zu mir herum und ließ ein behaglich brummendes Schnauben hören, welches sehr deutlich sagte: »Das war mir eine Freude! Ich danke Dir! Steig nur bald wieder auf!« Der Scheik gestand aufrichtig ein:

»Ich weiß nicht, was ich sagen soll! So etwas hat er noch nie getan, noch nie! Wie mag das wohl kommen?«

»Davon später. Jetzt haben wir keine Zeit, uns mit den Gedanken und Gefühlen der Tiere zu beschäftigen.«

»Gedanken und Gefühle?« fragte er. »Meinst Du, die haben sie auch?«

»Natürlich!«

»Aber die gehen uns doch nichts an! So ein Vieh hat zu gehorchen, weiter nichts!«

|27B »Du irrst. Doch wiederhole ich, hiervon später! Jetzt habe ich Dich nach dem Gefängnisse zubringen.«

»Ja nach dem Gefängnisse, welches keine Gefängnisse hat!« lachte er. »Da hast Du mich aber von den Stangen loszubinden!«

»Das nicht,« erwiderte ich.

»Warum nicht? Da kann ich doch den Körper nicht bewegen!«

»Das sollst Du auch nicht. Zum Gehen brauchst Du nur die Beine. Es genügt also, wenn ich nur sie freigebe. Halt still!«

Ich entfernte den Riemen von den Füßen an bis herauf zu den Hüften, schob ihm die Stangen höher an den Leib hinauf, daß sie unten nicht zu lang waren, und stand ihm dann bei, sich von der Erde aufzurichten. Er nahm diese seine Hilflosigkeit mit außerordentlich guter Miene hin. Die Situation machte ihm sichtlichen Spaß. Das war eine Naivität, die nur im Lande der Ussul möglich sein konnte. Er hatte in seiner Einfalt eben nicht den allergeringsten Zweifel daran, daß er mein Herr und Gebieter sei und daß ich es nicht wagen werde, ihm in irgend einer Weise zu widerstehen. Seine Harmlosigkeit ging sogar so weit, seine Fesseln als etwas ganz Selbstverständliches und zum heiteren Spiel Gehöriges hinzunehmen. Ich band ihn an das eine Ende seines Spießes, nahm das andere fest in die Hand, um ihn dirigieren zu können, und schwang mich wieder auf den breiten Rücken seines Urgaules. Dann traten wir den Weg nach dem >Gefängnisse< an. Meine Pferde konnte ich unbesorgt hier zurücklassen, denn erstens hatte ich gar nicht die Absicht, mich sehr weit von ihnen zu entfernen, zweitens wußte ich, wie bereits gesagt, daß sie liegen bleiben würden, und drittens war mit Gewißheit anzunehmen, daß es ringsum keinen Menschen gab, der hier zu erwarten war.

Ich habe schon angedeutet, daß ich unter dem mehrfach erwähnten Gefängnis einen Baum verstand, an den ich den Scheik binden wollte. Ich sah einen hierzu passenden in der Nähe. Aus einem Gebüsch von Tamarix gallica erhob sich eine hohe Pappel von der Art Populus euphratica. Die war fest, und das Gebüsch bildete einen dichten Schirm, hinter den ich meinen Gefangenen verschwinden lassen konnte, ohne daß er zu sehen war.

Als wir die Stelle erreichten, hielt ich an, stieg vom Pferde und führte den Scheik durch das Gesträuch hindurch bis zur Pappel.

»Lehne Dich an den Stamm, aber recht fest!« forderte ich ihn auf.

»Warum?« fragte er.

»Ich muß Dich anbinden.«

»Gehört das auch noch mit dazu?«

»Ja.«

»So tue es!«

Er lehnte sich, um es mir möglichst bequem zu machen, so fest wie möglich an die Pappel und sah ganz ruhig zu, daß ich erst seine eigenen Riemen und dann auch meinen Lasso dazu benutzte, ihn so an den Stamm zu befestigen, daß es ihm nur mit fremder Hilfe möglich war, wieder loszukommen. Dabei sagte er treuherzig:

»Ich sehe aber ganz und gar nicht ein, warum Du mich hier an diese alte Pappel bindest. Wenn Du die Zeit hier verschwendest, wie lange soll es da dauern, bis wir an das Gefängnis kommen, welches Du mir versprochen hast?«

»Gar nicht mehr dauert es,« antwortete ich. »Wir sind schon da.«

»Schon da? Wieso?« fragte er erstaunt, indem er um sich schaute.

»Diese Pappel ist das Gefängnis.«

Ich hatte ihn jetzt ebenso fest wie sicher und setzte mich nieder.

»Diese Pappel - - -!« fuhr er fort. »Ist das Gefängnis - - -? Höre, Fremder, ist das Scherz oder ist es Ernst?«

Sein Gesicht nahm jetzt einen Ausdruck an, der bedenklich und immer bedenklicher wurde.

»Es ist mein Ernst,« antwortete ich.

»Und ich habe es so halb und halb für einen Scherz genommen, obwohl der Scheik der Ussul eigentlich kein Mann ist, |28A mit dem man ungestraft Scherze treiben darf. Aber merke Dir, daß ich den Scherz mit Dir getrieben habe, nicht etwa Du mit mir! Also dieser Baum ist das Gefängnis! Und also darum hatte es keine Löcher, in die man gesteckt wird! Und also darum werden die Gefangenen nur außen herum untergebracht, im Freien! Der jetzige Gefangene bin ich?«

»Ja, Du!«

»Wie lange? Wann werde ich wieder frei?«

»Sobald Du willst.«

»Das ist gut! Das freut mich! Ich fordere Dich also auf, mich augenblicklich wieder loszubinden. Ich muß zu meinen Leuten in das Lager, und Du mußt mit!«

»Das eilt nicht so!«

»Du hast mir aber doch gesagt, sobald ich will. Und ich will!«

»Das hast Du zu beweisen.«

»Beweisen? Warum? Wieso?«

»Dadurch, daß Du dafür sorgst, daß meinem Begleiter, der sich höchstwahrscheinlich in Eurem Lager befindet, nichts geschieht, was mir nicht gefällt.«

»Allah 'l Allah! so würde ich verwundert ausrufen, wenn ich Mohammedaner wäre. Da ich aber keiner bin, so rufe ich es nicht, sondern sage Dir nur, daß ich Amihn heiße und der Scheik der Ussul bin. Du bist mein Eigentum, und darum ist alles mein, was Du besitzest.«

»Mit welchem Rechte?«

»Mit dem Rechte der Gewohnheit, der Sitte, des Gebrauches.«

»So hat also jedermann das zu tun, was Recht und Gepflogenheit seines Stammes ist?«

»Natürlich!«

»Auch ich und Du?«

»Ja, auch ich und Du!«

»Schön! Einverstanden! So sind wir also einig!«

»Gewiß sind wir einig! Bei den Ussul ist es Recht und Sitte, daß die Person und das sämtliche Eigentum jedes Menschen, der ohne besondere Erlaubnis zu uns kommt, uns gehört. Darum bist Du mein und hast mir zu gehorchen. Herrscht diese Sitte bei Euch nicht auch?«

»Gewiß! Doch aber in etwas anderer Weise?«

»In welcher?«

»Bei uns heißt es nicht: Jeder Mensch, der zu uns kommt, sondern: Jeder Mensch, zu dem wir kommen.«

»Ich verstehe Dich nicht ganz.«

»So paß auf: Jeder Mensch, zu dem wir kommen, gehört uns, und zwar mit allem, was er besitzt.«

»Wirklich?« fragte er erstaunt.

»Ja,« antwortete ich mit besonderer Betonung.

»Da seid Ihr schöne Kerle! Pfui Teufel!«

Er machte eine Gebärde des Abscheus und spuckte dabei aus.

»Findest Du das etwa nicht richtig?« erkundigte ich mich.

»Ganz und gar nicht richtig! Es müßte denn sein, daß ich Dich falsch verstanden habe. Nach Deinen Worten ist es doch folgendermaßen: Wenn Ihr in ein fremdes Land kommt, so ist dieses Land Euer, samt allen seinen Bewohnern und aller ihrer Habe. Ist es so?«