Als wir allein waren, sorgten wir zunächst für die Pferde. Es war alles da, was sie brauchten, und für die Hunde wurde vom >Palaste< aus reichlich für Fleisch und Knochen gesorgt. Dann untersuchten wir die Umgebung. Wir wohnten in lauter Gemüse. Das Haus lag nämlich in den großen Gärten des Scheiks. Leider fanden wir nicht Zeit, sie ganz zu überschauen, denn es dunkelte bereits, und in jenen Gegenden ist die Dämmerung bekanntlich sehr kurz. Am Flusse gab es Stufen, die zum |84B Wasser hinabführten. Da hingen mehrere kleine Flösse und Boote, auch ein ledernes Kanoe, wie dasjenige draußen im Urwalde, in dem wir heimlich über den See gerudert waren. Ich gab den beiden Dienern den Wunsch zu erkennen, dieses Fahrzeug ausschließlich nur für uns zurückzuhalten.

Von allen Pflanzen hier in den Gärten waren nur die Duriobäume am interessantesten. Es gibt Leute, welche die Früchte dieser Bäume für die größte Delikatesse auf Erden betrachten. Der Durio wird sehr hoch, noch höher als unsere ältesten Äpfel- und Birnbäume. Er hat rot-silbergraue, schuppige Blätter und grüngelbe Blüten. Seine Früchte erreichen die Größe eines Menschenkopfes und sind entweder von kugeliger oder länglich-runder Gestalt. Die Schale derselben ist dick und hart und dicht mit Stacheln besetzt. Das Innere enthält fünf Fächer, in jedem Fach einige Samen, die von einem weißen, außerordentlich appetitlichen Fruchtfleisch umgeben sind. Dieses Fleisch schmeckt allerdings ebenso gut, wie es aussieht, wie fein zubereiteter Rahm von allerbester Milch, nur hat man sich, wenn man diese Speise nicht gewohnt ist, beim Essen die Nase zuzuhalten, weil sie, je nach der besonderen Sorte des Baumes, sehr stark nach verdorbenen Zwiebeln, faulen Eiern, altem Käse oder stinkigem Fleische riecht. Es gibt sogar Sorten, und das sind die beliebtesten und gesuchtesten, die nach allen diesen schönen Dingen duften. In Europa pflegt man diesen Baum Zibetbaum zu nennen, weil angeblich die Zibetkatzen für ihn eine ebenso große Zuneigung besitzen, wie unsere heimischen Katzen für den Baldrian. Er ist ein außerordentlich nützlicher Baum. Seine sehr wohlschmeckenden Samen werden wie Kastanien geröstet, und das Fleisch der Früchte wird trotz seines üblen Geruches weit höher geschätzt als jedes andere Obst. Unreif wird es als Gemüse zubereitet.

Als ich Halef auf die Eigenschaften dieser Früchte aufmerksam machte, die er noch nicht kannte, sagte er:

»Also grad wie beim Menschen! Mag er noch so niedrig wachsen oder noch so hoch wie diese Duriokugeln, und mag der Geschmack ein noch so delikater sein, etwas schlechter Geruch ist fast immer dabei. Zudem pflegen grad die, die am höchsten hängen, die bösesten Stacheln zu haben! Übrigens wird sich wohl ein Mittel finden lassen, den Gestank zu vermeiden, ohne auf den Wohlgeschmack verzichten zu müssen. ich glaube, ich kenne es schon.«

»Welches?«

»Komm! Ich werde es Dir zeigen. Glaubst Du etwa, daß es nachher beim Festessen eine Duriospeise geben wird?«

»Wahrscheinlich sogar mehrere. Die Frucht wird auf sehr verschiedene Weise zubereitet und gehört zu den beliebtesten Nahrungsmitteln der Ussul.«

»So wollen wir uns beeilen, nach dem Mittel zu suchen, welches ich mir ausgesonnen habe!«

Wir gingen in das Haus, wo er sich über die vorhandenen Kissen hermachte, um nachzusehen, womit sie gefüllt waren. Gleich aus dem ersten, dessen Naht er ein wenig öffnete, quollen ihm weiße, weiche Baumwollflocken entgegen.

»Schau!« sagte er. »Das ist es, was wir brauchen! Wenn ich mir die Nase damit zustecke, ist sie ganz außerstande, mich mit Gerüchen zu ärgern, mit denen ich mich nicht befassen will. Verstehst Du mich, Effendi?«

»Sehr wohl!« lachte ich.

»Und Du bist bereit, Dich an meiner schönen Erfindung zu beteiligen?«

Er begann, die Flocken herauszuzupfen.

»Laß es uns versuchen. Gib her!«

»Hier hast Du! Stecke es ein! Das Mittel ist natürlich nicht schon jetzt anzuwenden, sondern erst dann, wenn die unheilvollen Gerüche sich uns nähern. Täten wir es schon jetzt, so verzichteten wir auf alles andere, was der menschlichen Nase Vergnügen und Begeisterung bereitet. Bedenke, das köstliche neubackene Brot und den belebenden Duft der Rinderviertel und vielen anderen Braten! Meine Seele schwärmt schon jetzt diesen Genüssen entgegen! Die Deinige nicht auch?«

Wer ihn so sprechen hörte, mußte ihn für einen großen Esser halten. Das war er aber nicht. Wenig genügte, ihn zu sättigen, und er hatte oft genug bewiesen, daß ihn im Ertragen von Hunger und Durst kein anderer übertraf.

|85A Übrigens brauchte er auf die Genüsse, auf die er sich innerlich mit Phantasie und äußerlich mit Watte vorbereitete, nicht lange zu warten. Der Scheik kam in eigener Person, uns zum großen Festmahle abzuholen. Er äußerte, daß er wegen der Hunde Sorge habe. Er befürchtete, daß sie es erzwingen würden, mir zu folgen, und daß in diesem Falle eine große Gefahr für seine Gäste entstehe. Ich beruhigte ihn. Die Hunde bekümmerten sich jetzt gar nicht um mich; sie lagen bei ihrer Knochenmahlzeit hinter der wohlverriegelten Türe. Das beruhigte ihn.

Es wurde in zwei verschiedenen Räumen gegessen. Die Gäste zweiten Ranges saßen im Mittelraume des >Palastes<, in der Nähe der Herde. Obenan thronte da der >'Mir von Ardistan< in der Pracht seiner flimmernden Orden. Er fühlte sich so erhaben, daß er unserer Ankunft, obgleich wir unmittelbar an ihm vorüber mußten, keine Spur von Beachtung schenkte. Die Gäste höheren Ranges waren auch im Erdgeschoß versammelt, im größten Zimmer desselben, welches vier nach außen gehende Fenster hatte und sehr wohl mit dem Ausdruck >Saal< bezeichnet werden konnte. Der Fußboden dieses Saales bestand aus festgerammter Erde, in welche man Pfähle geschlagen hatte, um durch daraufgenagelte Bretter Tische, Bänke und Stühle zu bilden. Man saß hier also nach europäischer Weise an hohen Tischen. Auch die Betten in unserem Hause drüben waren auf hölzernen Gestellen bereitet. Ein Sitzen, Lagern und Liegen in der allgemeinen orientalischen Sitte, nämlich unten an der Erde, verbot sich durch die im Lande herrschende außerordentliche Feuchtigkeit ganz von selbst.

Gedeckt, aber ohne Tischtuch und ähnliche Raffiniertheiten, war auf einer langen Tafel, über der zwei große Leuchter hingen. Sie bestanden aus zusammengesetzten Geweihen und trugen große, starke, brennende Talglichter, die eine für uns genügende Helligkeit verbreiteten. Versammelt waren die Ältesten, der Oberst, die beiden Leutnants und noch mehrere angesehene Männer, die wir erst noch kennen lernen sollten. Frauen gab es nicht, außer der Herrin der Ussul, die obenan saß und das Mahl und die während desselben geführte Unterhaltung in einer Weise leitete, daß sich unsere bisherige Achtung vermehrte und befestigte.

Was wir aßen und in welcher Zubereitung und Reihenfolge es aufgetragen wurde, ist natürlich Nebensache. Ich will nur kurz erwähnen, daß die ungeheueren Portionen Fleisch, in welche die Braten für die einzelnen zerlegt worden waren, in so kurzer Zeit verschwanden, daß Halef nur immer auszurufen hatte: »Maschallah! Es geschehen Zeichen und Wunder!« Die Gemüse waren in noch größeren Mengen vorhanden, doch blieb kein Blatt, kein Stiel von ihnen übrig. Duriogerichte gab es mehrere. Man aß die Frucht auch roh, ganz in derselben Weise, in der man bei uns Melonen ißt, und ich will verraten, daß uns hierbei die Watte nicht unwesentliche Dienste leistete. Natürlich hielten wir ihre Anwendung geheim. Später, als wir uns an diese wirklich ausgezeichnete und delikate Speise gewöhnt hatten, lernten wir auf den aus den Sitzkissen stammenden Schutz unserer Geruchsorgane zu verzichten.

Man hatte mich zur rechten und Halef zur linken Hand der Herrin gesetzt. Der Scheik saß an meiner Seite. Er bewährte sich immer mehr als eine etwas unkultivierte Ansammlung aller möglichen Sorten von Gutmütigkeit. Bei Anwendung nur einiger Vorsicht war es wirklich fast unmöglich, sich mit ihm zu entzweien. Wir erkannten mehr und mehr, daß seine Frau die eigentliche Regentin des Stammes war und daß sie auf das Urteil des Sahahr viel mehr gab als auf die Meinung ihres Mannes. Aber diese Achtung war auch alles, was sie dem Zauberer widmete. Lieb und gern haben konnte sie ihn nicht, weil sie die Freundin des Dschirbani war.

Geraucht wurde nicht. Ich will hier gleich ein für allemal sagen, daß die Ussul überhaupt nicht rauchen, weil sie den Tabak für ein sehr schädliches Gift und seinen Rauch für belästigend und störend halten. Das bedeutete für zwei Raucher, wie Halef und ich, einen nicht ganz geringen Verzicht. Einem anderen Gifte aber, welches sogar als Doppelgift bezeichnet wird, haben sie nicht entsagen können, nämlich ihrem Simmsemm, welches in zwei großen Krügen auf der Tafel stand, die beide, |85B als das Essen vorüber war, vollständig ausgetrunken worden waren. Darum glaubte der Scheik, dem dieses Gift sehr behagte, uns eine Begründung schuldig zu sein, und die brachte er, indem er behauptete, daß man wegen der Feuchtigkeit des Landes gezwungen sei, Simmsemm zu trinken.

»Auch Ihr werdet schon noch trinken, wenn Ihr nur erst lang genug hier gewesen seid!« fügte er hinzu. »Es ist ja allbekannt, je trockener das Land, desto weniger braucht man Gift!«

»Es gibt aber Leute, welche ganz das Gegenteil behaupten,« widersprach ich ihm. »Nämlich je trockener das Land, desto mehr müsse man trinken.«

»Nun, so mögen sie es tun!« lachte er. »Jeder Mensch findet einen Grund, das Gift, welches er für nötig hält, zu verteidigen!«

Es muß indes erwähnt werden, daß die Ussul außerordentlich viel vertragen konnten. Hätte ich nur den vierten oder fünften Teil dessen getrunken, was der Mäßigste von ihnen trank, so wäre mir ein >Sergoschluk el Sergoschluk<, wie Halef sich gern auszudrücken pflegte, nämlich ein >Rausch der Räusche<, wohl bombensicher gewesen. Diese stämmigen Menschen aber wurden nur heiter und etwas gesprächiger davon, und da habe ich freilich zuzugeben, daß diese Wirkung des Giftes eine mir sehr angenehme und willkommene war. Die Unterhaltung gestaltete sich hierdurch viel angeregter und lebhafter, und es wurde uns dadurch eine Konferenz erspart, die nach dem Essen abgehalten werden sollte, nun aber schon während desselben erledigt wurde.

Diese Konferenz betraf erstens mich und Halef, oder vielmehr unsere Aufnahme in den Stamm der Ussul, und zweitens unsern Feldzug gegen die Tschoban. Ich hatte mir diese Konferenz als sehr kompliziert, sehr erregt und sehr lange vorgestellt; nun aber vollzog sie sich so außerordentlich schnell und kurz, wie ich es gar nicht für möglich gehalten hatte. Und das brachte der weibliche Scharfsinn und die weibliche Pfiffigkeit fertig, die sich auch hier, wie so oft, meinen Gedanken überlegen zeigte. Man hatte nämlich gehört, daß es in Europa bei derartigen Trinkgelagen Leute gebe, welche ein volles Glas in die Hand nehmen und eine Rede halten. Ich wurde gefragt, ob dies wahr sei und welchen Zweck eine solche Rede habe. Ich erklärte es ihnen zunächst theoretisch und sodann auch praktisch, indem ich meine volle Simmsemmtasse, die ich gar nicht hatte berühren wollen, ergriff und einen Trinkspruch auf das Wohl der Ussul, ihres Scheiks und ihrer Scheikin hielt. Die Sache wurde nicht nur sofort begriffen, sondern auch für höchst nachahmenswert gehalten. Die Herrin ging den andern mit ihrem Beispiele voran, und zwar ganz ohne Zaudern. Kaum hatte ich ausgesprochen, so nahm auch sie die vor ihr stehende Tasse zur Hand und erhob sich von ihrem Sitze, um mir zu antworten. Sie freute sich, daß ich ihr Volk lobte. Sie schloß aus diesem Lobe, daß es mir lieb sein würde, ein Ussul werden zu können. Sie erwähnte das Gesetz, nach dem jeder Aufzunehmende mit einem Ussul zu kämpfen habe, um durch seinen Mut seine Würdigkeit zu beweisen. Sie deutete darauf hin, daß ich sogar mit den Bluthunden der Ussul gekämpft und sie besiegt habe, ohne eine Waffe in der Hand zu haben; dies sei doch noch viel mehr, als was das Gesetz bestimme. Und sie legte ganz besonderen Wert darauf, daß wir beide, Halef und ich, den >Erstgeborenen< der Tschoban mit seinen Begleitern besiegt und gefangen genommen hatten. Dies hebe uns hoch über jeden ferneren Beweis unserer Tapferkeit und Würde empor, so hoch, daß eine Beratung und Abstimmung über diesen Gegenstand ganz überflüssig sei. Sie nehme uns also hiermit in den Stamm der Ussul auf und bitte uns, den Treuschwur in die Hand des Scheiks und der Ältesten zu legen. Der gegenwärtige Trinkspruch sei in ihrem Leben der erste, den sie halte. Sie sei stolz darauf, dies von uns gelernt zu haben, und sie hoffe, auch in Zukunft noch Vieles und Besseres von uns zu lernen. Hurra! Hurra! Hurra!«

Hei, wie die schwerfälligen Gestalten dieser guten Leute da schnell und leicht aufsprangen, ihre vollen Tassen leerten und dann herbeikamen, um mit höchst bereitwillig ausgestreckten Armen sich unsern Handschlag zu holen! Es gab einen unendlichen |86A Jubel, der auch nach der Tafel zweiten Ranges getragen wurde, indem einer hinausging, um die frohe Kunde dorthin zu bringen. Der Lärm, der sich da draußen erhob, war noch größer als der, den wir im eigenen Raume verübten, und der Grund dieses Beifalls war wohl zum großen Teile auch mit in dem Umstande zu suchen, daß da draußen erzählt worden war, welche große Freude wir über das neubackene Brot gehabt hatten. Als ich den Ältesten und dem Scheik die Hände gedrückt hatte, griff auch Taldscha nach der meinen. Sie hielt sie eine Zeitlang fest, ohne ein Wort zu sagen, und sah mir in das Gesicht. Leider konnte ich das siegreiche und ein klein wenig ironische Lächeln nicht sehen, welches jetzt auf ihrem Gesichte lag, doch war es jedenfalls da. Dann sprach sie:

»Das ging schneller, als Du dachtest, nicht? Zürnst Du mir darüber?«

»Keinesfalls!« antwortete ich. »Du hast als Weib gehandelt, und doch zugleich als Mann und Scheik. Ich danke Dir!«

Halef war überglücklich, Ussul geworden zu sein. Solche Dinge waren so recht nach seinem Geschmack. Die Größe seiner Freude trieb ihn hinaus zu den andern Gästen, um ihnen einen schmetternden Toast zu halten. Der Erfolg, den er hervorrief, war riesengroß, nach dem Lärm gemessen, der sich hierauf erhob. Später freilich, als wir wieder daheim in unserem Hause waren, gab er zu, daß er sich doch im stillen über die Pfiffigkeit der Scheikin geärgert habe, durch welche der von dem Gesetze vorgeschriebene Kampf zwischen uns und zwei Ussul vermieden worden sei.

Und was die Verhandlung wegen unsers Feldzuges gegen die Tschoban betrifft, so stellte sie sich ebenso als unnötig heraus. Die Stimmung der Ältesten war auch in dieser Sache eine außerordentlich günstige. Sie richteten ganz einfach die Frage an Taldscha, ob sie diesen Feldzug für wünschenswert halte, und als sie eine bejahende Antwort bekamen, erklärten sie, daß der Krieg beschlossen sei und daß diese Angelegenheit also nun nicht mehr in ihre, sondern in die Hand des Obersten gehöre. Der sei der Befehlshaber des Heeres, und der habe sich nur seinen Kopf, nicht aber auch ihre Köpfe zu zerbrechen! Als Taldscha hiergegen einwarf, daß vor allen Dingen ich zu fragen sei, bat ich den Obersten, sich zunächst an meinen tapfern Hadschi Halef Omar, den berühmten Scheik der Haddedihn, zu wenden. Der sei ein erfahrener Krieger und jedenfalls gern bereit, ihm diejenigen Winke zu geben, die unbedingt zum Siege führen würden.

Kaum hatte ich das gesagt, so sprang Halef wie elektrisiert von seinem Sitze in die Höhe und forderte den Obersten und die beiden Leutnants auf, sich mit ihm an einen andern kleinen Tisch zu setzen; er werde dort mit ihnen weiteressen, um mit den von mir erwähnten Winken augenblicklich beginnen zu können. Sie erfüllten seinen Wunsch mit wahrem Stolze, und als ich im weiteren Verlaufe des Abendessens diesen ihren kleinen, abgelegenen Tisch einmal als den >Tisch der Feldherrn< bezeichnete, hatte ich mir die Herzen der drei >Offiziere< derart gewonnen, daß sie zu jeder Art von Tapferkeit erbötig waren.

In dieser Weise schaffte ich mir freie Hände. Taldscha war die einzige bestimmende |86B Person. An sie hatte ich mich zu halten. Indem ich alles Belästigende und Nebensächliche auf den kleinen Tisch ablud, bewahrte ich sie vor unbequemen, vielleicht sogar schädlichen Einflüssen und hab sie mit einem einzigen Rucke zu der Atmosphäre empor, in welche sie gehörte. Sie fühlte das, aber sie sagte nichts, doch ging es wie ein unsichtbarer und unhörbarer, jedoch leise, ganz leise zu empfindender Hauch von Dankbarkeit von ihr zu mir herüber. Sie war eine jener tief und edel angelegten Frauen, deren Aufgabe es ist, den Schritt vom gewöhnlichen Menschentum zum geläuterten Geistes-Menschentume ohne abstoßende Leiden, Qualen und Martern zu tun, um andere, die sich auch nach Vervollkommnung sehnen, zur freiwilligen Nachfolge anzuregen.

Ich erfuhr von ihr, daß die gefangenen Tschoban hier im Palaste untergebracht seien, in drei verschiedenen, wohl verriegelten Räumen, also vollständig getrennt voneinander, so daß eine Verständigung zwischen ihnen ganz unmöglich sei. An eine Flucht war nicht zu denken, so streng wurden sie bewacht. Sie waren noch jetzt mein Eigentum. Aber ich hatte versprochen, sie an die Ussul abzutreten, sobald ich bewiesen habe, daß sie nicht in friedlicher, sondern in feindlicher Absicht gekommen seien. Dieser Beweis war erbracht, doch man hatte die Abtretung noch nicht verlangt, und so hielt ich mich noch immer für berechtigt, ganz allein über sie zu verfügen. Ebenso erfuhr ich von ihr, daß der Sahahr glücklich nach Hause gebracht worden sei und sich ganz sonderbar benehme. Seine Frau wünsche sehr, mich einmal zu sehen, und zwar womöglich noch heute, doch dürfe der Sahahr nichts hiervon wissen. Darum möge diese Zusammenkunft, wenn ich einverstanden sei, im Tempel stattfinden. Als ich erklärte, daß ich sehr gern einwillige, sagte Taldscha, sie werde dabei sein und mich nach dem Tempel begleiten.

»Wann?« fragte ich.

»Am Schlusse dieses Essens. Ich benachrichtige sie. Dann wartet sie im Tempel, bis wir kommen.«

»Du hast mir gesagt, daß sie die Seele, er aber nur der Körper sei. Es widerstrebt meinem Herzen, so eine Frau auf mich warten zu lassen. Aber wünsche ich nicht, daß die andern Gäste dann meinetwegen auch gehen müssen. Wie lange wird die Festlichkeit noch währen?«

»Wenigstens bis Mitternacht. Doch kannst Du Dich entfernen, so bald es Dir beliebt. Kein Mensch wird es Dir übelnehmen.«

»Auch nicht der Scheik?«

»Auch dieser nicht!«

»Aber Du mußt bleiben.«

»O nein. Warum soll ich nicht ganz dieselbe Freiheit haben wie Du und jeder andere? Ich bleibe stets nur so lange, wie es für mich wichtig und geboten ist. Das Wichtige ist vorüber. Was nun noch kommt, ist nur Essen und Trinken und nebensächliches Gespräch. Ich bleibe also nur Deinetwegen. Wünschest Du fort?«

»Ja.«

»Das ist aufrichtig von Dir! Ich bitte Dich, stets so offen gegen mich zu sein, denn ich bin es auch gegen Dich. Habe nur noch eine Viertelstunde Geduld, denn ich muß meine Freundin vorher benachrichtigen!«

|87A Sie schickte einen Boten. Dadurch sprach es sich herum, daß wir uns entfernen würden, doch verursachte das nicht die geringste Störung. Es fiel niemandem ein zu denken, daß nun auch er zu gehen habe. Selbst Halef rief mir zu:

»Du willst fort, Sihdi? Ich aber muß unbedingt noch sitzen bleiben!«

»So tue es! Auch ich gehe noch nicht heim. Hast wohl noch Wichtiges zu verhandeln?«

»Unendlich Wichtiges!« rief er mit der Miene eines Mannes aus, der unter der Menge und der Schwere seiner Pflichten fast erstickt. »Bedenke doch, daß es einen Feldzug gilt! Es handelt sich um Leben oder Tod vieler Tausende von Menschen! Und wenn wir einmal siegen, so siegen wir immer weiter. Wir werden nämlich nicht bei diesem einen Siege stehen bleiben, sondern wir haben soeben beschlossen, in das Gebiet der Tschoban einzudringen und ihren Scheik abzusetzen. Was wir dann noch weiter erobern und wen wir dann noch weiter absetzen, das werden die ferneren Beratungen ergeben, die wir noch zu halten haben. Denn die heutige ist die erste, noch lange aber nicht die letzte!«

Als die Viertelstunde vorüber war, verabschiedeten wir uns. Dann durch den großen Mittelraum gehend, in dem die andern Gäste saßen, bemerkten wir, daß der Simmsemm hier bedeutend größere Verheerungen angerichtet hatte als bei uns. Es gab hier alle möglichen Sorten dieser Wirkung, vom leisen >Pfiff< und heiteren >Schwips< bis zum schweren >Affenrausch< hinauf. Dennoch erhoben sich alle von ihren Plätzen, um uns, als wir vorübergingen, ihre Achtung zu erweisen. Nur einer tat das nicht, nämlich der Denkmalsreiter. Der war total betrunken, und doch sprach sich der Spiritus auch bei ihm in ganz individueller Weise aus, nämlich durch Vergrößerung der Selbstüberhebung. Der Mann saß steif an seiner Stelle, stierte nur grad vor sich hin und lallte immerfort: »Ich bi - - bi - - bin nicht nur der 'Mi - - mi - - mir von A - - a - - ardistan, sondern sogar der 'Mi - - mi - - mir von Dschi - - dschi - - dschinnistan!«

Draußen war es dunkle Nacht. Die Sterne leuchteten, und die Sichel des Neumondes, dünn wie ein Strich, stand grad über dem Weg, auf dem wir nach der Stadt gekommen waren. Wir gingen über den freien Platz hinüber, direkt in den Tempel, dessen Tor offen stand. Ein Diener war dabei, der mit eintrat und es hinter uns gleich wieder verschloß.

Nun standen wir in einem großen, weiten Raum, der nach keiner Richtung hin eine Grenze zu haben schien. Es herrschte tiefste Finsternis. Nur wenn man das Auge nach oben richtete, sah man zwischen den Säulen, welche das Dach trugen, die Sterne herunter wie aus einer anderen Welt herein in das dichte Dunkel leuchten. Da wurde in der Mitte des Raumes, also an der Säule, welche die Decke trug, ein Licht angezündet. Das sah so klein, so winzig aus, in der großen, unendlich scheinenden Finsternis kaum zu bemerken. Das war der Anfang der Geschichte dieses Tempels, der Beginn des Gottesglaubens unter den Ussul. So winzig klein das Lichtchen war, man sah es doch, wenn man auch nicht wußte, woher es kam und was es zu bedeuten hatte. Und man ahnte, ja, man fühlte und man war überzeugt, daß sich dort, wo es entstand, etwas Lebendiges, Gütiges und nach Erleuchtung Trachtendes bewegte. Ein zweites Licht entstand, ein drittes, viertes, fünftes. Eines half dem anderen, die Dunkelheit zurückzudrängen. Es gesellten sich noch mehrere hinzu. Im Dämmerschein, den sie verbreiteten, wurde nun auch das Wesen sichtbar, durch welches sie hervorgerufen wurden. Es war ein weibliches - - die Priesterin. Ein weißes Gewand umhüllte sie, und glänzend weiß floß ein Schleier rund um von ihrem Haupt herab, der bis auf das Knie herniederreichte. Das war ihr Haar. Es umhüllte sie vollständig; es machte sie zum scheinbar undurchdringlichen Geheimnisse. Aber aus diesem lichtgewordenen Rätsel heraus erklang jetzt eine liebe, auffordernde Stimme:

»Kommt her zu mir!«

Das klang so eigentümlich, so geisterhaft durch den weiten Raum, in dem nicht eine Spur von Widerhall ertönte. Es war, als ob diese Aufforderung gesprochen sei, um in grenzenlose Fernen hinauszugehen. Es erfaßte mich eine ganz eigenartige |87B Regung, die nicht aus mir zu kommen, sondern mich von außen her zu ergreifen schien. Ich fühlte mich an heiliger Stelle. Es war mir, als ob es hier unmöglich sei, über gewöhnliche, gleichgültige Dinge zu sprechen. Wir gingen hin zu ihr. Sie war so hoch und stolz gebaut wie Taldscha. Man sah es nicht, man konnte es nur aus der silbernen Farbe ihres Haares vermuten, aber man wußte dennoch bestimmt, daß sie älter, viel älter sei als diese.

»Ich grüße Dich!« sagte sie. »Du bist unser Gast, also auch der meine, hier in diesem Gotteshause.«

Ich verbeugte mich vor ihr, als ob sie eine Fürstin sei; ich konnte nicht anders. Geschah das, weil wir uns in einem Tempel befanden? Oder war es nur der Eindruck ihrer Persönlichkeit, die Wirkung davon, daß ich jetzt in ihrer seelischen Atmosphäre atmete?

»Er ist soeben Ussul geworden!« berichtete die Frau des Scheiks.

»Also doppelt willkommen!« sagte die Priesterin, wobei ihrem Haarschleier ein kleines, feines Händchen entschlüpfte, welches sie mir entgegenstreckte. Ich zog es an meine Lippen, ohne antworten zu können, denn sie fuhr fort: »Ussul nur äußerlich! Mit dem Geiste nicht! Aber, wie ich hoffe, mit dem Herzen um so mehr!«

»Das gehört Euch allerdings,« sagte ich nun, »von dem ersten Augenblicke an, seit ich Eure Herrin sah.«

Hierbei deutete ich auf Taldscha; die aber entgegnete:

»Eure Herrin? Die bin ich nicht. Die steht hier.«

Sie hob die Hand gegen die Priesterin hin, welche diesen Fingerzeig mit der Erläuterung geschehen ließ:

»Wir beide lieben uns. Wir sind Freundinnen. Da gibt es keine Unterschiede, keine Herrin und keine Untergeben. Wir dienen beide, sie und ich! Heute ist mein Dienst besonders schwer. Aber der Sahahr hat Opium genommen, um schlafen zu können. Da fand ich Zeit, zum Tempel zu gehen.«

Sie machte eine Rundbewegung mit dem Arme und fuhr dabei fort:

»Du befindest Dich hier inmitten unseres Glaubens, unserer Religion. Sie bietet Dir, wie Du siehst, nur einige kleine, mehr als bescheidene Lichter, die sich vergeblich bemühen, die Finsternis zu durchdringen. Das ist der Anfang. Das ist die Sehnsucht, dem Dunkel zu entfliehen. Das sind die ersten Stufen, zu Gott emporzusteigen. Ich rief Dich hier in diese Finsternis, um Dir ehrlich zu sagen, daß wir uns nicht vermessen, schon Klarheit zu besitzen; nun aber sollst Du auch mit hinauf zu unserem Himmel steigen. Hast Du ihn schon gesehen?«

»Nein.«

»Und willst Du mit uns kommen?«

»Ja! Gern!«

»So mußt Du helfen, das Licht zu vermehren. Wir brauchen es beim Steigen.«

Sie gab dem Diener, der vorn am Eingang stehen geblieben war, ein Zeichen. Wir hörten das Geräusch von Rollen, die sich bewegten. Er ließ von oben einen Leuchter herab, der viele Lichte trug, die wir anzuzünden hatten. Ich half mit. Als dies geschehen war, begannen wir nach oben zu steigen. Ich habe die Treppe bereits erwähnt, die aus einzelnen Gliedern der Abteilungen bestand. Sie war nicht sehr breit, aber auch nicht unbequem. Da ich sie noch nicht kannte, nahmen mich die beiden Frauen in die Mitte: die Priesterin ging voran, dann ich, und Taldscha folgte. Während wir dies taten, zog der Diener den Leuchter in genau dem gleichen Tempo empor, so daß immer der Teil der Treppe, auf dem wir uns befanden, hell beleuchtet war. Am letzten Haltepunkt unter der Plattform angekommen, gab die Priesterin das Zeichen, den Leuchter wieder hinabzulassen. Als er zu sinken begann, sagte sie:

»Wir sind von Gleichnissen umgeben. Aus Himmelsnähe steigt unser Licht hinunter in die Tiefe. So verläßt die Offenbarung ihre Heimat, um nach der Erde zu trachten. Und je mehr sie sich ihr nähert, desto kleiner und ärmer und schwächer scheint sie zu werden, bis sie fast ganz in Finsternis verschwindet. Schau hinab!«

Der Leuchter war unten angekommen. Man konnte die Lichter nicht mehr unterscheiden. Der Schein, der von ihnen |88A ausging, war kaum zu sehen. Er bildete nur eine kleine, nebelige Stelle in der allgemeinen großen Finsternis. Es erregte ein bängliches Gefühl, da hinabzublicken. Die Priesterin schien dieses Gefühl schon oft beobachtet zu haben, denn sie sprach:

»Wer da hinunter sieht, der hält es wohl für möglich, daß es Gott um seine Liebe, welche er zur Erde schickt, zuweilen angst und bange wird. Kommt, laßt uns unsern Himmel sehen!«

Wir steigen die letzten Stufen vollends empor. Oben gab es eine Plattform mit Geländer. Mehrere Sitze standen da. Darüber zog sich ein kleines, aber vollständig schützendes Dach. Wir setzten uns nieder und hielten Umschau. Ja, die Priesterin hatte recht! Sie hatte sich ganz richtig ausgedrückt, als sie von dem Himmel sprach, den man hier oben schaue! Zwar war da nicht nur der Sternenhimmel über uns, sondern auch noch ein ganz anderer Himmel gemeint, der nur innerlich zu sehen und zu fühlen ist; aber schon der erstere genügte vollständig, uns dafür zu entschädigen, daß wir heraufgestiegen waren.

Diese Klarheit des Firmaments! Diese Reinheit seiner Lichter! Obgleich wir uns in einer Gegend befanden, deren feuchter Dunst der durchdringenden Kraft der Strahlen eigentlich feindlich ist! Ich saß mit dem Rücken nach Süd, schaute also nach Norden, wo Ardistan liegt und über ihm sich Dschinnistan erhebt. Grad hinter meinem Haupte leuchtete das berühmte Kreuz des Südens. Links über mir hatte ich die Sterne des Centaurus, weiter draußen die Wage und die Jungfrau mit der weithin strahlenden Spica. Fast grad im Norden schimmerte der Rabe, etwas weiter nach rechts der Becher und der Kelch, etwas zurück die Wasserschlange, an Helligkeit aber weit übertroffen von dem noch östlicher kreisenden Herzen. Ich hätte wohl gern noch weiter gesucht und die Frauen nach dem hiesigen Namen all dieser Sterne gefragt, wenn meine Aufmerksamkeit nicht von der Priesterin auf einen besonderen Punkt gerichtet worden wäre, der weit über den Raben hinaus im Norden lag.

|89A Die Priesterin deutete mit dem ausgestreckten Arm dorthin und sagte: »Merke auf! Es scheint zu beginnen! Ich glaube, daß wir zur rechten Zeit gekommen sind.«

»Was wird beginnen?« fragte ich.

Sie brauchte nicht zu antworten, denn der Himmel antwortete selbst. Es zuckte ein schneller, blitzartiger Schein über ihn hin, genau an der Stelle, wohin die Priesterin gedeutet hatte. Dieser Schein schien aber nicht von oben zu kommen, sondern von unten herauf. Und er war nicht hell und rein, sondern er hatte etwas Nachgemachtes, Gefälschtes an sich, wie wenn man Bärlappmehl durch eine Flamme bläst. Es sah also nicht so aus, als ob ihn der Himmel spende, sondern als ob er von der Erde stamme. Einige Zeit darauf wiederholte sich der Blitz, aber nicht an derselben Stelle, sondern mehr nach rechts. Und bald nachher erfolgte eine zweite Wiederholung, weit links davon. Dann verschwanden plötzlich die Sterne. Es wurde oben im Norden dunkel. Diese Finsternis blieb eine Weile stehen und senkte sich dann zur Erde nieder, langsam, nach und nach, nicht so plötzlich, wie sie aufgestiegen war. Das wiederholte sich einige Male. Ich war ganz still. Ich fragte nicht. Ich suchte in meinem Kopfe nach alten Schulkenntnissen, die sich auf derartige Erscheinungen bezogen, konnte aber keine Erklärung finden. Ein Nordlicht war es nicht. Es kam von der Erde. Es wurde emporgeworfen, mit mächtiger Gewalt. Es war vielleicht - - - doch halt, da kam es wieder! Doch nicht so, wie vorher. Zuerst wieder in der Mitte. Da stieg es empor, nicht blitzartig, sondern langsam, aber mit Macht! Zunächst violett, aber doch leuchtend feurig, dann blau, dann dunkelrot, blutrot, glühend rot, orange, gelb und endlich als klares reines Licht zum Himmel strahlend. Es bildete eine gigantische Säule, die von unten nach oben in allen diesen Farben glänzte, unten violett, nach oben in der angegebenen Regenbogenskala immer heller werdend und oben in einer Art von lebendiger, flockenreiner Flammenkrone zum Himmel zuckend, als ob es gelte, ihn zu umarmen und herabzuziehen. Und so langsam diese Säule entstanden war, so langsam kehrte sie wieder in sich selbst zurück. Kaum aber war sie verschwunden und wir, die wir von diesem überwältigenden Schauspiele tief ergriffen waren, holten tief Atem, so wiederholte sich dasselbe Phänomen in der gleichen Weise, erst rechts und dann links von der ersten Stelle. Diese Feuersäulen bestanden aus strahlengefärbter, nach aufwärts immer reiner werdender Flammenglut. Sobald sie sich entwickelt hatte, standen sie wie Leuchttürme, die von ihrer Basis bis zu ihrer Spitze brennen, oder wie glühende Gebete hilfsbedürftiger Menschen, die sich zum himmelstürmenden Fanal vereinigen, um, sich im Steigen läuternd, in voller Reinheit Gott erreichen zu können. Sie wechselten im Aufstrahlen und Niedersinken miteinander ab. Bald wuchs und fackelte es hier, bald dort zum Himmel auf, erst in längeren, |89B dann in immer kürzer werdenden Zwischenräumen, bis sich zuletzt feste, unbewegliche Mauern bildeten, die aus brennenden Regenbogenfarben bestanden und auf ihren Zinnen tausend weithin strahlende Fackeln trugen.

Ich war auf das Tiefste ergriffen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen, noch nie geahnt! Das stand in keiner Physik, überhaupt in keinem Buche! Die beiden Frauen schmiegten sich eng zusammen, wie man tut, wenn man sich fürchtet oder wenn irgend etwas wirklich Heiliges naht. Sie beteten. Das sah und hörte ich zwar nicht, aber ich fühlte es. Der Mensch wird schon noch begreifen lernen, daß man Gebete fühlt! Das Leuchten und Glühen, das Flackern und Flammen, das da oben im Norden aus der Tiefe zur Höhe stieg, war ein Gebet der Erde, und wenn die Mutter betet, so durchzuckt es alle ihre Kinder, mitzubeten! Wir standen auf dem Dache eines Tempels, eines ungeheueren Bauwerkes, in dem sich Riesen versammelten, um Gott zu dienen. Was aber war dieses scheinbar große und doch so armselige Haus gegen den heiligen Dom des Firmaments, in dessen unergründlicher Tiefe soeben das Herz der Erde brach, um in glühenden Atemzügen in alle Welt hinauszurufen, daß auch der scheinbar tote Stoff, die vielverkannte Materie noch Kraft, noch Leben und Seele hat!

So saßen wir lange, lange Zeit, in den Anblick des unvergleichlichen Phänomens versunken, bis ich das Schweigen brach:

»Eine unbeschreibliche Pracht und Herrlichkeit! Und sie bleibt! Sie vergeht nicht wieder!«

»Sie wird während der ganzen Nacht bleiben,« antwortete die Priesterin, »und auch während des ganzen Tages, wo man sie aber nicht sieht. Du wirst sie morgen sehen und übermorgen und fernerhin, bis ihre Zeit vorüber ist. Sie hat sich schon seit mehreren Nächten angekündigt und wird nicht eher wieder verschwinden, als bis die Frage, die sie erhebt, beantwortet ist.«

»Welche Frage?«

»Die Frage: Ist Friede auf Erden? Du kennst diese Frage nicht. Du hast wohl noch nie die Sage von dem zurückgekehrten Flusse gehört - - - «

»Ich kenne sie. Man hat sie mir gestern erzählt,« fiel ich ein.

»Auch das vom geöffneten Paradiese? Von den Scharen der Engel auf den Mauern und der Erzengel vor den Toren?«

»Ja.«

»So wisse, daß der Tag, an dem so große Dinge geschehen, gekommen ist! Er ist kein Erden-, sondern ein Himmelstag; darum dauert er länger als vierundzwanzig irdische Stunden. Er beginnt heut, jetzt, in diesem Augenblick. Er wurde der Erde vorher angezeigt. Ein tiefes, unterirdisches Rollen, nur während der nächtlichen Ruhe zu hören, ging durch die Lande. Im Norden wetterleuchtete es, doch ohne Gewitter, Sturm und Regen. Das sind die Zeichen, daß das Paradies sich öffnen |90A will. Ich habe das alles beobachtet. Und ich stieg jetzt wieder auf diese Tempelshöhe, um nachzuschauen, ob es abermals flamme und leuchte. Die Voraussage war aber schon vorüber; es kam das Ereignis selbst. Wir erreichten grad im rechten Augenblick diese Stelle hier. Erhebe Deine Augen, und schau nach Norden! Was Du siehst, das ist das Tor des Paradieses. Du kannst seine Säulen, Mauern, Türme, Ecken, Kanten und Linien ganz deutlich erkennen. Ob es sich öffnen wird, das weiß ich nicht. Es kommt vor, daß es zwar erscheint, aber doch verschlossen bleibt. Aber dann verschwindet es sehr bald wieder. Glaubst Du daran?«

Ich antwortete:

»Ich glaube allerdings an die Vorbildlichkeit aller Naturerscheinungen. Sie bilden sich nicht etwa nur, um überhaupt da zu sein, sondern sie stehen im Zusammenhange auch mit denjenigen Ereignissen, die wir mit unsern Sinnen jetzt noch nicht erfassen können. Aber - - -«

»Still! Jetzt kein aber! In diesem Augenblicke nicht!« bat sie mich. »Du sprichst von Naturerscheinungen. Was das sagen soll, weiß ich wohl. Da oben im Norden, der jetzt so überirdisch erleuchtet wird, stehen ganze, große Reihen von mächtigen Vulkanen, die einst täglich flammten und sich auch jetzt noch nicht beruhigt haben. Sie erwachen in Zwischenräumen von ungefähr hundert Jahren, die nach und nach immer länger werden, um zu zeigen, daß sie nur eingeschlafen, nicht aber gestorben sind. Sobald sie sich zu rühren beginnen, bebt die Erde. Die unterirdischen Gewalten, welche sich im Verlaufe dieser hundert Jahre ansammeln, vereinigen und vermehren konnten, sind stark genug geworden, sich von dem Drucke zu befreien, der auf ihnen lastete. Sie steigen auf; sie brechen hervor; sie verwandeln sich in Licht und reißen alles, was sich ihnen in den Weg stellt, mit zur Höhe. >Was ist das weiter?< fragt da derjenige Mensch, dessen Herz nicht stark genug ist, an den Zusammenhang der Dinge mit dem Plane ihres Schöpfers zu glauben. Ein ganz gewöhnlicher Ausbruch von Vulkanen, welcher von einem kleinen, nur wenig wahrnehmbaren Erdbeben eingeleitet worden ist. Die Flammen, welche der Erde entströmen, entstammen dem Feuer, welches in ihrem Innern wütet. Die verschiedenen Färbungen, die Schatten und Linien, die sich nur für den Blick aus der Ferne bilden, werden von dem Ruß und Rauch und Schlamm und Staub gegeben, der mit emporgerissen wird! So, so sagt der Gelehrte oder der Ungläubige. Wir aber, die wir weder gelehrt noch für den Himmel verloren sind, wir wissen recht wohl, daß diese Behauptung richtig ist, aber von einer Richtigkeit, deren nackte Kälte uns innerlich frieren läßt. Denn noch viel besser, als wir dieses wissen, ist es uns auch bekannt, daß alle sichtbaren Dinge dem Schöpfer dazu dienen müssen, uns die Geheimnisse jenes unsichtbaren Daseins zu enthüllen, dessen Gesetzen wir in unserm Innern, in unserm seelischen Leben Rechnung zu tragen haben. Für den Gottesfeind hat sich da draußen die Erde geöffnet, um mit Flammenfäusten ihren Schmutz und ihre Schlacken auszuwerfen; für uns aber, die wir von dem Äußeren auf das Innere und von dem Niedrigen auf das Hohe schließen, werden die Tore des Paradieses aufspringen, damit ihnen jenes Licht entströme, bei dessen Wahrheit und Klarheit die Engel sehen können, ob endlich, endlich Friede auf Erden sei oder leider immer noch nicht!«

Ich staunte über das, was ich hörte. Woher kamen dieser Frau solche Gedanken? Woher diese Kenntnisse, diese Anschauung, diese Erfahrung? War sie eine Ussul, oder nicht? Sie war von ihrem Sitze aufgestanden, indem sie sprach. Sie stand an der nördlichen Brüstung der Plattform, während ich an der südlichen saß. Ihre weiße Gestalt ragte vor mir inmitten der Glut, welche das hochliegende Bergland zu uns herniedersandte. Sie erschien von heiligem Lichte eingerahmt, wie ein Wesen, welches nicht von der Erde stammt, so wissend, so rein, so heilig. Ich mußte an die Norne Urd, die altgermanische Schicksalsgöttin denken, die ebenso, dem Geschlecht der Riesen entstammend, auf dem Gewordenen steht und das Werdende überschaut, um das Werdensollende zu erkennen. Es stieg ein unbeschreibliches Gefühl in mir auf, aus der Tiefe meiner Seele, ein Gefühl, welches ich bisher noch nie empfunden hatte. Es war nicht |90B Liebe; es war nicht Bewunderung, nicht Hochachtung oder Vertrauen, aber dennoch war es das, und noch viel mehr als dieses alles. Es kam auch eine ganz besondere Gabe von Mitleid hinzu. Was sollte dieses Gefühl? Wer gab es mir! Floß es aus ihrer Atmosphäre auf mich über? Da drehte sie sich, als ob sie von dieses meinen Gedanken berührt worden sei, nach mir um und sagte:

»Ssahib, wundere Dich nicht über das, was ich sage! Wundere Dich auch nicht über die Art und Weise, in der ich rede! Meine Heimat ist Sitara, das Land der Berge Gottes, von dem Du wohl noch keine Kunde hast. Zwar wurde ich nicht dort geboren, auch meine Eltern und Voreltern nicht. Aber meine Ahnen stammen von dort. Sie wurden beide in dieses niedere, feuchte Land der Ussul gesandt, um diese armen Leute über Gott, ihren Herrn, und über die Aufgaben des Menschengeschlechtes zu belehren. Ich glaube, Ihr Europäer nennt das Mission. Sitara hat eine Herrscherin, keinen Herrscher. Dieses Prinzip folgte meinen Ahnen mit hieher. Die Überlieferungen aus der Heimat erbten von Glied zu Glied stets auf die älteste Tochter über. Zwar wurde der Ussul, den sie sich zum Manne wählte, Priester, aber das Wissen, die Würde, die Befähigung, die kam von ihr. So ist es gewesen bis auf den heutigen Tag, und so darf und kann - - kann - - kann es leider nicht bleiben.«

Sie hatte diese letzten Worte nur zögernd ausgesprochen und setzte sich dabei wieder nieder, als ob sie plötzlich müde geworden sei. Dann fuhr sie fort:

»Die Nachkommen meiner Ahnen sind verschwunden, sind Ussul geworden, sind ganz im Volke aufgegangen. Aber das war es ja, worin ihre Sendung bestand: Während sie herniederstiegen, hoben sie das Volk. Die Oberfläche dieses Menschenmeeres ist eine reinere, gesündere und bewegtere geworden. Und in der Tiefe ruhen nun die hinabgesunkenen Muscheln, damit es möglich sei, daß Perlen entstehen. Auch ich bin Ussul geworden. Du siehst es ja.«

Indem sie dieses sagte, bewegte sie mit beiden Händen den silbernen Schleier ihres langen, sie wie ein Geheimnis umhüllenden Haares und sprach dann weiter:

»Aber ich habe das, was ich von den Ahnen ererbte, bewahrt, beschützt und vermehrt, wie man Juwelen behütet. Gott gab mir ein Kind, eine liebe, kluge, für alles Edle begeisterte Tochter. Ihr fiel die Aufgabe zu, meine Nachfolgerin zu werden. Darum schmückte ich ihren Geist und ihre Seele schon von früher Jugend an mit den Schätzen, zu deren Behüterin und Bewahrerin sie berufen war. Ich legte ihr, indem sie emporwuchs, ein Juwel nach dem andern an, und es war meinem Mutterherzen eine Freude und Wonne, zu sehen, daß sie an Erkenntnis, Innerlichkeit und Tiefe wohl alle ihre Vorgängerinnen übertreffen werde. Ihr Vater, der Sahahr, der niemals aufgehört hat, mich zu lieben und mich zu ehren, fühlte sich nicht weniger glücklich als ich. Er setzte sein ganzes Hoffen und Wünschen allein nur auf dieses Kind. Sein Glaube an Gott nahm eine andere Richtung an. Er stieg vom Himmel auf die Erde nieder. Sein Glauben und sein Hoffen auf die Zukunft dieses Kindes wurde ihm zur Religion. Er war Ussul, aber ein Ussul mit aufrichtig edlem Streben. Dieses Streben gipfelte in den einstigen Aufgaben seiner Tochter. Er arbeitete ihr mit allem Fleiß im tiefsten Innern voran, um ihr die Lösung derselben zu ermöglichen. Wer nach dieser Tochter griff, der griff nach seinem Glauben, und wenn diese Tochter starb, so starb auch sein Glaube, seine Religion, sein - - - Gott! Kannst Du das begreifen, Ssahib?«

»Sehr wohl!« antwortete ich, innerlich tief bewegt. Denn nun war mir der Haß des Sahahr kein schmerzliches Rätsel mehr. Ich konnte ihn verstehen und entschuldigen.

»Da kam der Dschinnistani,« fuhr sie fort. »Als Arzt berühmt, so weit wie die hier bekannte Erde reicht, war er ein schöner, seelengroßer Mann, an Geist uns alle überragend, und dabei doch so einfach und bescheiden, daß er alle Herzen gewann, auch das meines Kindes! Noch heut ist mir das Rätsel, daß er sie lieben und zur Frau begehren konnte, nur zum Teil gelöst. Das Schönheitsideal des Landes, aus dem er kam, ist doch ein anderes als das der Ussul. Zwar sehe ich mich in |91A meinen Träumen stets mit freiem, offenem Gesicht, ganz mit den unverhüllten, unverschleierten Zügen meiner weiblichen Ahnen, aber grad darum erscheint es mir fast wie ein Wunder, daß ein so bedeutender Mann aus einem so hochliegenden Lande nach einem solchen Weibe trachten könne. Kannst Du es mir erklären, Ssahib?«

»Du hast es Dir schon selbst erklärt,« antwortete ich.

»Wann?«

»Vorhin, als Du davon sprachst, daß alles Sichtbare nur ein Fingerzeig auf das Unsichtbare sei. Nur ein Mann von Seele und Geist wird diesen Fingerzeig verstehen und ihm folgen. Daher kommt es, daß so viel geistreiche und bedeutende Männer Frauen haben, die nicht schön oder sogar häßlich sind. Nur der Geist kann die Seele finden, indem er den Körper durchschaut und durchdringt. Der Blick eines geistlosen Menschen aber wird nie das Innere erreichen. Er bleibt am Äußeren, am Körper haften und hängt dann auch sein ganzes Glück daran. So ist es zum Beispiele meinem Auge versagt, Deine und Taldschas Gesichtszüge zu erkennen, aber ich bin überzeugt, daß sie schön und bedeutend sind - - -«

»Und wenn sie nun häßlich wären?« unterbrach mich die Frau des Scheiks.

»So wäre der Schleier, den Ihr tragt, für mich und jeden vernünftigen Menschen ein doppelter Zwang, ja nicht am Äußeren haften zu bleiben, sonder nach Eurer seelischen Gestalt zu forschen, die von so beglückender Schönheit ist, daß man den Schleier, der sie nicht nur verhüllt, sondern auch beschützt, dann schließlich segnet. Du hast, o Priesterin, den Dschinnistani als einen seelengroßen und geistig über Euch stehenden Mann bezeichnet. Da ist es doch kein Wunder, sondern es hat sich ganz von selbst verstanden, daß er gleich mit dem ersten Blick den Diamanten in seiner Hülle erkannte und ihn unendlich begehrenswerter fand als eine Hülle ohne Diamanten. Klopft man an die letztere, so klingt sie so trostlos leer, daß man gleich ein- für allemal darauf verzichtet, sie überhaupt zu öffnen. Aber bei jedem Blicke und bei jedem Worte, mit welchem man die erstere Hülle erschließt, glänzt einem eine ganze Fülle von innerlichem Reichtum, von strahlender Lieblichkeit und Schönheit entgegen, und statt der Kälte und Abneigung, die auf der andern Seite nicht zu vermeiden ist, wird hier auf dieser Seite die Liebe immer inniger und das Glück immer größer werden.«

Die Priesterin antwortete nicht gleich. Ihre Augen waren hinaus in das Unendliche gerichtet. Der Glanz, der von dem fernen Flammenmeere zu uns herüberzitterte, vereinigte sich mit dem Silber ihres Haares zu einem rosigen Hauche, der in mir den Gedanken erweckte, daß die Engel vor den Toren und auf den Mauern des Paradieses, wenn es sich öffne, gewiß mit ganz denselben mehr seelischen als körperlichen Farbenreflexen übergossen seien. Und kaum war mir dieser Gedanke zugeflogen, so streckte sie den Arm nach Norden aus und forderte uns auf:

»Habt acht, habt acht! Das Tor beginnt, glaube ich, sich zu bewegen!«

Ja, wirklich! Es bewegte sich, es zitterte! Wie ein sich von innen näherndes Licht, welches durch Mauern leuchtet, so stach ein scharf glänzender Punkt durch den unteren, violetten, blauen und dunkelroten Teil der Flammenwand. Der Punkt durchbohrte diese Wand. Sie öffnete sich. Es entstand eine Spalte, die nach der Basis trachtete und, als sie diese erreicht hatte, immer breiter und immer höher wurde, ein Tor, ein Riesentor zwischen violett, blau und dunkelrot strahlenden Feuerpfeilern, die sich oben zu einer blutig hellrot glänzenden Spitze vereinigten. Aus diesem Tore brach ein Stern des hellsten, klarsten Lichtes, von unwiderstehlichen, elementaren Gewalten herausgetrieben. Sobald er das Tor verlassen hatte, verbreiterte er sich nach allen Seiten, und zwar in einer solchen Weise, daß sogar wir von ihm überflutet und beleuchtet wurden. Die Nacht um uns her verwandelte sich in Dämmerung. Das Firmament schien zurückzutreten, und einige Gestalten, die soeben da unten auf dem Denkmalplatze aus dem Tore des >Palastes< traten, waren so deutlich zu erkennen, daß man sah, wie sie sich bewegten. Welch eine Eruption! Welch eine Fülle von leuchtender Kraft und glühenden Stoffes entströmte dem Innern der Berge, die man zu übersteigen hatte, um hinauf nach |91B Dschinnistan zu kommen! Der Anblick dieses unbeschreiblichen Schauspieles ergriff und packte mich. Es war mir, als würde ich von ihm emporgehoben. Ich begann, zaghaft zu werden, und hielt mich am Geländer fest. Die Priesterin aber bog sich weit vor und rief so laut, als ob man sie da oben am leuchtenden Tore des Paradieses hören solle:

»Das ist es! Ja, das ist es! Das geöffnete Tor des verlorenen Paradieses! Hätten wir nicht sterbliche, sondern unsterbliche Augen, so würden wir die Heerscharen der Engel sehen! Und hätten wir nicht ein sterbliches, sondern ein unsterbliches Gehör, so würden wir jetzt die Stimme des Obersten dieser Heerscharen vernehmen, die über den ganzen Erdkreis schallt: Ist Friede auf Erden?«

Sie rief in ihrer Begeisterung diese Frage viermal von hier oben in die Tiefe hinab, und zwar in die verschiedenen Himmelsrichtungen, nach Norden und Süden, nach Osten und nach Westen. Fast hätte auch ich begeistert und ebenso laut wie sie die Antwort meiner Überzeugung und meines Herzens in alle Winde hinausgerufen: »Noch ist nicht Friede, aber Gott hat ihn uns verheißen; die ganze Erde bittet um ihn, und darum wird er kommen!« Aber ich bezwang mich und war still. Und das war gut. Denn wie auf der Erde das Böse gleich beim Guten und der Schatten gleich beim Lichte steht, so auch das Lächerliche gleich beim Erhabenen. Kaum war die Frage der Priesterin verklungen, so scholl von da unten, wo die Männer vor dem Tore des >Palastes< standen, die Stimme meines kleinen Hadschi Halef herauf:

»Fällt uns gar nicht ein! Wir fangen schon morgen an, zu exerzieren und zu marschieren! Unser Kriegsplan steht schon fest. Kannst Du mich sehen, Sihdi?«

»Ja,« antwortete ich, natürlich vollständig entgeistert.

»Ich Dich auch! Jedenfalls noch besser als Du mich. Was ist denn das für eine Helligkeit?«

»Sie kommt von feuerspeienden Bergen.«

»Muß das bei Nacht sein? Können die nicht warten? Ich muß schlafen. Dieser Simmsemm drückt mir die Augen zu. Der Oberst und die beiden Leutnants führen mich heim. Gute Nacht, Sihdi! Komm bald nach!«

»Wer war dieser Mann?« fragte die Priesterin beinahe zornig, denn auch sie fühlte sich wie aus einem Himmel gerissen.

Taldscha klärte sie über den kleinen Mann und seine Verdienste auf. Da verrauchte der Zorn der Greisin sehr schnell und sie sprach:

»Da hast Du gleich den ganzen Gegensatz zwischen Erde und Himmel! Bei uns hier oben ertönen Engels- und Friedensworte; da unten aber führt der Simmsemm das Wort und spricht vom Exerzieren und Marschieren! Aber, Ssahib, sorge Dich nicht um die Macht des Himmels! Und sorge Dich auch nicht um das Schicksal der Erde! Der Krieg, den heut der Simmsemm beschlossen hat, den wirst Du schnell zum guten Frieden führen. Es hat schon mancher Halef Omar behauptet, der Kriegsplan stehe fest, und sich dann trunken heimführen lassen; aber die Ausführung und das Gelingen dieses Planes liegt in der Hand eines Höheren, und da dieser Höhere will, daß sich die Völker lieben, so sind sie wohl beide längst schon unterwegs, nämlich der Friede zum Kommen und der Krieg zum Gehen!«

Sie stemmte den einen Arm auf die Balustrade, schaute weit hinaus, dahin, wohin ihre Gedanken gingen, und sprach weiter:

»Daß Friede werden muß, das fühle ich. Ja, ich weiß es ganz gewiß. Ich stamme aus Sitara, wo man den Krieg nicht kennt und jedes Wort ein Wort der Liebe und Versöhnung ist. O, Du mein Vaterland, mein herrliches und liebes! Ich sah Dich nie. Jedoch den letzten Blick, den meine Ahnen scheidend auf Dich warfen, den haben sie als heiliges Vermächtnis hinterlassen. Er ist von Glied zu Glied auf mich gekommen. Mit ihren Augen sehe ich Dich schon heut, doch mit den meinen erst, wenn ich gestorben bin, Du Land der Seelen, Land der Liebe, Land der - - -«

»Der Sternenblumen!« fiel ich ein.

Sie fuhr mit einem schnellen Ruck zu mir herum, richtete sich hoch auf und fragte:

|92A »Der Sternenblumen? Kennst Du sie?«

»Ja,« antwortete ich.

»Was weißt denn Du von ihnen?«

»Daß Taldscha nach ihnen duftet; nur wußte ich nicht, woher. Jetzt aber weiß ich es: Sie ist Deine Freundin. Dir ist dieser Dufthauch angeboren. Sie hat ihn von Dir!«

Sie trat einen Schritt näher und fragte:

»Aber Du? Woher ist er denn Dir bekannt? Dir, dem Fremdling, dem Europäer?«

»Auch ich habe ihn!«

»Von wem?«

»Von Marah Durimeh.«

»Von Marah Durimeh?« rief sie nicht, sondern schrie sie laut. »So ist auch sie Dir bekannt?«

»Bekannter als Du und Taldscha und alle hier am Orte! Die ist meine Freundin, meine Beraterin, meine Beschützerin.«

»So hast Du sie gesehen? Mit ihr gesprochen, wirklich?«

»Schon oft, schon oft! In verschiedenen Gegenden! Auch in Sitara schon!«

»Du warst - - -« sie unterbrach mich, ergriff meine Hand, zog mich näher zu sich heran, sah mir in die Augen und fuhr fort: »Du warst schon in Sitara selbst?«

»Ja!«

»Sag mir die Wahrheit, ja die Wahrheit! Ist es wirklich so?«

»Ja, wirklich!«

»Höre, ich prüfe Dich! Was Du sagst, ist fast unmöglich!«

»So prüfe!«

»Das werde ich tun, Höre, und antworte mir! Es soll dort eine Schmiede geben, eine ganz sonderbare, berühmte, alte Schmiede. Sie liegt im tiefen Walde. Es wird nicht Eisen dort geschmiedet, sondern etwas ganz anderes. Wenn Du bei Marah Durimeh gewesen bist, so kennst Du diese Schmiede unbedingt! Sie liegt in Sitara.«

»Nein, sondern nur an der Grenze von Sitara, nämlich in Ardistan. Nur wer in dieser Schmiede zu Stahl gehärtet worden ist, darf nach Sitara kommen.«

»Aber - - - aber - - - Du sagtest doch, daß Du in Sitara gewesen seist?«

»Allerdings!«

»Also auch in der Schmiede?«

»Ja.«

»Im Feuer, auf dem Ambos, im Schraubstock?«

»In allen Qualen, die es dort gibt.«

Sie war von dem, was sie hörte, fast außer sich. Sie atmete tief und schwer.

»So kennst Du den Bericht? Kennst seine Worte?« fragte sie.

»Schon längst!«

»So sag sie! Sag wenigstens den Anfang!«

Ich gehorchte ihr, indem ich die meinen Lesern wohlbekannte Schilderung rezitierte:

»Zu Märdistan, im Walde von Kulub,
Liegt einsam, tief versteckt die Geisterschmiede.
Nicht schmieden Geister; nein, man schmiedet sie!
Der Sturm bringt sie geschleppt um Mitternacht,
Wenn Wetter leuchten, Tränenfluten stürzen.
Der Haß wirft sich in grimmer Lust auf sie.
Der Neid schlägt tief ins Fleisch die Krallen ein.
Die Reue schwitzt und jammert am Gebläse.
Am Blocke steht der Schmerz, mit starrem Aug
Im rußigen Gesicht, die Hand am Hammer - - -«

Die Priesterin hatte mich bis hierher rezitieren lassen; aber ihre Erregung ließ sie nicht länger schweigen. Sie unterbrach mich, um selbst fortzufahren:

»Da, jetzt, o Mensch, ergreifen Dich die Zangen.
Man stößt Dich in den Brand; die Balgen knarren.
Die Lohe zuckt empor, zum Dach hinaus,
Und alles, was Du hast und was Du bist,
Der Leib, der Geist, die Seele, alle Knochen,
Die Sehnen, Fibern, Fasern, Fleisch und Blut,
Gedanken und Gefühle, alles, alles
Ward Dir verbrannt, gepeinigt und gemartert
Bis in die weiße Glut - - -«

Da wurde auch sie unterbrochen. Die Herrin der Ussul ergriff das Wort, um die Schilderung der Vorgänge in der >Geisterschmiede< fortzusetzen:

|92B »Da reißen Dich die Zangen aus dem Feuer.
Man wirft Dich auf den Ambos, hält Dich fest.
Es knallt und prasselt Dir aus jeder Pore.
Der Schmerz beginnt sein Werk, der Schmied, der Meister.
Er spuckt sich in die Fäuste, greift dann zu,
Hebt beiderhändig hoch den Riesenhammer
Und schmettert ihn gefühllos auf Dich nieder.
Die Schläge fallen. Jeder ist ein Mord,
Ein Mord an Dir. Du meinst, zermalmt zu werden.
Die Fetzen fliegen heiß nach allen Seiten,
Dein Ich wird dünner, kleiner, immer kleiner.
Und dennoch mußt Du wieder in das Feuer - -
Und wieder - - - immer wieder, bis der Schmied
Den Geist erkannt, der aus der Höllenqual
Und aus dem Dunst von Ruß und Hammerschlag
Ihm ruhig, dankbar froh entgegenlächelt,
Den schraubt er in den Stock und greift zur Feile.
Die kreischt und knirscht und frißt von Dir hinweg
Was noch - - -«

»Halt ein!« rief da die Priesterin. »Das ist nicht Sage und nicht Märchen, sondern Wahrheit! Das ist wirklich und wirklich die Schmiede, in der ein jeder, der nach Sitara will, vom Schmerz und seinen riesigen, erbarmungslosen Gesellen geglüht, gehämmert, gefeilt und gestählt werden muß, um aus einem Gewaltmenschen in einen Edelmenschen verwandelt zu werden! Nur wer dies geworden ist, der weiß, durch welche Leiden, Qualen und Martern er gehen mußte, und doch haben all die Tausende, die um ihn und mit ihm leben, keine Ahnung davon! Nicht seine Worte, sondern seine Werke verraten es. Höchstens vielleicht noch seine Augen, diese armen, für alle Zukunft noch qualerfüllten Augen, aus deren tiefstem Hintergrunde das dunkle Bild der Geisterschmiede schimmert! Wunderst Du Dich, Ssahib, daß ich diese Schmiede kenne?«

»Nein, denn Du hast mir ja gesagt, daß Deine Ahnen aus Sitara stammen. Aber daß auch Taldscha von ihr wisse, das habe ich nicht gedacht.«

»Sie erfuhr es von mir. Ich mußte es ihr sagen, denn selbst erleben kann sie es nicht, weil sie zu den anderen gehört, denen Gott es erlaubt, nicht durch das Leid, sondern durch das Glück veredelt zu werden. Aber nun frage ich Dich, ob Du wohl errätst, welche Bitte mir auf dem Herzen liegt, seit ich erfahren habe, daß Du nicht nur von Marah Durimeh weißt, sondern daß Du sie persönlich kennst und daß sie sogar Deine Freundin ist?«

»Es ist sehr leicht zu erraten,« antwortete ich.

»So bitte, sage es!«

»Ich soll Dir erzählen, wann, wo und wie ich Marah Durimeh kennen gelernt habe.«

»Ja, das ist es. Bist Du bereit, uns diesen Wunsch zu erfüllen?«

»Sehr gern! Wenn Du Zeit hast, mich zu hören.«

»Die habe ich. Nachdem der Sahahr Opium getrunken hat, wird er nicht vor Anbruch des Morgens erwachen. Und müde bin weder ich noch Taldscha, meine Freundin. Wenn wir von Marah Durimeh hören können, wird für uns sogar die Nacht zum Tage. Und schau der heutigen Nacht in die klaren, offenen Augen! Auch sie schläft nicht, sondern sie wacht. Fordert uns nicht alles, was unter, über und um uns ist, geradezu auf, von der großen, wundertätigen Herrin von Sitara zu reden? Unter uns der dunkle Raum des Ussultempels, der für mich den Anfang aller Glaubenswege bedeutet, die zu Gott führen. Über uns die strahlenden Sternenwelten, die unsern Blick nach oben ziehen, um uns die Richtung dieser Wege zu zeigen. Und rings um uns her das farbenreiche, mystische Licht, in welches sich die schwere, feste und starre irdische Hülle auflöst, weil sie uns zu offenbaren hat, daß sie einst aus der Höhe kam und durch diese Wandlungen und Läuterungen nun wieder nach dort zurückgeführt wird. Dieses Licht berührt auf diesem seinem Himmelspfade unser Gemüt. Es klopft im Vorüberstrahlen an unser Herz. Es gibt uns heilige Stimmung und macht uns empfänglich für jede Botschaft, die aus dem Lande der Liebe und Güte zu uns kommt. Auch Du bist ein Bote für uns, Ssahib, und was Du sagen wirst, ist heilig. Darum setze Dich! Setze Dich uns gegenüber, und sprich von ihr! Von der herrlichen, mächtigen Frau, welche die höchste und die reinste irdische Seele ist, weil alles Gute, was wir tun, indem |93A wir das Böse überwinden, sich erst an ihr zu formen und zu verewigen hat, bevor es unsere eigenen Gestalten verschönert und verklärt. Komm, setze Dich! Und erzähle!«

Ich folgte dieser Aufforderung. Mein Bericht über mein Verhältnis zu Marah Durimeh war weniger ein Erzählen als vielmehr eine Beantwortung von Hunderten von Fragen, die von den beiden begeisterten Frauen an mich gerichtet wurden. Wir saßen noch stundenlang, in stiller Nacht, auf der Zinne des innerlich dunklen Tempels, aber im Flammenscheine der Licht und Wärme schleudernden Vulkane. Es wäre wohl manchem meiner Leser interessant, zu erfahren, was meine beiden Zuhörerinnen zu fragen und zu forschen hatten, und ich möchte gern einen jeden, der diese meine Zeilen in die Hand bekommt, in dieses Allerheiligste der Menschenseele blicken lassen; aber ich muß alles vermeiden, was zu der falschen Meinung leiten könnte, daß ich mit meinen Erzählungen sonderreligiöse oder aftertheologische Zwecke verfolge, und so muß ich, wie so oft, auch hier über das hinweggehen, was lehrhaft erscheinen könnte.

Wenn ich gesagt habe, daß wir noch stundenlang saßen, so ist das sehr reichlich gemeint. So oft ich mich von meinem Sitz erhob, um Schluß zu machen, wurde ich gebeten, noch zu bleiben. Als aber endlich im Osten der erste blasse Gruß des Tages mit dem auch dorthin dringenden Lichte der Vulkane zusammenfloß, sahen die beiden Freundinnen ein, daß es notwendig sei, sich mit dem, was sie jetzt gehört hatten, einstweilen zu begnügen. Wir verließen die Plattform des Tempels, um wieder hinabzusteigen. Der Diener war trotz der Geduldprobe, die man ihm zugemutet hatte, noch da. Er bekam das Zeichen, den Leuchter wieder emporzuziehen. Von dem Scheine der fast gänzlich niedergebrannten Lichte begleitet, gelangten wir hinab und traten in das Freie. Die Frauen bedankten sich. Die Priesterin hatte noch einen besonderen Auftrag für mich, der ihr unendlich am Herzen lag. Ich hatte im Verlaufe unserer Unterredung Veranlassung gefunden, meinen Besuch bei dem Dschirbani auf der >Insel der Heiden< anzudeuten. Sie kam jetzt hierauf zurück, indem sie sich erkundigte, wann ich diesen Besuch zu machen gedenke.

»Er hat mich um die Mitte des Vormittages bestellt,« berichtete ich ihr.

»Möchtest Du mir die Güte erweisen, ihm eine Bitte von mir zu überbringen?«

»Gern! Befiehl über mich!«

|93B »Es ist mein Enkel, der Sohn meiner Tochter, und doch war es mir verboten, mit ihm zu verkehren. Es gab Rücksichten, die mich zwangen, dies dem Sahahr zu versprechen. Wir lieben uns, wie Gott und die Natur es verlangen, auch grüßen wir uns, doch nur von weitem. Jetzt aber ist der Sahahr so schwer verletzt, daß nur die Kunst seines Enkels ihn vom Tode zu erretten vermag, und da fühle ich mich nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, für diesesmal mein dem Sahahr gegebenes Versprechen aufzuheben. Ich bitte Dich, dem Sohne meiner Tochter zu sagen, daß ich genau um die Mittagszeit im Tempel sein werde, um mit ihm zu sprechen. Und auch noch um ein anderes muß ich Dich bitten. Es betrifft den Sahahr. Seit er verwundet heimgebracht worden ist, haben ihn ganz eigenartige Gedanken ergriffen. Es ist, als ob er phantasiere, aber doch ist er bei Sinnen. Erst hielt ich es für ein sehr frühzeitig auftretendes Wundfieber, bis mich der Puls überzeugte, daß dies ein Irrtum sei. Was aus diesen Gedanken wird, weiß ich noch nicht. Sie beschäftigen sich auch mit Dir. Aber mögen sie sich entwickeln wie sie wollen, so bitte ich Dich, überzeugt zu sein, daß der Sahahr Deine Hochachtung verdient und ein Mann ist, der nur das Glück und das Wohl seines Volkes will. Er haßt seinen Enkel nur als den Sohn des Dschinnistani, der den Ussul den Stamm ihrer Priesterinnen vernichtete; als den Sohn seines Kindes aber liebt er ihn heimlich um so inniger. Und dieser innere Kampf, dieser Zwiespalt ist es, der ihn nach außen hin so hart und so grausam macht.«

»Konnte Deine Tochter denn nicht auch als Frau des Dschinnistani Deine Nachfolgerin werden?« fragte ich. »Er war ja doch Ussul geworden!«

»Nur äußerlich, doch nicht innerlich. Sein Glaube war ein anderer als der unsere, und er zog den ihrigen zu sich hinüber. Wäre sie dem Glauben ihrer Väter und Mütter treu geblieben, so wäre sie auch als Frau dieses Mannes Priesterin geworden, aber er hätte der Nachfolger meines Mannes, also Sahahr, werden müssen, und das, das wies der Dschinnistani streng von sich zurück.«

»War sein Glaube so verschieden von dem Euren?«

»Ja. Zwar hat er ihn nie in Worten gelehrt, ihn aber immer in einer Weise bekannt, die tiefer und länger wirkt, als Worte wirken können. Du wirst das sehen, sobald Du die >Insel der Heiden< betrittst. Wirst Du mir meine Bitte, die sich auf den Sahahr bezieht, erfüllen können?«

»Sie ist bereits erfüllt. Ich achte ihn. Darum bedauere ich es von Herzen, daß wegen seiner Verwundung nun wohl |94A ein anderer die Zeremonie unserer Aufnahme unter die Ussul leiten wird.«

»Welche Zeremonie?« fragte da die Frau des Scheiks.

»Von der er gestern sprach, nachdem ich den Adler geschossen hatte. Er sagte, das sei eine heilige Zeremonie, die er als Priester vorzunehmen habe.«

Da lachte Taldscha lustig auf, indem sie rief:

»Um diese heilige Zeremonie habe ich ihn und Euch gebracht, indem ich Euere Aufnahme nicht im Tempel, sondern während des Abendessens beim fröhlichen Genusse des Simmsemm geschehen ließ. Aber sorge Dich nicht etwa um ihre Gültigkeit! Es kann kein Mensch etwas an ihr ändern! Du bist Ussul und bleibst Ussul, wenn die Zeremonie auch keine so ernste gewesen ist, wie der Sahahr sich gestern dachte!«

Hierauf begleiteten wir die Priesterin nach ihrem in der Nähe liegenden Hause, ich brachte Taldscha nach dem >Palaste< und wendete mich dann heim, nach unserer gastlichen Wohnung.

Es war, wie gesagt, beim Morgendämmern. Ich brauchte kein Licht. Man konnte deutlich sehen. Von den beiden Dienern war keiner da. Sie hatten, wie ich später erfuhr, gegen Morgen die Geduld verloren und sich entfernt, vorher aber noch gewaltige Holzklötze, die jetzt noch brannten, in das Feuer geworfen. Es herrschte also in dem für mich bestimmten Raume eine ganz angenehme, trockene Temperatur. Ich schaute nach dort hinaus, wo Halef liegen mußte. Ich sah ihn nicht. Ich suchte ihn in den andern beiden Stuben. Auch da befand er sich nicht. Da ging ich hinaus nach dem Pferdestall. Die Türe war nicht mehr verriegelt, sondern nur angelehnt. Ich schlug sie auf. Da fiel mein Auge auf zwei voneinander getrennte, aber sehr erfreuliche Gruppen. Links lagen die beiden Pferde eng aneinander geschmiegt. Sie begrüßten mich, indem sie leise wieherten, so leise, daß Halef nicht aufwachte. Dieser lag nämlich zur rechten Hand auf der weichen Blätterstreu bei den Hunden. Der eine von ihnen diente ihm als Kopfkissen; der andere lag, lang an ihm hingestreckt, von den Armen des Schläfers zärtlich umfangen. Beide waren wach. Sie wedelten, als sie mich sahen, mir ihre Morgengrüße zu, regten sich aber nicht, damit der kleine Hadschi nicht gestört werde. Rundum lagen große, abgenagte und zerbissene Knochen. Halefs Schlaf schien aber doch kein allzu tiefer zu sein. Die durch die offene Türe eindringende frische Luft wurde von ihm empfunden. Er machte eine Wendung und sagte:

»Laß das Lecken!« Und dann fügte er hinzu: »Es wird von den Gesetzen des Anstandes untersagt!«

Aber grad dieses Lebenszeichen, welches er da gab, bestimmte den Hund, das zu tun, was verboten worden war. Er begann, ihn zu lecken.

»Keine Vertraulichkeit!« befahl Halef. »Ich bin der Scheik; Du aber bist nur der Hund!«

Da wachte er vom Klange seiner eigenen Stimme auf, blinzelte mit den Augen und erklärte ihm:

»Der Hund darf den Scheik höchstens nur dann in das Gesicht lecken, wenn er von diesem vorher geleckt und also dazu aufgefordert - - -«

Er hielt trotz seiner Schlaftrunkenheit mitten im Satze inne, weil er die Gefährlichkeit dessen, was er sagte, fühlte. Er machte also die Hinzufügung:

»Da aber ein Scheik seinen Hund niemals lecken wird, so hast Du mir neben Deiner Liebe auch diejenige Hochachtung zu - «

Er unterbrach sich wieder. Er sprach sich immer munterer. Erst hatte er nur geblinzelt; nun aber öffnete er die Augen ganz. Er sah mich vor sich stehen. Da setzte er sich schnell auf, fiel aber gleich wieder um.

»Du hier, Sihdi, Du?« fragte er. »Wie kommst - - kommst - - kommst denn Du dazu, in - - in - - in - - «

Er versuchte immer wieder, zum Sitzen zu gelangen, fiel aber noch drei oder viermal um, bis er es endlich fertig brachte.

»Verzeihung, Effendi!« bat er da. »Kennst Du mich?«

»Eigentlich nicht!« antwortete ich.

»Kein Wunder!« nickte er, indem er sich mit den Händen nach dem Kopfe fuhr. »Du hast doch gewiß noch nie einen Menschen mit so vielen Köpfen gesehen! Ich habe fünf oder |94B sechs! Und alle, alle sind sie bis oben voll Simmsemm! Wie schwer das ist! Und wie sie alle wackeln! Siehst Du, daß ich sie mit den Händen festhalten muß, damit sie mir nicht herunterfallen, einer nach dem andern?«

»Leider, leider!«

»Schweig mit Deinem leider, ich bitte Dich! Du freilich hast es Dir gut und bequem gemacht! Du hast Dich schlauerweise nur über gewöhnliche Dinge unterhalten, die kein Kopfzerbrechen verursachen, und hast Dich dann, als es schwierig wurde, sehr einfach aus dem Staub gemacht! Aber auf mich ist alles abgeladen worden, alles, alles, was Klugheit, Nachdenken und Kenntnisse erforderte! Und als Du Dich entfernt hattest, legte man die ganze Last der diplomatischen und kriegerischen Verwickelungen nur ganz allein auf meine Schultern! Denke Dir doch nur diese Verantwortlichkeit! Und diese Kopfarbeit für mich! Da reicht ein einzelner Kopf gar nicht mehr zu! Ist es da ein Wunder, wenn man mehrere Köpfe bekommt? Ich habe sieben oder acht! Und weil das einzige Gehirn, welches man hat, für so viele Köpfe nicht ausreicht, so ist es doch wahrlich kein Wunder, daß sie sich nach und nach mit Simmsemmm füllen und so ungeheuer schwer werden, daß sie nur immer herunterfallen wollen! Und wie das summt und brummt! Hörst Du es, Effendi? Ich wollte, Deine Köpfe brummten, aber nicht meine!«

Um ihm diesen Wunsch in heiterer Weise zu vergelten, antwortete ich:

»Das glaube ich Dir, daß Du das möchtest! Aber sag, Halef, ist Dir die hundertundneunte Sure des Koran bekannt?«

Er sann nach, rieb sich die Stirn und brummte:

»Hm! Warum grad diese hohe Ziffer? Du weißt, Sihdi, daß ich im Koran gut bewandert bin, aber wenn Du gleich so über die Hundert hinausgehst, muß ich erst meine Köpfe alle versammeln, ehe ich Dir antworten kann. Ich habe neun oder zehn! Mit Ziffern kann ich mich in diesem Augenblick nicht gut befassen. Sobald ich nach einer fassen will, die im dritten Kopfe steckt, springt sie mir in den sechsten oder siebenten hinüber, und wenn ich da so töricht wäre, ihr zu folgen, so rissen mir inzwischen alle andern aus. Sag also nicht, die wievielte Du meinst, sondern ihre Überschrift, ihren Namen!«

»Man nennt sie El Imtihan, die Prüfung,« antwortete ich.

Die hundertundneunte Sure des Koran trägt diesen Namen, weil man sich ihrer zur Feststellung der Nüchternheit oder Betrunkenheit eines Menschen bedient. Sie lautet: »Im Namen des allbarmherzigen Gottes! Sprich: O Ihr Ungläubige, ich verehre nicht das, was Ihr verehret, und Ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich werde auch nie verehren das, was Ihr verehret, und Ihr werdet nie verehren das, was ich verehre. Ihr habt Eure Religion, und ich habe die meinige.« Das klingt im Deutschen einfach und ganz ungefährlich, bietet im Arabischen aber sprachliche Schlingen, denen jemand, der betrunken ist, mit fast unbedingter Sicherheit verfällt. Halef wußte das ebenso gut wie ich; darum sagte er, als er den Namen hörte:

»Die Sure El Imtihan? Willst Du mich prüfen? Denkst Du vielleicht gar, daß ich betrunken bin?«

»Daß Du es warst, ist sicher. Ob Du es noch bist, bezweifle ich, möchte es aber doch bewiesen sehen.«

»Sofort! Sofort!« rief er aus. »Ich und betrunken! Der berühmte Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar soll zu viel getrunken haben! Welch eine Schande! Welch eine Anklage! Welch eine Lästerung! Ich sage Dir, Effendi, nur meine Köpfe sind schwer; mein Magen aber ist leicht, völlig leer! Komm, und greif her! Du wirst sofort fühlen, daß nichts drin ist! Habe ich da zu viel getrunken? Oder ist das nicht vielmehr der allerbedeutendste Beweis, daß ich im Gegenteile zu wenig, viel zu wenig getrunken habe? Und da verlangst Du von mir die hundert - - - die hundert und - - - na, kurz und gut, die Sure!«

»Ja, die verlange ich!«

»Mit welchem Rechte? Ebensogut kann ich sie auch von Dir verlangen! Du warst auch mit beim Feste, beim Essen und beim Trinken! Und - - - Du wackelst! Sihdi, Du wackelst! Du wackelst wirklich ; ich sehe es ganz deutlich!«

»So fordere sie von mir!«

|95A »Schön! Gut! Abgemacht! Sihdi, ich fordere sie von Dir! Also, fang an! Aber wehe Dir, wenn Du falsche Worte bringst oder gar stecken bleibst! Ich lasse keinen einzigen Fehler durch! Nicht den geringsten!«

Ich rezitierte die Sure. Als ich fertig war, schüttelte er den Kopf und sagte!

»Sehr gut! Sehr genau und richtig! Ohne allen Anstoß! Das habe ich ganz genau gehört, denn ich kann sie nämlich auch! Und doch hast Du dabei gewackelt! Hin und her gewackelt! Aber wie! Das beweist nur, daß auch Leute, die nicht betrunken sind, wackeln können. Merke Dir das, Effendi! Wenn ich also vielleicht ein bißchen wackeln sollte, so beweist das eben nur, daß ich grad und genau ebenso nüchtern bin wie Du! Nun komme ich also an die Reihe! Soll ich dazu aufstehen?«

»Natürlich! Die Sure Imtihan wird zu diesem Zwecke stets nur im Stehen gebetet. Das weißt Du ja!«

»Ja, ich weiß es. Darum stehe ich auf!«

Er wollte mit einem einzigen, schnellen Rucke in die Höhe. Es gelang ihm aber nicht. Er setzte sich also wieder nieder. Auch ein zweiter und ein dritter Versuch mißlang.

»Du, das bin nicht ich,« entschuldigte er sich. »Das sind die Köpfe! Und das sind auch die Hunde! Die sitzen mir im Wege! So fange ich es also anders an! Besser, viel besser!«

Er begann zu knien. Dann stemmte er beide Hände nach vorn in die Streu und stellte sich hinten auf die Füße. Er stand also jetzt, wie man sich auszudrücken pflegt, auf allen Vieren. Die Hunde sahen ihm sehr erstaunt zu.

»Siehst Du, wie prächtig das geht, Sihdi?« fragte er. »Paß nur auf! Du wirst Dich wundern!«

Er nahm erst die eine und dann die andere Hand von der Erde und versuchte sich aufzurichten. Ein bißchen, noch ein bißchen höher, und wieder ein bißchen höher. Er benahm sich ganz wie ein zaghafter Akrobatenlehrjunge, der zum ersten Male auf das hohe Turmseil gesetzt wird und nun sich weder aufrichten noch vor oder rückwärts gehen kann. Er begann zu zittern, erst an den Beinen, dann am ganzen Körper.

»Auf, auf!« rief ich ihm zu.

Das erboste ihn.

»Du hast gut reden!« antwortete er zornig. »Du bist schon auf! Aber wie steht es mit mir? Das Schwerste bekomme doch immer nur ich zu tun! Aber ich werde Dich beschämen! Sieh! Jetzt, jetzt! Nur Pulver hinein, dann geht's!«

Wie gesagt, so getan. Er machte Pulver hinein. Leider aber wirkte das nicht auf- sondern abwärts. Im nächsten Augenblick saß er wieder unten zwischen den beiden Hunden.

»Diese Hunde, diese Hunde!« klagte er. »Was die mich irre machen! Du hast keine Ahnung davon, Sihdi! Dieses immerwährende Lecken während der ganzen Nacht! Und dieses immerwährende Im-Wege-Stehen jetzt am hellen Tage! Schau sie nur an, was für Gesichter sie machen! So spöttisch! Ich glaube gar, sie wagen es, mir Hohn zu lächeln! Da sollen sie staunen! Ich fange wieder an! Und dieses Mal komme ich aus einer anderen Gegend.«

Er drehte sich nach der Mauer um, stellte sich wieder auf alle viere und ging dann Griff um Griff mit beiden Händen an der Wand empor. Als er sich in dieser Weise aufgerichtet hatte, drehte er sich um, lehnte sich fest an, nickte mir triumphierend zu und fragte:

»Na, was sagst Du nun? Du wunderst Dich! Du bist überrascht, im höchsten Grade überrascht! Ja, man kann es; man hat es eben gelernt! Und nun sieh Dir einmal die Gesichter dieser Hunde an! Ganz anders als vorher! Wie sie staunen! Jetzt erkennen sie endlich, daß ich der Scheik bin, sie aber nur die Hunde! Und nun gehen wir zur Sure! Die willst Du doch?«

»Allerdings!«

»Die Sure Imtihan, die ich auswendig kann?«

»Ja.«

»Soll ich da auch die Einleitung sagen: Im Namen des allbarmherzigen Gottes?«

»Nein. Das ist nicht notwendig und das gehört nicht zu ihr, weil diese Einleitung vor jeder Sure steht. Du kannst |95B also gleich anfangen mit: >Hört, Ihr Ungläubige, ich verehre nicht das, was Ihr verehret.<«

»Gut! So fange ich also gleich damit an. Halte mir nur die Hunde vom Leibe, daß sie mir nicht etwa beide in mein Gedächtnis hereinspringen und Du dann glaubst, daß ich betrunken bin! Soll ich?«

»Ja. Also?«

Da nahm er seine ernsteste Miene an, streckte die Arme nach beiden Seiten aus, machte die Augen zu und begann:

»Sprich: O Ihr Hunde, Ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich - - -«

»Halt, falsch!« fiel ich ein. »Du hast doch >Hunde< gesagt!«

»Jawohl!« antwortete er, indem er die Augen wieder öffnete. »Das ist doch nicht etwa falsch?«

»Der Prophet richtet seine Worte an die Ungläubigen, nicht aber an Hunde. Es muß also heißen: O Ihr Ungläubige!«

»So muß es allerdings heißen. Und so habe ich nicht gesagt?«

»Nein.«

»Daran bist Du schuld, nicht aber ich!«

»Wieso?«

»Siehst Du nicht ein, daß mir die Hunde schon mitten im Gedächtnis sitzen? Und habe ich Dich nicht gebeten, sie mir vom Leibe zu halten? Wenn Du nicht besser aufpassest, ist es um meine ganze, schöne Sure El Imtihan geschehen!«

»Fang nochmals an!«

»Gut! Aber sei aufmerksamer als bisher!«

Er breitete die Arme wieder aus, machte die Augen wieder zu und fing wieder an:

»Sprich: O Ihr Ungläubige, Ihr verehret - - -«

»Falsch!« rief ich dazwischen. »Es beginnt nicht mit Ihr, sondern mit ich!«

Da verbesserte er sich:

»Sprich: O Ihr Ungläubige, ich beginne nicht mit Ihr, sondern Ihr beginnet mit ich, und ich - - -«

»Halt!« fiel ich wieder ein. »Es ist doch nicht vom Beginnen, sondern vom Verehren die Rede!«

»Ach so! Also besser! Nun aber wird's!«

Er nahm sich zusammen und fing von neuem an:

»Sprich: O Ihr Ungläubige, ich verehre nicht das, was ich verehre, und Ihr verehret nicht das, was Ihr verehret -«

»Aber was denn sonst?« rief ich ihm zu. »Sie können doch nichts anderes verehren als eben das, was von ihnen verehrt wird!«

»Sehr richtig!« stimmte er bei. »Ich aber auch nicht!«

»Und doch hast Du soeben das Gegenteil davon gesagt!«

»Ich? Das Gegenteil? Du irrst, Sihdi! Ich kann beschwören, so vielmal Du willst, daß ich in meinem ganzen Leben noch nicht ein einziges Mal das Gegenteil von dem gesagt habe, was ich sage! Wenn Du solchen Unsinn redest, muß ich annehmen, daß der Rausch, den Du in meinen elf oder zwölf Köpfen suchst, in Deinem eigenen Kopfe steckt!«

»Die Zahl Deiner Köpfe wird, wie es scheint, immer größer. Du hast behauptet, daß Du nicht verehrest, was Du verehrst.«

»Das ist nicht wahr, Effendi, das ist nicht wahr! Ich weiß zwar, daß Du niemals lügst, und das ist wohl die einzige Tugend, die ich an Dir entdecken kann, aber Irrtümer und Verwechslungen sind auch beim wahrhaftesten Menschen möglich, zumal Du mich immer und immer unterbrichst. Laß mich doch einmal ausreden, richtig ausreden! Vom Anfang bis zum Ende! Da wirst Du gleich hören, daß alles prächtig stimmt!«

»Gut! So rede Dich aus!«

»Ohne daß Du mich unterbrichst?«

»Ja.«

»So halte Wort! Und paß auf, wie gut und richtig ich es bringen werde!«

Und abermals streckte er die Arme aus, und abermals machte er die Augen zu. Dann begann er zu deklamieren:

»Sprich: O Ihr Ungläubige, ich rede nicht aus, was Ihr ausredet, und Ihr unterbrecht nicht das, was ich unterbreche, und ich werde nie das verehren, was Ihr ausredet, und Ihr werdet nie verehren, was ich unterbreche. Ihr habt meine Religion, und ich habe die Eurige!«

|96A Als er damit fertig war, machte er die Augen wieder auf, ließ die Arme fallen und schaute erwartungsvoll zu mir herüber. In seinem Gesicht war sehr deutlich zu lesen, daß er überzeugt sei, das größte Lob von mir zu ernten.

»Nun, Sihdi, was sagst Du dazu?« fragte er, als ich schwieg.

»Du hast den tollsten Unsinn geschwatzt, den es geben kann!« antwortete ich.

»Unsinn? Toll?« wiederholte er erstaunt. »Was wird Mohammed, der Prophet, dazu sagen, wenn er das erfährt?«

»Warum grad dieser?«

»Weil das, was Du als Unsinn bezeichnest, aus seinem Munde stammt, sogar aus Gottes Mund. Denn ich habe wörtlich wiederholt, was Mohammed im heiligen Buche sagt. Und was da steht, das ist dem Propheten vom Himmel herabgekommen! O, Effendi, wie betrübst Du mich! Ich kenne Dich gar nicht wieder. Es steht schlimm, sehr schlimm um Dich! Du bist entweder ein Spiritustrinker oder ein Gotteslästerer geworden! Eines von beiden! Ein drittes gibt es nicht! Wenn Du den Inhalt des Koran als Unsinn bezeichnest, bist Du entweder ein Religionsschänder oder ein Trunkenbold. Um Dich vom Trunk zu retten, muß ich Dich für einen Lästerer halten, und um Dich von dem Religionsfrevel zu befreien, bin ich gezwungen, Dich als Trunkenbold hinzustellen. Beides ist schrecklich! Eines immer schrecklicher als das andere! Aber ich will Dich doch lieber für einen Trinker als für einen Verleumder der Sure El Imtihan halten und fühle mich darum verpflichtet, Dich zu warnen. Hüte Dich vor dem Simmsemm! Ich sage Dir, hüte Dich! Dieser Simmsemm gleicht einem alten Weibe, welches äußerlich schöne Kleider trägt, innerlich aber voller Mucken und tiefer Abgründe ist.«

»Die kennst Du wohl?« fragte ich in etwas anzüglicher Weise.

»Ja, die kenne ich!« bestätigte er. »Denn ich bemerke sie an Dir. Du bist betrunken, Sihdi, vollständig betrunken! Du kannst Dich schon nicht mehr auf den Beinen halten! Ich habe Dich an die Wand gelehnt; aber Du hast nicht einmal die Kraft, Dich an ihr aufrecht zu erhalten. Du rutschest - - «

Während er das sagte, rutschte er selbst.

»Rutschest - an der Wand hernieder,« fuhr er fort, indem er den Halt verlor und mehr und mehr zusammensank. »Dann kommt - - dann kommt - - dann kommt ein großer, ein gewaltiger Plumps, und dann - - dann liegst Du da!«

Ganz genau so, wie er es sagte, so geschah es. Der Plumps kam, und dann lag er da, der berühmte Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Ich machte den Versuch, ihn wieder zu ermuntern, vergeblich. Der Simmsemm war mächtiger als alles, was ich tat und sagte. Halef wachte nicht wieder auf. Ich brachte ihn in eine bequeme Lage und ging dann zu den Pferden, welche erwarteten, liebkost zu werden. Als ich den Stall verließ, machten die beiden Hunde nicht den geringsten Versuch, mitzugehen. Sie blieben bei dem kleinen Hadschi liegen, der sich, wie er mir hernach sagte, nach dem Festessen mit einer tüchtigen Portion von Fleisch und Knochen an sie herangevettert hatte.

|97A Ich ging in meine Stube und streckte mich auf dem weichen Fellager aus, um zwei kurze Stündchen zu schlafen. Nach dieser Zeit wachte ich wieder auf. Ich habe infolge der Gewöhnung den Schlaf fest in der Hand. Ich wache niemals später auf, als ich mir vorgenommen habe. Das erste, was ich nun tat, war, daß ich ein Bad im Flusse nahm. Ein kleiner, rings von Sträuchern eingefaßter Platz war hierzu für die jeweiligen Insassen unseres Hauses vorhanden. Dieses Bad erfrischte mich so, als ob ich während der ganzen Nacht geschlafen hätte und darum vollständig ausgeruht sei. Als ich hierauf vom Flusse zurückkehrte, wurde die Türe des Stalles von innen aufgestoßen, und Halef trat heraus, langsam, matt und eingefallenen Gesichtes. Zu gleicher Zeit ließen sich unsere beiden Diener sehen. Sie brachten das Frühstück, welches aus Brot und Fleisch bestand. Ein kleiner Krug voll Simmsemm stand dabei. Ich hatte guten Appetit, Halef aber nicht, doch setzte er sich mit zum Essen nieder. Ich legte ihm vor, und er nahm, um wenigstens zu probieren. Als ich ihm aber den Krug hinschob, spreizte er alle zehn Finger dagegen aus und sagte:

»Nein! Um keinen Preis! Hinweg mit dem Zeug, hinweg!«

»Warum?« fragte ich, indem ich mich ganz unbefangen stellte.

»Weil - - - weil - - - hm - - - hm!«

Während er so brummte, warf er einen ungewissen, forschenden Blick auf mich. Dann fragte er:

»Sihdi, weißt Du, wo ich geschlafen habe?«

»Ja,« antwortete ich.

»Nun, wo?«

»Im Stall.«

»Ja, im Stall! Denke Dir! Während man uns doch hier im Hause so vorzügliche Lagerstätten zubereitet hat! Und nun noch eine zweite Frage, um deren aufrichtige Beantwortung ich Dich bitte. Nämlich: Bist Du bei mir im Stall gewesen?«

»Ja.«

»Allah sei Dank, daß es kein anderer war!«

»Warum dieser Seufzer? Hast Du Grund dazu?«

»Das mußt Du doch ebensogut und noch viel besser wissen als ich selbst! O Sihdi, lieber Sihdi! Ich schäme mich! Wenn ich mich nicht irre, so habe ich geglaubt, eine Menge Köpfe zu haben!«

»Ja. Erst waren es vier oder fünf. Zuletzt wurden es zwölf - «

»Sei still, sei still!« unterbrach er mich. »Ich mag es nicht hören! Was mag ich geschwatzt haben, was für entsetzlich lächerliche Dinge, ich, der berühmte Scheik der Haddedihn! Mein Kopf ist noch immer unendlich groß! Und hohl, ganz hohl! Es ist nichts darinnen als ein immerwährendes Brausen und Brummen und einige Worte aus der Sure El Imtihan. Du hast mich doch nicht etwa diese Sure beten lassen?«

»Das habe ich allerdings.«

|97B »Allah sei mir gnädig! Wie ist es abgelaufen?«

»Du brachtest nicht zehn richtige Worte fertig und behauptetest, daß ich der Betrunkene sei. Dann rutschtest Du wieder zu den Hunden nieder und schliefst ein, ohne zu erwachen.«

»Gräßlich, gräßlich! Sihdi, ich schäme mich! Dieser Simmsemm ist an allem schuld!«

»Ja, dieser Simmsemm! Die beiden andern aber sind unschuldig, völlig unschuldig!«

»Welche beiden?«

»Der eine, der das liebe, ehrliche, nahrhafte Getreidekorn gezwungen hat, Gift zu werden, und der andere, der dieses Gift förmlich in seinen Körper hinunterzwingt, obgleich sich alle Nerven des Geschmacks und Geruches dagegen sträuben!«

»Du hast recht. Verzeih! Auch ich hatte mich erst zu zwingen; dann aber wurde mir der Trank vertrauter. Weißt Du, Simmsemm, das klingt so beruhigend, so unschädlich, so verführerisch! Das schmeichelt sich so an den Menschen heran. Aber wenn man es innerlich betrachtet, so hat es zehntausend Teufel im Leibe. Und zu was für Dummheiten es verführt, das ist ja gar nicht auszusagen! ich glaube, ich darf mich heut vor keinem Menschen sehen lassen, wenigstens vor dem Oberst und den beiden Leutnants nicht.«

»Warum?«

»Wenn sie mich an alles das erinnern, was ich gestern abend aus mir und ihnen gemacht habe, so bin ich hier für immer unmöglich!«

Er stützte den Kopf in beide Hände und schaute trostlos vor sich nieder.

»Allah, Allah, was soll daraus werden!« klagte er. »Denke Dir nur, Effendi, was wir gestern alles getan haben. Wir haben erst die Tschoban besiegt, nachher ganz Ardistan mit Krieg und Sieg überschwemmt, und endlich auch ganz Dschinnistan erobert. Ich war der Großwesir, der die Offiziere befördert, die Orden verteilt und die Gehälter bezahlt. Auf mich kam alles an. So habe ich es denn im Laufe unserer gestrigen Feldzüge an den nötigen Standeserhebungen nicht fehlen lassen. Unsern alten Oberst, der aber noch gar nicht Oberst, sondern erst Oberstleutnant ist, habe ich zunächst zum wirklichen, türkischen 'Mir Alai befördert, dann zum Liwa, zum Ferik und zum Muschir. Wenn ich mich recht besinne, ist er sogar Ferik Bahrir geworden. So ähnlich sind auch die beiden Leutnants emporgestiegen. Sie wollten persische anstatt türkische Rangbezeichnungen haben. Das gestattete ich ihnen. Der eine wurde infolge seiner Tapferkeit sehr schnell Sultan, Yävär, Särtix und 'Mir tuman. Der andere schien mir nicht recht glauben zu wollen. Darum hat er es nur bis zum Särhäng gebracht |98A und wird auf dieser Stelle sitzen bleiben, wenn er sich nicht besser zu benehmen weiß. Dem alten Oberst habe ich fünfmalhunderttausend, dem einen Leutnant hundertfünfzigtausend und dem andern Leutnant hunderttausend Piaster Gehalt versprochen, und nun frage ich Dich, wo ich das alles hernehmen soll, wenn sie mich heut bei meinem Worte fassen: Es wird mir angst, himmelangst! Wie rette ich mich vor den innerlichen Vorwürfen, die in mir aufsteigen wie eine Menge kleiner, bissiger Hunde, die mir drohen, meine Seele anzuknabbern?«

»Die beste Beruhigung liegt in dem Gedanken, daß die drei Offiziere, die Du so hoch befördert und so reich besoldet hast, höchst wahrscheinlich keinen geringeren Schwipps gehabt haben, als Du selbst.«

»Schwipps? Wo denkst Du hin! Schwipps! Das klingt so niedlich. Aber was wir hatten, war gar nicht lieblich und klein, sondern riesengroß und menschenfresserisch. Mein Schwipps war ein Schakal, der erst zum Fuchs und dann zum Wolf und zur Hyäne wurde; ihre Schwippse aber waren Panther, Tiger und Löwen, gegen die man ohne geladene Flinte gar nicht aufkommen kann. Und Du mußt mir doch ehrlich zugeben, daß ich unmöglich nach meiner Flinte laufen kann, um den Oberst und die Leutnants von ihren Räuschen zu befreien!«

»Und die haben Dich nach Hause geführt? Das sagtest Du mir doch!«

»Ja, sie wollten es; sie versprachen es, und ich rief es Dir hinauf, als ich Dich trotz meiner Trunkenheit da oben auf dem Turme erkannte, den sie den Tempel nennen. Aber es kam anders, als wir dachten. Nämlich der Simmsemm wollte nicht, daß sie mich nach Hause brachten. Der Leutnant, der von mir die hundertundfünfzigtausend Piaster bekommen hatte, setzte sich schon nach zehn Schritten nieder und verlangte einen neuen, vollen Krug. Er dachte, wir säßen noch im Palast. Eine kleine Strecke weiter legte sich der Oberst mit seiner halben Million Piaster in das Gras und behauptete, er sei daheim, und ich solle mich ganz leise entfernen, damit seine Frau und seine Kinder nicht aufgeweckt würden. Und der dritte setzte oder legte sich gar nicht erst, sondern er machte noch viel weniger Umstände. Nämlich er fiel gleich aus freien Stücken um. Da lag er mit seinen hunderttausend Piastern und sagte kein Wort, kein einziges Wort; so gänzlich weg war er! Ich sprach zwar auf ihn ein, um ihn zu ermuntern, er aber blieb ganz stumm. Da stand ich wieder auf und suchte mein Fleisch und meine - - «

»Ah!« unterbrach ich ihn. »Du standest wieder auf?«

»Ja! Natürlich!« antwortete er.

»Bist also auch mit umgefallen?«

»Selbstverständlich! Er führte mich ja. Er hielt mich fest, damit ich nicht etwa straucheln möge. Er meinte es ungeheuer gut mit mir. Konnte ich da etwa stehen bleiben, als er das Unglück hatte, bei diesem Liebesdienste so ganz aus freiem Himmel herabzufallen? Er ist Offizier. Das verpflichtet zur Kameradschaft. Ich fiel also mit hin. Als ich dann aufstand, suchte ich mein Fleisch und alle meine Knochen einzeln zusammen - - - «

»Was?« fragte ich, indem ich ihm abermals in die Rede fiel. »Dein Fleisch und Deine Knochen? Alle einzeln?«

»Ja. Als wir nach dem Festmahle aufstanden, sah ich, daß wir nicht aufgegessen hatten. Es gab noch viel, viel Fleisch, dazu eine Menge Knochen. Da dachte ich an unsere beiden Hunde. Ich nahm also meinen Haïk vorn hoch in die Höhe und tat diese Reste alle hinein, um sie ihnen zu bringen.«

»Das werden die Hunde sehr lieb und schön von Dir gefunden haben, aber was wird man nun drüben im Palast von Dir erzählen?«

»Von mir? Hm! Hoffentlich denkt man nicht, daß ich die Knochen für mich mitgenommen habe! Und wenn man es denken sollte, so ist es mir sehr gleichgültig. Ich mußte sie alle einzeln wieder zusammensuchen, als ich mich von dem zweiten Leutnant entfernte. Ich trug sie den Hunden in den Stall. Die freuten sich. Es war dämmernd hell. Ich brauchte kein Licht dazu. Es war so warm und so weich auf der Streu da drin. Da setzte ich mich nieder und bin eingeschlafen.«

Indem er dieses erzählte, kam von Taldscha ein Bote, durch den sie mir sagen ließ, daß ich mich von jeder Verpflichtung |98B frei betrachten möge. Ich könne mich ausruhen, mich in der Stadt umsehen, ganz nach Belieben. Aber zwei Stunden nach Mittag seien wieder Gäste geladen; da solle ich mich einfinden, und, wenn es möglich sei, mein berühmter Halef mit mir.

Als der Bote sich entfernt hatte, fragte mich der kleine Hadschi, der die Einladung gehört hatte:

»Du, Effendi, sie hat mich den >berühmten Halef< genannt. Ob sie das wohl ernst meint?«

»Wie anders denn?« fragte ich, obwohl ich ihn sehr gut verstand.

»Nun, vielleicht ein bißchen spöttisch. Von wegen dem Simmsemm. Der ist doch wohl gestern stärker und berühmter gewesen als ich!«

»Frage sie selbst! Ich weiß es nicht.«

»Ich werde mich hüten! Solche Erinnerungen frischt man nicht auf. Darum werde ich mich heut stets an Deiner Seite halten. Da wagen sich diese Erinnerungen nicht heran an mich. Wann gehen wir zum Dschirbani?«

»Jetzt. Ich bin mit dem Frühstücke fertig, und die Mitte des Vormittags ist da. Wir fahren im Kanoe.«

Nun bekümmerte ich mich um die Pferde. Sie hatten Futter und Trank bekommen. Ich nahm sie aus dem Stall und koppelte sie an langer Leine an, daß sie sich bewegen konnten. Auch die Hunde wurden herausgelassen. Sie begrüßten zwar auch mich, zunächst aber doch den Hadschi, der ihnen, wie es schien, an das Herz zu wachsen begann. Sie hatten sehr kurze Namen. Sie waren zweierlei Geschlechtes und hießen Hu und Hi. Das sagten uns die beiden Diener. Von diesen erfuhren wir auch, wo die >Insel der Heiden< lag; sie war sehr leicht zu finden.

Hu und Hi begleiteten uns nach dem Landungsplatze. Als wir in das Kanoe stiegen, wollten sie mit hinein; das war aber wegen der Kleinheit des Fahrzeuges unmöglich. Ich befahl den Dienern, sie während unserer Abwesenheit anzubinden, daß nichts geschehen könne; aber sobald wir vom Ufer stießen, sprangen sie in das Wasser, um uns zu folgen. Schon wollte ich umkehren, um mich ihrer zu entledigen, da sah ich, wie sie schwammen. So etwas hatte ich noch nicht gesehen. Das war schon mehr ein Laufen als ein Schwimmen! Die Schwimmhäute waren derart entwickelt und elastisch, daß sie wie helle Blasen zwischen den Zehen erschienen. Das griff so viel Wasser, daß die Körper nicht nur mit den Köpfen, sondern auch mit den Rückenlinien aus der Flut ragten. Die dicken, aber leichten, buschigen Schwänze lagen wie Steuer hinterher. Dazu die langhaarigen, zottigen, sich fettig anfühlenden und also für die Feuchtigkeit fast undurchdringlichen Felle! Ich sah, daß das Schwimmen den Hunden gar keine Anstrengung, sondern nur Freude bereitete. Sie bellten laut und haschten nacheinander. Darum war ich mit Halef einverstanden, der mich bat, sie doch mitzunehmen. So schnell, wie wir mit den Rudern vorwärts kamen, konnten sie allerdings nicht schwimmen; wir mußten also ein langsameres Tempo nehmen, doch hatten wir ja Zeit.

Die Ufer waren von Häusern besetzt, die oft weit in das Wasser ragten, oft auch ganz in demselben lagen. Zuweilen erschien eine kleine Insel, oder der Fluß teilte sich, eine größere zu bilden, die bewohnt war. Das bot uns reichliche Gelegenheit, die hochinteressante Pfahlbauart der Ussul kennen zu lernen. Als wir unser Ziel, die >Insel der Heiden<, erreichten, sahen wir ein sehr einfaches, sichtlich erst heut neu geflochtenes Floß, welches aus Weidenruten bestand und aus dem Wasser gezogen war, am Lande liegen. Wir stiegen aus, befestigten das Kanoe an den hierzu bestimmten Pfahl und traten dann schnell zurück, um aus der Nähe der Hunde zu kommen, die auch gelandet waren und sich das Wasser aus den Haaren schüttelten. Die Insel war ziemlich groß. Wir sahen zunächst nichts als Busch und Gras, und zwar alles verwildert. Der Besitzer war ja gefangen gewesen, und niemand hatte sich um sein Eigentum gekümmert. Heut aber war er wieder da. Wir sahen seine Spur, die durch das hohe Gras führte, und folgten ihr. Es ging durch höheres Gebüsch und dann unter Bäumen hin. Da |99A merkte man nun wohl, daß diese Bäume ihre Plätze nicht von der Natur, sondern von einer künstlerischen Berechnung angewiesen bekommen hatten. Es gab Gruppen, welche nicht nur schön, sondern sogar reich und prächtig wirkten. Unter hohen, riesenblätterigen Linden lag ein zwar niedriger, aber köstlich ausgedachter und ausgeführter Bangalo, der erfreulicherweise nicht aus dem gewöhnlichen, schnell vergänglichen Material derartiger Wohnungen, sondern aus besserem und haltbarerem bestand. Als ich es untersuchte, sah ich, daß es Holz war, welches jahrhundertelang im moorigen Wasser gelegen hatte und hart und schwer wie Stein geworden war. Alles, nicht nur die Pfeiler, Säulen und Balken, sondern ebenso auch kleinere Teile, sogar die Verzierungen, bestanden aus diesem Holze. Welche Mühe hatte diese schwere, harte Arbeit gemacht! Der Dschinnistani war der Erbauer. Er hatte die Tochter des Sahahr so lieb gehabt, daß ihm nur das schönste und gesündeste Haus des ganzen Landes gut genug zur Wohnung für sie gewesen war. Und dieses war der Bangalo gewiß!

Die Türe war zu und man konnte nicht hinein. Auch die Läden waren verschlossen. Niemand war zu sehen. Ich rief. Niemand ließ sich hören. Aus allem, was man sah, sprach der Geist und der Geschmack des Dschinnistani. Aber gab es außer diesem Geiste denn wirklich niemand hier? Die Spur führte hier herein, in das Haus, aber nicht wieder heraus. Darum fiel es uns auf, daß wir keine Antwort erhielten. Wir gingen weiter, über den freien Platz, auf dem der Bangalo stand, zwischen blühenden und duftenden Sträuchergruppen hindurch. Da sahen wir ihn, den See, den Teich, den Weiher, von dem mir erzählt worden war. Wir blieben sofort stehen, ganz entzückt von dem Anblick, der sich uns bot.

Wir standen am südlichen Ufer des Sees, der fast ganz mit Lotosblumen bedeckt war. Zwischen ihnen glänzten wunderbar gefärbte Blütenrispen, deren Namen ich nicht kannte. Sie waren der amerikanischen Thalia dealbata ähnlich. Phantastisch schön wirkten die zweiteiligen, hell glänzenden Ähren einer noch wenig bekannten, indischen Aponogetonart. Es war ein Farbenreichtum, eine Farbenfrische und eine Farbenpracht sondergleichen! Aber alle diese Herrlichkeit entfaltete sich aus stehendem Wasser, auf sumpfigem Boden, und allen diesen Blumen muß doch, so schön sie sind und so heilig sie gehalten werden, jene feinere und reinere, jene zugleich höhere und tiefere Art der Herzenswirkung abgesprochen werden, durch welche die auf gutem, festem Land erzeugte Blume zu uns redet. Die Lotosblume ist Sumpferzeugnis, ist einfach nur irdisch schön. Die bildliche Bedeutung, die sie besitzt, wurde ihr nicht von der Natur gegeben, sondern künstlich in sie hineingelegt. Aber Blumen wie unser Schneeglöckchen, unsere Veilchen, unser Maiblümchen, die ganze liebe, herrlich duftende Reihe bis zu unsern Rosenköniginnen hinauf, sie alle wirken edler, reiner, keuscher, inniger. Wer mit mir glauben kann, daß auch die Blumen Seelen haben, dem könnte ich das allerdings noch viel deutlicher sagen.

Also , wir standen an der Südseite des Weihers. Rechts und links schoben sich Baum- und Strauchpartien heran, die ganz wie Kulissen wirkten, indem sie unsern Blick verhinderten, zur Seite abzuweichen, und ihn zwangen, sich auf die Perspektive zu richten, die sich vor ihm entwickelte. Grad vor uns stand, diese Perspektive ganz verhüllend, ein zwei Meter breites und über vier Meter hohes, vierseitiges Prisma, aus weißen Marmorquadern zusammengesetzt und auf allen vier Seiten mit glänzend tiefschwarzen Inschriften versehen. Dieses große Prisma war von einer ganzen Menge kleinerer Säulen umgeben, die auch Inschriften trugen. Wir lasen sie. Die auf den kleineren Säulen stehenden Zitate waren von den vier Vedas, der Zend Avesta, den fünf King der Chinesen, der Bibel und dem Koran entnommen. Die Inschriften des Prisma schienen andern Ursprunges zu sein. Indem wir sie betrachteten, sahen wir zunächst vier Überschriften, von denen zwei und zwei miteinander zu korrespondieren schienen. Nach Süden stand >Schöpfung< und nach Norden >Erlösung<. Nach Osten lasen wir >Sünde< und nach Westen >Strafe<. Unter der Überschrift >Schöpfung< im Süden war zu lesen:

|99B »Keine Seele kam zur Erde nieder,
die nicht vorher Geist im Himmel war!«

Auf der nach Norden gerichteten Seite war unter der Überschrift >Erlösung< zu sehen:

»Es stieg kein Geist zum Himmel auf,
der nicht vorher Seele auf der Erde war!«

Nach Osten zu stand unter der Überschrift >Sünde< das geheimnisvolle Wort zu lesen:

»Nur ein Einziger weigerte sich,
Seele zu werden!«

Und dem gegenüber wurde auf der nach Westen gerichteten Seite unter der Überschrift >Strafe< gesagt:

»Darum kann er nicht zum Himmel zurück.
Das ist der Teufe!«

Ich kann sagen, daß ich erstaunt war, als ich das gelesen hatte. Nicht etwa, daß mir das Monument an sich oder eine seiner Inschriften wunderbar vorgekommen wäre, o nein. Der Dschinnistani hatte diese Marmorstücke von seinen Reisen einzeln mitgebracht und hier zusammengesetzt. Das war ganz und gar nichts Wunderbares. Und es ist, so lange es Menschen gibt, so viel gerätselt und geheimnißt worden, daß man in der Absicht des Dschinnistani, auch einmal etwas Mystisches zu sagen, wohl gar nichts Unbegreifliches finden kann. Aber daß diese vier Inschriften, deren jede ein gänzlich unlösbares Problem zu enthalten schien, in ihrem inneren Zusammenhange genau dasselbe sagten, was unsere christliche Offenbarung einem jeden, der es hören will, wohl täglich und stündlich sagt, das überraschte mich, und das ließ in mir die Frage aufsteigen, ob dem Dschinnistani, als er diese Inschriften entstehen ließ, klar gewesen ist, was sie eigentlich bedeuten. Wenn es seine Absicht war, den tiefsten Grundgedanken der Religion seines Heimatlandes auf diesem Monument darzustellen, dann war es der christlichen Mission sehr leicht gemacht, die Anhänger dieses Glaubens für die Hauptreligion des Abendlandes zu gewinnen! Hierzu kam, daß das Marmorprisma mit ganz besonderer Umsicht und Liebe grad hier an dieser Stelle errichtet worden war. Denn nun wir uns an seiner nördlichen Seite, also zwischen ihm und dem Wasser befanden, stand es uns nicht mehr im Wege, und der ganze Ausblick, den es uns verhüllt hatte, lag jetzt offen vor uns da.

Jenseits des Weihers stand das Grab der Mutter des Dschirbani, von Blüten und Duft umhüllt, wie bereits beschrieben wurde. Von ihm ausgehend, führte ein breiter, freier Wiesenstreifen in schnurgerader Richtung, hüben und drüben von dichtem, dunklem Grün eingefaßt, bis an den Fluß, dessen gegenüberliegendes Ufer frei von Häusern war. Von dort aus erschienen zunächst nur Gärten und Felder, dann ein breites, sich weit hinausziehendes Band von niedrigem, neugewachsenem Gestrüpp, wo die Ussul gerodet hatten, um die Stämme zu ihren Bauten zu benutzen. Es läßt sich nicht beschreiben, was das für eine eigenartige Perspektive gab. Grad zu unseren Füßen das zwar durchsichtige, aber moderbräunliche und moderduftende Wasser, aus dessen Auflösungs- und Verwesungsstoffen die Lotosblume ihr Leben und ihre leuchtenden Farben sog. Am jenseitigen Ufer das Grab der verstorbenen menschlichen Lotosblume, von Blüten umglänzt und von Wohlgerüchen umduftet, hinter diesem Grabe die nach weit hinaus und nach oben gerichtete Perspektive. Sie führte nach dem Flusse, über die dunkeln Wasser desselben hinüber und dann auf jenem scheinbar immer schmaler werdenden Bande des niedrigen, neugewachsenen, vom hohen Walde umfaßten Gestrüppes durch das ganze Schwemmland der Ussul, über Niederardistan und Oberardistan bis zu jenen hohen Bergen hinauf, die auch jetzt, um das geöffnete Paradies anzudeuten, in glühenden Flammen leuchteten, obwohl wir es nicht sehen konnten, weil die Morgennebel des Tieflandes uns noch umhüllten.

Indem dieser Ausblick nicht nur unsere Augen, sondern auch unsere Gedanken fesselte, hörten wir hinter uns ein Geräusch. Wir drehten uns um und sahen, daß das Monument sich öffnete und der Dschirbani ihm entstieg.

»Maschallah!« rief Halef aus. »Allah tut Wunder! Das Denkmal ist hohl!«

|100A Auch ich war sehr überrascht. Das Kunstwerk war allerdings nicht massiv; es bestand nicht aus kubischen Blöcken, wie es den Anschein hatte, sondern aus starken, fest zusammengefügten Platten, zwischen denen eine Reihe von Stufen abwärts führte. Einige dieser Platten bildeten die Türe, welche von innen und von außen geöffnet werden konnte, ohne daß Leute, welche vor dem Monument standen, diese Vorrichtung bemerken konnten.

Der Dschirbani war genau so gekleidet wie gestern. Er wollte uns begrüßen, wurde aber von den Hunden daran verhindert. Sie, die im Falle des Fluchtversuches ihn hätten zerreißen sollen, zeigten jetzt eine geradezu rührende Freude, ihn wiederzusehen, und sprangen an ihm empor, um sich seine Liebkosung zu erschmeicheln.

»Wo ist der erzwungene, der Natur von dem Menschen aufgedrungene Haß?« fragte er. »In Liebe verwandelt! Ich grüße und danke Euch, daß Ihr gekommen seid!«

Er verbeugte sich. Ich reichte ihm die Hand. Er ergriff sie nicht, sondern streichelte die Hunde.

»Weißt Du, was Du mir da bietest, Ssahib?« fragte er. »Kennst Du nicht die Gefahr, in die Du Dich bringst?«

»Ich halte es für keine Gefahr, sondern sogar für meine Pflicht, diesem Irrtum zu begegnen. Gib mir Deine Hand! Und ich bitte Dich, sie mir auch fernerhin vor aller Augen zu reichen!«

Er tat es und sagte, indem er mir die meine warm und kräftig drückte:

»Das ist Erlösung; ja wahrlich, das ist Erlösung! Ssahib, das werde ich Dir nie vergessen!«

Es verstand sich ganz von selbst, daß auch Halef ihm die Hand entgegenstreckte und die seinige bekam. Dann hielt ich es für richtig, den Auftrag auszurichten, den mir die Priesterin für ihren Enkel gegeben hatte.

»Grad um den Mittag bestellt sie mich! In den Tempel?« fragte er nachdenklich, ohne überrascht zu sein. »Du hast also mit ihr gesprochen?«

»Ja,« antwortete ich.

»Nur kurz? Oder längere Zeit?«

»Fast die ganze Nacht. Wir stiegen nach dem Festmahl auf die Zinne des Turmes, um den Ausbruch der Vulkane zu beobachten, und konnten uns erst, als der Morgen graute, voneinander trennen. Die Herrin der Ussul war dabei.«

Er antwortete nicht, sondern schaute still auf die Lotosblumen und dann ebenso still in die Ferne. Hierbei hatte ich Gelegenheit, sein Gesicht genauer zu betrachten, als es mir gestern möglich gewesen war. Das Haar desselben besaß den eigenartigen Glanz von reinen, echten Tscholamandelaperlen. Es hatte die frühere Dichtigkeit verloren, war feiner und dünner geworden und hatte sich bereits so gelichtet, daß die Haut hindurchschimmerte und man die Züge erkannte. Ich erfuhr, daß dies früher nicht der Fall gewesen war; jetzt aber konnte man es schon ganz deutlich sehen, wenn er lächelte. Bei den andern mußte man das erraten, entweder mit den Augen, oder aus dem Klange der Stimme.

Endlich kehrte sein Blick zu mir zurück.

»Du hast mit ihnen gesprochen,« sagte er. »So lange Zeit und grad mit diesen beiden. So weißt Du, wenn auch nicht alles, doch viel, und ich - - -«

»Wir sprachen meist über Marah Durimeh,« unterbrach ich ihn, um seine Gedanken nicht auf Abwege geraten zu lassen.

»Von Marah Durimeh?« rief er aus, indem er sich hoch aufrichtete. »Von der Beherrscherin von Sitara? Wie kommt die Frau des Scheiks und die Priesterin dazu, mit Dir von dieser geheimnisvollen Frau zu reden?«

»Weil sie erfuhren, daß ich mit Marah Durimeh befreundet und erst kürzlich ihr Gast in Sitara gewesen bin. Ich wohnte bei ihr im Schlosse von Ikbal.«

Da wich er einige Schritte von mir zurück und ließ einen Blick über mich gleiten, in dem sich das tiefste Erstaunen aussprach. Aber nach und nach verlor sich dieses Staunen, um einem hochbefriedigten Ausdrucke Platz zu machen. Seine Augen begannen zu leuchten und seine Stimme klang froh, fast jubelnd, indem er sprach:

|100B »Welch eine Freude, welch ein Glück! Wie war es möglich, daß ich gestern Dich zwar sofort für einen mir von Gott gesandten Menschen hielt, aber doch nicht deutlich fühlte, daß Du nur aus Sitara kommen kannst - - - allein von dort! Aus keinem anderen Lande! Und nun ich dies erfahre, ist es mir recht und lieb, daß die beiden Frauen von mir zu Dir gesprochen haben. Du bist über mich unterrichtet, und ich brauche nichts zu wiederholen. Auch ich bin unterrichtet - - über Dich! Wenn auch nicht ausführlich, sondern nur über einiges, was außerordentlich wichtig ist. Deine Person und Deine Verhältnisse sind mir völlig unbekannt, um so gewisser aber weiß ich, daß Du hierher gekommen bist, um zu dem 'Mir von Dschinnistan zu gehen.«

»Welche Veranlassung hast Du, dies zu vermuten?« fragte ich.

»Ich weiß, daß Du es geheimzuhalten hast; aber wenn Du der Richtige bist, so wirst Du mir vertrauen und mir es gerne gestehen.«

Er trat wieder näher zu mir heran und fuhr in wichtigem Tone fort:

»Ich bitte Dich, aufrichtig zu sein und mir eine Frage zu beantworten, die Vater und Mutter mir hinterlassen haben!«

»Sprich!« forderte ich ihn auf.

»Trägst Du ein kleines Schild auf Deiner Brust, das Marah Durimeh Dir mitgegeben hat?«

»Ja,« antwortet ich, denn ich fühlte, daß ich hier verpflichtet war, offen zu sein.

»Aus welchem Metall ist es? Aus Gold oder Silber? Aus Kupfer oder Bronze?«

»Aus keinem von diesen. Mir ist das Metall, woraus es besteht, unbekannt. Wahrscheinlich ist es eine Legierung.«

»Ganz recht, ganz recht! Warte, warte!«

Er sagte das im Tone der größten Freude, des Entzückens. Dann eilte er die Stufen des Denkmals hinab und verschwand im Innern der Erde.

»Sihdi, ist das nicht wunderbar?« fragte Halef. »Klingt das nicht, als ob unser Kommen hier vorbereitet sei?«

»Nichts ist wunderbar,« antwortete ich ihm, »wenigstens nicht hier in diesem Lande. Ich bin überzeugt, daß wir noch Dinge erleben werden, welche Dir zehn- und zwanzigmal wunderbarer erscheinen werden, als diese ganz unerwartete Frage nach meinem Schilde oder dieses Marmormonument, das sich öffnet, um Menschen aus der Erde steigen zu lassen.«

»Er sagte, er habe die Frage von seinem Vater und seiner Mutter geerbt. Also haben schon diese gewußt, daß wir kommen!«

»Wir? Gewiß nicht! Es war ihnen bekannt, daß jemand aus Sitara kommen werde, der einen ihm von Marah Durimeh mitgegebenen Schild besitzt. Daß grad wir dies sein werden, hat sich erst später herausgestellt.«

»Horch! Er kommt! Was wird er bringen?«

Der Dschirbani kehrte zurück. Er hielt ein ungewöhnlich großes, ledernes Etui in der Hand, welches er öffnete und uns dann zeigte.

»Das ist Dein Schild, Sihdi!« rief Halef aus. »Ganz genau Dein Schild! Dasselbe Metall und auch dieselbe Form! Nur die Kette mit dem Fläschchen fehlt an Deinem!«

Es war genau so, wie er sagte. Das Etui enthielt ein vollständig genaues Duplikat meines Schildes. Ich zog das letztere unter der Weste hervor, um nachzuweisen, daß beide einander glichen. Es war nicht der geringste Unterschied zu entdecken. Beide hatten an ihrem unteren Rande je drei kleine Löcher, deren Zweck ich bisher nicht hatte erraten können. Nun aber erfuhr ich ihn. Die Löcher waren nämlich nur einige Zentimeter voneinander entfernt und dienten dazu, den Anfangs-, Mittel- und Endring eines zwar dünnen, aber sehr festen Kettchens aufzunehmen, an dem ein kleines, goldenes, mit einem Schraubenpfröpfchen versehenes Fläschchen hing.

»Diese Kette und dieses Fläschchen fehlt bei mir,« sagte ich. »Sonst aber ist nicht der geringste Unterschied zwischen beiden.«

»Es ist richtig! Es ist genau so, wie ich dachte!« jubelte der Dschirbani. »Steigt voran, bis Ihr Licht zu sehen bekommt! Ich folge sofort nach, sobald ich die Türe verschlossen habe.«

Er winkte nach den Stufen. Ich band die Hunde an zwei Säulen und gab ihnen zu verstehen, daß sie hier zu warten |101A hätten. Sie begriffen, was ich meinte und legten sich nieder. Hierauf stieg ich mit Halef die Stufen hinunter. Ich vergaß, sie zu zählen; mehr als zehn aber waren es auf jeden Fall, denn der unterirdische Raum, nach dem sie führten, trug eine wenigstens sechs Fuß hohe Erddecke über sich und war dennoch so hoch, daß der Dschirbani, der doch viel größer war als ich, sich bewegen konnte, ohne sich bücken zu müssen. Sie führten zunächst in eine kleine, viereckige Stube, welche von dem Fundament der Marmorsäule gebildet wurde. Da standen einige Körbe und Kisten; weiter war nichts zu sehen. Ein schmaler gerader Gang leitete weiter; er war finster, doch von da, wo er mündete, glänzte uns Licht entgegen. Indem wir diesem folgten, gelangten wir erst in einen kleinen, dann in einen bedeutend größeren und hierauf wieder in einen kleineren Raum, die alle drei durch brennende Sesamöllampen ziemlich hell erleuchtet waren. Man sah sofort, daß die beiden kleineren als Vorratskammern dienten. Der größere aber glich dem Arbeitszimmer eines Gelehrten. Man sah Bücher, Karten, Pläne, Schreibzeuge, allerlei Geräte mit bekanntem oder unbekanntem Zweck, eine Menge ärztliche, physikalische, chemische und andere Instrumente, auch orientalische und europäische Waffen. Diese letzteren bestanden allerdings nur in einem Doppelgewehr und zwei Revolvern, die aber, obgleich fast veraltet, von vorzüglicher Mache waren und für die hiesigen Verhältnisse einem jeden, der sie zu führen verstand, ein bedeutendes Übergewicht sicherten. Wo kamen alle diese hochwichtigen Dinge her? Es ist wohl nicht erst nötig, zu bemerken, daß sie mein lebhaftes Erstaunen erregten.

Da kam der Dschirbani uns nach. Er sagte kein Wort über das, was wir sahen. Er suchte nach einer kleinen, harten Zange und dann nach einem sehr wohlverwahrten Kästchen, welches wohl kaum mehr als fünf Zentimeter im kubischen Durchmesser hatte. Als er es geöffnet hatte, sah ich, daß es das an meinem Schilde fehlende Fläschchen mit der dazu gehörigen Kette enthielt. Er nahm es heraus und befestigte es mit Hilfe der Zange an die Stelle, wohin es gehörte. Dabei fragte er mich:

»Was ich tue, ist Dir ein Geheimnis?«

»Ja.«

»Mir ebenso. Es geschieht, weil es mein Vater befohlen hat, doch ohne daß ich weiß wozu. Er verschwand; er soll ermordet worden sein. ich glaube es nicht; ich glaube es nicht! Er war kein Mann, der sich beschleichen, überlisten und ermorden ließ! Dann starb auch meine Mutter; man sagt, aus Gram um seinen Verlust. Ich glaube auch das nicht; ich glaube es nicht! Sie hat nie und nie behauptet, daß sie ihn verloren habe! Ich weiß bestimmt, daß sie überzeugt und sicher war, ihn wiederzusehen. Sie grämte sich nur über den Haß ihres Vaters und über die seelische Trennung von ihrer Mutter. Als ich kurz vor ihrem Tode für eine Woche Abschied von ihr nahm, um einen Besuch bei verwandten Ussul zu machen, schärfte sie mir noch einmal alle Vorschriften des Vaters, die sich auf diese beiden Schilde beziehen, mit einem so auffallenden Nachdrucke ein, daß sie unbedingt gewußt hat, was dann folgte. Sie starb sehr kurz nach meiner Entfernung und war, als ich zurückkehrte, schon begraben. Die Verwesung hatte verboten, die Leiche aufzuheben. |101B Von heute an bin ich verpflichtet, meinen Schild zu tragen, wie Du den Deinen.«

Er hing ihn sich um den Hals. Dabei sah ich, daß er so, wie mir erzählt worden war, ein Buch auf seiner Brust trug. Er bemerkte, daß mir das nicht entgangen war. Darum erklärte er mir:

»Mein Vater hat einige Bücher für mich geschrieben, die meine Wegweiser sind. Ich kann mich nicht von ihnen trennen und trage stets eines von ihnen auf meinem Herzen. Sie sind die Wohnungen seines hohen, edlen, weitschauenden Geistes, und ich besuche ihn da, so oft ich kann, um demütig zu seinen Füßen kniend, auf seine Worte zu lauschen.«

Er steckte einige chirurgische Instrumente und ein Paket Verbandbast zu sich, gab uns jedem ein brennendes Licht in die Hand, blies die Lampen aus und forderte uns dann auf, ihm zu folgen. Er führte uns durch einen gleichen, aber längern Gang nach einer zweiten Stube, in welcher er nur kurz verweilte, um ein Schränkchen zu öffnen und ihm einen kleinen Gegenstand zu entnehmen. Diese Gänge, Stuben und Kammern waren alle aus dem schon erwähnten versteinerten Holz erbaut und darum frei von jeder Feuchtigkeit. Der Gegenstand, den er aus dem Schränkchen genommen, war eine geschliffene Glasphiole, aus der er nur einen einzigen Tropfen in ein winziges Fläschchen gab, um sie dann wieder einzuschließen. Trotz des kurzen Augenblickes, den die Phiole geöffnet gewesen war, verbreitete sich ein unbeschreiblich feiner, belebender, ja entzückender Duft um uns her. Ich kannte ihn nicht. Ich hatte ihn noch nie und nirgendwo gespürt. Sein Name stand in keinem Verzeichnisse aller Wohlgerüche der Erde geschrieben. Und dennoch war es mir, als hätte ich ihn schon gespürt, vielleicht schon oft, aber aus unendlich weiter Ferne. Halef sog die Luft in vollen Zügen ein, machte sein begeistertes Gesicht und rief:

»Welch ein Duft! Ich glaube, nur noch ein wenig mehr, so kommt die Ekstase; man wird Dichter und Prophet und verfällt in Vision. Darf man den Namen dieses Wohlgeruches erfahren?«

»Kommt er Dir unbekannt vor?« fragte der Dschirbani, indem er das Fläschchen sorgfältig einwickelte und in die Tasche steckte.

»Vollständig unbekannt!« versicherte der Hadschi.

»Du hast es aber schon oft genug gerochen!« versicherte der Dschirbani.

»Unmöglich!«

»Es stinkt sogar! Du hast Dir die Nase zugehalten!«

»Nein! Sag mir den Namen!«

»So erschrick aber nicht! Es ist - - - der Tod!«

»Der - - - Tod - - - ?« fragte Halef. Dann war er still, ich auch.

»Ja, der Tod!« fuhr der Sohn des Dschinnistani in ernstem Tone fort. »Untersucht das Land, in dem wir wohnen! Was findet Ihr weiter als Moder, Verwesung, Schimmel und Gestank? Und was findet Ihr weiter als Leben, Schönheit, Kraft, Unsterblichkeit und Duft? Heut sage ich: Das Leben duftet, der Tod aber stinkt! Und morgen sage ich: Der Tod duftet, das Leben aber stinkt! Was von beiden ist richtig? Ich sage, beides! Denn Leben und Tod sind eins. Man kann nicht |102A leben, ohne immerfort zu sterben. Und man kann nicht sterben, ohne dabei das Leben zu erneuern. Merke Dir es, o Hadschi Halef Omar, daß Du nicht an Deinem letzten, sondern an Deinem ersten Atemzuge stirbst! Und Du hast dafür zu sorgen, daß nicht etwa beide stinken, Dein Leben sowohl wie Dein Tod, sondern daß beide duften. Du lebst, indem Du ohne Unterlaß verwesest. Du hast den Gestank dieser Verwesung in Duft zu verwandeln, wie es dort in der Phiole und hier in diesem winzigen Fläschchen geschehen ist. Tust Du das, so ist Tod und Leben in Deine Hand gegeben, wie ich beide in der meinen halte, wenn ich das Fläschchen bei dem Sahahr öffne, um ihn für kurze Zeit zu töten, damit er gegen den Schmerz des Lebens unempfindlich sei. Komm weiter!«

Der Gang, dem wir nun folgten, war noch länger als der vorherige. Das Ende bestand in einem ähnlichen Stübchen wie dasjenige war, welches unter dem Monument lag. Auch hier führte eine Reihe von Stufen empor. Der Dschirbani stieg voran. Mit der einen Hand leuchtend, hob er mit der andern eine Falltür auf, die, wie wir bald sahen, in eine abgelegene Stubenecke des Bangalo mündete. Ich blieb stehen und wartete, bis er die Läden öffnete. Ich betrachtete die Falltüre. Sie bestand aus einer doppelten Balkenlage des schon erwähnten versteinerten Holzes, und war so stark und dick gemacht worden, damit nicht etwa der Widerhall der Schritte verrate, daß sich ein hohler Raum unter ihr befinde. Sie war also nicht leicht, sondern weit mehr als nur einen Zentner schwer. Und das hatte er wie spielend mit einer Hand gehoben! Das hatte ich bemerkt. Und deshalb war ich stehen geblieben, um sie mir anzusehen. Ich schämte mich fast, mich bisher für einen kräftigen Menschen gehalten zu haben!

Es war nicht seine Absicht, im Bangalo zu bleiben, vielleicht um uns den innern Bau des Hauses zu zeigen. Als er die Falltüre geschlossen hatte, machte er auch die Fenster wieder zu und führte uns in das Freie, wo wir vorher gestanden und nach ihm gerufen hatten, ohne gehört worden zu sein. Er verschloß die Türe des Hauses mit einem Schlüssel, der ganz genau jenen Tempelschlüsseln des Altertumes glich, von denen wohl nur sehr wenige ausgegraben worden sind. Man kennt ihre Form nur aus den Abbildungen auf altertümlichen Gefäßen.

Hierauf kehrten wir nach der Marmorsäule zurück, um die Hunde loszubinden. Sie lagen ruhig an ihrer Stelle und hatten sich wohl verhalten. Wir spazierten von da um den Weiher herum nach dem Grabe. Unterdessen erklärte er uns die Gründe seines heutigen Verhaltens:

»Die unterirdischen Räume, die Ihr gesehen habt, hat mein Vater gebaut, und zwar in großer Heimlichkeit. Niemand kennt sie, und niemand weiß, was für Gegenstände sich auf der >Insel der Heiden< befinden. Welche Zwecke er hierbei verfolgte, ist mir heut noch nicht klar, aber ich weiß, daß sie auf alle Fälle gut und lobenswert gewesen sind. Seine Kenntnisse machten ihn jedem Ussul, auch dem Zauberer, überlegen, und es konnte nicht seine Absicht sein, diesen Leuten Werkzeuge in die Hände zu geben, deren Anwendung ihnen geschadet hätte. Daß man so ungesehen vom Bangalo nach dem Monument gelangen konnte, war sehr vorteilhaft. Mein Vater konnte, ohne gesehen zu werden, alles hören, was dort gesprochen wurde. Und besonders während der Belagerungen, wo die Tschoban das Haus umstellten, brachte es große Vorteile, daß es ihm trotzdem möglich war, es jederzeit zu verlassen. Vieles, wie zum Beispiel das Doppelgewehr, die Revolver und eine Menge von Patronen, die dazu gehören, hat er nicht für sich, sondern für mich von seinen Reisen mitgebracht, obgleich ich damals noch ein kleines Knäblein war. Er bestimmte es zur Ausrüstung für die Aufgabe, die er mir hinterlassen hat.«

»Ist es mir erlaubt, mich nach dieser Aufgabe zu erkundigen?« fragte ich.

»Du darfst. Du hast sogar das Recht dazu, denn Du sollst höchst wahrscheinlich mein Begleiter sein. Du willst zum 'Mir von Dschinnistan, ich auch. Nach dem Grunde, der Dich zu ihm führt, will ich Dich nicht fragen, denn Du stehst hoch über mir und hast mir keine Rechenschaft zu geben, und ich bin überzeugt, daß Du es mir freiwillig sagen wirst, wenn die Zeit dazu gekommen ist. Von mir aber will ich Dir offen, |102B doch unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertrauen, daß die Zeit, wenn ich nach Dschinnistan aufzubrechen habe, ganz genau bestimmt ist. Nämlich sobald ich erfahre, daß der 'Mir von Ardistan gegen den 'Mir von Dschinnistan rüstet, habe ich nur noch zu warten, bis ein Fremder kommt, der denselben Schild besitzt wie ich. Mit diesem Fremden reite ich; er wird mein Führer und Beschützer sein, dem ich zu gehorchen habe, obgleich mir freisteht, dies auch nicht zu tun. Doch werde ich, so oft ich ihm widerstrebe, zu Schaden kommen, der schwer zu büßen ist.«

»Kennst Du Ardistan?«

»Ich war niemals dort, aber ich habe sehr genaue Karten und Pläne, die es sonst nirgends gibt, auch nicht in Ardistan selbst. Sie stammen aus Dschinnistan.«

»Es überrascht mich freudig, dies von Dir zu hören. Beziehen sich diese Karten auf alle fünf Länder, die zu Ardistan gehören?«

»Ja, und nicht nur auf diese. Ich habe auch eine vom Lande der Ussul und eine vom Lande der Tschoban, welche beide nicht eigentlich zu Ardistan gehören, sondern ihm nur tributpflichtig sind. Ardistan besteht aus dem eigentlichen Ardistan mit der Hauptstadt Ard, die früher an dem zurückgegangenen Flusse Ssul lag. Es ist umgeben im Norden von Schimalistan, im Osten von Scharkistan, im Westen von Gharbistan und im Süden von Dschunubistan, welches uns am nächsten liegt, weil es an das Gebiet der Tschoban grenzt. Möchtest Du diese Karten sehen?«

»O, natürlich!«

»So warte! Ich hole sie sofort. Du kannst sie mitnehmen, um sie zu studieren, darfst sie aber niemand zeigen!«

Er ging fort und kehrte sehr bald mit ihnen zurück. Ich wartete nicht bis später, sie zu betrachten, sondern tat dies gleich. Es waren Meisterwerke, die ich leider jetzt nur kurz überfliegen konnte. Auch auf der Karte des Landes der Ussul war jeder, sogar der kleinste und unbedeutendste Kanal, genau verzeichnet. Ich war darüber befriedigt, daß ich sie zu mir stecken und mitnehmen durfte.

»Ich werde Dir wahrscheinlich noch manches mitzuteilen haben,« nahm der Dschirbani seine unterbrochenen Worte wieder auf. »Du bist mir zu schnell gekommen, und ich habe es fast als ein Wunder zu bezeichnen, daß sich die Voraussage meines Vaters so pünktlich erfüllt. Kaum habe ich erfahren, daß in Ardistan gegen Dschinnistan gerüstet wird, so hat sich der Fremde, der das Schild besitzt, auch schon eingestellt! Ich habe mich zu sammeln, um mir alles zu vergegenwärtigen, was ich über unsern Ritt nach Dschinnistan erfahren habe. Es ist unmöglich, sich gleich auf alles zu besinnen.«

»Weißt Du etwas über die Fläschchen an unsern beiden Schilden? Was für einen Zweck haben sie?«

»Den kenne ich noch nicht, wir werden ihn aber erfahren. Ihr Inhalt ist eine durchsichtige Flüssigkeit, deren Geschmack ich nicht versucht habe, weil sie giftig sein könnte. Geruch besitzt sie nicht.«

»Hast Du zu jemand von Deinem Schilde und den beiden Fläschchen gesprochen?«

»Nein.«

»Auch zu Deinem Großvater und Deiner Großmutter nicht?«

»Kein Wort! Du nennst den Sahahr meinen Großvater?«

»Natürlich! Oder ist Deine Mutter nicht seine Tochter gewesen?«

»Ja, er war der Vater meiner Mutter, aber weiter nichts! Keine Faser meines Körpers, kein Hauch meiner Seele und keine Regung meines Geistes stammt von ihm. Denkt man in Deiner Heimat hierüber anders? Wir beide, er und ich, haben nicht den geringsten Teil aneinander! Nicht die Verwandtschaft, sondern nur die Liebe können uns verbinden, wenn sie vorhanden wäre.«

»Aber man sagt, daß er Dich nur öffentlich verfolge, heimlich aber liebe er Dich!«

»Möglich! Für mich aber ist diese Liebe nicht vorhanden, da er mir niemals einen Grund gegeben hat, sie auch nur zu ahnen. Ich sah nur Haß. Er haßte meinen Vater nicht nur deshalb, weil dieser ihm die Tochter nahm, sondern auch, weil |103A dieser ein größerer Arzt und überhaupt ein bedeutenderer Mensch war als er. Jede Kur, die nicht ihm, dem Zauberer, sondern meinem Vater, dem Heiden, gelang, vergrößerte den Haß. Dennoch achte ich ihn und wünsche, daß auch Du ihn achtest, denn er ist trotz dieser einen Schwäche in jeder anderen Beziehung ein guter, edler Mensch. Und die Großmutter? So wirst Du fragen. Ich liebe sie, denn ich liebe mich. Meine Mutter war Fleisch von ihrem Fleische und Seele von ihrer Seele, und beides ging über auf mich. Aber sie war mehr Priesterin als Mutter. Sie verzichtete um des Zauberpriesters willen auf ihr Kind und auf ihren Enkel. Sie grüßt mich nur von weitem, und auch das verschweigt sie ihm. Kannst Du das begreifen? Ich nicht!«

Wir waren während dieses Gespräches in der Nähe des Grabes langsam hin und hergegangen. Nun blieb er vor dem Hügel stehen und fuhr in seiner Rede fort:

»Jetzt liegt der Sahahr in Todesgefahr; da ruft sie mich. Ich soll ihn retten. Ich werde es tun. Sie soll nicht vereinsamen wie ich; sie soll ihn behalten. Aber ich tue es ohne Wohlwollen, ohne Liebe, ohne Freude. Ich bin nur noch Körper und Geist. Meine Seele ist tot, die hat man mir begraben, hier in diesem Moder, in dieser verwesenden Feuchtigkeit!«

Er schlug die Arme auf der Brust übereinander, hielt das Grab mit seinen Blicken fest, als ob er es durchdringen wolle, senkte den Kopf und sagte:

»Ich bitte Dich, über das, was ich Dir jetzt gestehe, nicht zu lächeln! So oft ich vor diesem Grabe stehe, ist es mir, als ob mein Auge die Kraft habe, durch die Erde und durch die Wände des Sarges zu dringen, und da sehe ich ihn immer leer; denke Dir, Ssahib, immer leer! Ist das Wahnsinn? Man behauptet ja, daß ich wahnsinnig sei! Das quält mich ungemein! Das hat mich schon seit Jahren gepeinigt und peinigt mich auch noch heute. Es packt mich oft so, daß ich kaum widerstehen kann. Jetzt, in diesem Augenblick, an dem ich mit Dir hierüber spreche, ist es so stark und so deutlich, daß ich die Erde mit den Händen aufscharren möchte, um Dir zu zeigen, daß der Sarg leer ist!«

»Das wäre doch ein fürchterlicher Betrug!«

»Ja, das wäre es! Ich möchte scharren und scharren, um diesen Betrug aufzudecken und die Bretter des leeren Sarges den Eltern meiner Mutter in das Gesicht werfen zu können; aber diese Tat wäre so ungeheuerlich, daß ich über den Wahnwitz erschrecke, sie mir zu denken. Auch frage ich, wo die Mutter denn sein soll, wenn nicht hier? Und ich hatte und habe sie ja noch viel, viel, viel zu lieb, als daß ich die Sünde auf mich nehmen möchte, ihr Grab geöffnet und geschändet zu haben!«

In diesem Augenblick war ein starker, tiefer und langgezogener Ton zu hören. Er klang fast wie von einem Alpenhorn. Er kam vom Flusse her. Ihm folgten weitere Töne, die ganz dieselbe Klangfarbe besaßen, aber entweder höher oder tiefer waren als der zuerst erklungene. Es schien ein Signal, oder richtiger, eine Fanfare sein zu sollen.

»Das ist das Zeichen der Hukara!« rief der Dschirbani aus, sichtlich freudig überrascht. »Ich habe ihnen gestern sagen lassen, daß Du heut um diese Stunde bei mir sein werdest. Sie haben sich bis jetzt beraten und kommen nun, mir mitzuteilen, was sie beschlossen haben.«

»Wer und was sind diese Hukara?« fragte ich.

»Die Zurückgesetzten, die Geringgeschätzten, die Verachteten,« antwortete er. »Ssahib, Du wirst jetzt erfahren, daß ich nicht der törichte, untätige Knabe bin, als der ich Dir erscheinen mußte. Meine Gefangenschaft war nicht ganz unfreiwillig. Sie hat empört. Das mußte und das wollte ich. Die mich wahnsinnig nannten, waren selbst verrückt. Ihr Wahnsinn stieg von Jahr zu Jahr. Er ging sogar so weit, die häßliche, tierische Behaarung zum Sinnbild des Adels, der Vornehmheit zu erheben. Je dichter das Gesichtsfell, desto edler und reiner die Abstammung! Ich, der ich von väterlicher Seite aus Dschinnistan und von mütterlicher Seite aus Sitara stamme, war hier geduldet, so lange mein Gesicht das Aussehen eines Affenpelzes hatte; sobald sich aber dieses Fell infolge dieser Abstammung zu lichten begann, wurde ich zu den >Hukara< geworfen und |103B sogar als >räudig< bezeichnet. Zu den Hukara gehören alle, die weniger behaart sind, als die Behaarten es von ihnen verlangen. Je freier, offener und glatter hier das Gesicht eines Menschen ist, desto mehr wird er zurückgesetzt und verachtet. Man meidet ihn; man lacht über ihn; man drängt ihn aus seinem Besitz und aus den Rechten, die ihm zustehen. Das kränkt und das erbittert. Je größer die Zahl der Verachteten, der Ausgestoßenen wurde, um so höher stieg der Zorn derer, welche der Ansicht waren, daß der Mensch so wenig wie möglich dem Tiere gleichen dürfe. Sie traten zusammen, erst heimlich, dann später öffentlich. Sie behaupteten, daß der Haarmensch nicht nur ohne Intelligenz, sondern auch ohne Mut, Mannhaftigkeit und Ausdauer sei. Sie wiesen auf die Feigheit hin, mit welcher die Ussul trotz ihres drohenden Aussehens bisher vor allen ihren Feinden geflohen sind. Bei der letzten Belagerung durch die Tschoban kam es zu einer offenen Empörung der Hukara gegen diesen herkömmlichen, unmännlichen Brauch. Die Hukara beschlossen, sich dies nicht mehr gefallen zu lassen und beim nächsten Einfall der Tschoban der alten, feigen Taktik ein Ende zu machen. Zum Anführer wählten sie mich. Das geschah zwar heimlich, aber man scheint es auf der anderen Seite doch erfahren zu haben, denn von jener Zeit an wurde ich nicht mehr als Enkel des Sahahr, sondern als Ausgestoßener behandelt. Man sperrte mich sogar als Räudigen und Verrückten in den Stachelzwinger und ließ mich von den Bluthunden Tag und Nacht bewachen. Da kam die Kunde, daß die Tschoban einen neuen Einfall beabsichtigen und daß zwei fremde Gäste kommen würden, die den Erstgeborenen der Tschoban gefangen genommen haben. Das gab hellen Jubel. Es wurden übermenschliche Heldentaten von Euch erzählt, und jedermann glaubte an sie. Da kommt Ihr gestern selbst, und gleich Euer erstes Auftreten war diesen Berichten angemessen. Du holtest mich aus dem Zwinger, worauf mein erstes war, die Hukara zu benachrichtigen, daß unsere Zeit gekommen sei. Ich sprach mit den wichtigsten von ihnen. Sie hatten schon gehört, daß Du Dich anheischig gemacht hast, die Tschoban im Engpaß Chatar gefangen zu nehmen, ohne daß ein Tropfen Blut zu fließen braucht. Es wurden sofort nach allen Richtungen Boten gesandt. Heute vormittag ist Beratung gewesen. Nun kommen sie, mir das Ergebnis derselben mitzuteilen. Erlaube, daß ich gehe, sie zu empfangen. Ich kehre schnell zurück.«

|104A Der Dschirbani entfernte sich. Während seiner Abwesenheit nahm ich die Karte des Landes der Ussul vor, die er mir geholt hatte. Es kam mir besonders auf die Gegend des Engpasses Chatar an. Sie war sehr deutlich und sehr eingehend gezeichnet. Indem ich sie betrachtete und über diese Linien nachdachte, wurde ich in Gedanken nach dem Palast von Ikbal und auf das Schiff Wilahde versetzt, wo ich diesen Engpaß und seine Umgebung mit ganz besonderem Interesse studiert hatte. Die damals gemachten Aufzeichnungen hatte ich zwar vergessen, mit vom Schiff zu nehmen; jetzt aber kehrten sie zu mir zurück. Sie standen so deutlich vor mir, als ob ich diese Studien soeben erst beendet und die Notizen hierüber noch gar nicht niedergeschrieben hätte. Und als ob mir diese ebenso klare wie ausführliche Erinnerung grad zur richtigen Zeit gekommen sei, stellte sich in diesem Moment der Dschirbani wieder ein und sagte:

»Ssahib, der gegenwärtige Augenblick ist ungeheuer wichtig. Es scheint sich eine Umgestaltung aller jetzigen Verhältnisse vorbereiten zu wollen. Sag mir aufrichtig, ob es wirklich möglich ist, die Tschoban am Engpaß zu besiegen, ohne daß es uns einen Tropfen Blut kostet!«

Ich hatte mich niedergesetzt gehabt, bei dieser Frage aber stand ich schnell auf. Ihre Bedeutung wollte sich nun fast fühlbar auf die Schultern legen. Auch der junge, edle Ussul war ernst; aber es war ein freudiger, begeisterter Ernst, der aus seiner Stimme sprach, und so klang auch die meinige zuversichtlich heiter, als ich antwortete:

»Ja, es ist möglich! Doch setze ich voraus, daß die Bedingungen vorher erfüllt werden, ohne die es nicht geschehen kann.«

»Nenne sie mir, diese Bedingungen!«

»Erstens, daß die Tschoban höchstens viermal stärker sein dürfen als wir - - -«

»Was sagst Du? Wie?« unterbrach er mich. »Wir müssen nicht stärker sein als sie? Und werden dennoch Sieger?«

»Ja, wir brauchen nur ein Viertel ihrer Stärke. Zweitens verlange ich unbedingten Gehorsam gegen unsern Anführer.«

»Selbstverständlich! Der bist natürlich Du!«

»Nein!«

»Wer sonst?«

»Du!«

»Ich - - -?«

»Natürlich! Du bist der Herr. Wir werden Deine Berater, Deine Helfer, Deine Freunde sein, weiter nichts. Wir wünschen nichts für uns, gar nichts, sondern alles nur für Dich und Deine Freunde.«

»Wie ist - - ist - - ist das möglich!« rief er aus. »Solche Leute, wie Ihr seid, waren noch nie bei uns! Kommt, kommt zu meinen Hukara, damit sie Euch sehen und hören! Und daß sie Euch lieben und verehren!«

|104B Er führte uns nach dem freien Platz vor dem Hause. Da standen sie, dicht gedrängt, wohl drei- bis vierhundert Mann, eine Zahl, die sich aber von Stunde zu Stunde vermehrte. Es waren lauter hohe, breite, eindrucksvolle Gestalten, höchst einfach gekleidet und nur mit langem Messer, Spieß und weit spannenden Bogen bewaffnet. Gewehre sah ich nur einige, so daß sie gar nicht zu rechnen waren. Es jubelte in mir. Was ließ sich mit solchen Leuten, mit solchen Muskeln und Sehnen erreichen! Diese vom Wetter gegerbten, ehrlichen, offenen Gesichter mit dem scharfen, zuverlässigen Blick in den treuen, arglosen Augen! Und das sollten Ausgestoßene, Verachtete sein!

Der Dschirbani bat mich, zu ihnen zu reden. Ich tat es, indem ich ihnen mitteilte, wie ich mir den Zusammenstoß mit den Tschoban dachte. Ein Zusammenstoß sollte es überhaupt gar nicht sein, sondern das außerordentlich bequeme und vollständig ungefährliche Stellen einer Falle, in welche die Gegner ahnungslos zu laufen hatten, um drin stecken zu bleiben. Ich sagte ihnen, daß ich ihnen diese Mitteilung nur im größten Vertrauen mache, und daß sie selbst gegen Freunde und Verwandte kein Wort sagen dürften, weil auch nur ein einziger, ganz unbeabsichtigter Verrat genüge, die Ausführung des Planes unmöglich zumachen. Sie begriffen meine Darstellung sofort und leicht und waren nicht nur einverstanden, sondern sogar begeistert. Am liebsten wären sie unverzüglich aufgebrochen, um nach dem Engpaß zu ziehen. Das ging aber nicht. Wir hatten noch viel Zeit und durften nichts übereilen. Es galt nicht, einen rohen Stoß, einen ungestümen Streich auszuführen und dann mit Beute beladen heimzukehren, sondern die Aufgabe war, mit dem kurzen Kampfe einen langen Frieden zu erzwingen und aus dem augenblicklichen, blitzschnellen Siege einen bleibenden Nutzen zu ziehen. Man mußte den Tschoban endlich einmal imponieren und sich ihnen als mindestens gleichwertig zeigen, um bei ihnen den Wunsch zu erwecken, das bisherige unfreundliche Verhältnis in ein Bündnis zu verwandeln, das beiden Stämmen die nötige Stärke verlieh, um sich von den drückenden Fesseln des 'Mir von Ardistan zu befreien.

Als ich diesen Gedanken aussprach, jubelten sie laut auf. Daß der 'Mir von Ardistan seine Leibgarde aus lauter Ussul zusammensetzte und daß die beiden Söhne des Scheiks der Ussul an seinem Hofe leben mußten, das fühlten sie nicht als Ehre, sondern als Schande. Sie hielten es schon längst für ihre Pflicht, dieses Joch abzuschütteln, nur hatten sie nicht gewußt, wie es anzustellen sei. Darum nahmen sie meinen Gedanken, durch die friedliche, wenn auch erzwungene Vereinigung mit den Tschoban stark genug zum Widerstand zu werden, mit Freuden auf und erklärten sich bereit, für diesen Zweck zu leben und zu sterben. Sie fragten, ob ich gewillt sei, mit ihnen nach dem Engpaß zu ziehen, und ob ich ihnen den redegewandten Scheik der Haddedihn für einige Stunden abtreten möge, damit sie |105A ihn jetzt mit nach ihrem großen Versammlungsplatz nehmen könnten, um sich von ihm belehren und unterrichten zu lassen. Als ich beides bejahte, nahmen sie den kleinen Hadschi samt seinen beiden Hunden in die Mitte und marschierten jubelnd nach dem Ufer, wo wir sie in ihre Boote und auf ihre Flösse steigen und sich entfernen sahen. Halef stand, die Hunde neben sich, auf einem der größten Flösse und winkte uns Abschied zu. Er fühlte sich als wichtige Person, und das bereitete ihm stets eine Wonne.

Somit war nun mein Aufenthalt auf der >Insel der Heiden< beendet. Er hatte eine unvorhergesehene Entscheidung gebracht und sollte auch noch weitere Folgen zeitigen, an die ich jetzt nicht dachte. Auch der Dschirbani mußte fort. Es nahte die Zeit, für welche er zu der Priesterin bestellt worden war. Wir verließen die Insel, er auf seinem kleinen Floß und ich in meinem Kanoe. Wir ruderten uns auf demselben Weg zurück, den ich zu ihm gekommen war. Als wir hierbei an einer der bereits erwähnten, im Flusse liegenden Inseln vorüberkamen, hörten wir laute, klatschende Schläge und das pfeifende Winseln von Hunden, die mit der Peitsche bestraft werden.

»Das ist Aacht und Uucht,« sagte der Dschirbani.

»Die beiden hochedlen Hunde?« fragte ich, indem ich die Ruder schnell einzog.

»Ja. Der Wärter dressiert sie. Sie scheinen nicht gehorchen zu wollen. Daher die Schläge.«

»Das soll er bleiben lassen!« rief ich zornig aus und lenkte nach dem Ufer. Er folgte mir.

Das Inselchen war der Zwinger nur für die beiden Hunde. Eine dicke, hohe Mauer von lebenden Dornen umgab sie rings, um die Tiere festzuhalten. In dieser Mauer befand sich eine sehr schmale Pforte, die jetzt offen stand. Als wir sie passiert hatten, standen wir auf einem freien Grasplatze, wo zwei starke Pfähle in die Erde gerahmt waren. An diesen Pfählen hingen die Hunde, und zwar mit den Köpfen fest an den Erdboden gezogen, wie man es in manchen Gegenden noch heute beim Schlachten starker Ochsen macht. Da ist in der Mitte der schwersten Steinplatten des Fußbodens ein eiserner Ring angebracht, durch welchen der Strick, an dem das Tier hängt, derart gezogen ist, daß ihm der gesenkte Kopf tief unten mit dem Maule an die Platte gefesselt ist. Mit angstvollem Blick schielt es von da unter dumpfem Gebrüll zu dem Schlächter empor, der mit der Axt weit ausholt, um ihm den tödlichen Schlag auf die Stirn zu versetzen. Nicht immer gelingt dieser Hieb. Dann ist es fürchterlich, mit dabei zu sein. Ich selbst habe gesehen, daß ein Ochse, den dieser erste Hieb nicht tötete, im wahnsinnigen Schmerze und mit der Kraft der Todesangst die mehrere Zentner schwere Steinplatte aus der Erde riß, aber doch nicht fliehen konnte, weil sie ihm die Beine zerschmetterte. Der Ochse brüllte, auch der Fleischer brüllte wie ein Stier und schlug mit dem Beile so lange auf das arme Opfer los, bis es blutüberströmt zusammenbrach.

Genau so waren auch hier die Hunde mit den Köpfen tief unten angebunden, daß sie sich ja nicht wehren konnten. Und außerdem hatte der Dresseur ihnen mit einer Art von Beißkörben die Mäuler so fest zusammengepreßt, daß sie weder bellen noch beißen, sondern nur noch winseln konnten. Dabei schlug er mit einer Riemenpeitsche unbarmherzig auf sie ein. Ich sprang auf ihn zu, riß ihn zurück und fragte ihn zornig:

»Warum schlägst Du meine Hunde? Wer hat Dir das erlaubt?«

»Deine Hunde?« tat er erstaunt. Er war viel länger, breiter und stärker als ich und dabei so dicht behaart im Gesicht, daß man kaum noch die Augen und die Nasenspitze sehen konnte.

»Ja! Sie sind mein!« antwortete ich.

»Das ist nicht wahr. Sie gehören jetzt dem Scheik und seiner Frau. Sie werden für einen Fremden aufgehoben, der einen Schild auf der Brust trägt; ich aber bin der eigentliche Herr. Ich strafe sie, wenn sie nicht lernen wollen und niemand hat mir da dreinzureden. Auch Du nicht! Das werde ich Dir zeigen!«

Er holte wieder aus und versetzte jedem der Hunde einen klatschenden Hieb. Er wollte fortfahren; da aber |105B riß ich ihm die Peitsche aus der Hand und zog sie ihm schnell einige Male über den Rücken, so daß er zunächst vor Schreck und Schmerz vergaß, mir Widerstand zu leisten. Dann aber wollte er mit den gewaltigen Fäusten nach mir langen; doch kam er nicht dazu, mich anzufassen, denn ich gab ihm von unten her einen solchen Stoß in die Achselgrube, daß er ausgehoben und zu Boden geschleudert wurde. Da raffte er sich wieder auf, stieß einen Wutschrei aus und warf sich wieder auf mich, um sich zu rächen, hielt aber mitten im Sprunge ein, weil sich ihm jetzt auch der Dschirbani entgegenstellte. Dieser war am Eingange stehen geblieben und von ihm gar nicht bemerkt worden. Nun kam der Dschirbani schnell herbei und streckte beide Arme nach dem Manne aus, um ihn von mir abzuhalten. Mit einem Ruck blieb letzterer plötzlich stehen, streckte beide Hände aus und rief in sichtbarer Angst:

»Der Dschirbani! Der Aussätzige! Bleib, bleib! Stecke mich nicht an!«

»Ich fasse Dich! Ich fasse Dich!« antwortetet dieser, indem er auf den Mann eindrang. Dieser wich zurück. Der Dschirbani folgte ihm. Da schrie der andere angsterfüllt:

»Nicht anrühren, nicht anrühren! Fort, fort! In das Wasser!«

Er schnellte sich durch den schmalen Eingang hinaus und sprang in den Strom. Nun wandte sich der Dschirbani zu mir um. Er wollte lachen und konnte doch nicht.

»Siehst Du, wie die Lüge wirkt?« fragte er. »Wie Vorurteil und Verleumdung die Köpfe verwirren? Ich stecke an!«

Hier lachte er doch; aber sein Lachen war mehr wie ein Weinen.

»Das soll Dich nicht grämen!« antwortete ich. »Es wird Dir Vorteil bringen.«

»Vorteil? Wieso?«

»Indem sich auch die Feinde scheuen, Dich anzufassen, bist Du unverletzbar für sie. Du wirst erleben, daß sie dadurch nur selbst zu Schaden kommen.«

»Das hoffe ich! Aber weißt Du, daß ich staune?«

»Worüber?«

»Über Deinen Achselstoß, mit dem Du diesen schweren, riesigen Menschen von Dir hinweg und zur Erde schleudertest. Eine solche Körperstärke ist Leuten Deiner Gestalt nicht zuzutrauen. Nun Du sie mir aber gezeigt hast, bin ich froh darüber. Es stehen uns schwere Kämpfe bevor, und da beruhigt es mich sehr, zu sehen, daß Du, mein Beschützer und Führer, es auch in der rein äußerlichen Kraft mit jedem Ussul, jedem Tschoban und jedem Ardistani aufzunehmen vermagst!«

»Da sorge Dich nicht! Die rohe Kraft ist, außer wenn sie von Kopf und Herz geleitet wird, nicht eine Stärke, sondern eine Schwäche des Menschen. Sie wird durch den Einfluß des Geistes, des Willens verdoppelt, durch Zucht und Übung verdreifacht, und wenn Du sie dann nur nach der Länge und Breite des Körpers missest, so setzest Du Dich Täuschungen aus, die Dich in Nachteil bringen. Mein kleiner Hadschi Halef Omar ist nur ein Knirps gegen Euch, aber ich möchte es keinem Ussul raten, einen ernsten Gang auf Leben und Tod mit ihm zu wagen. Seine Knochen sind von Schmiedeeisen und seine Sehnen von Stahl! Doch, nun zu den Hunden!«

Vor allen Dingen band ich die beiden Tiere los und befreite sie von den peinigenden Maulkörben. Da sprangen sie vor Freude hoch auf, jagten drei- bis viermal rundum und kehrten dann zu mir zurück, um sich zu meinen Füßen niederzulassen und mir die Hand zu lecken. Ich hatte ihrem Peiniger die Peitsche entrissen; sie sahen mich als ihren Retter an, und in ihren großen, schönen, unendlich ehrlichen Augen war die Bitte zu lesen, mir dafür dankbar sein zu dürfen. Welche Freude sie hatten, als ich ihnen erlaubte, sich an mir hoch aufzurichten, und sie dann mit beiden Armen an mich drückte! Wie schön sie waren! Wie edel und stark! An Größe überragten sie sogar noch die Bärenhunde der Ussul. Der berühmte Dojan, von dem ich in dem Bande >Durchs wilde Kurdistan< erzähle, war ein Windspiel gegen sie. Auch ihre Farbe war ganz eigenartig. Ich kann sie nicht besser beschreiben, als indem ich sie mit jener Art von Pferden vergleiche, die man Schwarzschimmel nennt, nur daß bei diesen Hunden das Schwarz einen frappierenden Übergang zur blauen Farbe zeigte. Hierzu kam, daß ihre sehr |106A feine, seidenweiche Behaarung eine mittellange, nicht eine kurze war, was die Seltsamkeit dieser Färbung ungemein erhöhte. Sie waren wirklich vornehme, fast möchte ich sagen, königliche Tiere!

»Diese herrlichen Abkömmlinge der Hunde von Dschinnistan übertrafen als Wasserfinder sogar die besten und berühmtesten Hunde, die es bei den Ussul gegeben hat,« sagte der Dschirbani.

»Als Wasserfinder?« fragte ich. »Das kenne ich nicht.«

»Die Gewöhnung an die immerwährende, große Feuchtigkeit unsers Landes läßt uns die jenseits der Grenze liegenden trockenen Wüsten unerträglich erscheinen. Wir vertragen den Durst nicht. Sobald wir hinüberkommen, bangen wir nach Wasser. Nicht nur wir, sondern auch unsere Pferde und Hunde. Die letzteren wissen dann mit ihren feinen Nasen jede Spur von Feuchtigkeit, auch die geringste, zu entdecken. Wo sie die Erde scharren, ist in der Tiefe Wasser zu finden.«

»Also Wasser gibt es in diesen vertrockneten Gegenden doch?«

»Ja, aber in welcher Tiefe! Wer hat Werkzeuge mit? Und wenn man graben wollte, würde man verdursten, ehe man die betreffende Tiefe erreichte. Dennoch ist es vorgekommen, daß Hunde ihre Herren vor dem Verschmachten gerettet haben. Es scheint also doch Stellen zu geben, wo die Wasser der Tiefe bis nahe an die Oberfläche emporsteigen. Mein Vater reiste alljährlich einmal nach Dschinnistan. Er tat dies nie, ohne einen zuverlässigen Hund mitzunehmen, und hat alle feuchten Orte genau verzeichnet, die er mit Hilfe dieser Tiere fand. Aacht und Uucht aber sind die scharfrüchigsten und zuverlässigsten von allen, die es bisher gegeben hat. Das wurde ausgeprobt. Vor allen Dingen zeichnen sie sich dadurch aus, daß sie den Durst mit Leichtigkeit ertragen, alle andern aber nicht.«

»Hast Du diese Verzeichnisse Deines Vaters noch?«

»Ja. Es ist ein kleines, aber sehr eng beschriebenes Buch, in welchem alle Orte, die er von hier bis Dschinnistan berührte, geschildert sind.«

»Das ist ja kostbar für uns! Ich bitte Dich, es mitzunehmen!«

»Das werde ich tun. Ich habe überhaupt viel mitzunehmen.«

»Nur nichts, was uns belästigt, ohne Nutzen zu bringen. Wie schwimmen Aacht und Uucht?«

»Wie ein Fischotter, also noch besser als Hu und Hi, die Halef bei sich hat. Möchtest Du sie nicht gleich mitnehmen? Sie schwimmen so schnell, wie wir rudern.«

»Wenn sie uns freiwillig folgen, ja.«

Wir gingen nach dem Wasser. Die Hunde folgten sofort. Als wir unsere Fahrzeuge bestiegen, sprangen sie freudig bellend in den Fluß, als ob es sich ganz von selbst verstehe, daß sie nun zu mir gehörten. Sie blieben bei mir, ich mochte schnell oder langsam rudern, Aacht rechts und Uucht links von meinem Kanoe. Und wie es jetzt, gleich beim ersten Male war, so war es von nun an immerfort: Beide waren stets getreu an meiner Seite, der Bruder rechts, die Schwester links von mir, als müsse dies so sein. Ich stieg an meinem Landungsplatze aus, und die Hunde gingen mit ans Ufer. Sie machten nicht den geringsten Versuch, dem Dschirbani zu folgen, der, um nicht auffällig gesehen zu werden, erst hinter dem Tempel aussteigen wollte. Es war genau Mittag, als wir uns trennten.

Da ich jetzt nichts zu tun hatte, beschloß ich, bis zum Essen zu schlafen, um das während der Nacht Versäumte nachzuholen. Aacht und Uucht schüttelten sich das Wasser aus den Fellen und kamen mit an das Haus. Als ich mich niederlegte, taten sie das auch, der eine rechts, die andere links von mir. Ich schlief schnell ein, wachte aber pünktlich, also kurz vor zwei Uhr, wieder auf. Ich übergab die Hunde den beiden Dienern, denen ich befahl, sie gut zu füttern. Dann ging ich nach dem >Palast<, um mich zum Essen einzustellen.

Heute gab es weit mehr Gäste als gestern. Die Ältesten des Stammes und überhaupt alle, die irgend etwas zu bedeuten hatten, waren geladen. Ich saß wieder zwischen dem Scheik und seiner Frau. Es ging sehr lebhaft zu. Mein Halef fehlte. Von den Offizieren, die er so schnell befördert und so hoch besoldet |106B hatte, war keiner da. Ich hörte, daß sie noch schliefen. Hatte der Simmsemm gestern seine Wirkung getan, so tat er sie auch heut. Man wurde lustig. Aber in diese Lustigkeit hinein fiel eine Szene, welche den Scherz sofort in strengen Ernst verwandelte. Es traten nämlich zehn mit Spieß, Bogen, Köcher und langem Messer bewaffnete Riesen bei uns ein, welche meldeten, daß sie die bevollmächtigten Offiziere von fünfhundert Hukara seien und mit dem Scheik und seinen Ältesten zu sprechen hätten. Ihr Anführer war eine Prachtgestalt, körperlich ein Hüne und, wie ich später sah, auch in Beziehung auf seine Intelligenz den gewöhnlichen Ussul weit voraus. Er hieß Irahd und war einer der wohlhabendsten Männer der Stadt, aber leider so wenig behaart, daß die reinblütig geborenen Haarmenschen es für unmöglich hielten, mit ihm zu verkehren. Er führte das Wort, und zwar in ebenso geschickter wie energischer Weise.

Er schilderte die bisherige Feigheit der Ussul ihren Feinden gegenüber und betonte, daß diese Feigheit gar keine Veranlassung habe, auf die Hukara, die wehrhafte, mutige Männer seien, verächtlich herabzublicken. So weit die Erde reiche, halte man den Ussul für ein Zerrbild, für eine Lächerlichkeit. Das müsse unbedingt anders werden, und zwar noch heute, wo sich die beste Gelegenheit biete, die Achtung anderer Stämme und Völker zu gewinnen. Wahrscheinlich sei den Haarmenschen der Begriff der Völkerehre noch nicht verständlich, den Hukara aber liege außerordentlich viel daran, sich andern Nationen als moralisch ebenbürtig zu erweisen, und so hätten sie sich fest entschlossen, nach dem Engpaß Chatar zu ziehen, um die Tschoban nach Gebühr zu empfangen. Ihr Feldherr sei schon erwählt, nämlich der Dschirbani, der Räudige, der für verrückt Gehaltene, den man zu verachten wage, obgleich er der einzige sei, der die Befähigung besitze, die Ussul auf die Höhe gebildeter Völker emporzuheben. Er befinde sich jetzt auf dem großen Versammlungsplatze, um seine fünfhundert Hukara einzuexerzieren. Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, helfe ihm dabei. Auf die alten, invaliden Soldaten verzichte man; die Kriegsspielerei mit ihnen sei kindisch und führe zu nichts. Mit zehn gesunden, kräftigen Hukara könne man mehr erreichen als mit einer großen Schar dieser alten, vom 'Mir von Ardistan verbrauchten Leute. Darum seien die Hukara entschlossen, die ganze Schar der Feinde auf sich allein zu nehmen und auf jede andere Kameradschaft zu verzichten. Aber man müsse Bedingungen stellen, deren Erfüllung zum Siege erforderlich sei, und das wolle man sofort tun in einer Beratung mit den Ältesten. Über diese hochwichtige Angelegenheit dürfe man keine Minute verlieren.

Dieser ganze Vorgang kam nicht nur dem Scheik, sondern auch den andern überraschend. Die Hukara hatten allerdings schon längst gedroht, diese Sache in die Hand zu nehmen; aber daß sie es wirklich tun würden, das hatte man nicht erwartet. Und nun diese Plötzlichkeit, diese Energie und Eile! Man sah es den Ältesten allen an, daß sie sich in Verlegenheit befanden. Aller Augen waren auf den Scheik gerichtet, der sich im Gefühle seiner Unselbständigkeit, wie immer, an seine Frau wendete. Er tat das zwar mit leiser Stimme, aber da ich zwischen ihnen beiden saß, hörte ich, was sie sprachen.

»Was sagst Du hierzu?« fragte er sie. »Man hat uns da vollständig überrumpelt! Ich weiß nicht, was ich antworten soll! Aber ich meine, es würde eine Schwäche sein, auf solch ein Verlangen einzugehen!«

»Im Gegenteile! Eine Stärke wäre es! Du mußt ihren Wunsch erfüllen!« antwortete sie.

»Diesen Unreinen, Verächtlichen, Tiefstehenden? Sie sind nur Pöbel!«

»Grad deshalb!«

»Warum grad deshalb? Und wer soll sie befehligen? Der Verrückte, der Räudige! Welch eine Schande für uns, wenn man dann überall höhnt, daß wir unsere Ehre nur Ehrlosen oder Verrückten anvertrauen!«

»Grad deshalb!« bestand sie darauf.

»Das verstehe ich nicht! Was meinst Du mit diesem Worte?«

Sie hielt ihm keine lange Rede. Als kluge Frau wußte sie, wie sie ihren Mann zu nehmen hatte. Sie ging auf seine |107A Ansichten ein und überfiel ihn mit seinen eigenen Waffen, indem sie erklärte:

»Grad weil sie nichts taugen, weder die Hukara noch der Dschirbani, mußt Du tun, was sie wollen. Schicke sie gegen den Feind, so bist Du sie los!«

Er staunte. Dann schaute er sie bewundernd an und sagte:

»Taldscha! Wie ungeheuer klug Du bist! Und wie recht Du hast! Das ist so einfach! Wir erfüllen ihnen ihren Wunsch und jagen sie dadurch fort! Dann sind wir frei von ihnen! So wird es gemacht, so, so!«

Hierauf wendete er sich an den Sprecher und erklärte ihm, daß einer Beratung nichts im Wege stehe. Man werde sich mit dem Essen beeilen, und dann können sie sofort beginnen. Die zehn Hukara nahmen Platz, um zu warten.

»Sihdi, weißt Du davon, daß Dein Halef die Hukara übt?« fragte mich Taldscha.

»Nein. Ich weiß nur, daß sie ihn mit fortgenommen haben. Jedenfalls aber ist das, was er tut, nicht gegen Euch gerichtet!«

»Das weiß ich! Wenn die Beratung beginnt, entferne ich mich.«

»Ich natürlich auch.«

»So bleiben wir, wenn es Dir recht ist, beisammen. Ich möchte nach dem Versammlungsplatze, um das Exerzieren zu sehen. Reitest Du mit?«

»Gern.«

»Aber nicht auf meinen, sondern Deinen Pferden. Oder hat Halef das seinige mit?«

»Nein.«

»Wird es stark genug sein, mich zu tragen?«

»Gewiß. Ben Rih ist zwar nicht so stark wie zum Beispiel Euer wunderbarer Smihk, aber doch stark genug, um selbst vom schwersten Ussul geritten zu werden.«

»Und darf ich meine Hunde mitnehmen?«

»Welche?«

»Aacht und Uucht, von denen ich Dir schon erzählte. Ich möchte gern wissen, wer schneller und ausdauernder ist, sie oder Eure Pferde. Du hast sie noch nie gesehen; ich zeige sie Dir.«

»Ja, nimm sie mit,« bat ich, indem ich ihr verschwieg, daß sie sich bereits bei mir befanden.

»Vorher aber gehe ich einmal zur Priesterin, um mich zu erkundigen, wie es mit dem Sahahr steht. Darum breche ich schon eher von hier auf als Du.«

Sie ging noch vor Beendigung des Mahles, und ich sofort. Zu Hause bekam ich eine rührende Tiergruppe zu sehen. Syrr, mein hochedler Rapphengst, hatte sich niedergelegt. Aacht und Uucht lagen bei ihm und leckten ihn mit einem so fleißigen Eifer, als ob sie damit ihr Brot zu verdienen hätten. Ihm war deutlich anzusehen, daß er sich über diese Liebe freute. Warum fand ich die Hunde grad bei ihm, nicht aber bei Ben Rih? Es war, als ob sie wüßten, daß sie zu ihm und mir und nicht zu Ben Rih und Halef gehörten. Als ich sie jetzt liebkosend streichelte, fühlte und hörte ich sehr deutlich die winzigen, zahllosen elektrischen Funken, welche von ihren Fellen auf meine Hand übersprangen. Dasselbe geschah, wenn ich das Haar Syrrs strich. Hier war wohl das Band zu suchen, durch welches sie zusammengehörten, und daß sie diese Zusammengehörigkeit fühlten, war nun ja doch erwiesen.

Ich sattelte die Pferde. Als die Frau des Scheiks kam, war sie überrascht, die Hunde bei mir zu sehen. Sie hatte mit mir nach der gegenüberliegenden Uferseite reiten und sie von da aus zu uns herüberrufen wollen. Ich erzählte ihr mein Zusammentreffen mit dem Wärter. Sie billigte es, daß ich sie mitgenommen hatte, wenn auch nur leider für einstweilen, weil sie für den betreffenden geheimnisvollen Fremden aufzuheben seien. Dann stiegen wir auf und begannen den interessanten Ritt, der uns in einem weit gezogenen Kreise rund um die ganze Stadt führen sollte.

Wir umritten dann auch die beiden großen Seen, die im Osten und Westen der Stadt lagen. Man fischte auf ihnen. Von allen, die uns begegneten, wurden wir in einer Weise gegrüßt, welche deutlich zeigte, wie geliebt und geachtet meine Begleiterin war. Sie hatte von den unvergleichlichen, windesschnellen |107B Pferden der Araber gehört. Sie hatte gewünscht, einmal ein solches Pferd zu sehen, und fühlte sich nun glücklich, diesen Wunsch in so reichlicher Weise erfüllt zu bekommen. So oft das Terrain es gestattete, ließen wir die Rappen laufen, was sie konnten und wollten, und Taldscha gestand, daß sie solche Schnelligkeit nicht für möglich gehalten habe und daß es eine königliche Lust sei, ein solches Tier zu reiten. Sie selbst kam dabei außer Atem, die Pferde aber nicht. Ben Rih, der den kleinen, hageren Hadschi gewohnt war und heute nun eine fast mehr als doppelte Last zu tragen hatte, hielt sich vortrefflich, blieb stets im gleichen Schritt mit meinem Syrr und zeigte weder eine Flocke Schaum noch die geringste Spur davon, daß er von der größeren Last ermüdet werde. Was die Hunde betrifft, so will ich nur sagen, daß ich sie fortwährend bewunderte. Diese Kraft und Eleganz, diese Ausdauer und Geschmeidigkeit! Wie stolz und frei sie im stärksten Laufe die Köpfe trugen! Jeder einzelne Sprung war eine Schönheit an sich! Und so oft wir hielten, gab es kein Jappen und Schnappen nach Luft, kein Husten und Pusten, kein Ringen und Schlingen nach dem verschwendeten Atem, sondern die Herzen schlugen unerregt, und die Lungen arbeiteten so ruhig, gleichmäßig und gelassen, als ob man nur so still und sacht spazieren gegangen sei. Ich versprach mir von diesen köstlichen Tieren viel; sie konnten uns auf unserm Weg nach Dschinnistan von unbezahlbarem Nutzen werden. Ich machte mir den Spaß, diesen Gedanken gegen die Frau des Scheiks auszusprechen. Da sah sie mich verwundert an und fragte:

»Also handelt es sich nicht nur um den Kampf am Engpaß Chatar?«

»Nein.«

»Ihr wollt dann gleich weiter? Durch ganz Ardistan? Hinauf nach Dschinnistan?«

»Ja.«

»Und diese Hunde sollen mit?«

»Ich denke es!«

»So hast Du mich noch immer nicht verstanden! Ich begreife das nicht. Ich habe Dir doch gesagt, daß ein Fremder kommen wird, der - - -«

Da fiel ich ihr schnell in die Rede:

»Der Dir nur dieses vorzuzeigen hat, so gibst Du ihm die Hunde, die der 'Mir von Dschinnistan ausdrücklich für ihn bestimmte!«

Während ich das sagte, zog ich mein Obergewand vorne auseinander und zeigte ihr den Schild auf meiner Brust. Da hielt sie ihr Pferd an, hob die Arme empor und rief:

»Gott sei Dank! So hat auch hier der Glaube über den Zweifel gesiegt! Marah Durimeh hält das Wort, das sie uns gegeben hat! Wir Blinden! Daß Du es sein müssest, das konnten wir uns doch denken! Ich befand mich in großer Verlegenheit. Ich gönnte die Hunde keinem anderen, als nur Dir allein, und mußte sie doch für einen anderen aufheben. Nun bist Du dieser andere selbst! Wie mich das freut! Hier hast Du meine Hand. Ich danke Dir!«

Also, anstatt daß ich mich bei ihr bedankte, bedankte sie sich bei mir! Sie folgte da einer Regung, welche nicht oberflächlich, sondern tief zu beurteilen war. Als wir dann weiterritten, war sie sehr still. Sie dachte nach. Erst nach längerer Zeit traten diese ihre Gedanken zutage, indem sie sagte:

»Das Leben ist doch etwas ganz, ganz anderes, als gewöhnliche Menschen denken! Gott lenkt; gewoben aber wird es nicht nur von uns selbst, sondern außer uns auch von Personen und Kräften, auf die wir zu achten haben; von großen Meisterinnen und Meistern; von Gesellen, die noch nicht Meister sind, und von Lehrlingen, deren Hand, wenn man sich auf sie verläßt, meist alles verdirbt. Die größte Meisterin, der alles gelingt, ist Marah Durimeh. Auch der Dschinnistani war ein Meister. Der Sahahr ist Lehrling. Seine Frau, die Priesterin, denkt schon höher als er. Sie weiß zwar noch nichts, aber sie ahnt den Zusammenhang der Dinge. Ich bin ihre Vertraute, ich allein. Effendi, willst Du ehrlich sein und mir aufrichtig bekennen, daß ihr Bild nicht klar und rein vor Deinem inneren Auge steht?«

»Ich bekenne es.«

|108A »Es kann nicht anders sein. Aber es tut mir weh, sie von Dir noch ungekannt zu sehen. Sie ist edel; sie ist rein. Wenn Du mir versprichst, zu schweigen, so will ich Dir ein Geheimnis mitteilen, dessen Kenntnis Dich befähigt, die Wahrheit zu schauen. Es betrifft den Dschirbani. Wenn ich es Dir erzähle, so tue ich das aus zwei Gründen. Nämlich um die Ehre meiner Freundin in Deinen Augen zu retten und um Dich zu befähigen, meinen Schützling, den Dschirbani, von falschen Gedankenwegen abzulenken. Ihm aber darfst Du nur in der höchsten Not etwas davon sagen. Versprichst Du mir das?«

»Ich verspreche es.«

»So erschrick nicht über das, was ich Dir berichten werde! Du warst bei ihm. Hast Du das Grab seiner Mutter gesehen?«

»Ja.«

»So wisse: es ist leer!«

Ich war betroffen, sagte aber nichts und sah sie fragend an.

»Du wirst erschrocken sein,« fuhr sie fort.

»Erschrocken nicht,« antwortete ich. »Doch staune ich, daß er so richtig fühlt und richtig ahnt.«

»Wie? Er ahnt es?«

»Ja. Er bezweifelt, daß seine Mutter gestorben sei. Es gibt Augenblicke, in denen er das Grab mit den Händen aufkratzen möchte, um nachzuweisen, daß der Sarg leer ist.«

»Er ist nicht leer. Er enthält an Stelle der Leiche eine wohlverwahrte Schrift, die alles aufdeckt, was damals geschah. Der Sohn war verreist, um ferne Verwandte zu besuchen. Die Mutter, die wir alle für verwitwet hielten, war also allein. Sie wohnte, wie Du weißt, auf der >Insel der Heiden<. Des Abends, als niemand ihn sah, erschien ihr Mann bei ihr, der Dschinnistani, der bei uns für tot gegolten hatte. Er |109A lebte noch. Er wohnte in Dschinnistan und kam, sie dorthin abzuholen. Aber nur sie, den Knaben nicht. Der hatte noch zu bleiben. Und dennoch wurde er von den beiden geliebt, wie nur Vater und Mutter lieben können. Begreifst Du das, Sihdi?«

»Sehr gut! Es gab höhere Rücksichten, denen man zu gehorchen hatte. Diese Rücksichten hatten dem Dschinnistani bisher verboten, zurückzukehren oder auch nur etwas von sich hören zu lassen. Sie untersagten ihm jetzt, den Sohn mitzunehmen oder ihm auch nur mitzuteilen, daß der Vater da gewesen sei, um die Mutter zu holen. Diese Letztere kam zu Euch, um Euch das zu erzählen, um Abschied zu nehmen und Euch das Wohl ihres Sohnes an das Herz zu legen? Sie war vorher bei ihren Eltern gewesen? Der Sahahr schied im Zorne von ihr? Er jagte sie fort, weil er geistig nicht hoch genug stand, die Verhältnisse, von denen sie sich leiten ließ, zu begreifen? Aber von ihrer Mutter wurde sie verstanden? Die gab ihr sogar ihren Segen mit, ihren Segen und die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen?«

Da hielt Taldscha ihr Pferd wieder an. Sie staunte.

»Woher weißt Du das?« fragte sie. »So richtig und so ausführlich! Du kannst es unmöglich wissen und weißt es doch! Es ist ein Wunder!«

»O nein! Es ist vielmehr ganz natürlich! Man kann, ja man muß es sich denken, weil es so außerordentlich einfach ist. Als sie fort war, dünkte es dem Sahahr unmöglich, öffentlich einzugestehen, daß seine Tochter, die spätere Priesterin der Ussul, aus Liebe zu ihrem Manne ihr Land und ihr Volk verlassen habe, um nach Dschinnistan zu gehen. Auch konnte er nicht begreifen, daß eine Mutter dies tun könne, ohne ihr Kind mitzunehmen, ohne es auch nur erst noch einmal zu sehen! Seine Tochter war für ihn eine Verbrecherin. Er begrub sie in seinem Herzen, und er begrub sie auch auf der >Insel der Heiden<, um das, was er für eine Schande hielt, verschweigen zu können. Aber wie das Begräbnis auf der Insel eine Unwahrheit war, so ist auch das Begräbnis im Herzen eine Lüge. Er hat geglaubt, die Ussul zu täuschen, und täuschte doch vor allen Dingen sich selbst. Wie er weiß, daß seine Tochter körperlich nicht gestorben ist, so weiß er auch, daß sie in seinem Vaterherzen lebt. Das quält und peinigt ihn. Er kann die Lüge nicht los werden. Sie läßt ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Wie jede Lüge zur Wahrheit treibt, so auch diese. Der Sahahr wird nicht eher Ruhe finden, als bis es an den Tag gekommen ist, daß man in jenem Grabe nicht die Spuren des Todes, sondern grad im Gegenteile die Beweise des Lebens zu suchen hat.«

»Hat er mit Dir davon gesprochen?« fragte sie.

»Nein.«

»Aber woher weißt Du das? Ich bin die einzige Vertraute seiner Frau, der Priesterin, und weiß also, daß auch sie Dir hiervon nichts verraten hat. Du sagst, es sei so einfach und so selbstverständlich, es sich zu denken; ich aber begreife es nicht.«

»Schau um Dich, und schau in Dich, so wird Dir nicht nur diese, sondern auch so manche andere, scheinbare Unbegreiflichkeit des Lebens sehr leicht verständlich werden. Es gibt ein zweifaches Leben, ein äußerliches und ein innerliches. Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt. Das äußerliche ist für das innerliche da, daß es sich offenbare. Man soll durch das Äußere auf das Innerliche schließen. Wer seine Aufmerksamkeit nur auf das Außenleben richtet, der bleibt, mag er nach dieser Richtung hin noch so viel erreichen, in Beziehung auf das eigentliche, höhere, wirkliche Leben doch nur ein armer, beklagenswerter, blinder Mann. Wer sich aber gewöhnt, in allem, was er empfindet, denkt und tut, vom Niedrigen auf das Höhere, vom Körperlichen auf das Geistige und Seelische zu schließen, dem tun sich tausend, tausend Wunder auf, indem er sehen lernt, während der andere erblindet. Vor allen Dingen lernt er unser gegenwärtiges Leben als einen Anschauungs- und Übungsunterricht betrachten, den der Himmel der Erde erteilt, damit sie dann, wenn der Tod die Schule schließt, sich für die neue, herrliche Gotteswelt, in die sie tritt, bereits hier in der alten, nun für sie vergangenen, vorbereitet habe. Wer sich gewöhnt, in dieser Weise zu trachten und zu forschen, der lernt nicht nur von außen nach |109B innen zu folgern, sondern ebenso auch von innen nach außen zurückzuschließen und kommt dabei zu Erkenntnisschätzen, von denen andere keine Ahnung haben. Was Ihr in Beziehung auf den Dschinnistani, seine Frau und seinen Sohn geheimzuhalten trachtetet, weil Ihr glaubtet, daß es Euch vor dem Volke der Ussul bloßstelle, das wiederholt sich täglich und stündlich hier in allerbreitester Öffentlichkeit, so daß es nur die Blinden, von denen ich sprach, nicht sehen.«

»So bin auch ich noch blind?« fragte sie. »Denn ich sehe nichts!«

»Ja,« antwortete ich. »Du glaubst, zu sehen. Aber was in Dein Auge fällt, ist nur erst ein leiser, leichter, kaum bemerkbarer Schein des strahlenden Lichtes, für welches sich Deine Augen langsam, nach und nach öffnen sollen. Und was ich Dir jetzt sagte, das sage ich eben nur Dir und niemand anderm. Dein Auge kennt schon jenen leisen, dämmernden Schein, der Dir den vollen, hellen Tag verspricht, und ich finde also Glauben, wenn ich von dieser Helligkeit, von diesem Tage zu Dir spreche; ein Blinder aber würde wahrscheinlich zweifeln, würde den Kopf schütteln, würde vielleicht gar lachen.«

»Da hast Du recht!« sagte sie sehr ernst. »Ein Blinder würde lachen! Ich aber lache nicht! Der ahnende Schein, der meinen Augen gestattet worden ist, stammt aus dem Paradiese, dessen irdisches Bild wir während der Nacht in Flammen vor uns liegen sahen. Durch die Worte, die Du jetzt zu mir gesprochen hast, will er mir lichter werden. Und wenn Ihr nun von hier nach Dschinnistan reitet, begleite ich Euch auf den Pfaden meiner Seele hinauf. Wenn ich nicht vorwärts kann, müßt Ihr mir Botschaft geben, denn ich will und darf nicht so töricht sein, den Augenblick zu versäumen, an dem die alte, fromme Sage der Ussul zur Wahrheit wird. Komm! Reiten wir weiter nach dem großen Versammlungsplatz, wo die Hukara exerzieren! Bis dahin erzähle ich Dir, daß es dem Dschirbani gelungen ist, seinem Großvater, dem Sahahr, den alten, schlechten Verband abzunehmen und einen neuen anzulegen, ohne daß dieser es bemerkt hat. Ich glaube, das Leben des Zauberers ist hierdurch gerettet.«

Der Versammlungsplatz war eine große, quadratische Lichtung, wo bei unserer Ankunft ein außerordentlich reges Leben herrschte. Über fünfhundert Hukara exerzierten, und zwar zu Pferde. Eine große Menge von Ussul, Männer, Weiber und Kinder, waren gekommen, um zuzusehen. Der Dschirbani war anwesend; er leitete das Ganze, aber mehr genehmigend als ausführend. Der eigentliche Kommandant war Halef, der eine zwar sonderbare, aber keineswegs lächerliche Rolle spielte. Er, das kleine, schmächtige Kerlchen, saß auf einem so dicken, breiten und fetten Gaule, daß seine Beine nur von der Kniekehle an über den Sattel herunterhingen. Mit den Füßen die Bügel zu erreichen, davon konnte keine Rede sein. Aber er hatte es verstanden, mit Hilfe einiger gut angebrachter Maulknoten in den Zügeln das alte Trampeltier derart in seine Gewalt zubringen, daß es gehorchte. Wir hatten unter den letzten Bäumen des Waldes gehalten und ließen uns nicht sehen. Halef führte soeben eine höchst interessante, taktische Übung aus, die ihm sehr gut gelang. Da seiner Truppe die Gewehre fehlten, konnte er sich nur auf Pfeil und Spieß verlassen. Darum hatte er es seiner Schar vor allen Dingen beigebracht, sich im Gebüsch zu verbergen, aus diesem Versteck zwei oder drei dichte Pfeilwolken schnell hintereinander auf die Gegner niederschwirren zu lassen und dann auf die Erschrockenen mit angelegten Spießen loszugaloppieren. Er brachte diese Pfeilsalven und den Lanzenchok in wirklich lobenswerterweise fertig, und ich will schon jetzt verraten, daß dieser taktische Kniff, der von seinen Haddedihnarabern stammte, uns späterhin bedeutende Erfolge brachte. Ein geschlossener Lanzenangriff der riesigen Ussul auf ebenso riesigen Pferden konnte, wo europäische Waffen fehlten, nur von vernichtender Wirkung sein. Eine heitere Wirkung brachte es hervor, daß Hu und Hi, die beiden Bärenhunde, dem Hadschi überall auf Schritt und Tritt folgten und immer gleiches Tempo mit ihm hielten. Taldscha versicherte mir, daß sie ihn bitten werde, diese anhänglichen Tiere als ein Geschenk von ihr zu behalten.

Wir hatten uns entfernen wollen, ohne uns gezeigt zu haben, wurden aber entdeckt. Das Auge des Dschirbani war |110A ganz zufälligerweise grad auf die Stelle gerichtet gewesen, an der wir uns befanden. Da sah er uns. Wir mußten infolgedessen unter den Bäumen hervor. Man freute sich unseres Kommens. Halef verdoppelte sofort seine Tätigkeit und gab sich alle mögliche Mühe, uns zu zeigen, was für ein Exerziermeister er sei. Wir aber stiegen von unseren Pferden und ließen uns bei dem Dschirbani nieder, um die Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, zur notwendigen Aussprache mit ihm zu benützen. Mochten andere Leute von Verhandlungen sprechen, und mochten sie so gern glauben, daran beteiligt zu sein, das, was sie als Verhandlung bezeichneten, war doch nur Einbildung. Das, was zu geschehen hatte, ja, vielleicht gar die ganze Zukunft der Ussul, hing in Wirklichkeit lediglich von den zwei Personen ab, mit denen ich jetzt beisammensaß. Mochten die Dinge, die man soeben im Palaste beschloß, noch so wichtig erscheinen, die eigentliche und wirkliche Entscheidung hing nur von dem ab, was zwischen uns dreien jetzt besprochen wurde. Der Dschirbani teilte uns mit, daß seine gegenwärtige Botschaft an den Scheik und an die Ältesten vor allen Dingen zwei Zwecke verfolge: erstens solle der Zug gegen die Tschoban nur von ihm und seinen Hukara zu unternehmen und die Beteiligung anderer, etwa gar der Invaliden, unbedingt ausgeschlossen sein, und zweitens solle der Scheik gezwungen werden, ihn, den am meisten Verachteten, und die zehn Hukara heut mit den Ältesten und den anderen Vornehmen zum Abendessen einzuladen. Diese Einladung war unbedingt notwendig, um die Gleichwertigkeit der Hukara mit allen anderen Ussul festzustellen und dem Hochmute der Ältesten einen Dämpfer aufzusetzen. Erst, wenn das geschehen war, konnte nach dem Essen eine Besprechung der Forderungen erfolgen, welche die Hukara zu stellen, die Ältesten aber zu erfüllen hatten, sollte der Zug nach dem Engpaß überhaupt ermöglicht werden. Es versteht sich ganz von selbst, daß wir ihm recht gaben. Taldscha war überzeugt, daß die Ältesten sich zwar lange weigern, endlich aber doch nachgeben würden. Was mich betraf, so teilte ich meinen Entschluß mit, schon morgen früh mit meinem Halef die Stadt zu verlassen und dem Zuge voranzureiten, um Zeit zu finden, die Gegend zu studieren und die Ankunft der Feinde zu erspähen. Ich zählte die Punkte auf, die ich vorzubringen hatte, weil ohne ihre Erfüllung ein Gelingen unserer Pläne nicht möglich war. Besonders betonte ich gute, sichere Zwischenstationen, ausreichende Verpflegung, die eben durch die Stationen ununterbrochen frisch nachzuliefern sei, und vor allen Dingen eine ausreichende Menge von Wasserschläuchen, denn es sei nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß unser Zug dann von dem Engpasse aus nicht heimwärts, sondern quer durch die trockenen Wüste der Tschoban nach Norden gehen werde.

So saßen wir weit über eine Stunde lang und brachten alles vor, was wir vorzubringen hatten. Ich kann hier diese hochwichtige Besprechung übergehen, weil sich die Resultate derselben im Verlaufe unserer Erlebnisse deutlich zeigen werden. Ganz selbstverständlich verlangte ich, daß die drei gefangenen Tschoban unter sicherer Bedeckung mitgenommen würden, weil sie für uns ein Kapital bildeten, dessen Wert bei den Verhandlungen mit unseren Gegnern sehr schwer in die Wagschale fallen mußte. Und schließlich erklärte ich, daß ich heute abend nicht zum Essen erscheinen werde, auch Halef nicht. Ich war der Meinung, daß der geplante Zusammenprall der neuen mit den alten Anschauungen viel schneller einen friedlichen Verlauf nehmen werde, wenn Fremde nicht zugegen seien. Taldscha gab mir recht. Sie erwies sich überhaupt als eine so verständige, mutige und opferbereite Verbündete, daß ich wiederholt ihre Hand an meine Lippen zog, worüber sie sich außerordentlich freute, weil sie sehr wohl wußte, daß ich es mit dieser Anerkennung ernst und aufrichtig meinte.

Da die Hukara ihre Übungen noch bis zur Dämmerung fortsetzen wollten, so stiegen wir zwei wieder zu Pferde und verabschiedeten uns von Halef und dem Dschirbani. Der Letztere fragte mich, ob ich heute um Mitternacht der Einsegnung seiner Krieger beiwohnen werde, und als ich ihm antwortete, daß dies ganz selbstverständlich meine Absicht sei, bat er mich, eine Stunde eher zu kommen und auf der Zinne des Tempels auf ihn zu warten, damit er mir über die Ergebnisse des Abends Bericht |110B erstatten könne. Ich sagte zu und ritt dann mit der Frau des Scheiks fort und in die Stadt zurück. Aacht und Uucht, meine beiden edlen Hunde, hatten während dieser ganzen Zeit ruhig neben mir gesessen und sich durch kein Geschrei und keinen Lärm der Reiterei aus ihrer Ruhe bringen lassen. Nur einmal, als Halef mit seinen beiden Bärenhunden zu uns kam, hatten sie leise, leise mit den Spitzen ihrer Schwänze gewackelt und ein wenig mit den Ohren gezuckt, genau so, wie der hochgeborene, blaublütige Orientale einen unter ihm stehenden Menschen auch nicht mit dem ganzen >Sallam aaleikum<, sondern nur mit den beiden Wortanfängen >Sal-al< begrüßt. Wäre ich mein Hadschi Halef Omar gewesen, so hätte ich geglaubt, daß ein Abglanz dieser Hoheit auch auf mich, den Herrn, gefallen sei!

Unterwegs begegneten uns die zehn Abgesandten der Hukara, die nach dem großen Versammlungsplatze gingen, um ihrem Kommandanten Bericht zu erstatten. Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten, aber nicht, weil man ihnen recht gab, sondern, wie es den Anschein hatte, nur um sie los zu werden. Heute abend aber sei der Dschirbani selbst dabei; da werde man in einem anderen Tone mit den Ältesten reden! So sagten und so erzählten sie uns; dann gingen sie weiter.

|111A Zu Hause angekommen, verbrachte ich die Zeit bis zur Dämmerung damit, unser Sattel- und Riemenzeug nachzusehen, meine Gewehre und Revolver in Stand zu setzen und meinen Anzug, soweit es nötig war, zu reparieren. Das tut man am besten immer selbst. Dann kam Halef. Er war überglücklich und überschwemmte mich sofort mit einer Menge taktischer und strategischer Pläne, daß ein freundliches und ein feindliches Heer von je einer Million Soldaten dazu gehört hätte, nur die Hälfte von ihnen wenigstens auszuprobieren. Ich ließ ihn reden und hörte lächelnd zu. Er hatte sich den ganzen Nachmittag lang ehrlich geplagt, und so war ihm diese Art von Selbstbelohnung, die er sich erteilte, wohl zu gönnen. Der Fluß seiner Rede stockte nach und nach ganz von selbst, je mehr er bemerkte, daß ich ihm zwar meine Aufmerksamkeit schenkte, selbst aber kein einziges Wort zur Sache sprach.

»Was ist das, Sihdi?« fragte er mich. »Du redest nicht. Warum?«

»Weil Du redest,« antwortete ich. »Wenn zwei sich miteinander unterhalten, so erfordert die Höflichkeit, daß der eine schweigt, während der andere spricht.«

»So habe ich wohl unaufhörlich gesprochen?«

»Ja.«

»Dir keine Lücke gelassen, einzuspringen?«

»Keine.«

»So bitte ich Dich um Verzeihung! Aber mein Herz ist voll, und mein Kopf gleicht einem Lesebuche, in welches tausend Feldherren und zehntausend Helden ihr Erfahrungen und Kenntnisse eingetragen haben! Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Male Krieg kann ich Dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin! Glaubst Du das! Und begreifst Du das?«

»Ja. Ich habe es selbst erlebt.«

»An Dir selbst?«

»An mir und anderen. Auch ich bin das gewesen, was Du noch heute bist!«

»Was?«

»Ein Knabe! Ein dummer Junge!«

»Oho! Was soll das heißen?«

»Genau das, was ich damit sagen will! Ich habe als Knabe mit anderen dummen Jungen sehr oft Soldaten gespielt. Fast regelmäßig endete das Spiel mit einer wirklichen, ernst gemeinten Prügelei. Und ebenso regelmäßig brachten wir derartige Spuren des Kampfes mit heim, daß unsere lieben, zärtlichen Väter und Mütter, die leider nicht von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen waren, dann zu den Stöcken griffen, um uns die hohe Politik und Strategie zu vertreiben.«

|111B »Und das hast Du erlebt? Wirklich selbst erlebt?«

»Jawohl!«

»Wirkliche Schläge bekommen, wirkliche Prügel?«

»Wirkliche! Ich fühle sie noch heut!«

»Und das sagst Du, ohne Dich zu schämen?«

»Schämen? Ich bin stolz darauf!«

»Pfui! Effendi, Du hast kein Ehrgefühl! Ich kündige Dir meine Freundschaft! Oder meinst Du, daß es ehrenvoll ist, sich im Kampf als Held und Sieger zu gebärden und dann, wenn man nach Hause kommt, vom Vater Prügel zu erhalten? Mein Vater hat das nie getan!«

»Der meine aber stets! Er war vernünftig und betrachtete mich und die Prügelei mit himmlischen, nicht aber mit irdischen Augen!«

»Mit himmlischen? Ah, verzeih, Sihdi! Du hast ironisch gesprochen! Du hast es bildlich gemeint, wie fast immer, wenn ich Dummheiten mache! Du meinst mit Deinem Vater also Gott?«

»Ja. Und nun frage ich Dich: Was hilft mir, dem kurzsichtigen Knaben, mein ganzer Ruhm vor andern kurzsichtigen Knaben, wenn ich dadurch den Vater, anstatt ihm zu gehorchen und ihm Freude zu machen, mit aller Gewalt zwinge, mich hinterher immer wieder von neuem zu verhauen, zu verwichsen und zu versohlen? Schau in die Weltgeschichte! Wie mancher Knabe hat sich mit andern, bessern und edleren Knaben herumgeschlagen, anstatt sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich naturgemäß und friedlich entwickeln könnten! Und dann am Schluß: Wer hat den Schaden auszugleichen, die Risse und Schmisse zu heilen, die Verluste zu ersetzen, die Spuren zu vertilgen gehabt? Etwa der sogenannte Held? Der sicher nicht! Wir wissen ja heut, daß ihn der Vater dann hernahm und ihm den Stock zu kosten gab!«

»So bist Du also gegen den Krieg?«

»Nicht gegen den heiligen Krieg, den Gott gesegnet hat und immer segnen wird! Das ist der Krieg, in dem die Menschheitsseele in eigener Person zum Schwerte greift, um den Entwickelungsgang der Sterblichen zu schützen. Stets aber bin ich gegen den Krieg unter Knaben, der nur den Zweck hat, um eines kulturgeschichtlich unreifen Apfels willen einander Hose und Rock zu zerreißen und dann die Nadel und den Zwirn der Mutter und den Stock des Vaters in Bewegung zu setzen. Frag die Völker, denen das grausame Los beschieden war, infolge solcher Versündigungen an Gottes >Friede auf Erden< jahrhundertelang zu hungern und zu kümmern, um abzubüßen, was Knaben sündigten! Und ich bin ganz besonders gegen jeden Krieg, der sich auf das armselige, elende Gerede gründet, das ich vorhin aus Deinem Munde vernommen habe: >Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Male |112A Krieg kann ich Dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin!< Halef ich kenne Dich anders, als Du Dich da gezeichnet hast, und das ist Dein Glück! Denn wenn Dir diese Verlästerung unserer herrlichen Marah Durimeh wirklich aus dem Herzen gekommen wäre, würde ich Dich auf der Stelle zum Teufel jagen!«

»Würdest Du das? Wirklich?« fragte er kleinlaut.

»Ja, und zwar sofort!«

»So ist es ein wahres Glück, daß man grad jetzt in diesem Augenblick das Abendessen bringt! Setz Dich, Effendi! Setz Dich, und iß! Ich lege Dir vor! Ich schneide Dir alles zurecht! Ich selbst! Du ersiehst daraus, wie sehr ich Dich liebe, wie gern ich Dir gehorche und daß wir eigentlich ein Herz und eine Seele miteinander sind! Von diesem Kriege aber sprechen wir nicht weiter! Ich brauche ihn ja nicht! Ich bin auch ohne ihn berühmt! Und was Du nicht willst, das mag ich auch nicht haben! Komm also, iß! Du siehst, ich kaue schon!«

Wir befanden uns in der Stube. Die Diener hatten das Essen gebracht, weil ich gesagt hatte, daß wir nicht kommen würden. Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er nahm ihnen alles schnell ab und schob sie dann wieder hinaus, um mich selbst bedienen und dadurch besseres Wetter erwirken zu können. Dennoch verlief das Essen fast ohne jedes Wort. Nicht etwa, daß ich ihm zürnte, sondern weil er Zeit und tiefe Stille brauchte, um über sich nachzudenken. Und überdies war für ihn, ohne daß er es ahnte, grad heut ein wichtiger Tag. Er sollte heut zum letzten Male der sein, der er bisher gewesen war. Ich wünschte, daß mit seinem äußeren Ritte hinauf nach Dschinnistan auch seine innere Läuterung und Erhebung beginne. Um dies zu erreichen, mußte ich ihn anders behandeln als bis jetzt. Sein Wille war gut, aber seine innere Kraft bedurfte eines festen, immerwährenden Haltes. Und der hatte ich ihm zu sein, nur ich allein, weiter keiner!

Als er mich nach dem Essen fragte, womit wir nun den Abend auszufüllen hätten, sagte ich ihm, daß ich jetzt auf die Zinne des Tempels steigen werde, um das >Feuer der Berge< zu betrachten. Was ich erwartet hatte, das geschah: Er bat mich, ihn mitzunehmen, und ich willigte ein, denn grad diese Bitte war ja mit berechnet worden. Der Eindruck, den ich erwartete, sollte in ihm die Pforte öffnen, die, wenn sie sich dann einmal hinter ihm geschlossen hatte, ihm nicht erlaubte, jemals wieder in sein früheres Naturell zurückzukehren. Wir fanden die Türe des Tempels geöffnet. Es wurden für den heutigen Einsegnungsgottesdienst neue Lichter aufgesteckt. Das gab uns Gelegenheit, de hohe Treppe einigermaßen erleuchtet zu finden, so daß Halef mir folgen konnte, ohne sich allein nur auf den Tastsinn verlassen zu müssen. Als wir oben aus dem Innern in das Freie traten, rief Halef aus:

»Ia Maschallah - welch ein Gotteswunder! Schau, Sihdi, schau! Die Erde steht in Flammen!«

Er war sehr wohl zu diesem Ausruf berechtigt. Im Norden von uns loderten fünf, sechs gewaltige Flammen hoch zum Himmel empor. Von uns aus hatte es sogar den Anschein, als ob sie das Firmament erreichten und die Sterne verdunkelten. In Wahrheit aber stiegen sie, wie jedes irdische Licht, nicht über den Dunstkreis ihres Entstehungsortes hinaus. Ein starker Luftzug trieb sie hin und her, sie loderten, zogen ihre Riesenleiber bald tief und breit zusammen, bald streckten sie sie dünn und lang empor bis in die Wolken. Eine dunkle Färbung dämpfte ihren Schein, er war matt und vermochte nicht, wie gestern, das Dunkel unserer Nacht zu mildern.

Da plötzlich sanken sie in sich zusammen; sie verschwanden. Es wurde auch da, wo sie soeben noch gelodert hatten, dunkle Nacht. Darum traten nun auch an dieser Stelle die Sterne ebenso hell hervor wie anderwärts. Aber die Kraft, welche unterirdisch arbeitete, ruhte nicht. Die Erde zitterte leise. Man vernahm und empfand ein knirschendes Rollen. Wir hatten das Gefühl, als ob die Zinne des Tempels hin- und herzuschwanken beginne. Darum setzten wir uns. Da plötzlich gab es einen Stoß und gleich darauf einen Krach wie von vielen ungleich starken und darum ungleich klingenden Kanonenschlägen. Ein Feuerstrom entstieg der Erde, doch nur für einen kurzen |112B Augenblick. Nichts folgte nach. Erst glich er einer hohen, runden Säule. Dann nahm er die Gestalt einer Birne an, mit dem Stiele nach unten. Nach und nach näherte sich diese Gestalt der Kugelform, worauf sie sich in sich selbst zusammenzog und allmählich erlosch.

»Allah ist groß!« rief Halef aus. »Sihdi, so etwas habe ich noch nicht gesehen!«

Er faltete die Hände. Er war hingerissen und tief im Innern bewegt! Da tat es einen zweiten, lauten Knall. Ein Schwaden brennender Gase fuhr hoch empor, um sofort zu zerstäuben. Ihm folgte eine dunkelglühende, schwere, dicke Masse, die zu kochen schien. Sie flog nicht in die Höhe, nein, sondern sie stieg langsam, ganz langsam, wie eine nur halbflüssige, quellende Masse, der nach und nach zugegossen wird. Und je mehr sie stieg, desto dunkler wurde sie, desto mehr verlor sie die Glut, desto weniger bewegte sie sich in sich selbst, und desto schärfer wurden die Konturen, die sie bekam. Dann stand sie fest, still, unbeweglich, wie ein kolossaler Serpentinquader mit Reliefornamenten an den Ecken und Kanten, der von innen erleuchtet wird. Das sah aus wie ein riesiger Altar, an welchem unsichtbare Giganten beschäftigt sind, ein nächtliches Feueropfer zu bringen. Und das Feuer blieb nicht aus. Der Altar öffnete sich. Es entstieg ihm ein so gewaltiges Flammenmeer, daß es ihn selbst verzehrte, nach allen Richtungen weit auseinanderfloß und die Nacht ringsum in Tag verwandelte. Doch dieser Tag war nicht hellen, klaren Angesichts, sondern dunkelorangegelb, und in der Mittellinie der Eruption arbeitete eine immer höher aufsteigende, dunkle Rauch- und Schlackenesse, welcher große Massen unreiner Asche entströmten, die, indem sie sich ausbreiteten, den Himmel des Nordens gänzlich unsichtbar machten und einen Eindruck hervorbrachten, als ob Mensch und Tier sich vor Entsetzen verkriechen müsse. Mich faßte Grauen. Halef wurde noch tiefer erschüttert. Er glitt von seinem Sitz herab, kniete nieder, faltete die Hände und betete:

»Im Namen des allbarmherzigen Gottes. Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt Dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tage werden die Menschen sein wie umhergestreute Motten, und die Berge wie verschiedenfarbige, gekämmte Wolle. Der nun, dessen Wagschale mit guten Werken beladen sein wird, der wird ein glückliches Leben führen, und der, dessen Wagschale zu leicht befunden wird, dessen Mutter wird der Abgrund der Hölle sein. Was lehrt Dich aber begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!«

Das war die hunderterste Sure des Koran. Der Mensch mag sich in späteren Jahren noch so sehr von den Anschauungen seiner Jugend entfernen, bei tiefen, seelischen Erregungen wird er aber fast stets zu den Bildern, Ausdrücken und Hilfsmitteln seiner ersten Lebenszeit zurückkehren. So auch mein Halef jetzt. Er war Moghrebiner, das heißt, er stammte aus dem Westen von Nordafrika. Dort ist es üblich, in der Angst vor Tod und Verdammnis die hunderterste Sure zu beten. Und obwohl Halef in seinem Innern schon längst Christ geworden war, flüchtete er sich in seiner jetzigen, außerordentlichen Ergriffenheit zum Gebete seiner Kindheit zurück, weil diese Kindheit ihm den Glauben gab, der überhaupt beten lehrt. Meinen kleinen Hadschi beherrschten keine höheren Erwägungen, sondern Naturell und Temperament. Seine Seele war noch Leibesseele, nicht aber schon Geistesseele; sie trachtete vor allen Dingen nach dem körperlichen anstatt nach dem geistigen Wohle, sie verwechselte in Beziehung auf Leib und Geist den Herrn mit dem Knecht, die schaffende Hand mit dem Werkzeuge, die Ursache mit der Folge. Sie hatte noch nicht jenen Schritt getan, welcher sich vom Leibe zum Geiste, vom Vergänglichen zum Ewigen wendet und wurde darum von dem sich vor unsern Augen entwickelnden, rein physikalischen Schauspiele viel tiefer und nachhaltiger bewegt als durch eine noch viel wunderbarere Erscheinung auf rein geistigem Gebiete. Ich hoffte aber, daß die erwähnte Wendung zum Höheren sich heut durch den Anblick des packenden Naturereignisses in ihm vorbereiten werde, und hütete mich darum, diesen Vorgang dadurch zu stören, daß ich meine Gefühle in Worte kleidete. Auch ich konnte und wollte mich der vollen Wirkung dieser wunderbaren Erscheinung nicht entziehen. Und auch ich |113A fühlte in mir das unwiderstehliche Bedürfnis, den in mir erklingenden Tönen und Akkorden äußerlich Ausdruck zu geben, aber während Hadschi, der Erdenmensch, sich ohne eigene Gedanken in geistiger Hilflosigkeit an Mohammed wendete, stieg in mir ganz plötzlich ein Strahl der Erkenntnis noch viel lichter und noch viel höher auf, als da draußen die Aschenflamme der Vulkane von Dschinnistan, so daß ich mich beeilen mußte, das Notizbuch zur Hand zu nehmen, um das, was an mich herantrat, festzuhalten. Es war ja hell genug zum Schreiben.

Als ich fertig war, fragte Halef, der nun wieder neben mir saß, ob er das, was ich geschrieben hatte, hören dürfe.

»Es ist ein Gedicht,« antwortete ich. »Man liest Gedichte nicht vor, zumal in solchen Augenblicken. Aber um Deinetwillen soll die Ausnahme gelten, nicht die Regel. Du hast nur den Flammen- und Aschenstrahl gesehen, weiter nichts. Mir aber wurde mehr gezeigt als Dir. Und was ich da sah, und was ich da beschloß, das sollst Du hören. Die Zeilen sind deutsch. Ich werde versuchen, sie Dir samt den Reimen zu übersetzen.«

Ich las ihm die sechzehn Zeilen vor, langsam und deutlich. Er hörte sehr aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, bat er mich, es noch einmal zu tun, da er noch nicht alles verstanden habe. Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Das, was er hörte, lautete zu deutsch:

Entschluß.

Ich saß so manchen langen Tag
Bei Dir vor dem Katheder,
Jedoch, was Deine Weisheit sprach,
Das wußte fast schon jeder.

Ich saß so manche lange Nacht,
Um Dich auch noch zu lesen,
Doch, was Du mir da eingebracht,
Ist nicht von Dir gewesen.

Und gestern hab' ich Dich belauscht,
Als Du die Psalmen lasest
Und, wie von ihrem Duft berauscht,
die Weisheit ganz vergaßest.

So stell' ich nun das Grübeln ein
Und will Dich nicht mehr fragen.
Der Herrgott soll Professor sein;
Der wird mir alles sagen!

Als ich zum zweiten Male fertig war, schwieg Halef. Er hielt seinen Blick nach Norden gerichtet, um das Erstaunliche voll und ganz in sich aufzunehmen, und äußerte zunächst kein Wort. Nach einiger Zeit aber sagte er:

»Du hast recht, Effendi. Ich habe weniger gesehen, als Du; nicht nur heute, sondern immer, immer. Daran bin aber nicht ich schuld, sondern Allah. Wo etwas Schönes, Edles, Beglückendes, Großes, Erhabenes geschieht, da ist Euer Gott und Vater stets zu finden, unser Allah aber nie! Der bewacht für seine Gläubigen die sieben Paradiese und rasselt gegen die Ungläubigen mit dem Säbel! Den Gedanken Deines Gottes und Vaters findest Du in jedem, auch im kleinsten seiner Werke; der Gedanke Allah aber steckt weder in der Morgenröte, noch in der Zärtlichkeit der Nachtigall oder in der Lieblichkeit der Blume auf dem Felde. Wir sind arm, bitter arm! Wir kennen kein liebes, freundliches Band, welches die irdische Natur mit dem himmlischen Schöpfer vereint. Allah spricht weder im Donner noch im Blitz, weder im Sausen des Sturmes, noch im Brausen des Meeres. Er ist überhaupt gern still. Er hat, glaube ich, nur ein einziges Mal gesprochen, durch Mohammed. Und auch das war nicht er selbst, sondern der Erzengel, den er sandte. Euer Vater aber ist überall! Du bist Dichter! Jeder Baum erzählt Dir von ihm; hinter jedem Strauch lugt sein gütiges Auge hervor, um Dir Liebe zu erweisen. Allah aber wohnt nur in den alten, schmutzigen, leblosen, papierenen Blättern des Koran, sonst nirgendwo! Sihdi, glaube mir, es gibt mehr, viel, viel mehr Gottessehnsucht auf Erden, als Du denkst! Aber es fehlt an einem andern und natürlichen Weg, Gott kennen zu lernen, als durch den Koran oder durch den Sahahr!«

»Es gibt einen anderen Weg!« antwortete ich.

»Wo?«

»Hier! Von diesem Tempel aus! Es ist der Weg, den wir morgen früh zu reiten haben. Der Weg vom Lande der Ussul hinauf nach Dschinnistan.«

|113B Um die Richtung, die ich meinte, anzudeuten, hob ich den Arm und zeigte nach Norden, wo die Glut der Erde zum Himmel flammte, als ob sie die Sehnsucht, von der Halef gesprochen hatte, zu versinnbildlichen habe.

»Gibt es da oben wirklich den Vater, nach dem die Menschheit sucht?« fuhr Halef fort. »Ich sehe da oben nur Berge, die Feuer speien. Das überwältigt mich, gibt mir aber keine Antwort auf meine Frage. Du aber hast, wie Moses einst im glühenden Busche, in diesem Feuer Gott gesehen und bist Dir sofort darüber klar geworden, daß nur er allein Professor sein und bleiben könne. Ist es denn möglich, daß auch ich zu einem solchen scharfen Auge und zu einer so beseligenden Erkenntnis komme?«

»Nicht nur möglich, sondern wirklich!«

»Wieso?«

»Du selbst hast es bewiesen. Deine ersten Worte, als Du hier heraufkamst, waren: >Welch ein Gotteswunder!< und >Allah ist groß!< Du hast also sofort und wiederholt in diesem Feuer, wenn auch nicht Gott erkannt und gesehen, aber doch seine Macht und sein Wirken herausgefühlt. Es wird - -«

»Sei still! Sei still, und schau!« unterbrach er mich, indem er an das Geländer trat und seine ganze Aufmerksamkeit nach den Bergen richtete.

Dort dunkelte es für einen Augenblick, und dann begannen die gestrigen Erscheinungen sich in ganz genau derselben Art und Weise und in ganz genau derselben Reihenfolge abzuspielen, wie ich sie beschrieben habe.

»Das ist ja das Paradies!« rief er aus, als sich die Feuermauer bildete und dann das große Tor sich öffnete. »Das ist ja die Sage der Ussul! Von der großen Engelsfrage, ob Friede auf Erden sei, und von dem Gott, der aus dem Paradies herniedersteigt, um - - - still, sei still, und störe mich nicht!«

Ich hatte gar nichts gesagt und auch nichts sagen wollen. Er sank wieder auf die Knie nieder, legte die Arme auf die Balustrade, faltete die Hände und hing sich mit den weit und begierig geöffneten Augen so fest an das sich vor ihm entwickelnde Bild, daß es eine Sünde von mir gewesen wäre, seine Aufmerksamkeit von dort ablenken zu wollen. Da blieb er knien, bis das Paradies verschwunden war, und noch beträchtliche Zeit länger. Er sog den Anblick in sich wie ein Verdürstender, dem man Wasser reicht. Er rückte in unbeschreiblicher Spannung auf den Knien hin und her. Er sprang wiederholt vor Erregung auf, um sich aber gleich wieder niederfallen zu lassen. Er ließ die verschiedensten Ausrufe hören, und als er sich endlich zu sehr ergriffen fühlte, hob er die Arme hoch empor und betete die >Beschließerin<, die hundert Namen Gottes:

»O Allbarmherziger! O Allerbarmender! O Allbesitzender! O Allheiliger! O Allfehlerfreier! O Allsichernder! O Allbedeckender! O Allgeehrter! O Allersetzender! O Allherrlicher! O Schöpfer! O Allhervorbringender!« und so weiter bis zum Schluß: »O Allwundervoller! O Allwährender! O Allerbender! O Allgerader! O Allgeduldiger! O Gott!«

Durch das laute Hersagen dieses langen, mohammedanischen Gebetes war er innerlich zwar noch nicht ganz wieder auf das gewöhnliche Niveau herabgestiegen, aber doch nun so weit gelangt, sich wieder mit mir beschäftigen zu können.

»Sihdi,« sagte er, »lache mich nicht aus! Ich habe einen Wunsch, einen großen, mächtigen Wunsch, der mir aber leider nicht erfüllt werden kann.«

»Warum nicht?« fragte ich.

»Weil seine Erfüllung überhaupt unmöglich ist. Ich möchte nämlich so gern ein Engel sein!«

Er sagte das im vollsten Ernste. Hundert andere hätten wohl über diesen seinen Wunsch gelacht; ich aber blieb nicht nur ernst, sondern ich freute mich sogar über ihn, und zwar von ganzem Herzen.

»Ein Engel möchtest Du sein?« fragte ich. »Nun, so sei doch einer!«

»So sei doch einer!« wiederholte er meine Worte im Tone des Erstaunens. »Als ob das nur so auf mich ankäme!«

»Auf wen denn sonst?«

»Sihdi, du scherzest! Aber ich sage Dir: wenn ich ein Engel wäre, so würde ich gewiß nicht einer von denen sein, die |114A immer hundert Jahre lang warten und dann einmal zur Türe herausschauen, ob endlich auch Friede auf Erden sei. Sondern ich würde zum Herrgott gehen und offen und ehrlich zu ihm sagen: >Laß mich hinaus! Ich will mit der Menschheit reden! Mit dem ewigen Warten erlangen wir nichts! Und das bißchen Licht, alle hundert Jahre einmal, das reicht kaum bis zur nächsten Woche! Die Menschen tun nichts von selbst! Sie verlangen, daß man sich Mühe mit ihnen gebe. Und so bitte ich Dich, mich hinabzusenden, um ein ernstes Wort mit ihnen zu reden! Sie sind gar nicht so widerstrebend, wie es scheint, sie sehnen sich auch nach Frieden, nach Glück! Es muß ihnen nur richtig gesagt werden, nämlich vom richtigen Manne, zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise. Aber grad hieran hat es bisher gefehlt. Sobald ich hinunterkomme, wird es anders. Ich rede ihnen ins Gewissen. Schnell geht es freilich nicht. Sogleich komme ich nicht zurück. Aber ehe die hundert Jahre vergangen sind, bin ich wieder da; darauf kannst Du Dich verlassen!< So würde ich mit ihm reden, Sihdi, und ich bin überzeugt, daß er einverstanden wäre! Die Engel sind doch nicht etwa da, um hundert Jahre lang für sich zu leben und dann der Menschheit nur einige kurze Tage oder Stunden zu widmen! Du weißt doch, was ein Engel ist?«

»Ja,« antwortete ich.

»Und Du glaubst, daß es Engel gibt?«

»Selbstverständlich!«

»Es soll aber Leute geben, die es leugnen?«

»Die gibt es allerdings, und doch möchte ich zugleich auch sagen: nein, die gibt es nicht. Es kommt ganz darauf an, zu welcher Meinung man sich stellt. Die einen behaupten, Gott habe Legionen himmlischer, unsichtbarer, reiner Wesen geschaffen, die hoch über dem sündhaften, abgefallenen Menschen stehen, und doch dazu bestimmt sind, ihm zu dienen. Und die andern beteuern, daß dies unmöglich sei, weil es gegen Gottes Weisheit und Gerechtigkeit verstoße, denn die Erde würde dann für die Engel eine wahre Hölle sein. Und wie kämen die Menschen dazu, von Wesen bedient zu werden, die unendlich wertvoller sind als sie? Die Heilige Schrift spreche zwar von Engeln, aber das sei nur die bekannte orientalisch-bildliche Ausdrucksweise. Unter der Bezeichnung Engel seien nur gute Menschen gemeint, die ihre höhere Einsicht, ihre Güte und Liebe dem Bedürftigen zur Verfügung stellen, ohne einen Lohn zu erwarten.«

»Und welches ist denn Deine Meinung, Sihdi?«

»Die Antwort auf diese Frage will ich Dir nicht in Worten geben, sondern durch die Tat. Wenn wir von Engeln sprechen, so denken wir an gute Geister, die weit besser sind als die Feen und andere liebe Gestalten, die wir aus unserer Märchenzeit kennen. Und nun höre, was ich Dir sage, mein lieber Halef! Es mag zwar sonderbar klingen, ist aber sehr ernst gemeint und wird unbedingt ausgeführt. Ich habe mir nämlich vorgenommen, der gute Geist des Dschirbani zu sein.«

»Der - gute - Geist - des - Allah w' Allah! - Du bist aber doch kein Geist!«

»Ist auch nicht nötig! Übrigens, wie willst Du beweisen, daß ich nicht auch Geist bin? Bin ich etwa nur Körper?«

»Nein!«

»Nun wohlan! So soll alles, was ich an Geist und an Güte besitze, diesem jungen Manne gewidmet sein, der offenbar unter dem Schutze von Marah Durimeh steht und also das größte Anrecht auf meinen Schutz besitzt.«

»Also Schutzgeist!«

»Nenne es so! Ich bin zwar nur Mensch, habe aber nichts dagegen! Wir sind nicht geboren, uns gegenseitig zu schädigen, sondern zu schützen. Das höchste Menschheitsideal ist uns vom ewigen Vater vorgesteckt: wer danach trachtet, wirklich Mensch genannt zu werden, der gebe sich Mühe, der Schutzgeist oder Schutzengel seiner Nebenmenschen zu sein, wenn nicht vieler, so doch von einigen oder wenigstens einem. Das kann ein jeder, sogar der Allerärmste! Ich will es während unserer Reise für den Dschirbani sein. Was aber kann ein einzelner flehender Schutzgeist ohne Schutzengel machen? Nichts! Verstehst Du mich, Hadschi Halef?«

»Hm!« murmelte er geschmeichelt. »Der Schutzengel bin ich?«

|114B »Noch nicht; aber Du kannst es werden, wenn Du willst.«

»Ob ich will! Ich habe Dir ja soeben gesagt, daß ich den Wunsch habe, ein Engel sein zu dürfen. Ich bin also bereit, mich als Schutzengel des Dschirbani an Deine Seite zu stellen.«

»Gut, ich nehme an. Aber ich mache Dich darauf aufmerksam, daß es nicht leicht ist, sondern schwer, ungeheuer schwer!«

»Schwer? Ich halte es für leicht. Man hat da doch wohl weiter nichts zu tun, als aufzupassen, daß dem Beschützten nichts geschehe, was ihm schaden kann!«

»Das könnte ein Mensch wohl auch. Wir wollen aber doch Geister und Engel sein! Das ist schwer, lieber Halef, unendlich schwer! Die Engel kennen keine Sünde. Willst Du einer sein, so hüte Dich! Den Engeln und Schutzgeistern ist Macht gegeben, zu helfen. Besitzest Du diese Macht? Ihre Augen durch dringen alles; wie scharf aber sind die Deinen? Und vor allen Dingen, sie sind unsichtbar, und das haben auch wir zu werden.«

»Unsichtbar?« fragte er überrascht.

»Ja!« antwortete ich.

»Wir?«

»Ja, wir!«

Da lachte er fröhlich auf und rief:

»Welch ein Scherz! Du wirst drollig, Sihdi, sehr drollig!«

»Lache nicht! Ich meine es ernst! Kannst Du etwa jetzt Hanneh sehen, Dein Herzensweib, welches für Dich die schönste und lieblichste unter allen Blumen der Erde ist?«

»Nein.«

»Oder kannst Du Kara Ben Halef sehen, Deinen Sohn, auf den Du stolzer bist, als auf Dich selbst?«

»Nein. Auch nicht.«

»Du gibst also zu, daß sie für Dich unsichtbar sind?«

»Ja.«

»So schau doch, schau! Und doch ist Hanneh Dein Schutzengel und Kara Ben Halef Dein Schutzgeist gewesen in jeder Sorge und Qual, in jeder Not und Gefahr, die wir miteinander erlebten! Der Gedanke an diese beiden geliebten Personen hat -«

»Schweig, schweig!« fiel er mir da in die Rede. »Du hast wieder recht, wie immer, und ich war wieder einmal dumm, sehr dumm. Die Unsichtbarkeit leuchtet mir jetzt ein!«

»Aber nicht richtig, sondern falsch! Wir beide, Du und ich, werden dem Dschirbani ja stets sichtbar sein. Es handelt sich hier nicht um die Unsichtbarkeit der Körper, sondern der Engel. Das, was wir tun, soll unsichtbar sein, soll nicht gesehen werden. Der Mensch, dessen Engel Du bist, soll und muß diesen Engel spüren, darf aber niemals, hörst Du, niemals erfahren, wer der Engel ist!«

»Du, Sihdi, das ist schlimm! Das ist falsch! Das ist verkehrt! Was habe denn ich davon, daß ich mich als Schutzengel eines Menschen Tag und Nacht anstrenge, quäle und sorge?«

»Du? Willst etwa Du etwas davon haben? Sollst Du etwa Deinetwegen Engel sein? Oder bloß nur seinetwegen? Halef, höre mich an! Als Geschöpfe Gottes stehen die Engel den Menschen vollständig gleich; denn beide sind das, was sie sind, nur durch Gottes Güte geworden. Aber in Beziehung auf das, was sie tun und wie sie es tun, stehen die Engel höher, viel höher als die Menschen. Der Mensch denkt in allen Stücken zunächst an sich selbst, der Engel aber an seinen Schützling. Auch der Mensch tut Gutes, aber er will Dank sehen, der Engel aber niemals! Der Mensch tritt mit seinen Wohltaten persönlich hervor; er tut sie am liebsten öffentlich, in allergrößter Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Auch Hadschi Halef Omar ist nicht besser. Er will gesehen, gehört, gelobt und gepriesen werden; er will prahlen können, prahlen, prahlen! Der Engel aber handelt im Verborgenen. Er läßt sich weder sehen noch hören. Wenn Hadschi Halef Omar mit mir nach Dschinnistan reitet, um für den Dschirbani öffentlich zu kämpfen, so handelt er als Mensch. Wenn er dafür geschmeichelt und scharwenzelt werden will, so handelt er als Narr, als Tor, als Einfaltspinsel. Wenn er aber in allem, was er tut, mit seiner eigenen Persönlichkeit in der Weise zurücktritt und verschwindet, daß aller Ruhm und alle Ehre und aller Dank nur auf den Dschirbani fällt, so handelt er als Gottesbote, als unsichtbarer Engel!«

|115A Er war meinen Worten mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Nun rief er begeistert aus:

»So, so will ich sein! Das, das ist das Richtige! Nicht Mensch, nicht Narr, sondern Engel!«

»Warte noch! Ich bin nicht fertig!«

»Noch mehr? War das nicht genug?«

»Nein. Du mußt, ehe Du Dich fest entschließt, alles wissen! Denke an die letzte Nacht! Während ich hier mit Taldscha und der Priesterin, von dem Glanze des Himmels und der Erde umflutet, in der Anbetung Gottes stand, stolpertest Du da unten in der Tiefe an der Hand des Simmsemm heim. Und heut, jetzt, willst Du ein Engel, sogar ein Schutzengel sein! Dem Menschen kann man viel verzeihen, weil Gott von ihm nur Menschliches verlangt; wer aber Engel sein will, der hat an Opfern, Selbstüberwindung, Entsagung und Geduld schier Übermenschliches zu leisten. Er muß sich selbst vergessen, vollständig vergessen. Indem Du Dich hierzu entschließest, stellst Du Dich jenseits der Grenze alles dessen, was Du bisher warst und bisher konntest. Wirst Du jetzt noch sagen, daß es leicht sei, Engel zu sein?«

»O nein, nein, nein!« antwortete er kleinlaut. »Es ist schwer, unendlich schwer!«

»Am schwersten ist das Unsichtbarwerden und das Unsichtbarbleiben. Sobald man Dich sieht, bist Du kein Engel mehr, sondern ein Mensch, wie jeder andere gewöhnliche Mensch. Der Dschirbani ist die Hauptperson; wir aber müssen verschwinden. Wir haben bescheiden zu sein, ganz außerordentlich bescheiden. Wir haben zu dienen und zu gehorchen. So will es Marah Durimeh, unsere große Meisterin, die nie etwas von uns verlangte, |115B sondern immer nur gab, nur gab! Du mußt Dich an den Gedanken gewöhnen, daß der Dschirbani, der von den Ussul Verachtete, vor Gott viel höher steht als Du und ich! Er ist schon edel; wir aber haben erst noch edel zu werden! Er will hinauf nach Dschinnistan. Also hoch, hoch will er steigen! Indem wir ihm dienen und ihn beschützen, steigen wir mit! Indem wir ihn stärken und ihm helfen, stärken und helfen wir uns selbst. Indem wir ihn dem hiesigen Sumpfe entreißen, entkommen auch wir dem Moder des niedrigen Lebens, wo jedermann nur nach Simmsemm, Fleisch und Humus riecht. Und indem wir ihn, nach gelungenem Ritt, dem 'Mir von Dschinnistan übergeben, stellen wir auch uns in den Schutz und Schirm dieses mächtigen Herrschers, in dessen Haus der ewige Friede wohnt. Freilich, so bei ihm einzuziehen, wie wir jetzt sind, können wir nicht. Indem wir Schutzgeist und Schutzengel werden wollen, haben wir unser Todesurteil gesprochen. Wir müssen sterben!«

»Sterben?« fiel mir da Halef schnell in die Rede. »Allah sei uns gnädig! Ist das wahr?«

»Ja,« nickte ich ihm ernsthaft zu.

»Wo sollen wir sterben, wo?«

»Unterwegs.«

»Aber Du hast doch soeben davon gesprochen, daß wir den Dschirbani dem 'Mir übergeben und also Dschinnistan erreichen werden!«

»Ganz richtig!«

»Und doch sind wir dann unterwegs gestorben?«

»Ja.«

»So ziehen wir also als Leichen in Dschinnistan ein?«

»Wenn Du es so ausdrücken willst, habe ich nichts dagegen.«

|116A »Höchst sonderbar! Fast wird mir angst! Sag mir doch wenigstens, an welcher Krankheit ich sterben werde!«

»Du wirst an keiner Krankheit sterben.«

»Woran sonst?«

»Es wird Dich jemand ermorden.«

»Wer, wer?« fuhr er zornig auf. »Nenne mir den Halunken, den Schurken!« Und die Hände ballend, stellte er sich vor mich hin und fügte hinzu: »Den Schuft, den Schandbuben, das Scheusal, den Ruchlosen, den Kehlabschneider, das Ungeheuer! Wie lautet sein Name, wie?«

»Hadschi Halef Omar.«

Da wich er wieder von mir zurück, öffnete die Fäuste und fragte verwundert:

»Ich? Also ich selbst?«

»Ja. Du selbst!«

»So meinst Du, daß ich als Selbstmörder enden werde?«

»Gewiß meine ich das. Aber ich meine es nicht nur, sondern ich hoffe und wünsche es sogar!«

»Du hoffst - - - hoffst - - - wünschest - - Selbstmörder - - - ich - -!«

Die Stimme versagte ihm. Er trat noch weiter von mir zurück. Da sah er, daß ich lächelte. Er besann sich, kam schnell wieder auf mich zu und sagte in frohem Tone:

»Du lächelst, Effendi! Du meinst es also anders, als ich dachte. Ich bin wirklich noch kein Engel! Ja ich bin noch nicht einmal Mensch! Sondern ich bin noch erst Narr und Einfaltspinsel, wie Du vorhin sagtest! Soeben noch hast Du Dir so große Mühe gegeben, mir zu erklären, was ein Engel zu bedeuten hat, und gleich darauf weissagst Du mir, daß ich an Selbstmord sterben werde! Das paßt nicht zusammen. Ein Engel wird nicht zum Selbstmörder und ein Selbstmörder wird kein Engel. Du meinst also keinen echten, richtigen, wirklichen Selbstmord, sondern einen andern, der in der Müdschewwedet vorkommt, von der wir vorgestern gesprochen haben, als ich vom Pferde gefallen war. Weißt Du, so einen Selbstmord, wo sich zum Beispiel jemand aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein hinunterstürzt und dabei den Hals bricht, oder wo ein anderer im Unterbewußtsein in die Apotheke läuft, um Rattengift zu holen und es sich dann im Oberbewußtsein in seine eigene Kaffeetasse schüttet. Darum habe ich Dich nicht sogleich verstanden, denn sobald Dir Deine Gedanken in die Müdschewwedet geraten, kann Dir kein Schutzgeist und kein Engel folgen, viel weniger ich, der Narr. Ich bitte Dich, mir die Sache zu erklären!«

»Sofort! Sie ist einfach folgende: Als wir uns vor Jahren zum ersten Male trafen, nanntest Du Dich Hadschi Halef und behauptetest, auch alle Deine Vorfahren seien Hadschi gewesen. Das war nicht wahr. Der Halef stimmte; das war Dein wirklicher Name. Der Hadschi aber, der warst Du nicht; der bist Du erst später geworden, und zwar dadurch, daß Du Dir meine Liebe erwarbst. Zum wirklichen Hadschi hast Du es aber nur äußerlich, nicht innerlich gebracht. Da ist noch immer der alte, imitierte Hadschi vorhanden, der fremde Titel, fremdes Verdienst und fremden Ruhm für sich in Anspruch nimmt, ohne aber ein Recht dazu zu haben. Ich glaube, wir haben schon einmal hierüber gesprochen. Ich sagte Dir, daß ich den Halef liebe, daß es mit dem Hadschi aber ganz unbedingt ein Ende zu nehmen habe. Besinnst Du Dich darauf?«

»Ja, Effendi. Nur weiß ich nicht, wo es war, daß wir über den Hadschi und über den Halef sprachen. Ich nahm mir damals vor, es mit diesem in mir wohnenden Hadschi alle zu machen, habe aber nicht wieder daran gedacht. Ich brauche nur zu wollen, so muß er fort!«

»Denke das nicht! Denke das ja nicht! Das ist ererbt von Deinen Vätern, die sich auch Hadschi nannten, ohne es zu sein. Solche Erbschaft ist nur schwer zu beseitigen. Und dennoch mußt und mußt Du sie herausreißen und von Dir werfen, weil Du es sonst nie zum Edelmenschen bringst oder gar zum Schutzengel anderer, die unendlich höher stehen als Du, weil alles echt ist, was sie sind und haben! Den Hadschi also hast Du abzutöten. Verstehst Du mich?«

|116B Gern hätte ich noch einige Unterweisungen hierangeknüpft, doch konnte ich nicht, weil jetzt der Dschirbani kam. Halef rückte in die äußerste Ecke der Bank. Er fühlte sich außerordentlich wertlos und klein. Der junge, geistvoll ernste Ussul kam ihm nicht nur körperlich als Riese vor. Und den, den wollte er unter seine Fittiche nehmen, wollte sein Schutzengel sein! So sagte er zu sich. Daß diese Demut berechtigt war, verstand sich ganz von selbst. Was sie für Früchte trug, mußte sich erst zeigen.

Der Dschirbani hatte kurz und freundlich gegrüßt und war dann an die Balustrade getreten. Er schaute geradewegs in das soeben wieder hoch emporlodernde Feuer der Berge hinein. Seine riesige Gestalt stand wie in Flammenglut. Dann sagte er, ohne die vorangegangenen Gedanken durch Worte anzudeuten:

»Und da hinauf wollen wir! Mitten durch diesen Brunst und Brand hindurch! Wie schwer, wie schwer! Und wie gefährlich! Mein Vater sagte, wenn er von seiner Heimat sprach: >Nur wer einen Schutzgeist, einen führenden Engel findet, gelangt nach Dschinnistan!< Ich will und muß hinauf! Doch nicht allein. Des Vaters Wort soll gelten!«

Sich mir zukehrend, fragte er:

»Sahib, willst Du mein Schutzgeist sein?«

War das nicht sonderbar? War das Zufall? Bei mir gibt es keinen Zufall. Die Erzeuger alles dessen, was geschieht, sind Gottes Führung und des Menschen Wille. Darum antwortete ich schlicht und kurz:

»Gern! Ich habe Marah Durimeh zu gehorchen.«

Nun wendete er sich an den Hadschi, nahm dessen kleines Händchen zwischen seine beiden Hände, strich liebkosend darüber hin und sprach:

»Und Dich möchte ich als schützende Seele haben, mein lieber Halef. Willst Du mir das sein?«

Da brach der Kleine in ein lautes, konvulsivisches Schluchzen aus. Er fand keine Worte. Er drückte sein Gesicht in die Hände des gütigen Titanen, küßte sie drei-, viermal und entfernte sich dann schnell, um uns mit seiner Rührung nicht zu belästigen.

»Was ist es, was er hat?« fragte der Dschirbani.

»Er fühlt, daß er kein Engel ist,« antwortete ich.

»So mag er sich üben! Gott hat nicht Engel geschaffen, um die Menschen von ihren Pflichten zu entbinden, sondern er hat die Menschen berufen, durch die Betätigung der wahren, uneigennützigen Menschlichkeit an ihren Brüdern und Schwestern zu Engeln zu werden!«

Hierauf nahm er an meiner Seite Platz und gab mir Kunde von dem Verlaufe des Abendessens und der darauffolgenden Besprechung seiner Forderungen. Er hatte einen vollen und ganzen Erfolg errungen, nichts war ihm abgeschlagen worden. Und er gestand es fröhlich ein, daß er das nicht etwa seiner Klugheit und Geschicklichkeit im Verhandeln, sondern nur dem Einflusse der Herrin der Ussul zu verdanken habe.

Nun sahen wir einen langen Fackelzug, der sich von weit draußen her dem Tempel näherte.

»Das sind meine Hukara. Es ist fast Mitternacht,« sagte der Dschirbani. »Siehst Du die Menschenmenge auf dem Platze?«

Erst jetzt bemerkte ich, von ihm darauf aufmerksam gemacht, daß sich eine zahlreiche Menge vor dem Tempel angesammelt hatte. Alle waren so still, so ruhig! Wie sonderbar doch diese halbwilden Menschen sind.

»Sie wollen der Einsegnung zuschauen,« erklärte mir mein junger Freund, »dürfen aber nicht eher hinein, als bis geläutet wird.«

»Geläutet?« fragte ich. »Gibt es hier Glocken?«

»Nein. Wir läuten mit Hörnern.«

»Mit solchen, wie ich heut bei Dir gesehen und gehört habe?«

»Ja.«

Wir hörten unter uns die Räder des großen Leuchters schwirren. Er wurde angebrannt. Der Fackelzug erreichte den Platz, marschierte rund um ihn herum und verschwand dann im Eingange des Tempels, ohne daß die Fackeln ausgelöscht wurden. Dann begann das Läuten. Zunächst erklang ein einzelner, tiefer, außerordentlich starker, langgezogener Ton. Ihm folgten drei andere Töne von verschiedener Höhe. Diese vier Töne wurden |117A zunächst zusammen lang ausgehalten, dann aber, wie läutende Glocken, einzeln angeschlagen, wie ein gebrochener Akkord. Das machte auf uns, die wir hoch oben standen, wo die Tonwellen sich alle vereinigten, einen so gewaltigen Eindruck, daß es gar nicht möglich ist, ihn durch Worte auch nur anzudeuten. Es war, als sei die Zinne, auf der wir standen, ein kleines Boot, das auf einem brandenden Meere von Tönen und Akkorden umhergetrieben wurde, das nicht zur Ruhe kommen konnte, indem der Grundton seine sehnsuchtsvollen Rufe immer wieder von neuem begann. Wer das hörte, den zog es mit innerer Gewalt zum Tempel hin.

Aber außer diesen Tönen sammelte sich noch etwas anderes grad unter unsern Füßen, nämlich der Rauch und Qualm von über sechshundert Fackeln, die im Innern des Tempels brannten. Dieser böse, dicke Dunst gelangte zwar auch zwischen den Holzsäulen, welches das Dach trugen, heraus in das Freie. Er entschlüpfte dort dem Innern und bildete, indem er sichtbar rund um uns aufstieg, einen fast erstickenden Ring um uns, der uns die freie Aussicht nach den Bergen und nach dem Himmel raubte. Aber die hartnäckigsten und stinkigsten Schwaden legten sich grad unter unsern Füßen an, und es war nicht tröstlich, uns sagen zu müssen, daß wir uns da hindurchzuatmen hatten, um dorthin zu gelangen, wo man uns erwartete.

»Das ist schlimm!« lächelte der Dschirbani. »Hoffentlich ersticken wir nicht! So wie uns jetzt, muß es dem Gott zumute sein, wenn er aus dem Paradiese tritt, um nach Ardistan zu gehen! Und so muß es jedem reinen Geiste und jedem edlen Menschen grauen, in die Atmosphäre derer, die in Stickluft leben, hinabzusteigen. Weißt Du, Ssahib, daß wir für immer von hier gehen?«

»Ja.«

»Tut es Dir nicht leid?«

»Nein. Die einzige, die mich hier halten könnte, Taldscha, folgt uns ganz sicher nach.«

»Das denke auch ich. Reichen wir uns die Hände, daß einer den andern in der Ohnmacht halte und stütze! Nur einmal noch durch diesen Dunst und Rauch und Qualm der Tiefe! Dann aber fort, empor zur reinen, freien Luft von Dschinnistan!«

Wir öffnete den nach unten führenden Treppenweg. Ein fürchterlicher Brodem von Ruß und Pech und Teer drang uns entgegen. Wir aber mußten hindurch. Wir nahmen uns bei den Händen. Hinein, hinein! Hinunter! - - -

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