»ich behalte ihn einstweilen noch für mich. Doch ist das nur für kurze Zeit. Denn sobald ich Euch bewiesen habe, daß er sich als Euer Feind in dieser Gegend befindet, trete ich ihn Euch ab.«
»Diesen Bewies erbringst Du nicht,« herrschte er mich an.
»Diesen Beweis erbringe ich, noch ehe der heutige Tag vorüber ist!« antwortete ich ihm. »Und nun macht vorwärts, daß wir in das Lager kommen!«
Diese letztere Aufforderung war an die Ussul gerichtet, von denen drei sich zu den Gefangenen gesellten, ohne ein Wort mit ihnen zu sprechen, während der Scheik, seine Frau und der Priester mit mir hintendrein ritten. Es war für sie ein unendlich wichtiges Ereignis, den >Erstgeborenen< ihrer Todfeinde in ihrer Gewalt zu haben. Sie befanden sich dadurch im Besitz einer Geisel, die mit keiner noch so großen Summe Geldes zu bezahlen war. Freilich konnte sich diese Waffe auch als zweischneidig erweisen, doch nur für den Fall, daß er wirklich als Friedenshändler gekommen war. In jedem andern Falle aber stand das Recht aller Völker und Stämme von Ardistan auf der Seite der Ussul, denen ihr Gefangener mit Leib und Leben gehörte.
|51A Vorerst mußten sie sich an den einfachen Gedanken gewöhnen, daß sie ihn überhaupt besaßen. Ein solches Glück war ihnen während aller bisherigen Kämpfe mit den Tschoban noch nie widerfahren. Sie hielten diesen jungen Mann für einen Ausbund von Grausamkeit, List und Tapferkeit, während ich wenigstens von den beiden letzteren Eigenschaften nicht den geringsten Beweis erhalten hatte. Im Gegenteile war mir sein Verhalten gradezu als dumm und feig erschienen.
»Es ist ein großes, großes Wunder, daß Ihr noch lebt!« sagte Amihn, während wir nebeneinander hinritten. »Sie sind zwar nicht so groß und stark wie wir, Ihr aber seid noch kleiner als sie. Auch seid Ihr nur zwei, sie aber sind drei!«
»So hast Du Dir eben zu merken, daß es weder auf die Länge und Breite des Körpers noch auf die Zahl der Personen ankommt,« antwortete ich. »Das ganze Menschenleben beweist, daß es nicht auf diesen Körper, sondern auf die Seele, auf den Geist ankommt. Du selbst sagst, daß die Tschoban kleiner sind als Ihr, und trotzdem seid Ihr ihnen meist unterlegen. Ich sage Dir, daß der Kleinste unter uns allen, nämlich mein wackerer Hadschi Halef Omar, es mit einer ganzen Menge dieser Leute aufnimmt, ohne sich zu fürchten. Hingegen können Eure Körper noch so stark und riesig sein, wenn Euch aber der Geist fehlt, den großen Vorteil, den Euch der Besitz des >Erstgeborenen< bietet, auszunützen, so wird Euer Leib Euch nur von Schaden sein. Glaubt Ihr, daß er in friedlicher Absicht gekommen ist?«
»Nein,« antwortete Taldscha. »Das ist er auf keinen Fall. Dennoch müssen wir, sobald Du ihn uns schenkst, auf Verhandlungen mit ihm eingehen, bis seine feindlichen Absichten offen erwiesen sind. Glaubst Du wirklich, dies noch heut tun zu können?«
»Ich bin überzeugt davon.«
»Wer soll uns Auskunft geben?«
»Er selbst oder seine Begleiter, je nachdem.«
»Die werden sich hüten!«
»Die werden sich nicht hüten, sondern es sogar als eine Wohltat empfinden, ihre Geheimnisse ausplaudern zu können. Man muß sie scheinbar zum Schweigen zwingen und ihnen dann heimlich Gelegenheit geben, sich auszusprechen. Laßt mich nur machen! Wenn Ihr mir helft, wird alles wohlgelingen. Wo kann ich meinen Gefangenen während der Nacht unterbringen, so daß er leicht zu bewachen ist?«
»Auf der Insel, oder auch im Lager. Wir binden die drei Männer einfach an drei Bäume, wie Du es mit mir getan hast. Ein einziger Mann genügt, sie zu bewachen. Die andern können schlafen.«
»Wie einfach und wie leicht das klingt! Wenn Ihr in dieser Weise zu verfahren pflegt, so ist es kein Wunder, daß die Tschoban Euch stets überlistet haben. Im Lager wird während der Nacht kein Mensch bleiben.«
»Warum?«
»Glaubt Ihr vielleicht, daß der Scheik der Tschoban den unverzeihlichen Fehler macht, seinen Erstgeborenen und Nachfolger mitten in Euer Gebiet zu schicken, nur von zwei Männern begleitet?«
»Dieser Gedanke ist richtig, sehr richtig!« stimmte der Scheik schnell bei. »Ich würde es auch nicht tun.«
»Trägt man bei den Tschoban Säbel?« fragte ich.
»Fast jedermann!«
»Diese drei haben keine. Warum? Weil sie ihnen im Wege sein würden. Sie wollen schleichen, forschen, spüren, suchen, leise, ungehört und ungesehen. Da ist der Säbel hinderlich. Und wenn Euer Gebiet durchsucht werden soll, und wenn man erfahren will, was Ihr tut, wo Ihr Euch befindet, genügen hierzu armselige drei Männer?«
»Nein! Herr, Du machst mir angst!«
»Das will ich nicht. Aber selbst wenn es Dir wirklich bange würde, so ist das jedenfalls besser als ein Überfall, dem Ihr unterliegt, weil er Euch völlig unvorbereitet trifft. Also, ich glaube nicht, daß diese drei Tschoban die einzigen sind, die sich jetzt bei Euch herumschleichen. Darum werde ich mich hüten, unsere Gefangenen so wohlfeil hinzustellen, daß sie leicht befreit werden können. Und darum rate ich auch ab, heut im Lager zu übernachten, das vielleicht schon längst ausgekundschaftet |51B worden ist. Die Art und Weise, wie der Ilkewlad sich näherte, läßt vermuten, daß er die Richtung kennt, in der es liegt. Vorher dachte ich anders, jetzt aber nicht mehr.«
»Es hat schon seit undenklichen Zeiten dagelegen!«
»Um so schlimmer! Und um so gefährlicher ist es, es zu einer Zeit zu beziehen, wo Feinde in der Nähe sind.«
»Welche andere Stelle schlägst Du vor?«
»Jetzt noch keine. Ich kenne die Gegend nicht, werde mich aber, bevor es dunkelt, umsehen. Mag aber kommen, was da will, so könnt Ihr überzeugt sein, daß Euch heut ein großes Glück widerfahren ist. Der >Erstgeborene< ist ein Schatz, den Euch die Vorsehung sendet, damit Ihr - - -«
»Die Vorsehung?« unterbrach mich der Zauberer. »Da hört man, daß Ihr Christen Heiden seid! Gott hat ihn gesandt, nur Gott! Das Wort Vorsehung gilt nur für Leute, welche zweierlei falsche Scham besitzen. Sie schämen sich, nicht an Gott zu glauben, und sie schämen sich doch, ihn offen und ehrlich zu bekennen. Da sprachen sie von Vorsehung, Fügung und ähnlichen Dingen, die wie voll klingen und doch keinen Inhalt haben. Wir Ussul besitzen nur Gott allein. Weiter brauchen wir nichts!«
Diese Worte wurden schon in der Nähe des Lagers gesprochen. Als wir dort ankamen, erneuerte sich das Erstaunen über die drei Tschoban. Die hier zurückgebliebenen Ussul brachen in lauten Jubel aus. Mit den Begleitern des >Panthers< wurde wenig Federlesens gemacht. Wir banden sie einfach an zwei Bäume, doch so, daß sie nicht miteinander sprechen konnten. Ihn selbst aber mußten wir legen, denn er konnte nicht stehen. Der gutmütige Zauberpriester untersuchte ihn und fand, daß sein Fuß gebrochen war und schneller Hilfe bedurfte, wenn er nicht vollständig lahm bleiben sollte. Da bekam der Tschoban Angst. Er bat, sogleich verbunden zu werden, und der Sahahr, der zugleich der Arzt seines Volkes war, machte sich, unterstützt von zwei Ussul daran, zum Rechten zu sehen. Wie dies geschah, das kümmerte mich nicht. Ich hatte Wichtigeres zu tun. Die Hauptsache für mich war, einen andern, bequemeren Lagerort zu suchen und dann nach der Insel zu rudern, um zu forschen, ob sie für meine Zwecke geeignet sei. Es galt nämlich, die Gefangenen unter sich zu einer Unterredung zu bringen, die wir zu belauschen hatten und also scheinbar verhüten mußten. Der Scheik begleitete mich. Halef wollte auch mit, mußte aber zurückbleiben, um die Gefangenen zu beaufsichtigen und dafür zu sorgen, daß sie weder unter sich noch mit andern sprechen konnten. Es sollte dadurch in ihnen die Sehnsucht, sich mitteilen zu können, gesteigert werden.
Ein Platz, der sich zum Lagern während der Nacht gut eignete, war bald gefunden. Dann ging es hinüber nach der Insel. Ich hatte angenommen, daß nur das große, schwere Boot, das ich kennen gelernt hatte, vorhanden sei; es gab aber, sorgfältig im Gebüsch des Ufers versteckt, noch ein kleines, leichtes Kanoe aus Holzstützen und Lederbezug und zum Zerlegen eingerichtet, um überall mitgenommen werden zu können. In diesem ruderten wir hinüber. Vorher hatte der Scheik einen seiner Leute nach der >Residenz< geschickt, um den Bewohnern derselben die Freudenbotschaft zu überbringen, daß der >Erstgeborene< ihres Hauptfeindes gefangen worden sei, weshalb man sich für morgen auf einen feierlichen Empfang einzurichten habe. Er sprach da, jedenfalls in bedeutend beschönigender Weise, von seiner >Hauptstadt< und seinem >Schlosse<, seiner >Burg<. Auch gab es einen >Tempel< zur Abhaltung des Gottesdienstes. Dies trug dazu bei, die Spannung auf den morgenden Tag in mir zu erhöhen.
|52A Die Insel war nicht groß, ungefähr fünfzig Schritte lang und halb so breit, rundum am Wasser von dichtem Gebüsch umsäumt. Es standen mehrere Bäume da, die für meinen Zweck vorzüglich paßten. Der eine ganz nahe an einer kleinen, schmalen Einbuchtung des Wassers, die nur ganz wenig breiter war als unser Kanoe.
»An diesen Baum wird der Panther gefesselt,« erklärte ich dem Scheik.
»Wann?« fragte er.
»Während der Nacht.«
»Er soll also herüber auf die Insel?«
»Ja. Doch nicht nur er, sondern auch die beiden anderen Tschoban. Mein Hadschi Halef Omar, der ein außerordentlich pfiffiger Gesell ist, wird sie mit Hilfe zweier Ruderer herüberschaffen. Vorher aber haben wir uns, Du und ich, hier eingestellt. Wir kommen mit unserm Lederboot in diese Einbuchtung. Der Baum, an den der Panther gebunden werden soll, steht so nahe daran, daß wir ihn fast mit der Hand erreichen können. Aber sehen wird man uns trotzdem nicht, weil die Wasserpflanzen und Schlinggewächse des Ufers uns verbergen, die wir außerdem jetzt derart ordnen und zurichten werden, wie wir es uns für unsere Zwecke nur wünschen können. Es kann uns kein Wort, welches an diesem Baum gesprochen wird, entgehen. Die beiden andern werden da drüben am jenseitigen Ufer angebunden, aber nicht so fest wie er, sondern leichter und lockerer, so daß es ihnen mit einiger Mühe möglich ist, sich loszumachen. Sie werden dies ganz sicher tun und dann herüber zu ihrem Vorgesetzten kommen, um sich mit ihm zu beraten.«
»Schlau! Außerordentlich schlau!« lobte der Scheik. »Der Plan ist gut; aber ob er in Erfüllung gehen wird, das ist die Frage. Werden sie wirklich so unvorsichtig sein, miteinander zu sprechen? Werden sie nicht Verdacht schöpfen? Werden sie gar nicht auf den Gedanken kommen, daß man sie belauschen will?«
»Sicher nicht! Ich bin überzeugt, daß uns alles gelingen wird,« antwortete ich. »Wenn sie vom Lager fortgeschafft werden, sehen sie doch, daß wir alle dort beisammen sind - -«
»Wir alle? Wir beide sind doch fort, Du und ich! Und grad das ist es, was ihnen aufzufallen hat.«
»O nein! Wir gehen doch nicht vor ihnen fort, sondern nach ihnen, wenn sie es nicht mehr sehen können. Hierzu kommt, daß sie mit dem langen, schweren Boot transportiert werden, möglichst langsam, wobei anstatt der geraden Linie ein Bogen geschlagen wird. Wir aber nehmen das leichte, schnelle Kanoe und sind also viel eher hier als sie. Sie befinden sich ganz gewiß in der festen Überzeugung, daß nur Halef und die Ruderer vom Lager abwesend sind. Und wenn man sie hier angebunden hat, kann nur der Panther nichts gewahren, weil er auf der entgegengesetzten Seite ist; seine beiden Gefährten |52B aber sehen und hören ganz bestimmt, daß die drei Männer im großen Kahn sich wirklich entfernen und nicht auf der Insel bleiben. Sie werden sich also für unbelauscht halten und in entsprechender Weise miteinander verkehren. Vorbedingung ist, daß wir uns nicht etwa selbst verraten. Bist Du geübt, das Husten und Niesen zu unterdrücken?«
»Sorge Dich nicht! Das übt man schon von früher Jugend an. Selbst wenn wir die ganze Nacht im Wasser stecken müßten, würdest Du nicht das geringste Geräusch von mir zu hören bekommen.«
»So sind wir für jetzt hier fertig und wollen wieder an das Ufer zurück. Ich habe noch meinen Halef heimlich hierherzubringen, um ihn in unsern Plan einzuweihen und zu unterweisen. Es kommt sehr darauf an, daß er, während er die Tschoban nach der Insel bringt, ja nichts tut, was geeignet wäre, ihren Verdacht zu erregen.«
Wir verließen also die Insel und ruderten uns zurück. Dort legten wir so an, daß uns niemand sah. Das geschah natürlich nicht etwa aus Mißtrauen gegen die Ussul, sondern weil ich wünschte, daß überhaupt niemand daraufkam, von dem kleinen Lederkanoe zu sprechen. Die Tschoban brauchten nicht zu erfahren, daß es eines gab. Ebenso sorgte ich dafür, daß Halefs Entfernung aus dem Lager ganz unauffällig vor sich ging. Unterwegs nach der Insel erzählte ich ihm, um was es sich handelte. Er war ganz Feuer und Flamme.
»Sihdi,« versicherte er, »ich werde meine Sache so machen, daß Du gezwungen bist, mich zu loben. Ich gäbe viel darum, wenn ich dann mitlauschen könnte, aber ich sehe ein, daß dies unmöglich ist. Du wirst mir die Bäume zeigen, an welche ich die Gefangenen zu fesseln habe. Ich werde das mit größter Sorgfalt und aber doch so besorgen, daß die beiden Halunken, wenn es ihnen gelungen ist, sich loszubinden, über mich lachen und spotten. Das werde ich sehr ruhig tragen, denn meine Rache kommt dann nach!«
Es handelte sich jetzt nur darum, ihm die Örtlichkeit zu zeigen, damit er dann im Dunkel des Abends genau wußte, woran er war. Ich zeigte ihm, als wir an der Insel ausgestiegen waren, die betreffenden drei Bäume, und er weihte mich in alle die kleinen und großen Finten ein, deren er sich bedienen wolle, die Tschoban so gründlich wie möglich zu täuschen. Wir verdichteten auch das Ufergesträuch in der kleinen Bucht, wo wir zu landen und uns zu verbergen hatten, derart, daß unser Kanoe dann am Abend darunter verschwand und gar nicht bemerkt werden konnte. Dann kehrten wir nicht nach dem alten, sondern gleich nach dem neuen Lagerplatze zurück, den die Ussul inzwischen aufgesucht und eingenommen hatten, und wo man dürres Holz zusammensuchte, weil der Tag sich zu neigen begann und es also nötig wurde, Feuer anzuzünden. Taldscha begann mit den Frauen, das Abendessen |53A zu bereiten. Wir Männer setzten uns um das größte der Feuer, an dem sich sehr bald eine ganz eigenartige und sehr angeregte Unterhaltung entwickelte, in welche die drei Gefangenen absichtlich mit keinem Worte verflochten wurden. Sie waren auch hier angebunden, doch derart voneinander getrennt und abgewendet, daß ihre Augen und Blicke sich nicht treffen konnten. Aber hören mußten sie alles, jedes Wort, und so waren die Ussul alle beflissen, das Gespräch so hin und her zu leiten, daß die Tschoban nur solche Dinge zu hören bekamen, die ihnen imponierten und Angst vor dem, was sie erwartete, einflößten. Daher kam es ganz von selbst, daß die Ussul taten, als ob ich und Halef halbe Götter und außerdem auch ihre besten Freunde seien. Das Verhältnis zwischen uns und ihnen wurde in die beste und innigste Beleuchtung gestellt, und es versteht sich ganz von selbst, daß in dieser Beziehung mein kleiner Halef das Allermeiste und das Menschenmöglichste leistete. Er behandelte die Ussul genau so ungeniert und vertraut, wie vielerprobte, gute Freunde, und sie gingen in einer Weise hierauf ein, daß es ihnen ganz unmöglich wurde, uns später dann etwa als Feinde zu behandeln. Was mich betrifft, so verhielt ich mich möglichst still. Was von unserer Seite gesprochen werden mußte, das sprach der Hadschi in mehr als reichlicher Weise, und mir lag doch alles daran, die Ussul nicht nur im allgemeinen und insgesamt, sondern auch einzeln so genau wie möglich kennen zu lernen.
Das Essen bestand aus erjagtem und am Feuer gebratenem Fleisch mit einer Pflanzenzugabe, die aus wilden, aus dem Gras herausgestochenen Zwiebeln und einer gerösteten Art der Canna indica zusammengesetzt war. Es schmeckte vortrefflich. Daß auch unsere Pferde reichlich mit gutem Futter und Wasser versehen wurden, versteht sich ganz von selbst. Sie standen in unserer Näher. Die Gäule der Ussul aber befanden sich weiter fort von uns. Sie hatten während des ganzen Tages gefaullenzt und gefressen und sich nun niedergelegt, um auszuruhen. Nur einer nicht, nämlich Smihk, der Dicke. Der kam durch die Finsternis der Waldesnacht zum Lager herbeigeschlichen und suchte so lange rund um dasselbe herum, bis er mich sitzen sah. Er nahte mir, wie meist alles, was man nicht gern kommen sieht, von hinten. Das tat er so leise, wie es der pfiffigste Apache oder Komanche nicht leiser fertig gebracht hätte, und strich mir, als sein Kopf den meinen erreichte, mit der Zunge so zärtlich quer über das Gesicht, daß es schien, als ob sie daran kleben bleiben wolle. Ich langte natürlich sofort zu ihm hinauf und gab ihm eine Ohrfeige, die jedes andere Tier in den höchsten Zorn versetzt hätte; er aber nahm sie für einen überzeugenden Beweis meiner Gegenliebe und ließ ein Freudengewieher und Jubelgeheul erschallen, welches die andern dicken Ur-, Jagd- und Streitrösser so sehr entzückte, daß sie aus Leibeskräften mit einfielen und den ganzen Wald, so weit ihre Stimmen reichten, mit Wonnetönen erfüllten.
»Er hat Dich in sein Herz geschlossen,« sagte der Scheik. »Nimm es ihm nicht übel!«
Dabei schlug er ihm den Spieß an den Kopf, daß beide krachten, nämlich der Spieß und auch der Kopf; aber Smihk, der Dicke, ließ sich dadurch nicht stören, sondern orgelte weiter, bis er glaubte, seine Gefühle genügend ausgesprochen zu haben, so daß nichts mehr zu sagen war. Dann legte er sich hinter mir nieder und schloß die Augen, um in dem beseligenden Gedanken zu entschlafen, daß ich nun wisse, wie teuer ich ihm sei.
Als endlich auch für die Menschen die Zeit kam, sich schlafen zu legen, wurden auf meine Veranlassung hin Wachen ausgestellt, die während der Nacht dreimal abzulösen waren. Dann wurde, natürlich nur zum Scheine, eine kurze Beratung abgehalten, wie wir uns während des Schlafes unserer Gefangenen am besten versichern konnten. Der Scheik machte den Vorschlag, sie nach der Insel zu schaffen und dort festzubinden, weil da kein besonderer Wächter für sie nötig sei. Wir andern stimmten bei, und Halef bot sich an, sie hinüberzuschaffen, falls man ihm zwei Ruderer mitgebe, ihm zu helfen. Das wurde in völlig unbefangener und unauffälliger Weise gesagt und vorgeschlagen. Keiner der drei Tschoban kam auf den Gedanken, daß es abgekartete Sache sei. Man band sie von den Bäumen los und führte sie fort, dem Wasser zu, wo hinter einem Ufergebüsch, |53B durch welches sie nicht zurückschauen konnten, der große Einbaum zu ihrer Aufnahme bereit lag. Dann eilte ich mit dem Scheik nach der andern Stelle, an der das Kanoe auf uns wartete. Das leichte, kleine Fahrzeug brachte uns im Uferschatten sehr schnell so weit, daß die Insel zwischen uns und dem Einbaum lag und wir, von diesem aus ungesehen, nun gerade und direkt auf sie lossteuern konnten. Das taten wir und erreichten die kleine, schmale Bucht noch rechtzeitig genug, um es uns unter den dichten Zweigen, die eine Decke über uns bildeten, bequem zu machen. Der Baumstamm, an den der Panther festgebunden werden sollte, stand uns so nahe, daß auf dieser Seite seine Wurzeln unmittelbar aus dem Wasser tranken.
Nun nahte das große Boot. Wir vernahmen die Ruderschläge, noch viel eher aber die Stimme des Hadschi, der absichtlich laut sprach, damit wir sein Kommen hören sollten. Er landete drüben an der andern Seite, dennoch unterschieden wir jedes Wort, welches er sagte, denn er sprach sehr langsam und deutlich, und die Breite der Insel war nicht beträchtlich genug, seine Worte zu verschlingen. Er hatte nicht erst jetzt begonnen, mit den Gefangenen zu sprechen, sondern dies schon während der ganzen Fahrt getan. Er besaß so eine pfiffige Art, die Leute auszufragen, und fing es nicht weniger pfiffig an, mich jetzt schon von weitem hören zu lassen, was er von ihnen erfahren hatte.
»Also Ihr beide seid die Erzieher des Prinzen der Tschoban, den man Palang, den Panther, nennt. Von dem einen lernt er das Regieren und von dem andern das Kriegführen. Der eine ist die Kalam el Berinz und der andere das Sef el Berinz. Beide werden angebunden, und dann er selber auch. Zuerst die Kalam el Berinz! Komm! Steig aus!«
Er führte die >Feder des Prinzen< aus dem Boote nach dem betreffenden Baume und band ihn dort mit Riemen fest, die er zu diesem Zwecke mitgebracht hatte. Diese Festigkeit war aber nur eine scheinbare. Dabei sagte er:
»Nun ich von Euch gehört habe, was für ein vornehmer Herr Du bist, tut es meiner Seele vom Kopf bis herunter zu den Füßen weh, daß ich gezwungen bin, Dich hier an diesen Stamm zu fesseln, der nichts von Deinem hohen Stande weiß. Doch wenn ich mich nachher entferne, lasse ich Dir den süßen Trost zurück, daß ich morgen früh wieder kommen werde, um mich zu erkundigen, ob Du gut geschlafen hast.«
Hierauf holte er das >Schwert des Prinzen<, um ihn nach dem andern Baum zu führen und dort anzubinden. Auch dieser bekam einige ironische Bemerkungen zu hören. Dann mußten die beiden Ruderer den >Panther< nach dem dritten Baum tragen, eben dem, in dessen unmittelbarer Nähe ich mit dem Scheik verborgen war. Die beiden andern waren aufrecht stehend angekoppelt worden; dieser aber durfte sich seines verletzten Fußes wegen niedersetzen und wurde nur mit dem Rücken an den Stamm gebunden. Indem Halef dies tat, sprach er:
»Ich liebe Dich, o Prinz. Du hast mein Herz gewonnen. Zwar hast Du es nur heimlich gewonnen, als Du vorhin leise zu mir sagtest, daß Du mir eine ganze Satteltasche voll Goldstücke geben würdest, wenn ich bereit sei, Euch zu Euern Pferden zu bringen und mit Euch zu fliehen; dafür aber sage ich es nun laut, um Deine Güte zu rühmen. Deine Goldstücke gehören nicht mir, sondern meinen Freunden, den Ussul. Wenn ich jetzt hinüberkomme, werde ich ihnen und ihrem Scheik sagen, wie gern Du zahlen wirst. Schlaf wohl! Ich gehe! Allah sende Dir ein ganzes Dutzend glücklicher Träume aus dem Vorrat seines siebenten Paradieses!«
Er entfernte sich und stieg mit seinen beiden Ussul in den Einbaum. Man hörte die Ruder in das Wasser schlagen, und man hörte die Stimme Halefs, der sich absichtlich laut mit seinen Begleitern unterhielt, noch lange, bis sie wegen des zu großen Abstandes verscholl. Das ging alles so ungesucht und selbstverständlich, daß die drei Tschoban gar nicht auf den Gedanken gerieten, sie seien nicht allein hier, oder Halef werde heimlich zurückkehren, um sie zu belauschen. Selbst falls er diese Absicht gehabt hätte, wäre es ihm wegen der Größe des Bootes wohl schwerlich gelungen, die Insel unbemerkt wieder zu erreichen.
|54A Nun warteten wir. Der Scheik war in hohem Grade gespannt, ob die Richtigkeit meiner Voraussetzung sich bestätigen werde; bei mir aber gab es nicht den geringsten Zweifel daran, daß die Gefangenen die Gelegenheit schleunigst benutzen würden, miteinander zu sprechen. Und richtig! Kaum hörte man Halefs Stimme nicht mehr, so rief die >Feder des Prinzen< den beiden andern zu:
»Gebt Achtung! Hört Ihr mich?«
»Ja, ja!« lautete die Antwort von hüben und von drüben.
»Wir sind allein!«
»Weißt Du das genau?« fragte der Prinz.
»Ja. Ich konnte dem Boote von hier aus nachschauen, bis es nicht mehr zu sehen war. Sie sind fort, und kein Mensch ist hier, der uns hört. Wie dumm diese Leute sind!«
»Bist Du fest angebunden?«
»Es scheint so; aber ich will doch einmal versuchen.«
»Ich auch!« stimmte das >Schwert des Prinzen< bei. »Mir scheint, ich kann vielleicht los.«
Es wurde für kurze Zeit still; dann hörten wir gleich hintereinander zwei Freudenrufe. Beiden war es gelungen, sich von den Riemen zu befreien, doch lag es ihnen völlig fern, hier eine Hinterlist zu vermuten. Sie jubelten laut auf und eilten herbei, um auch den >Panther< loszumachen und mit ihm zu besprechen, wie sie sich nun wohl befreien könnten. Hier zeigte es sich, welchen Einfluß Geburt und Erziehung auf Menschen haben, die sonst ziemlich gleichgestellt sind. Er war edler geboren als sie, und er zeigte sich trotz ihres höheren Alters und ihrer größeren Erfahrung als der Bedachtsamste und Vorsichtigste von ihnen.
»Halt! Mich nicht losbinden!« befahl er. »Wir wissen nicht, ob wir uns vielleicht nicht wieder anbinden müssen. Wäre dies der Fall, so könnten wir die Schleifen und Knoten nicht genau so wiederherstellen, wie sie waren, und das würde uns verraten, daß wir frei gewesen sind.«
»Uns wieder anbinden müssen? Das fällt uns doch wohl nicht ein!«
»So? Könnt Ihr schwimmen?«
»Nein. Wir sind keine Fische oder Frösche! Hätte Allah uns Flossen oder Schwimmhäute gegeben, so läge es in seinem Ratschlusse, daß wir schwimmen sollen. Du hast es trotzdem gelernt, aber Dein Fuß ist verletzt - - -«
»Ja, dieser Fuß, dieser Fuß!« klagte der >Panther<. »Daß dieser fremde Hund mich vom Pferd gerissen und lahm gemacht hat, das werde ich ihm nicht vergessen, selbst wenn Allah mit Mohammed vom Himmel käme, um für ihn zu bitten! Ich hoffe, daß die Zeit erscheint, in der ich mit ihm abrechnen kann. Dann wird es keine Gnade geben, keine!«
Er knirschte das grimmig zwischen den Zähnen heraus und fuhr dann fort:
»Also, an das Ufer schwimmen, ist unmöglich; folglich müssen wir hier bleiben. Ich bleibe also angebunden, so wie ich bin, damit man früh nicht spürt, daß Ihr schlecht angebunden gewesen seid. Auf mich paßt man besser auf, als auf Euch.«
»So sollen wir also auf jeden Versuch, die Flucht zu ergreifen, verzichten?« fragte das >Schwert<.
Der >Panther< sann einige Augenblicke lang nach und antwortete dann:
»Ich muß mich fügen! Wegen meines Fußes! Aber nicht Ihr. Ihr könntet fliehen, sobald sich Euch eine Gelegenheit dazu bietet. Aber klüger ist es, hierauf zu verzichten, um meinetwillen. Denn Eure Flucht würde mir wohl sehr übel angerechnet werden. Sie würde meiner Behauptung widersprechen, daß wir in Frieden kommen und Abgesandte meines Vaters sind.«
»Aber wir können doch nicht so lange bleiben, bis sie merken, daß dies eine Lüge ist! Die beiden Fremden glauben schon jetzt nicht daran! Bedenke, daß unser Heer heut über eine Woche den Engpaß Cathar überschreiten wird! Und nur vier Tage später wird es auf der altbekannten Marahka erscheinen, dem Schlachtfelde, auf dem man uns heut gefangen hat! Wenn wir da noch Gefangene der Ussul sind, so ist es um uns geschehen! Die Stunde, in der sie erfahren, daß wir keinen Frieden wollen, sondern ganz im Gegenteile wieder mit einem |54B großen Heer hier im Lande eingefallen sind, wird unsere Todesstunde sein!«
»Das stünde allerdings mit größter Sicherheit zu erwarten,« stimmte der >Panther< bei.»Aber noch ist keine Gefahr. Wenn wir unsere Rolle gut spielen, so werden wir sehr bald entlassen. Wir schließen mit ihnen einen angeblichen Vertrag, den mein Vater durchzuprüfen hat, ehe er ihm sein Siegel gibt. Diesen Vertrag haben wir ihm zu bringen; also müssen wir fort von hier.«
»Aber wenn sie diesen Vertrag abweisen und gar nicht auf ihn eingehen?«
»Das ist unmöglich! Wir wissen ja, daß wir diesen Vertrag überhaupt nicht halten werden, also können wir die Sache so appetitlich für sie machen, daß sie unbedingt anbeißen werden. Diese Ussul sind Dummköpfe. Es gibt keinen einzigen Menschen unter ihnen, den man als klug bezeichnen könnte. Der Dümmste von allen aber ist der Scheik. Hätte er nicht die Frau, die sich bemüht, das bißchen Verstand, das er beinahe besitzt, zusammenzuhalten, so gäbe es auf der ganzen Erde keinen größeren Narren und Einfaltspinsel als ihn! Den nehme ich bei unserem nächsten Sieg gefangen und zeige ihn in unserm ganzen Land herum, damit man endlich einmal erfahre, wie ein Mensch aussieht, der - - -«
»So sieht er aus!« erscholl hinter ihm eine donnernde Stimme, die ihn mitten in der Rede unterbrach, und zugleich erhielt er eine Ohrfeige, welche allerdings noch ganz anders klatschte als die, mit der ich meinem guten, dicken Smihk zu antworten pflegte, wenn er sich eingehender mit mir beschäftigte, als ich wünschte. Nämlich von dem Augenblicke an, der uns die Gewißheit gab, daß die friedliche Sendung dieser drei Männer eine Lüge sei, hatte sich der Scheik nicht mehr zu beherrschen vermocht. Sein Atem begann hörbar zu werden. Ich faßte ihn am Arme, um ihn zur Vorsicht zu mahnen. Dies hätte vielleicht auch gefruchtet, wenn nicht die persönliche Beleidigung gefolgt wäre, die ihn in laute Wut versetzte. Er richtete sich, die Zweige, die uns verbargen, auseinanderstoßend, im Kanoe auf, so lang er war, gab dem Prinzen den Schlag ins Gesicht und sprang sodann an das Ufer. Ich folgte ihm auf der Stelle.
»Allah 'l Allah!« rief das >Schwert< erschrocken.
»Und auch der Fremde!« fügte die >Feder< hinzu.
Der >Panther< sagte kein Wort. Wahrscheinlich nahm die Ohrfeige seinen Kopf so ganz und gar in Anspruch, daß ihm die Sprache versagte.
»Ja, der Scheik und der Fremde!« donnerte der Ussul weiter. »Der Scheik, den Ihr in Eurem ganzen Lande sehen lassen wollt! Der Scheik, welcher der dümmste von allen Dummköpfen ist! Ihr aber habt die Klugheit schon von Kindesbeinen an Euch in den Kopf geschaufelt und es mit ihrer Hilfe so himmelweit gebracht, daß man Euch nur an den ersten besten Baum zu binden braucht, um alle Eure Geheimnisse zu erfahren. Fort mit Euch von hier! Ihr gehört an Eure Bäume!«
Diese Aufforderung war an die >Feder< und an das >Schwert< gerichtet. Der Scheik nahm den einen hüben und den andern drüben beim Genick und schaffte sie von ihrem Prinzen fort. Sie wagten nicht, eine Hand zum Widerstand zu regen, was ihnen auch wohl schlecht bekommen wäre. Ich folgte. Wir banden sie wieder fest, und zwar so, daß es ihnen nicht wieder gelingen konnte, sich zu befreien. Dann begaben wir uns nochmals zum Panther hin, weil sich dort unser Kanoe befand. Ich untersuchte seine Fesseln. Sie waren ihm so gut angelegt, daß ich nichts daran zu ändern hatte.
»Schurke!« giftete er mich an.
»ich kam nur hierher, um mein Wort zu halten,« antwortete ich.
»Welches Wort?«
»Du fordertest mich auf, Dir zu beweisen, daß Du ein Feind der Ussul bist, und ich gab Dir mein Wort, daß ich diesen Beweis erbringen werde, noch ehe der heutige Abend vorbei sei. Ich habe es getan, und es ist noch lange nicht Mitternacht. Leb wohl! Wir sehen uns am Morgen wieder.«
Wir stiegen in das Boot und verließen die Insel. Als wir uns so weit vor ihr entfernt hatten, daß wir nicht gehört werden konnten, sagte der Scheik:
|55A »Wie recht hast Du gehabt, und wie gut war es, daß wir sie belauschten!«
»Und wie falsch war es, daß Du so vorzeitig dazwischen fuhrst!« tadelte ich ihn. »Es ist gar nicht zu ahnen, was wir alles noch erfahren hätten, wenn Du ruhig geblieben wärst!«
»Verzeih! Ich hielt es nicht länger aus. Es ist kein Spaß, sich als einen Dummkopf bezeichnen zu lassen, wenn man keiner ist! Übrigens glaube ich, daß wir genug erfahren haben. Nun wissen wir, woran wir sind. Mehr brauchen wir nicht. Wir kennen sogar die beiden Tage, an denen das Heer der Tschoban durch den Paß von Chatar reitet und an der Marahka erscheint!«
»Die Marahka ist mir bekannt, wenigstens der Teil von ihr, den ich heut gesehen habe. Mir ahnt, daß ich sie noch näher kennen lernen werde. Aber wo liegt der Paß von Chatar und wie ist er beschaffen?«
»Er liegt an der Grenze der Wüste, welche die Steppen der Tschoban von meinem außerordentlich fruchtbaren Lande trennt. Er besteht nur aus Stein. Er ist so lang, daß man einen halben Tag braucht, um zu Pferde von seinem Anfang an sein Ende zu kommen. Seine Breite ist gering, sie beträgt an ihrer beträchtlichsten Stelle den Ritt von nur einer Viertelstunde. Es gibt aber Punkte, wo sie so schmal ist, daß ich auf der einen Seite die Worte genau verstehe, die mir jemand von der andern herüberruft.«
»Was gibt es rechts und links? Etwa Gebirge?«
»O nein! Sondern Wasser.«
»Was für Wasser?«
»Das Meer.«
»Das Meer?« fragte ich verwundert. »So ist Dein Land eine angeschwemmte Erde? So ähnlich wie das Delta des Niles? Eine Halbinsel, die mit dem Festlande derart in Verbindung steht, wie zum Beispiel der griechische Peloponnes durch die Landenge von Korinth mit Hellas zusammenhängt?«
Da kratzte er sich verlegen den Bart und antwortete:
»Was Delta ist und Korinth und Hellas und Peloponnes, das weiß ich nicht; aber gelehrte Leute sollen behauptet haben, daß das Land der Tschoban früher ein ungeheuer großer See gewesen sei, während im Süden davon, also da, wo wir uns jetzt befinden, das Meer gelegen habe. Beide, der See und das Meer, seien durch einen starken Felsenkamm getrennt gewesen. Ein großer Fluß habe den See gespeist und die Wasser desselben so schwer gemacht, daß der Felsenkamm endlich nicht länger widerstehen konnte. Der Druck der Wassermenge zwang ihn, sich zu öffnen. Sie rauschte in das Meer hinaus und riß die Felsenbrocken mit sich fort, um sie hüben und drüben weit in das Meer hinein aufzutürmen. So soll der jetzige Engpaß Chatar entstanden sein. Als der See hierdurch leer geworden war, zeigte es sich, daß der Boden seines südlichen Teiles nur aus unfruchtbarem Steingeröll bestand. Das ist die Wüste der Tschoban, die ich schon erwähnte. Der nördliche Teil erwies sich als nützlicher; er brachte nach und nach Gräser und Stauden hervor, wenn auch keine Bäume. Das ist die Steppe der Tschoban. Der Fluß ging durch beide hindurch, durch die Steppe und durch die Wüste. An seinen Ufern wuchsen nach und nach Büsche und Bäume; aber eben auch nur da, am Ufer, weiter nicht. Denn das fruchtbare Land, welches der Fluß aus den höher liegenden Gegenden brachte, wurde von ihm bis hinaus in das Meer getragen und dort von ihm niedergesenkt und aufgebaut. Es wuchs immer größer und größer, immer breiter und breiter. Der Fluß teilte sich in viele, in unzählige Arme und Zweige, die alle an der Entstehung des neuen Landes zu arbeiten hatten. Wahrscheinlich ist es dasselbe, was Du vorhin Korinth oder Hellas oder Delta nanntest. Die Wasser und die Winde brachten Körner und Samen, die guten Boden fanden. Es entstanden Wälder, deren Größe ebenso wuchs wie die Größe des Landes selbst. Das ist das Land der Ussul, in dem Du Dich befindest.«
»Und der Fluß?« fragte ich. »Wo finde ich den?«
»Der ist verschwunden, fort, weg, für alle Zeit.«
»Wohin?«
»Hm! Wohin! Hierüber gibt es eine alte Sage, die zu lang ist, als daß ich sie Dir jetzt erzählen könnte, weil wir |55B sogleich das Ufer erreichen werden. In der Steppe und in der Wüste der Tschoban gibt es seitdem keinen einzigen Tropfen fließendes Wasser mehr , und so sind die Bäume und Sträucher gänzlich verschwunden, die damals am Ufer des Flusses standen. Das Land der Ussul aber ist wie ein Schwamm, welcher die Wasser des Meeres an sich saugt, um sie zu reinigen und trinkbar zu machen. Schau dieses Wasser hier, welches aus dem Meere stammt und doch keinen Tropfen Salz mehr hat! Und morgen, wenn wir in die Hauptstadt kommen, wirst Du sehen, daß wir an Durst niemals zu leiden brauchen und grad an dem, was die Tschoban sich vergeblich wünschen, reicher sind als reich.«
Das Gespräch mußte abgebrochen werden, denn wir landeten. Was ich da gehört hatte, war höchst interessant. Und nicht bloß das allein, denn er hatte es auch in einer Weise gesagt, die nicht seine gewöhnliche war. Wahrscheinlich brauchte man zu der angeborenen Intelligenz der Ussul nur liebevoll hinunterzusteigen, um sie zu wecken und emporheben zu können. Ich freute mich schon jetzt darauf, die Sage von dem verschwundenen Flusse zu hören.
Als wir im neuen Lager ankamen, war es unser Erstes, zwei Ussul nach der Insel zu schicken, um die Gefangenen zu bewachen. Ich hielt das zwar nicht für unumgänglich notwendig, aber nach dem, was wir erfahren hatten, waren die drei Tschoban so wichtig für uns geworden, daß keine Handlung der Vorsicht als unnütz bezeichnet werden konnte. Dann wurde erzählt. Es versteht sich ganz von selbst, daß die Kunde, die wir brachten, aufregend wirkte. Die Ussul hatten zwar gehört, daß die Tschoban zu einem neuen Einfalle rüsteten; aber so gewiß wie jetzt, hatten sie es doch nicht gewußt. Und ebensowenig hatten sie geahnt, daß es so bald geschehen werde. Der jetzige Jagdzug war nur zum Zwecke der Verproviantierung unternommen worden, und ich erfuhr nun, daß auch noch andere Jagdgesellschaften in die Wälder geschickt worden waren, um das zu tun, was der Indianer als >Fleischmachen< bezeichnet. Man sah sich gezwungen, diesmal mehr als früher das Wild heranzuziehen, weil die zahmen Herden sich von dem Verlust, den ihnen der letzte Einfall der Tschoban bereitete, noch nicht wieder erholt hatten. Der Scheik und auch Taldscha versicherten mir, daß ihr ganzer Stamm der Hungersnot verfallen müsse, wenn es nicht gelinge, die ihnen bevorstehenden neuen Verluste abzuwehren.
»Was gedenkt Ihr zu tun? Habt Ihr einen Plan?« fragte ich.
»Ja,« antwortete der Scheik.
»Welchen? Darf ich ihn erfahren?«
»Der, den wir immer verfolgen.«
»Also die Belagerung?«
»Die Belagerung!« nickte er. »Wir schaffen, wenn wir den Überfall zeitig genug erfahren, unsere Herden nach der Hauptstadt. Auch alle Krieger vereinigen sich da. Die Weiber und Kinder verstecken sich, bis die Gefahr vorüber ist. Der Feind kommt und umzingelt uns; wir aber sind vom Wasser gedeckt; er kann nicht herüber und muß wieder abziehen.«
»Wie lange dauert das immer?«
»Oft mehrere Wochen.«
»Hm! Während dieser Zeit zieht der Feind raubend im Lande herum! Ihr aber steckt tatenlos hinter dem schützenden Wasser und habt nicht nur die Menschen zu ernähren, sondern auch die Herden zu füttern! Das kann Euch doch nur schädigen, selbst wenn der Feind schließlich gezwungen ist, abzuziehen! Ist das so oder nicht?«
»Es ist so!« antwortete Taldscha diesmal an Stelle ihres Mannes. »Auch dann, wenn die Tschoban die Belagerung aufheben mußten, ohne uns ausgeraubt zu haben, nahmen sie doch noch ganz bedeutenden Raub mit, den sie sich ringsum zusammengeholt hatten. Und in unsern Herden brach dann infolge des Hungers und des Zusammengedrängtseins fast immer ein Sterben aus, das große Opfer forderte.«
»Ihr habt Euch stets nur dadurch gewehrt, daß Ihr Euch einschließen und belagern ließet?«
»Ja.«
»Warum das?«
|56A »Weil es so Sitte war. Unsere Vorfahren haben es stets getan, und so taten wir es auch.«
»So seid Ihr niemals auf den Gedanken geraten, die Angreifer zu machen, anstatt nur immer die Angegriffenen zu sein?«
»Nie!«
»Sonderbar!«
»Ja, sonderbar, höchst sonderbar!« fiel hier Halef ein. »Die Herrin der Ussul hat es mir übelgenommen, daß ich ihr zugetraut habe, einmal nicht Wort zu halten. Ich bemerke das erst jetzt, weil sie es beharrlich vermeidet, mich anzusehen. Ist ihre Ehre so fein und so empfindlich, daß sie schon ein kleines, unbedachtes Wort so gewaltig übelnimmt, so sollte diese ihre Ehre zu anderen Zeiten nicht so grob und unempfindlich sein, daß man sie wochenlang belagern und ihr ganze große Herden rauben darf, ohne daß sie sich hiervon beleidigt zu fühlen scheint. Mich, den einzelnen, kleinen Menschen, den sie für einen unbedeutenden Zwerg gehalten hat, verfolgt sie mit ihrer Rache. Was hat sie getan, um sich an den Tschoban zu rächen? Mich bestraft sie eines einzigen, unschädlichen Wortes wegen. Womit hat sie die riesengroßen Missetaten der Tschoban bestraft? Reicht ihr Mut nur zur Verachtung und Bestrafung von Zwergen aus? Oder fehlen ihr die Einsicht, die Klugheit und die nötige Begabung, die dazu gehören, einen Plan abzufassen und auszuführen, nach dem man sich mutig wehrt, anstatt daß man sich, seine Krieger und seine Herden langsam abschlachten läßt? Ich sage Euch: Ich, der Zwerg, der gegen Euch winzige Hadschi Halef Omar, hätte mir so etwas nie gefallen lassen; Ihr aber, die Ihr Euch Riesen nennt, sammelt in Eurer Feigheit schon wieder Fleisch, um Euch auf eine elende, unmännliche und furchtsame Belagerung vorzubereiten, anstatt den Feinden entgegenzuziehen und ihnen zu zeigen, daß Ihr Hirn im Kopfe, Blut in den Adern und Mark in den Knochen habt! Ob jemand mich ansieht oder nicht, das ist mir völlig gleich; aber wer da meint, mich verachten zu dürfen, der sollte doch wohl derart zu handeln gewohnt sein, daß ich ihm meine Achtung nicht auch zu versagen habe!«
Diese lange Rede des kleinen Hadschi kam mir wie ein Blitz aus heiterem Himmel, vollständig unerwartet. Daß die Frau des Scheiks so ganz über ihn hinwegzusehen wagte, das ärgerte ihn nicht nur, sondern das erboste ihn. Seit er bemerkt hatte, daß ihre Blicke ihn vermieden, kochte es in ihm, und ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß er die erste beste Gelegenheit ergreifen werde, die Hiebe auszuteilen, die er für nötig fand. Und das hatte er jetzt soeben getan. Nach den Folgen pflegte er bei solchen Dingen nie zu fragen. Die Hauptsache war, daß er seine Meinung gesagt hatte, und was dann kam, das fiel dann stets auf mich. So auch hier.
Die >Dame< Taldscha hatte ihm sehr gut gefallen, darum ärgerte es ihn doppelt, daß grad sie es war, die ihn nicht sehen |56B wollte. Ich fand es also nicht ganz unbegreiflich, daß er in diesem Falle die Rücksicht vergaß, welche man den Frauen selbst dann schuldet, wenn sie sich Mühe geben, einen gar nicht zu bemerken. Dazu kam, daß ich ihm in Beziehung auf das, was er gesagt hatte, keineswegs so unrecht geben konnte. Es schien wirklich mehr als hergebrachte Überlieferung und Bequemlichkeit zu sein, daß diese riesenhaft gebauten Menschen vor ihren bedeutend kleiner gestalteten Gegnern fortwährend zum Kreuze krochen. Jeder Psycholog weiß, daß der Riese gemütlicher zu sein pflegt als der Zwerg, aber diese Gemütlichkeit darf doch nicht in eine Passivität ausarten, die an Feigheit grenzt. Kurz und gut, mein kleiner Halef war grob, sehr grob gewesen, aber er hatte dabei auch mir mit aus dem Herzen gesprochen, und so war ich gewillt, mich seiner anzunehmen, falls sich dies als nötig herausstellen sollte.
Zunächst war man darüber, daß so etwas hatte gewagt werden können, völlig starr. Dann sprang der Scheik von seinem Sitz empor, und die andern stießen laute Rufe des Zornes aus. Nur Taldscha blieb ruhig. Sie bewegte sich nicht und schloß die Augen, als ob sie innerlich nachschauen wolle, ob Halef berechtigt sei, in dieser Weise über sie zu sprechen. Der Scheik aber rief:
»Allahi, Tallahi, Wallahi! So hat noch niemand zu uns gesprochen, noch niemand! Soll ich Dich zwischen diesen meinen Fäusten zu Pulver zerreiben oder zu Brei zerquetschen? Wähle eins von beiden, ich tue es sofort!«
Er hielt dem Hadschi die beiden ungeschlachten Hände hin. Dieser blieb ruhig sitzen, zog eine seiner Doppelpistolen aus dem Gürtel, richtete sie auf den Scheik, ließ die Hähne knacken und antwortete:
»Soll ich Dich mit dem Schrot oder mit der Kugel erschießen? Wähle eins von beiden; ich tue es sofort!«
Ich nahm einen meiner Revolver zur Hand und knackte mit dem Hahne, ohne ein Wort zu sagen. Da machte Taldscha die Augen auf. Sie sah die auf ihren Mann gerichteten Waffen, ließ jene gebieterische Handbewegung schauen, die ich schon beschrieben habe, und sagte zu ihm und den anderen Ussul:
»Schweigt! Ich habe nachgesonnen, und ich fühle, daß Scheik Hadschi Halef Omar nicht unrecht hat. Doch soll er uns sagen, wie er sich unsere Gegenwehr gegen die Tschoban denkt!«
»Ich denke mir Eure Gegenwehr genau so, wie ich mir ihren Angriff zu denken habe,« antwortete er, ohne einen Augenblick zu zögern.
Der Scheik gehorchte seiner Frau; er setzte sich wieder nieder. Die andern unterdrückten ihre Zornesrufe. Da steckte Halef die Pistole wieder ein, und auch mein Revolver verschwand.
»Wie meinst Du das?« fragte Taldscha.
»Die Tschoban greifen Euch an, indem sie in Euer Land eindringen. Wer hindert Euch, denselben Weg zu gehen und bei ihnen einzufallen? Das Gesetz, dem sie gehorchen, nämlich der Islam, gebietet, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Ihr |57A würdet also ihr eigenes Gesetz beachten und ehren, wenn Ihr an ihnen ganz dasselbe tätet, was sie an Euch schon so oft getan haben!«
»Bei ihnen einfallen - - -?« fragte die Frau in einem Tone, als ob ihr etwas ganz und gar Unmögliches zugemutet werde.
»Bei ihnen einfallen!« rief auch der Scheik.
»Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen! Bei ihnen einfallen!« rief man im Kreise auch weiterhin von Mund zu Mund.
»Warum nicht?« fragte Halef. »Was die Tschoban können, das könnt Ihr doch wohl auch!«
»Das meine ich wohl!« beteuerte der Scheik.
»Wenn Ihr das wißt, warum tut Ihr es dann nicht? Fehlt es Euch an Mut?«
»Nein, nein!« versicherte der Scheik.
»Nein, nein! Nein, nein!« klang es im Kreise weiter.
»Oder an Geschicklichkeit, an Flinkheit, an Verstand?«
»Auch nicht!« stellte der Scheik fest.
»Auch nicht!« fielen die andern rundum ein.
»So begreife ich nicht, warum Ihr es nicht tut! Es gibt da nur noch einen einzigen Grund, den man sich denken kann.«
»Welchen?« erkundigte sich der Scheik.
»Daß Ihr zu faul seid.«
»Zu faul?« fuhr der Scheik grimmig drein. »Wer das behaupten will, den schlage ich tot!«
Und er hob schon wieder seine beiden Fäuste empor.
»Den schlage ich tot, den schlage ich tot!« riefen die anderen grad so wie er, indem auch sie ihre Fäuste zeigten.
»Nun, so tut es doch, so tut es doch!« warf Halef ihnen zu, indem er ungläubig lachte.
»Was aber sollen wir drüben?« fragte nun der Zauberpriester.
»Ganz dasselbe, was sie hier bei Euch wollen!«
»Also stehlen, rauben, plündern und brandschatzen?«
»Ja! Stehlen, rauben, plündern und brandschatzen! Was sie glauben, an Euch tun zu dürfen, das kann Euch doch nicht verboten sein, an ihnen zu tun!«
»O doch!« fiel da die blonde Herrin ein, und zwar in ernstem Tone. »Kein Dieb soll mich verführen, auch zu stehlen, und kein Räuber kann mich veranlassen, ihn auch zu berauben. Zu Deiner Ehre will ich annehmen, daß auch Du dieser meiner Ansicht bist und nur vom Standpunkt der Tschoban aus redest, die Mohammedaner und also Heiden sind, aber ich bitte - -«
»Heiden?« unterbrach Halef sie da schnell.
»Ja, Heiden!« antwortete sie. »Oder ist es nicht heidnisch, zu stehlen, weil andere stehlen, und zu rauben, weil andere rauben?«
Der Hadschi hatte sich da in eine arge Klemme hineingeredet. Er war gewiß schwer, ja außerordentlich schwer in Verlegenheit zu bringen, dieses Mal aber wußte er sich keinen Rat. Er warf mir einen bittenden Blick zu, und so fiel ich nicht nur um seinetwillen, sondern auch um meinetwillen ein:
»Der Scheik der Haddedihn meint es nicht wörtlich so, wie er es sagt. Er will Euch nicht verleiten, ohne Grund in das Gebiet Eurer Feinde einzufallen, um dort zu sengen, zu brennen, zu plündern und zu morden. Aber wenn sie vor Euch die Flucht ergreifen müßten und Ihr sie bis hinüber verfolgtet, so wäre das wohl nicht gegen Dein zwar menschenfreundliches, aber auch entschlossenes und tapferes Gefühl.«
»Nein, gewiß nicht!« gestand sie zu. »Ich würde sogar dazu raten.«
»Wirklich?« fragte ich, nicht ohne Absicht, sondern mit ganz besonderer Betonung.
»Wirklich!« versicherte sie, es ebenso betonend wie ich.
»So tut es doch! Schlagt sie aus Eurem Reich hinaus und in das ihrige hinüber! Oder noch besser: Wartet gar nicht erst, bis sie herüberkommen, sondern fallt gleich an Eurer Grenze über sie her, daß sie umwenden und zurückkehren müssen!«
»Sie hinausschlagen - - -?« fragte Taldscha erstaunt.
»Über sie herfallen!« rief der Scheik.
»Daß sie umwenden! An unserer Grenze? Und zurückkehren müssen!« so sagten und fragten und wiederholten auch die anderen.
|57B »Das erfordert Blut, viel Blut!« warnte Taldscha.
»Nein!« antwortete ich. »Vielleicht keinen Tropfen, keinen einzigen!«
»Unmöglich! Man kann doch kein ganzes Kriegsheer über die Grenze hinübertreiben, ohne daß Blut vergossen wird!«
»Das meine ich auch!« stimmte der Scheik bei. »Aber das sollte uns wohl nicht hindern, diesen Rat zu befolgen, der mir gar nicht übel gefällt. Es ist besser, einige Tote zu haben, als von den Tschoban und aller Welt als feig verschrien zu werden. Ich bitte Dich, Effendi, uns Deinen Plan mitzuteilen. Ist es möglich, ihn auszuführen, so daß er uns Nutzen schafft, so werden wir ihn ausführen. Ich bin überzeugt, daß Taldscha einverstanden ist.«
Sie nickte nur. Ich aber entgegnete:
»Einen Plan kann ich Euch noch nicht sagen, denn ich habe noch keinen. Ich kenne Euer Land noch nicht und folglich auch die Gegend nicht, um welche es sich handelt. Freilich, einen Gedanken habe ich bereits jetzt. Und der scheint gut zu sein. Aber, um ihn sich entwickeln zu lassen, muß ich Fragen tun, die ich Euch heut abend unmöglich vorlegen kann. Dazu ist morgen Zeit. Ich halte es nämlich für sehr möglich, die Tschoban zu besiegen und für immer zurückzutreiben, ohne daß es Euch einen einzigen Toten oder eine einzige Wunde kostet. Wenn Ihr wollt, so könnt Ihr es morgen erfahren. Für heut aber soll nun Ruhe sein. Es ist nun schon über Mitternacht. Ich gehe schlafen!«
»ich auch!« stimmte Halef bei, der meine Absicht, nur von der Unterhaltung loszukommen, sehr wohl verstand.
Wir gingen also zu unseren Pferden, bei denen wir uns so niederlegten, daß ihre Hälse unsere Kopfkissen bildeten. Das waren sie und auch wir gewohnt. Die Ussul aber blieben noch sitzen, um das für sie unendlich wichtige, aber auch unendlich unbegreifliche Thema, welches ich ihnen gegeben hatte, weiter auszuspinnen. Das ganze Heer der Tschoban besiegen und für immer zurückzuschlagen, ohne daß es einen einzigen Toten oder auch nur eine einzige Verwundung kosten solle! Das wollte ihnen nicht in die trägen Köpfe, ihnen, die bisher weiter nicht gewußt hatten, als auszureißen, sich zu verstecken und dann hinter den abziehenden Feinden her zu jammern und zu schimpfen. Mein Gedanke kam mir aus der Beschreibung, die der Scheik mir über den hochinteressanten Engpaß Chatar geliefert hatte. Und ich gedachte dabei an eines meiner Erlebnisse bei den Haddedihn-Arabern, deren Scheik jetzt Halef war; nämlich an das so erfolgreiche Zusammentreiben aller ihrer Feinde in das >Tal der Stufen<, das ich im ersten Bande meiner >Reiseerzählungen< beschrieben habe. Vielleicht eignete sich der Engpaß noch viel besser zu so einem pfiffigen Streiche als jenes Tal der Stufen, in welches die Gegner gelockt werden mußten, während die Tschoban auf alle Fälle gezwungen waren, ihren Weg durch den Paß zu nehmen, von dem ich überzeugt war, daß er ihnen sehr leicht verhängnisvoll werden könne.
Als ich Halef hierüber eine kurze Bemerkung machte, wich der Schlaf sofort von ihm. Er richtete sich halb empor und sagte:
»Sihdi, das wäre eine Wonne für mich, so etwas wieder zu erleben! Wie bist Du auf diesen prachtvollen Gedanken gekommen?«
»Durch den Scheik, der mir die Örtlichkeiten beschrieb. Zwar kann man das, was dieser gute Mann behauptet, nicht als geologisch erwiesen annehmen, sondern man muß es erst prüfen; aber etwas Wahres ist doch jedenfalls daran, und man könnte viel Blutvergießen und noch anderes, ebenso Schlimmes verhindern, wenn man die Ussul veranlaßte, den Tschoban heut über eine Woche in diesem schmalen Engpaß entgegenzutreten.«
Ich erzählte ihm, was ich von dem Scheik während des Ruderns erfahren hatte. Als ich damit zu Ende war, teilte er mir mit, daß während unserer Abwesenheit das Gespräch auch unter den Ussul auf den verschwundenen Fluß gekommen sei. Auf seine Bitte habe der Sahahr ihm dann die Sage erzählt.
»So kennst Du sie nun?« fragte ich.
»Ja,« antwortet er. »Willst Du sie hören?«
»Sehr gern.«
|58A »Sie raubt uns nur wenig Schlaf, denn sie ist kurz. Vorher aber muß ich Dir sagen, daß die Ussul nur Gott allein verehren, keinen andern bei oder neben ihm. Bei ihnen ist nur er der Inbegriff der Allmacht, Weisheit und Liebe. Nur er allein kann, was er will, und wenn die Hilfe und das Erbarmen des Himmels sich der Erde naht, so geschieht das nur durch ihn. Das war es, was Du wissen mußtest. Und nun kann ich erzählen.«
|59A Halef machte wie immer, wenn er etwas Derartiges erzählte, vorher eine Pause, um seine Gedanken zu sammeln und den richtigen, klar hindurchführenden Faden zu finden. Dann begann er:
»Weit, weit von hier, hoch über Dschinnistan hinauf, liegt das verlorene einstige Paradies. Seine Tore sind geschlossen. Wer nach ihm sucht, der sieht es von weitem glänzen, jedoch hinein kann keiner. Sogar dem Blick ist es versagt, die himmelhohen Mauern zu übersteigen. Bei Tage in sonnengoldenen Lettern, bei Nacht in flammenheller Sternenschrift sieht man über ihm den göttlichen Ruf erstrahlen:
>Ist Friede auf Erden, dann kommt!<
So oft ein Jahrhundert vorüber ist, springen alle Pforten und Tore des Paradieses auf, und eine unendliche Fülle durchdringenden Lichtes flutet über die Erde und über die Menschen hin, die auf ihr wohnen. Da wird alles, alles offenbar, was je geschehen ist und was noch heut geschieht. Die Erzengel treten vor die Tore. Ihre Scharen erscheinen zu Tausenden und zu Zehntausenden auf den Mauern. Sie schauen herab, ob endlich Friede sei; aber stets ist Krieg und Mord und Zank und Streit. Da erheben sie ihre Stimmen. Ein Weheschrei erschallt, er steigt vom Himmel auf die Erde nieder. Das Licht verschwindet, mit ihm das Paradies. Den Schrei aber hören nie die Mächtigen, die Reichen, die Sieger, sondern nur die Schwachen, die Armen, die Unterdrückten und Geknechteten, die händeringend und hilfeflehend in stiller Kammer beten, daß Gott der Herr sie von ihrem Leid, von ihrer Qual erlöse.
Diese Bitten und Gebete sind mächtiger als die mächtigsten der Menschen. Was kein Sterblicher vermag, das vermögen sie. Sie steigen unsichtbar zum Paradies empor, versammeln sich vor seinen Mauern und wachsen zu Millionen und Millionen an. Sie helfen einander, heben einander über die Mauern hinweg, dringen ein in das Paradies und klammern sich an die Engel. Sie heften sich an die Flügel der Gnade, an die Fittiche des Erbarmens, die über dem Paradiese wehen, und werden von ihnen emporgehoben zum Allbarmherzigen, um in sein Herz zu dringen und es anzufüllen, bis es überschwillt. >Gib Frieden!< jammert es über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es durch das Paradies. >Gib Frieden!< bittet es in Gottes eigener Seele. Da sendet er den strengsten aller Geister, der Moses heißt, zum Sinai hernieder. Der schreibt in Stein:
>Du sollst nicht töten!
Wer Menschenblut vergießt, dessen Blut soll auch
vergossen werden!<
Kaum hat das Volk der Menschen dieses Wort vernommen, so bricht es auf vom Berge Sinai, stürzt über das Land der Kananiter und opfert ganz demselben Gott in Strömen von Menschenblut, die durch Jahrhunderte fließen und bis zum |59B Himmel rauchen. >Gib Frieden!< jammert es wieder über die Erde. >Gib Frieden!< klagt es wieder durch das Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet es wieder in Gottes eigener Seele. Da sendet er den liebevollsten aller Geister, der Jesus heißt, zur Erdenwelt hinab. Der lehrt und ruft, daß man es durch alle Lande hört:
>Liebet Eure Feinde! Segnet, die Euch verfluchen! Tut Gutes denen, die Euch hassen! Und betet für die, welche Euch verleumden und verfolgen! Denn wer zum Schwerte greift, der wird durch das Schwert umkommen!<
Dies heilige Wort der Menschen- und der Nächstenliebe ist nie verklungen. Es klingt noch heut. Man hört es wohl, doch keiner will es achten. >Gib Frieden!< jammert abermals die Erde. >Gib Frieden!< klagt das leere Paradies. Und >Gib Frieden!< bittet Gottes eigene Seele. Da sendet er den irdischesten aller Geister, mit Namen Mohammed, der fast noch menschlich spricht und darum leicht begriffen werden kann. Doch der verirrt sich zwischen Paradies und Erde und sucht vergeblich nach dem rechten Weg, der tief hinab zum Menschenherzen führt. Da spricht der Herr: >Wenn keiner es erreicht, daß Friede werde, so gehe ich nun selbst!< Er schlägt den Mantel menschlicher Gestalt um seine Schulter und steigt zur Quelle Ssul im Paradies hinab. Die wächst bis Dschinnistan zum breiten Strom und fließt von da durch Ardistan, an beiden Ufern Frucht und Segen spendend, um an der Mündung neues Land und neues Volk zu schaffen. So wandert er, dem Flusse folgend, hinab nach Dschinnistan, um zunächst dort den Willen des Himmels zu verkünden. Doch kaum hat er sein Friedenswerk begonnen, wird er erkannt, und alles eilt herbei, ihn anzubeten. Er segnet jeden, der vor ihm erscheint, doch nur dem 'Mir gestattet er, in die Zeitenfernen zu schauen, in den nicht mehr der Säbel und die Kanone, sondern nur der blanke Geist und der blitzende Gedanke die Schlachten schlagen. Dann wandert er weiter, am Strome abwärts, bis nach Ardistan. Er glaubt, er komme grad zur rechten Zeit, denn überall, wo er erscheint, ertönen Kriegstrompeten. Der 'Mir von Ardistan will Dschinnistan erobern und rüstet heimlich zum plötzlichen Überfall. Der Herr versucht an vielen Orten zum Wort zu kommen, um das Verhängnis aufzuhalten, doch vergeblich. Und als er in der großen Stadt des Scheiks, die glänzend wie ein Traumbild aus dem Märchenland am Strome liegt, seine Stimme zu erheben und von Friedensbruch zu sprechen wagt, wird er als Landesverräter festgenommen und vor den Scheik gebracht. Der hält über ihn Gericht und spricht das Urteil aus: >Man führe ihn auf die Brücke und stürze ihn in das Wasser, weil er sich vor dem Blut des Krieges fürchtet!< Da fragt der Herr: >Ist jemand, |60A der dies Urteil ändern kann?< >Es gibt keinen einzigen, der das vermag!< antwortet ihm der Scheik. >Auch Gott nicht?< >Nein! Allah ist Gott! Und der hat uns befohlen, sein Reich durch Schwert und Feuer zu verbreiten! Es werde Krieg!< Da hebt der Herr die Hand empor und ruft: >Es bleibe Friede! Hoch über dem, den Ihr zum Gott gemacht, steht der Erbarmer gegen den Verderber. Ich sage Dir, o Scheik: Du bleibst daheim; kein Tropfen Blut wird fließen!< Da springt der Scheik von seinem Sitze auf und donnert ihm zu: >Und ich, ich sage Dir, dem Feigling und Verführer meiner Krieger: So wenig, wie der Fluß, der Dich ersäufen soll, vor unserer Brücke umkehrt, Dich zu schonen, so wenig kehrt die Klinge, die ich zum Krieg gezogen habe, in ihre Scheide zurück! Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt!< Da hebt der Herr die Hand zum zweiten Male und spricht: >So sei es, wie Du sagst. Das Urteil ist gesprochen; es werde ausgeführt! Wenn Gott nicht mehr durch Worte belehren kann, so predigt er durch Taten. Der Strom floß Euch zu Friedenszwecken zu, nicht aber, um das Leben zu zerstören. Er werde Euch genommen! Nicht eine Pfütze bleibe Euch, die genug Wasser hat, auch nur einen einzigen Menschen zu ertränken! Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren! Denn alles, was da lebte, würde sterben!< - - - Ein Hohngelächter folgt diesen Worten. Man führt ihn hinaus zur Brücke, der Scheik auf hohem Roß voran. Der gibt, als die tiefste Stelle erreicht ist, den Befehl, den Gefangenen zu ergreifen und hinabzuwerfen. Da hebt dieser zum dritten Male die Hand, doch ohne ein Wort zu sagen. Sofort verfinstert sich der Himmel. Blitze zucken; drohende Donner rollen. Von der Brücke abwärts fließt das Wasser weiter; von ihr aufwärts aber bleibt es stehen. Es bäumt sich auf, wächst höher und höher und bildet eine Mauer, die zum Himmel zu streben scheint. Brüllend vor Angst und Entsetzen eilen die Menschen an die Ufer zurück. Nur einer bleibt, der Gefangene. Leuchtenden Angesichtes steht er auf der Brücke, die von den steigenden Wogen von der Erde gelöst und hoch emporgetragen wird, bis sie verschwindet. Dann sinkt das Wasser zusammen und beginnt, wieder abzufließen, doch nicht abwärts, wie bisher, sondern aufwärts, nach oben, woher es gekommen ist. Der Himmel wird wieder hell. Das Bett des Flusses aber liegt leer, und die entsetzte Menschheit flieht aus der Stadt, deren Trümmer heutigen Tages wasserlos in die Steppe starren, durch welche sich der dürre, ausgetrocknete Lauf in zahllosen Windungen vor Durst und Hunger krümmt, bis er in den Wäldern der Ussul verschwindet.«
Als Halef bis hierher erzählt hatte, machte er eine Pause, um eine innere Betrachtung anzustellen, die er mir dann mitteilte, indem er fortfuhr:
»Ist es nicht rührend, wie lieb die Ussul sich ihren Gott denken, Sihdi?«
»Ist er es etwa nicht?« fragte ich.
»Na, höre, was unsern Herrn Allah betrifft, so kommt er mir schon längst nicht mehr so freundlich vor wie früher. Es muß sich einer von uns beiden geändert haben, er oder ich. Der Gott der Christen ist nicht bloß Herr und Gebieter, wie Allah, sondern zugleich auch Vater und Patriarch, und zwar ein außerordentlich gerechter und guter. Das gefällt mir sehr von ihm. Das habe ich früher gar nicht gewußt, sondern erst durch Dich erfahren. Und betrachte ich mir die Sage, die ich soeben erzählt habe, so erscheint mir der Gott der Ussul dem Gott der Christen viel, viel ähnlicher als unserm Allah. Nur fehlt ihnen die Lehre von Gottes Sohn, dem Erlöser. Doch glaube ich, daß nur ein wirklicher, ein wahrer, ein guter Christ hierher zu kommen und ihn zu verkünden brauche, so würde er sehr bald und sehr viele gläubige Schüler finden. Übrigens weiß ich von Dir, daß eine jede Sage eine Wahrheit enthält, die man in der Tiefe suchen muß. So ist es wohl auch mit dieser Sage von dem verschwundenen Flusse, der plötzlich umgekehrt und aufwärts gelaufen ist, um nach seiner Quelle zurückzukehren?«
»Jedenfalls.«
»Und die Wahrheit, die sich in dieser Sage verbirgt?«
»Ist wahrscheinlich eine zweifache, eine äußerliche und eine innerliche, eine geographische und eine sozialphilosophische.«
|60B »Das verstehe ich nicht. Du kannst mir nicht zumuten, aus dem Unterbewußtsein in das Oberbewußtsein zu steigen, während ich doch jetzt, um einzuschlafen, aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein zu fallen habe. Das wäre grad der umgekehrte Weg. Also, sprich deutlicher!«
»Der äußere oder geographische Kern der Sage ist, daß es hier wirklich einen Fluß, und zwar einen bedeutenden, gegeben hat. Der ist verschwunden. Jedenfalls infolge eines Naturereignisses, welches man sich nicht erklären konnte, so daß man zur Sage griff, um es sich verständlich zu machen.«
»Aber so große Flüsse können doch nicht verschwinden, wenigstens nicht so schnell!«
»Allerdings nicht. Aber sie können ihr altes Bett verlassen, ihren bisherigen Weg verändern, sogar infolge von Entwaldungen der Berge sich nach und nach zurückziehen. Wie es sich hier in diesem Falle verhält, werden wir erfahren, wenn wir erst längere Zeit im Lande gewesen sind.«
»Und die andere Wahrheit der Sage, die innere?«
»Die bezieht sich darauf, daß die Entwicklung des Menschengeschlechts nicht nach kriegerischen, sondern nach friedlichen, versöhnlichen Wegen zu suchen hat. Der Name der Quelle und des Flusses war Ssul, das ist Friede. Diese Quelle liegt im Paradiese. Der Friede ist Himmelsgabe. Wo er fließt, da segnet er nicht nur das, was bereits besteht, sondern auch das, was er bringt und schafft. Er setzt neue Länder an, sichtbare und unsichtbare, im Handel und Gewerbe, in der Kunst und in der Wissenschaft. Und das alles geht wieder zurück, wenn der Strom des Friedens vertrocknet, und die Rüstungen alles, was er schaffte, wieder verschlingen. Oder wenn der Krieg mit einem einzigen rohen Streiche die Gaben vom Tische wirft, die der Friede dort bescherte. Dann weicht dieser letztere bis dahin zurück, woher er kam, bis ins Paradies, oder wenigstens bis Dschinnistan, wenn nicht für immer, so doch für lange, lange Zeit. Und kehrt er endlich wieder, so geschieht das nur langsam, furchtsam, zögernd; er läßt sich nicht zwingen. Darum ist es sehr richtig, was die Sage Gott in den Mund legt, indem er warnend sagt: >Und wehe Euch, wenn Ihr ihn durch die Waffe zwingt, zu Euch zurückzukehren; denn alles, was da lebte, würde sterben!< Der Völkerfriede, den wir anstreben, kann sich nur nach und nach entwickeln. Umfaßt er mit seinen Wurzeln die ganze Erde, ein Saug- und Faserwurzelchen in jedes Menschenherz, so wächst er hoch über Irdisches empor und trägt als Früchte die ewigen Sterne in seiner Krone. Ein Welt- und Völkerfriede aber, der nicht im Herzen der Menschheit wurzelt, sondern mit Gewalt und plötzlich herbeigezwungen werden soll, der würde zerstören und vernichten, nicht aber erzeugen und beleben. Und hier gibt es in der Sage vom zurückgekehrten Flusse einen Punkt, den ich nicht sehe, oder ein Geheimnis, welches ich nicht begreife. Fast will es klingen, als ob es möglich sei, ihn mit den Waffen in der Hand zu zwingen, ganz plötzlich und unvorbereitet zurückzukehren, also eine noch gräßlichere Katastrophe, wie sein Verschwinden eine war. Eine Sage, die sich so fest gebildet und gestaltet hat wie diese hier, erzählt nie etwas Unnützes. Sie hängt wie eine schwarze Drohung für Ardistan hoch über Dschinnistan, und wenn in dieser von der schauenden Volksseele gedichteten Erzählung kein Geringerer als Gott vor der Entladung dieser Wolke warnt, so ist die Gefahr nicht nur in der Dichtung, sondern auch in der Wirklichkeit vorhanden.«
»Meinst Du? Du glaubst also an Sagen?«
»An ihren eigentlichen Inhalt, ja.«
»Ich auch. Es freut mich, daß wir auch in dieser Beziehung zusammenstimmen. Nun aber lege ich mich wieder nieder. Allah gibt den Schlaf nicht, daß man ihn bewachen soll. Gute Nacht, Effendi!«
»Gute Nacht, Halef!«
Schon nach einigen Minuten war er eingeschlafen, ich aber nicht. Nach so wichtigen Tagen, wie der heutige gewesen war, ist man innerlich verpflichtet, sich das Geschehene zurecht zu legen, um das, was kommen soll, darauf zu bauen. Das war bei mir allerdings bereits geschehen. Aber nun hatte die Sage dazu zu kommen, die für mich mehr, weit mehr, als nur eine kurze, hübsche, aber nichtssagende Erzählung war. Aus solchen Dingen spricht nicht nur die Volks- sondern auch die Menschheitsseele, |61A deren Schritte man nur im stillen Denken und Fühlen sich nahen hört. So lag ich still und sann und sann. Über mir breiteten sich die dunkeln Wipfel der Bäume, die keinen Blick des Sternenhimmels hindurchließen. Aber wenn ich mich auf die Seite wendete, wo unweit von meiner Lagerstätte die freie Lichtung begann, da konnte ich zwischen den Stämmen hindurch zwei Sterne erkennen, die tief am Himmel standen und meine Augen auf sich zogen, weil sie die einzigen waren, die ich sah. Es war der Deneb und die Mira vom Bilde des Walfisches. Die letztere ist interessant, weil ihre Helligkeit innerhalb nicht ganz eines Jahres von zweiter bis zu zehnter Größe schwankt. Heut war sie ganz beträchtlich. Die Mira steht bekanntlich am Hals und der Deneb am Schwanz des Sternbildes, also voneinander entfernt. Indem mein Auge an ihnen hängen blieb, schien sich von mir zu ihnen ein lichtglänzender Weg zu ziehen, der so breit war, wie sie scheinbar auseinander standen. Auf diesem Wege schienen die Gedanken, die mich beschäftigten, zu kommen und zu gehen. Solche Eindrücke gibt es nur während jener ungestörten, sich selbst gehörenden Stunden, in denen die Seele den Körper ganz und restlos beherrscht. Infolge der Sage befand sich die Seele jetzt unterwegs nach Dschinnistan und dem Paradiese. Vor dem körperlichen Auge lagen die beiden Sterne. Die Seele bemächtigte sich ihrer. Dort, von woher die beiden leuchtenden Welten strahlten, sah meine Phantasie das Tor, aus dem der Erzengel trat, und die Mauern, auf denen seine Scharen erschienen, um nach dem Frieden auszuschauen. Ich sah dann auch Gott selber kommen. Ich sah ihn in Dschinnistan erscheinen und den Herrscher dieses Landes ihm zu Füßen anbetend niedersinken. Und ich sah ihn dann nach Ardistan wandern. Ich sah ihn in der Hauptstadt auf der Brücke. ich sah das Wasser wie eine Mauer steigen und nach seiner Quelle zurückkehren, als der Herr verschwunden war. Ich sah die Stadt verdorren und verfallen. Ich stand dann auf ihren Trümmern. Ich suchte und forschte in ihren Ruinen, denn ich wollte den Palast des Königs finden, in dem man Gott gerichtet und zum Tode verurteilt hatte. Ich entdeckte den Weg. Er führte hügelaufwärts, durch ein riesig hohes und breites steinernes Tor hindurch, dessen Pfeiler eine alte, babylonische Sonnenuhr trugen. Nur eine kurze Strecke weiter stand der gesuchte Palast, von Mauern rings umgeben. Das Tor war geschlossen. Ich klopfte an. Der Pförtner erschien. Ich bat ihn, zu öffnen und mich einzulassen. Da schüttelte er den Kopf und antwortete: »Heut noch nicht, aber wahrscheinlich später.« »Warum nicht jetzt?« erkundigte ich mich. »Weil Du jetzt schläfst,« belehrte er mich. »Wir brauchen hier nur wachende Geister und Seelen!« Hierauf nahm er plötzlich die Gestalt, die Kleidung und das Gesicht meines kleinen Hadschi an, ergriff meinen Arm, schüttelte mich und rief: »Wach auf, wach auf, Sihdi! Wir sind schon alle munter. Man bereitet soeben das Essen. Ist dieses vorüber, dann brechen wir auf von hier!«
Ich sprang auf. Ich hatte geschlafen, und zwar tief, sehr tief. Alles, was ich gesehen hatte, war Traum, aber ein so eigenartiger und vertrauenerweckender Traum, daß ich das sofortige Bedürfnis fühlte, mir nichts, gar nichts davon wegnehmen zu lassen, sondern mir alles genau zu merken. Ich hütete mich also, zu sprechen, und ging, ohne ein Wort zu sagen, ein Stück in den Wald hinein, um das, was mir in dieser Nacht gezeigt worden war, in mir zu befestigen. Solange wir unsere gerühmte Psychologie nur theoretisch treiben, sind wir keine Psychologen. Praktisch sein, in das reale Leben greifen, unsere Seele und unsern Geist an uns selbst studieren, sie keinen Augenblick aus den Augen lassen! Alles, was wir fühlen, denken, wollen und tun, auf sie beziehen! Wer das nicht tut, der nenne sich ja nicht Psycholog! Was mich betrifft, so lasse ich keinen meiner Träume ohne den Versuch, ihn festzuhalten, vorüberziehen. Ich komme im späteren Verlaufe der Ereignisse auf diesen Punkt zurück.
Ich hatte länger als alle anderen geschlafen, und Syrr, dessen Hals, wie erwähnt, mein Kopfkissen bildete, hatte ebensolang, um mich nicht aufzuwecken, ganz ohne Bewegung gelegen. Dafür hatte ihm Halef das saftigste Gras und die besten Stauden geschnitten, die es hier gab, und legte sie ihm nun jetzt als Frühstück vor. Den Scheik sah ich nicht. Er war hinüber nach |61B der Insel, um die drei Gefangenen selbst zu holen. Sie machten, als er sie brachte, nicht etwa einen niedergeschlagenen Eindruck, sondern ihr Auftreten und Verhalten ließ deutlich den Wunsch nach Rache erkennen. Sie wurden reichlich gespeist und dann genau so wie gestern auf ihre Pferde gebunden. Hierauf wurde der Heimritt nach der >Hauptstadt< angetreten.
Wir hatten uns nicht mit Packpferden zu befassen, denn der Ertrag der Jagd war schon vorgestern nach demselben Ziele abgegangen. Wir ritten mit dem Scheik, seiner Frau und dem Sahahr voran; die anderen folgten weit hinterher. Die Entfernung bis zur Stadt war so bedeutend, daß wir uns sehr sputen mußten, um noch vor Abend anzukommen.
Die Gegend, durch welche wir kamen, war durchaus eben, lauter auf- und angeschwemmtes Land. Häufig trafen wir auf natürliche Kanäle, die ganz das Aussehen von plötzlich erstarrten Flüssen hatten; das Wasser bewegte sich nicht, sondern es stand. Es schien aber dennoch rein zu sein, denn die Pferde tranken es, ohne sich zu weigern. Wir kamen durch ausgedehnte Wälder, meist Laubwaldungen. Dazwischen lagen grüngoldene Triften für gezogene, freigewordene oder freigeborene Rinder- und andere Herden. Das Ganze machte den Eindruck einer jungfräulichen Natur, die mit den Menschen noch nicht in Berührung getreten ist.
Alle die kleinen, schmalen Kanäle mündeten in einen außerordentlich breiten, tiefen und mit Wasser gefüllten Kanal, der einiges Gefälle zu besitzen schien, denn das Blattwerk und anderes, was auf ihm schwamm, bewegte sich, zwar langsam, aber doch in einer bestimmten Richtung.
»Das ist Es Ssul, der Fluß,« sagte der Sahahr, indem er auf das Wasser deutete.
»Der aus Dschinnistan und Ardistan kommt?« fragte ich, nicht etwa, weil ich zweifelte, sondern um auf diesen Gegenstand einzugehen.
»Ja, derselbe,« nickte er.
»Der also auch durch den Engpaß Chatar geht?«
»Ja. Man kann ihn bis hinauf verfolgen.«
»Aber dort hat er kein Wasser mehr?«
»Nein, keinen Tropfen.«
»Ich vermute, daß Eure Hauptstadt an ihm liegt?«
»Du vermutest richtig. Unser Land hat keine Berge, keine Felsen, keine Steine. Wir können keine Mauern bauen, um uns zu schützen. Nur unser Gottestempel und der Palast des Scheiks sind von Stein. Das Material hierzu wurde vor langer, langer Zeit aus Ardistan geholt. Damals bekam nämlich jeder Ussul, der dorthin reisen wollte, nur dann die Erlaubnis dazu, wenn er sich verpflichtete, einen so großen Stein mitzubringen, als ein Pferd ihn tragen konnte. Auf diese Weise sind wir zu dem Mauerwerk für die beiden Gebäude gekommen. Du wirst hierüber lachen?«
»O nein. Dieses Verfahren ist mir bekannt.«
»So tut man dasselbe auch bei Euch?«
»Ja; jedoch auf anderem Gebiete. Jede Wissenschaft und jede Kunst holt da ihr Fundament und ihre hervorragenden Bauten aus dem nächst höheren Gebiete. Ganz dasselbe ist es auch mit jedem einzelnen Geisteswerk. Es ist ein Weltgesetz, daß allüberall der Ussul das, was er nicht besitzt, obgleich er es braucht, aus Ardistan oder gar aus Dschinnistan zu holen hat. Aber Du wolltest von der Lage Eurer Residenz sprechen! Wie heißt die Stadt?«
»Ihr Name ist Ussulia. Sie ist sehr groß. Weil wir sie nicht durch Mauern decken konnten, so mußten wir sie durch das Wasser schützen. Darum wurde sie an den Strom gebaut, und darum wurde viele Jahre lang das Erdreich ausgehoben, um ihn zu zwingen, nicht nur mitten durch die Stadt, sondern auch um sie herum zu gehen. Außerdem rahmt sich jeder Besitzer das Land, das ihm gehört, durch tiefe Gräben ein. So ist fast jedes Haus eine Festung zu nennen, welche die Tschoban, wenn sie kommen, erst einzunehmen haben, ehe sie sagen können, daß sie sie besitzen. Außerdem liegt im Osten und Westen der eigentlichen Stadt je ein großer See, die beide mit in ihren Bereich gezogen sind. Da gibt es viele, viele Wohnungen, teils an das Ufer, teils in das Wasser gebaut. Die Bewohner verkehren nur schwimmend oder in Kähnen miteinander, und wenn |62A letztere versteckt oder ganz fortgeschafft worden sind, so würde der Besitz der Stadt für die Tschoban doch unnütz sein, weil sie nicht schwimmen können. Du hast ja gehört, daß sie meinen, wenn sie schwimmen sollten, so hätte Allah ihnen Flossen und Schwimmhäute gegeben!«
Nach dieser Beschreibung mußte ich mir die Ussul als Pfahlbauern denken, und es stellte sich später allerdings heraus, daß sie es wirklich waren. Es war bei ihnen alles für den Aufenthalt am oder im Wasser eingerichtet, auch ihre Gestalt, ihre Stark- und Fettleibigkeit, ihre ganze Lebensweise. So ging es auch ihren Pferden. Zwar soll man den Menschen nicht mit dem Tiere vergleichen, aber alle diese guten, unbeholfenen Menschen schienen mir sowohl innerlich wie auch äußerlich mehr oder weniger mit Smihk, dem Dicken, verwandt zu sein.
Der Ritt verlief während des ganzen Tages für mich und Halef im höchsten Grade interesselos. Es geschah nichts, was uns beschäftigen konnte. Jeder Abweg aus der Richtung, auch der kleinste, wurde vermieden und jeder Erregung wich man aus. Ich sah, wie die Ussul vor allen Dingen ihre Bequemlichkeit liebten. Solche Menschen und solche Völker pflegen aber dann, wenn sie einmal aus ihr aufgerüttelt worden sind, viel schwerer wieder zur Ruhe zurückzukehren.
Nur einmal gab es eine Art von Szene, aber auch nicht äußerlich, sondern nur innerlich. Das war, als man sich bemühte, mir eine Beschreibung der Stadt zu geben. Man schilderte den Tempel, den Palast, die Straßen und Gassen, die freien Plätze und die wichtigsten Gebäude. Unter diesen letzteren wurde auch das Syndan genannt und mir beschrieben. Gegenwärtig war der gefährlichste unter den Gefangenen ein Wahnsinniger, der zugleich auch räudig war und der Ansteckungsgefahr wegen von allen Menschen abgesondert gehalten werden mußte. Der Wahnsinn fordert auf alle Fälle unser ganzes Mitgefühl heraus, und von einer derartigen Räude, die kein Aussatz war, hatte ich noch nie etwas gehört. Daher erkundigte ich mich nach diesem Gefangenen mit viel größerem Interesse, als ich den übrigen Gegenständen der Unterhaltung gewidmet hatte.
»Gibt es bei Euch einen Arzt, der es versteht, derartige Krankheiten richtig zu behandeln?« fragte ich, indem ich mich unbefangener stellte als ich war.
»Natürlich gibt es ihn!« antwortete der Sahahr in selbstbewußtem Tone.
»Den muß ich kennen lernen!« sagte ich.
»Du kennst ihn schon!« versicherte er.
»Wieso?«
»Ich selber bin's!«
»Glaubst Du, ihm helfen zu können?«
»Nein. Diesem Dschirbani kann nicht geholfen werden. Er wird an der Räude sterben. Und auch sein Wahnsinn ist unheilbar. Sein Wahnsinn wächst, und die Räude frißt ihn auf. Er hat schon fast sein ganzes Haar verloren. Man hat weiter nichts zu tun, als ihn streng abzusondern, damit seine Krankheit nicht auf andere übergeht.«
»In welcher Weise äußert sich sein geistiges Leiden?«
»Darin, daß er alles anders macht, als wir.«
»Hm!« brummte ich, und Halef lächelte. Da konnte man wohl sehr Vieles anders machen, ohne grad irr im Kopf zu sein!
»Auch denkt er ganz anders als wir,« fuhr der Sahahr fort. »Er sagt es zwar nicht, aber man sieht es ihm an, daß er sich einbildet, klüger zu sein, als andere Leute. In der Religion, in der Geographie, in der Weltgeschichte, in der Kunst, ein Land und den darin wohnenden Menschenstamm zu regieren, hat er seine eigenen Ansichten. Er spricht nicht davon, aber er lehrt sie, indem er sie befolgt, indem er nach ihnen lebt und handelt. Das ist das Gefährlichste, das Allergefährlichste, was es gibt! Darum sperren wir ihn ein! Denn wer ihn sieht und ihn beobachtet, der läßt sich von ihm täuschen, gewinnt ihn lieb und handelt so wie er. Und das ist die schlimmste Art des Wahnsinns, weil er ansteckend wirkt!«
»Weißt Du, woher er solche Gedanken nimmt? Hatte er einen Lehrer?«
|62B Bei dieser Frage wurde er verlegen.
»Einen Lehrer eigentlich nicht,« antwortete er. »Weißt Du, was ein Hamaïl ist?«
»Ja. Das ist ein Kuran, der aus Mekka stammt und den man als Andenken an die Pilgerfahrt nach dieser heiligen Stadt an einer Schnur um den Hals trägt.« Daß ich selbst einen hatte, sagte ich ihm nicht.
»Das ist richtig,« fuhr er fort. »Ein solches Hamaïl hat der Dschirbani. Aber dieses Buch an seinem Halse ist kein Kuran. Ich habe ihn einmal gebeten, hineinschauen zu dürfen, und er erlaubte es mir. Da stand die Überschrift:
>Werde Mensch; du bist noch keiner!<
Ist das nicht wahnsinnig? Ist das nicht verrückt? Und als ich ihn fragte, in wiefern wir noch keinen Menschen seien, wollte er mir weißmachen, daß in jedem Menschen gleich von Geburt an ein Tier stecke, welches man entweder totschlagen oder verhungern lassen müsse, wobei der von ihm befreite, gut, edle Mensch dann übrig bleibe. Wenn das kein Wahnsinn ist, so gibt es überhaupt keinen!«
»Könnte es nicht doch etwas anderes sein?« fragte Halef.
»Nein! Unmöglich! Ein Tier im Menschen! Bedenke doch! Ich will es Dir an einem Beispiele erläutern: Du bist Hadschi Halef Omar, der berühmte Scheik der Haddedihn, und man sagt von Dir, daß Du einen Vogel, einen Hund, einen Affen in Deinem Innern habest. Wie würdest Du Dich dazu verhalten?«
»Sehr ruhig. Es würde mir ganz und gar nicht einfallen, es in Abrede zustellen, denn unmöglich ist es nicht. Ich sehe vielmehr, daß noch ganz andere, viel größere Wunder geschehen.«
»Welche?«
»Das nächstliegende ist, daß Smihk, der Dicke, in Deinem Kopfe herumzurennen scheint. Wenn er nicht bald verhungert oder totgeschlagen wird, wird man Dich nie zu den Menschen rechnen können! Das ist es doch, was der Dschirbani meint?«
Der Sahahr schaute den Hadschi mißtrauisch von der Seite her an. Er wußte nicht, ob er die Worte des Kleinen als scherzhaft, als ernst oder gar als beleidigend betrachten solle. Darum gab er lieber keine Antwort und fuhr in seinem vorigen Thema fort:
»Der Dschirbani ist also körperlich und geistig ansteckend. Das ist aber nicht alles. Es kommt noch hinzu, daß er so schwer festzuhalten ist. Er hat schon alle Arten des Gefängnisses durchgemacht, doch gelang es ihm stets,, zu entkommen. Darum haben wir ihn nun endlich an den Ort gebracht, von wo aus eine Flucht völlig ausgeschlossen ist. Er steckt im Stachelzwinger und wird von Bärenhunden bewacht, die bei jedem Fluchtversuche ihn oder den, der ihn befreien wollte, sofort in Stücke reißen würden.«
Bei diesen Worten schauderte mich. Es wollte eine Ahnung in mir aufsteigen, daß es mit diesem angeblichen Wahnsinnigen eine ganz eigene und besondere Bewandtnis habe und daß es infolge meines Naturells und Temperaments ganz und gar nicht ausgeschlossen sei, ihm einen Dienst und Hilfe zu erweisen. Darum erkundigte ich mich nach ihm und fragte:
»Wie alt ist er?«
»Nicht viel über zwanzig Jahre.«
»Noch so jung und schon so unglücklich? Wie traurig! Von wem hat er das Buch, von dem Du sprachst?«
»Von seinem Vater.«
»Wer war sein Vater? Natürlich ein Ussul?«
»O nein. Er war ein Fremder; aber seine - - - seine - - - seine - - - Mutter war eine Ussul!«
Er sagte das stockend. Es schien ihm nicht über die Lippen zu wollen. Schließlich drückte er es förmlich heraus. Sein bärtiges Gesicht nahm einen mehr tierischen als menschlichen Ausdruck an; seine Zähne knirschten, und er fuhr fort:
»Warum soll ich es Euch nicht sagen! Ihr werdet es doch erfahren und hören! Sie war - - war - - - war meine Tochter!«
»So ist er Dein Enkel?« entfuhr es mir in der Überraschung.
»Ja.«
|63A »Und Du sperrst ihn ein?«
»Ja, ich sperre ihn ein!« antwortete er in unendlich gehäßigem Tone.
»Zu den Hunden! Die ihn zerreißen, wenn er zu fliehen wagt!«
Da flammten seine zorneslodernden Augen zu mir herüber, und er rief, als ob man es in weite Ferne hören solle:
»Sie mögen ihn zerreißen - - zerreißen! So wie der Zorn, der Grimm und der Kummer mich zerrissen haben, als ich vergeblich mit seinem Vater rang, mein Kind vor ihm und seinem Wahn zu retten! Ich habe nichts mit diesem Räudigen gemein. Er war der Sohn meiner Tochter, also Fleisch von meinem Fleische und Blut von meinem Blute. Aber dieses Fleisch und Blut ist gestorben; es lebt nicht mehr. Er ist mir also fremd, ja fremder noch als jeder Mensch, den ich nie gesehen habe. Die Hunde mögen ihn zerreißen - - zerreißen - - - zerreißen!«
Er gab seinem Pferde einen Hieb, daß es vor Schreck zusammenzuckte und dann vorwärts stürzte. Er versuchte gar nicht, es zu zügeln; er kam uns weit voraus. Wir schauten ihm nach. Der Scheik sagte:
»Nun ist er wieder ganz in Wut getaucht. Doch hat er recht. Es gilt die Erhaltung des Stammes und die Bewahrung der Religion vor wahnsinnig falschen Gedanken. Wenn die Räude des Dschirbani sich über andere verbreitet, bekommen die Ussul sehr bald so glatte Gesichter wie die unbehaarten Völker, die keine Männer, sondern lauter Weiber sind. Und wenn die Religion verpflichtet werden soll, zu lehren, daß wir Tiere im Leibe haben, so wird die Erde sehr bald zu einem einzigen großen Irrenhaus geworden sein!«
Er dachte nicht daran, daß Halef und ich uns beleidigt fühlen konnten, weil wir doch auch zu den >unbehaarten Völkern< |63B gehörten, >die keine Männer sind<. Seine Frau fühlte das heraus. Darum versuchte sie, die Sache abzumildern, indem sie einwand:
»Du darfst nicht verlangen, daß alle Menschen grad uns für am schönsten halten. Es ist doch ganz natürlich, daß Leute, die den Schmuck des Haares nicht besitzen, nach und nach zu der Überzeugung gekommen sind, daß man nackte Gesichter vorzuziehen habe. Du weißt doch, daß es sogar Menschen gibt, die ihren Haarschmuck künstlich entfernen, indem sie sich scheren!«
»Die sind eben wahnsinnig! Vollständig verrückt und übergeschnappt!« beteuerte er im Tone größter, unerschütterlichster Überzeugung. »Hier bei uns hat das zu gelten, was wir für schön halten. Was andere denken, geht uns nichts an. Und da sind wir, die wir das Volk regieren und über sein Glück und Wohl zu wachen haben, verpflichtet, dafür zu sorgen, daß die Räude, um die es sich hier handelt, nicht weiter verbreitet werde. Von der Verwüstung, die so ein Mensch, wie der Dschirbani ist, in der Religion anrichten kann, will ich gar nicht sprechen, weil dies Sache des Sahahr ist, der die Verpflichtung übernommen hat, alles, was mit dem Gottesdienst zusammenhängt, vor Beschmutzung und Verfälschung zu schützen.«
»Aber es ist sein Enkel, gegen den er wütet! Das Kind seines eigenen Kindes!« klagte sie, von Mitleid bewegt.
»Um so höher ist es ihm anzurechnen!« versuchte er sie zu widerlegen. »Einen besseren Beweis von Gerechtigkeit und Unparteilichkeit kann es gar nicht geben!«
Er wandte sich zu mir und fuhr fort, auf sie deutend:
»Wir sind immer einig, sie und ich, in allen Stücken, nur in diesem einen nicht. Ich behaupte mit dem Sahahr, daß der Dschirbani unschädlich zu machen sei, sie aber nimmt ihn stets in Schutz. Man hat sie sogar im Verdacht, daß ihm die Flucht nicht so oft gelungen wäre, wenn sie ihn nicht dabei unterstützt hätte.«
|64A Da machte Taldscha eine ihrer gebieterischen, zum Schweigen auffordernden Armbewegungen und sprach:
»Seine Mutter war meine Freundin von ihrer frühesten Jugend an und ist es geblieben, bis sie starb. Sie war jünger als ich, und ich betrachtete sie ebenso als Schützling wie als Freundin. Ich hatte sie lieb, sehr lieb, und nahm mich ihrer an, als sie verstoßen wurde. Sie starb vor Sehnsucht und vor Herzeleid, und nun sie tot ist, lenke ich meine Liebe auf den über, den sie uns hinterlassen hat. Interessierst Du Dich für solche Dinge, Effendi?«
»Sogar sehr!« antwortete ich. »Fast möchte ich Dich bitten, mir noch mehr von diesem Dschirbani zu erzählen.«
»Es gibt keine lange Erzählung, mit der ich Dich da ermüden könnte. Die Sache ist sehr kurz und sehr einfach. Es kam ein fremder Mann in unser Land, der aus Dschinnistan stammte und gar nicht die Absicht hatte, bei uns zu bleiben. Der sah meine Freundin und gewann sie lieb, sie ihn ebenso. Ihretwegen beschloß er, bei uns zu bleiben. Um Ussul werden zu können, mußte er, wie Du weißt, mit einem Ussul kämpfen und ihn besiegen. Das geschah, und zwar sehr leicht, denn der Dschinnistani war zwar unbehaart und von kleinerer Körpergestalt als wir, aber so stark, gewandt und geschickt, daß ihm die rohe Kraft seines Gegners nicht widerstehen konnte. Sobald er Ussul geworden war, begehrte er meine Freundin von ihrem Vater zur Frau. Dieser verweigerte sie ihm, und zwar aus körperlichen und geistigen Gründen. Der Sahahr schien ihm an sich schon nicht geneigt zu sein. Sodann behauptete er, als Sahahr der Ussul verpflichtet zu sein, einer körperlichen Entartung des Stammes in jedem, also auch in diesem Falle entgegenzutreten. Und schließlich war er mit den Menschheitszielen, von denen der Dschinnistani nicht nur sprach, sondern förmlich schwärmte, nicht einverstanden. Der Letztere versicherte, daß die Menschheit nur durch Friedfertigkeit und Versöhnlichkeit, durch Liebe und Güte, vorwärts kommen könne. Der Sahahr aber haßte das; er haßt es auch noch heut. Er bezeichnet es als Feigheit, als Dummheit, als Verweichlichung, und ist der Ansicht, daß die Ussul an dieser Menschheitsliebe, falls sie bei uns überhand nähme, unbedingt zugrunde gehen würden. Er fiel, so oft er konnte, über den Dschinnistani her; er hielt ihn nicht nur für allgemein schädlich, sondern auch für seinen persönlichen Feind, der ihm die Tochter rauben und verführen wolle. Er erklärte, daß er lieber sterben als sein Kind einem Manne aus Dschinnistan zum Weibe geben werde. Darum kam die Sache vor den großen Rat der Stammesältesten, und dieser entschied genau so, wie er nach den Gesetzen der Ussul zu entscheiden hatte: der Sahahr und der Dschinnistani hatten miteinander zu kämpfen; dem Sieger fiel die Tochter des Ersteren zu. Dieser war so ergrimmt und seines Sieges so gewiß, daß er die Bedingungen bis auf Leben und Tod verschärfen ließ. Aber es kam ganz anders, als er dachte, und er unterlag; der Dschinnistani aber schonte ihn und schenkte ihm das Leben. Die Ehe ist eine außerordentlich glückliche gewesen, obgleich sie dadurch getrübt wurde, daß der Sahahr seine Tochter für immer verstieß und seinen Schwiegersohn unausgesetzt und bis zur Unversöhnlichkeit verfolgte. Es wurde ein Sohn geboren, der sich äußerlich zum behaarten Ussul, innerlich aber zum Dschinnistani entwickelte und in jeder Beziehung der Stolz und die Freude seiner Eltern war. Seine Mutter gab ihm den riesenstarken Körper und die reine, liebenswerte Seele. Sein Vater aber schenkte ihm den Geist von Dschinnistan, wurde sein Lehrer und Führer, sein Vorbild und Ideal, dem der Sohn ähnlich zu werden strebte. Ich habe oft dabeigesessen, wenn dieser Geist aus diesem Manne zu seinem Weibe und zu seinem Kinde sprach. Was ich da hörte, ist tief in mich gedrungen und hat sich festgesetzt, um niemals mehr zu weichen. Darum gleiche ich nicht ganz den anderen Frauen der Ussul, und darum nehme ich mich dieses Dschirbani an, den ich weder für wahnsinnig noch für krank halte.«
»Wie?« fragte ich. »Du hältst ihn nicht für räudig? Wie kann ihn da der Sahahr dafür halten? Es müssen doch Hautflecke, Knötchen, Bläschen, Schuppen und Borken zu sehen sein!«
»Nein! Keine Spur davon!«
»Wirklich nicht?«
|64B »Gewiß nicht. Seine Haut ist so weiß und rein wie das Weiße meines Auges!«
»Aber da kann man doch unmöglich von Räude oder irgend einer anderen Hautkrankheit reden!«
»Das meine ich auch!« stimmte sie bei.
»Ich nicht!« widersprach er. »Es gibt einen Ausschlag, den man die unsichtbare Räude nennt. Die ist die allergefährlichste! Denn weil man sie nicht sieht, frißt sie sich ein, bis sie unheilbar geworden ist.«
»Davon habe ich noch nie gehört!« sagte ich.
»Es ist nur eine Erfindung, eine Ausrede des Sahahr!« erklärte sie. »Die Kunde von dieser unsichtbaren Krankheit stammt nur von ihm allein. Ich glaube nicht an sie!«
»Er ist der Sahahr, der oberste Zauberer und Arzt des ganzen Landes,« fuhr der Scheik fort, uns zu widersprechen. »Der weiß, was er sagt, und ich habe mich in allen Stücken nach seinem Urteile zu richten. Wenn es auch keine äußeren Zeichen und Merkmale dieser verheerenden Krankheit gibt, so ist es doch bewiesen, daß sie vorhanden ist. Der Kranke verliert das Haar, es fällt ihm aus. Wenn das so weitergeht, so wird es gar nicht lange dauern, daß er seinem Vater gleicht und ihn nur die Körpergröße als einen Ussul kennzeichnet!«
Da fiel Taldscha rasch ein:
»Grad hiermit beweist Du, daß keine Krankheit vorhanden ist! Daß seine riesige Gestalt und seine kindlich reine Seele von seiner Mutter stammen, bleibt unbestritten. Das wird er behalten, so lange er lebt. Das andere aber ist nur vorübergehend. Er wird sich in dieser Beziehung aus dem Ussul in den Dschinnistani verwandeln, der sein Vater gewesen ist. Es war die größte Sünde, die Ihr begehen konntet, ihn mit wirklichen Aussätzigen zusammenzusperren und - - -«
»Wie? Was?« warf ich dazwischen. »Mit wirklichen Aussätzigen? Ist das wahr?«
»Ja, allerdings!« gestand sie. »Wunderst Du Dich darüber, daß es hier bei uns den Aussatz gibt?«
»O nein, gewiß nicht. Es wäre vielmehr ein Wunder, wenn es ihn nicht gäbe. Aber hoffentlich sondert auch Ihr diese Kranken ab.«
»Natürlich, man weiß es gar nicht anders.«
»Und mit solchen Aussätzigen hat man den Dschirbani zusammengesperrt?«
»Immer und jahrelang!«
»Das klingt ja genau so, als ob man gewünscht hätte, daß er aussätzig werde!«
Diese Worte entfuhren mir gewissermaßen in der Eile. Kaum hatte ich sie ausgesprochen, so hielt die Frau des Scheiks ihr Pferd an, wendete sich mir voll zu, reichte mir die Hand und sagte:
»Ich danke Dir, Effendi, ich danke Dir! Du hast da ganz meinen Gedanken ausgesprochen, der mich bis jetzt gepeinigt hat. Er hat mich oft mit dem Scheik entzweit, der mir sonst alles zuliebe tut, aber grad dieses eine nicht zu können scheint, nämlich den Sahahr einer derartigen Rache für fähig zu halten. So oft es dem Dschirbani gelang, der entsetzlichen Gefangenschaft zu entfliehen, habe ich im stillen gejubelt; doch die Freude dauerte immer nur kurze Zeit, dann brachte man den Armen gebunden und gefesselt wieder, oder man fand ihn, zum Tode erschöpft, im tiefsten Walde liegen. Kein Ussul getraute sich, ihn bei sich aufzunehmen, und wenn der Unglückliche versuchte, sich in das Land der Tschoban hinüberzuretten, so galt er bei diesen erst recht für ansteckend krank und wurde von ihnen wieder über die Grenze herübergetrieben. Nun hat man ihn gar in den Stachelzwinger gesperrt und läßt ihn von den Blut- und Bärenhunden bewachen. Da gibt es kein Entrinnen, so lange er überhaupt lebt!«
»Oho!« rief da der kleine Hadschi aus.
»Was?« fragte sie ihn. »Wozu dieser Ruf?«
»Ich glaube nicht, daß es keine Hilfe gibt.«
»Wer sollte da helfen?«
»Mein Effendi! Es gibt weder einen Blut- noch einen Bärenhund, vor dem er sich fürchten würde. Wenn er den Dschirbani aus dem Stachelzwinger heraus haben will, so holt er ihn heraus; darauf kannst Du Dich verlassen!«
|65A »Wirklich?« fragte sie.
»Ja, wirklich!« nickte er. »Auch ist mein Sihdi doch nicht allein da, sondern ich stehe an seiner Seite und helfe ihm. Du willst mich zwar verachten, aber wenn es darauf ankommt, diesem armen Enkel eines rachsüchtigen Zauberers Hilfe zu bringen, so glaube ich, wohl imstande zu sein, mir Achtung zu verschaffen.«
Inzwischen war der Sahahr in seinem Zorne weit vorausgeritten. Als Taldscha jetzt ihr Pferd anhielt, um mir die Hand zu geben, hielt auch ich und Halef an; der Scheik aber ritt in dem bisherigen Schritte weiter. So befanden wir uns für diese kurze Zeit mit seiner Frau allein, und so kam es, daß wir mit ihr jetzt einige Worte wechseln konnten, die er nicht hörte.
|66A Taldscha warf zuerst einen forschenden Blick auf Halef, dann sagte sie in ihrer aufrichtigen, fast möchte ich sagen, hochherzigen Weise: »Es war falsch von mir, Dich verachten zu wollen. Ich will Euch nicht verhehlen, daß ich auch heute noch auf der Seite des Dschirbani stehe, doch hat der Sahahr in diesem Falle die größere Macht in den Händen, weil er so klug gewesen ist, diese Angelegenheit auf das religiöse Gebiet hinüberzuspielen, wo es nicht geraten ist, sich ihn zum Feinde zu machen. Wie dankbar würde ich Euch sein, wenn Ihr mir helfen könntet, mir und ihm!«
»Wir wollen!« versprach Halef. »Ich bin während Eurer ganzen Unterredung still gewesen; aber es ist mir kein Wort davon entgangen. Ich bin weder ein Arzt, noch ein Priester, noch ein Zauberer, aber Allah hat mir gewiß nicht weniger Verstand in den Kopf gelegt als Euerm Sahahr. Und dieser Verstand sagt mir, daß dem Dschirbani großes Unrecht geschehen ist und heute noch geschieht. Ich bin bereit, alles für ihn zu tun, was mir möglich ist, und wenn es so ist, wie ich mir es denke, so brauche ich gar keinen anderen Menschen dazu, sondern mache es ganz allein!«
Er sagte das in seinem überzeugungsvollsten Tone. Sie schaute ungläubig auf den kleinen Kerl hernieder und fragte:
»Du ganz allein! Gegen die Stachelwände? Gegen die Bärenhunde? Gegen den Willen des Scheiks? Gegen die Macht des Sahahr? Und gegen die vielen Menschen alle, die an ihn glauben und auf ihn schwören? Du, der Fremde, der heute erst zu uns gekommen ist und uns also noch gar nicht kennt! Ja, der sich eigentlich als unsern Gefangenen zu betrachten hat! Und Du sprichst davon, ehe Du unsere Stadt auch nur gesehen hast, einen Gefangenen von dort zu befreien!«
Da lachte Halef fröhlich und sagte:
»Wir Eure Gefangenen? Es ist gewiß nicht höflich, eine Frau Deines Ranges auszulachen, aber wenn Du diese Worte wiederholtest, würdest Du mich zwingen, diese Unhöflichkeit dennoch zu begehen. Ich habe es weder mit den Stacheln und Bluthunden noch mit dem Scheik und den Ussul, die an ihren Zauberer glauben, zu tun, sondern ganz allein nur mit diesem Zauberer selbst. Sage mir, Herrin der Ussul, ob der Sahahr den Tod verachtet?«
»Das tut er keineswegs; er liebt im Gegenteil das Leben sehr,« antwortete sie.
»Ah! Hast Du gesehen, was für einen Eindruck es auf ihn machte, als ich ihm sagte, daß ich mit keinem anderen kämpfen wolle, als nur mit ihm?«
»Ich habe es gesehen.«
»Es schien ihm gar nicht angenehm zu sein.«
»Gewiß nicht. Er ist überhaupt niemals ein Held im Kampf gewesen, und seit er trotz seiner überlegenen Körperstärke damals von dem Dschinnistani besiegt worden ist, hat sich |66B seine Vorsicht gesteigert. Er hat die Wirkung Eurer Waffen kennen gelernt, und es konnte ihm nicht entgehen, daß Ihr alles anders, besser und erfolgreicher als wir, in die Hand zu nehmen wißt. Ich zweifle gar nicht daran, daß er sich vor einem Kampfe mit Dir fürchtet.«
»Und dieser Kampf ist unvermeidlich?«
»Eigentlich, ja. Aber es wurde schon davon gesprochen, ihn Euch zu erlassen, da Ihr ja genügsam bewiesen habt, daß Ihr würdig seid, Freunde und Verbündete der Ussul zu sein.«
»Wie gütig! Wie freundlich!« scherzte Halef. »Aber die Sache liegt für uns ganz anders, als für Euch. Wir beanspruchen dieselben Rechte wie Ihr. Das heißt, daß der Sahahr zu beweisen hat, daß er würdig ist, unser Freund und Verbündeter zu sein. Wenn er so furchtsam ist, uns den Kampf schenken zu wollen, so sind dagegen wir mutig genug, ihn zu bestehen!«
»Welch ein Gedanke!« wunderte sie sich. »Aber Du hast ganz recht.«
»Und höre mich weiter! Es ist Allahs Gebot, daß der Mensch in genau derselben Weise bestraft wird, in der er gesündigt hat. Als der Sahahr damals mit dem Dschinnistani kämpfte, wagte er es, den Kampf bis auf Leben und Tod zu treiben. Er wußte, daß seine Körperkräfte größer waren, als die des anderen, und war so töricht, die Kräfte der Seele und des Geistes nicht in Berechnung zu ziehen. Darum wurde er besiegt. Das war die einfache Folge, aber noch nicht Strafe. Diese eigentliche Strafe kommt erst jetzt, wo er einen ganz ähnlichen Kampf bestehen soll. Ich verlange nämlich genau so wie damals er, daß es um Tod oder Leben gehe. Was daraus folgt, kannst Du Dir denken!«
»Was?« fragte sie, in hohem Grade gespannt.
Halef antwortete:
»Entweder bittet mich der Sahahr, von diesem Verlangen abzustehen, dann werde ich es nur unter der einen Bedingung tun, daß er dem Dschirbani die Freiheit gibt. Oder er schämt sich, so feig zu sein, und geht dann auf meine Forderung ein. Nun, so kommt es eben zu einer Entscheidung auf Leben und Tod, und mein Effendi wird mir gern bezeugen, daß da nur ein einziger Ausgang möglich ist, nämlich der, daß der Sahahr stirbt. Ist der aber tot, dann wird wohl niemand den Dschirbani länger quälen wollen.«
»Diese Deine Gedanken sind nicht übel,« erklärte sie; »aber der letzte ist falsch. Nämlich der Dschirbani würde auch nach dem Tode des Sahahr für ansteckend räudig gelten. Man glaubt daran, und was sich im Kopfe solcher Menschen festgesetzt hat, das ist nur schwer zu beseitigen. Ich spreche mit Euch noch weiter über diese Sache. Jetzt müssen wir dem Scheik nacheilen, er wartet.«
»Noch eines möchte ich gern wissen,« bat Halef.
|67A »Und das ist?«
»Was ist aus dem Dschinnistani, dem Vater des Dschirbani, geworden?«
Im Weiterritte antwortete sie:
»Er ritt jährlich einmal, genau zur Zeit der Sonnenwende, hinauf nach Dschinnistan zu denen, die ihn liebten. Dort holte er Bücher, die er las und aus denen er Weib und Kind unterrichtete. Von dort brachte er nach und nach auch jene weißen Steine mit dunklen Worten mit, die heut auf der Insel der Heiden zu sehen und zu lesen sind. Der Sahahr war ganz dagegen, daß diese Steine aufgerichtet würden. Er bezeichnete ihre Inschrift als die größte Verrücktheit, die es geben kann; aber weil die Insel Eigentum des Dschinnistani geworden war und seinem Sohne heute noch gehört, hatte der das Recht, dort zu tun, was ihm beliebte. Er stellte die Schriftsäule in die Nähe seines Lotosweihers und beschattete sie mit duftenden Nelken- und Magnolienbäumen.«
»Warum hast Du diesen Ort die Insel der Heiden genannt?«
»Weil er eine Insel ist und weil der Dschinnistani nach unsern Begriffen ein Heide war, denn wer nicht an den Gott der Ussul glaubt, der ist ein Heide.«
»So ist also auch sein Sohn, der Dschirbani, nach Deiner Ansicht ein Heide?«
»Ja.«
»Und dennoch liebst Du ihn?«
»Ganz gewiß! Ist es bei Euch wohl anders? Haßt und verfolgt Ihr Eure Heiden? Haltet Ihr sie vielleicht gar für schlechtere, für minderwertige Menschen?«
»Ja, das tut der Islam allerdings.«
»Wie falsch!«
»Falsch? Ist es wohl richtiger, sie für räudig oder für verrückt zu erklären?«
Die Frau des Scheiks ging in echter Frauenweise über diese Frage hinweg, als hätte sie sie gar nicht gehört, und sagte:
»Du wolltest wissen, was aus dem Dschinnistani geworden ist, und ich teile Dir mit, daß er jährlich hinauf nach seiner Heimat geritten ist. Einst kehrte er nicht mehr zurück. Man hat ihn nie wieder gesehen. Alle Nachforschungen sind vergeblich gewesen. So war man gezwungen, anzunehmen, daß er unterwegs in die Hände der Tschoban gefallen ist, die ihn ermordet haben. Hierüber ist seine Witwe, meine Freundin, vor Schmerz und Gram zugrunde gegangen. Ihr Sohn hat sie auf der Insel der Heiden bestattet und ihr mitten unter Blumen einen Stein gesetzt, auf dem geschrieben steht:
>Das Erdenleben ist ein Läuterungsfeuer, aus dem Dich nur der Glaube befreien und zum wahren Menschen erheben kann!<
Wenn Ihr es wünschet, werde ich Euch nach dieser Insel führen, um Euch das Grab und die Schriftsäule zu zeigen. Jetzt aber sprechen wir nicht mehr davon; der Scheik hat es nicht gern.«
Wir hatten diesen nämlich jetzt eingeholt und erreichten bald hernach auch den Sahahr, der sich inzwischen beruhigt hatte und nun über die Raschheit seines Temperaments verlegen zu sein schien. Die sich jetzt entspinnende Unterhaltung vermied den bisherigen Gegenstand. Ich beteiligte mich fast gar nicht an ihr, denn, was ich über den Dschirbani gehört hatte, beschäftigte meine Gedanken und Empfindungen vollständig. Ich begann zu ahnen, daß sich mir hier bei den Ussul eine Welt erschließen werde, welche bis jetzt der meinigen größtenteils fremd gewesen war.
Etwas über die Mitte des Nachmittages kam uns eine Menge Reiter entgegen, die uns von der Stadt aus zu begrüßen hatten. Es waren die Ältesten und allerlei Beamte oder sonstwie Leute, die irgend eine nicht ganz gewöhnliche Stellung inne hatten. Sie waren über uns unterrichtet, denn sie hatten die gestrige Botschaft ihres Scheiks erhalten. Daß der >Erstgeborene< der Tschoban ergriffen worden sei, war für sie eine Neuigkeit von allergrößter Wichtigkeit. Sie waren uns entgegengeritten, um ihn so bald wie möglich zu sehen. Und nicht minder groß war ihr Interesse für die beiden Fremden, denen sie diesen Fang zu verdanken hatten. Sie sahen uns wie Wunderwesen an, und als ich während des Weitermarsches gelegentlich einige gut gezielte Schüsse abfeuerte, wuchs ihre Bewunderung ins |67B Riesenhafte. Ich meinerseits verhielt mich zurückhaltend gegen sie; ich brachte ihnen zunächst nur ein allgemeines, wissenschaftliches Interesse entgegen. Sie zeichneten sich alle durch ungewöhnliche Körpergröße und Behaarung aus. Man gewann wirklich den Eindruck, daß es bei ihnen keine Ehre sei, Gesichter zu haben wie die unserigen. In ihrer Kleidung und Bewaffnung glichen sie dem Scheik. Die ganze Truppe, die über vierzig Personen stark war, zählte nur fünf schlechte Gewehre. Ihre Gäule glichen Smihk, dem Dicken, doch muß ich aufrichtig gestehen, daß dieser noch der schönste und der edelste von allen war.
Der kleine Hadschi verhielt sich ganz anders als ich. Kaum hatte er sie gesehen, so wurde er auch schon vertraulich mit ihnen. Die Achtung, mit der sie ihn trotz seiner geringen Körpergröße behandelten, gefiel ihm ungemein. Als sie den Wunsch äußerten, die drei Tschoban zu sehen, erklärte er sich sofort bereit, mit ihnen zurückzubleiben, um sie ihnen zu zeigen und hierbei zu erzählen, wie es uns gelungen sei, sie zu besiegen und festzunehmen. Ich hütete mich, ihn hiervon abzuhalten, denn daß er nur bestrebt sein werde, ihre Hochachtung zu vermehren, anstatt sie zu vermindern, das wußte ich ganz genau. Er wartete also mit ihnen, um unsern eigentlichen Trupp mit den Gefangenen herankommen zu lassen. Nur die Ältesten, fast lauter hochbejahrte Leute, blieben bei uns und kehrten um, uns zu begleiten.
Die Einsamkeit, die uns bisher begleitet hatte, minderte sich. Schon tauchten hier und da Leute aus dem Volke auf, und es zeigten sich größere und kleinere Herden von Pferden, Rindern, Schafen, sogar von Ziegen. Hirten standen dabei. Auch etwas Ähnliches wie Felder trat auf. Bei uns in Deutschland würde man freilich derartige Stellen für vollständig verwahrlost und verwildert halten. Der Wald begann zurückzuweichen. Wo Bäume standen, waren es entweder Überreste des Waldes, oder man hatte sie aus Nützlichkeitsrücksichten neu gepflanzt. Wir erreichten ein Netz von Kanälen, an deren Ufern man zuweilen eine Hütte liegen sah, manches Häuschen war auf Pfählen im Wasser errichtet und bestand ausschließlich aus zusammengefügten Stämmen, Hölzern und Knüppeln, deren Zwischenräume zugestopft und verschmiert worden waren. Die Türen und Fenster waren, zumal für Ussulgestalten, fast lächerlich niedrig, schmal, eng und klein. Diese Pfahlbauten lagen anfangs weit auseinander; erst allmählich näherten sie sich und die eigentliche Stadt begann. Nun hielten auch wir an, um die Zurückgebliebenen mit den Gefangenen zu erwarten, denn es war ein >großer Einzug< geplant.
Noch ehe diese zu uns gestoßen waren, erschienen auch vor uns Leute, denn das Gerücht von unserer Ankunft hatte sich rasch verbreitet. Diese Leute wurden zahlreicher, aber keineswegs in der lauten, energischen und frohen Weise, in welcher der Deutsche einen derartigen Auflauf zu veranstalten pflegt, sondern still, langsam und schwerfällig, als ob es in der Seele gar nichts gebe, was die Arme und die Beine zwingen könne, sich auch einmal etwas lebhafter zu bewegen als gewöhnlich. Diese Menschen glichen ganz und gar dem geräuschlosen, stauenden Wasser ihres Landes. In dieser innerlichen und äußerlichen Schwere lag es auch, daß man im Kriege lieber hier sitzen blieb und sich von den heranziehenden Tschoban belagern und aushungern ließ, als daß man ihnen entschieden und schnell zuvorkam, um sie schon gleich an der Grenze zurückzuschlagen. Wenn ich hoffte, sie zu diesem letzteren Verhalten begeistern zu können, so unterlag es gar keinem Zweifel, daß dies nur unter Anwendung ganz besonderer Mittel zu erreichen sei.
Endlich holten die Zurückgebliebenen uns ein. Halef nickte mir schon von weitem zu. Er lächelte beinahe übermütig und zeigte überhaupt ein sehr befriedigtes Gesicht. Als sich der Zug nun wieder in Bewegung setzte, ritten wir beide nebeneinander, und da sagte er:
»Sihdi, es steht alles gut, sehr gut! Ich habe es vortrefflich eingeleitet!«
»Was?« fragte ich.
»Den Kriegszug nach dem Engpaß Chatar. Ich habe erzählt, was damals in dem Tal der Stufen geschah. Ich habe berichtet, was Du damals ganz allein ausgerichtet und vollendet |68A hast. Ich habe geschildert, wie die feindlichen Stämme der Dschowari, der Abu Hammed und der Obeïde damals von Dir an ihren langen Nasen in die Gefangenschaft geführt worden sind. Ich habe ihnen versichert, daß es uns ganz gewiß nicht schwer fallen wird, so Ähnliches auch hier zu tun. Sie wissen schon alles. Sie kennen sogar schon die Länge, Breite, Höhe und Schwere des Löwen, den Du damals in der Nacht geschossen hast, ganz allein, während Hunderte in den Zelten steckten und sich fürchteten. Sie staunen über Dich, alle, alle! Über Deine Klugheit und Bedachtsamkeit, über Deinen Mut und Deine Stärke! Sie werden Dir gern gehorsam sein und alles tun, was Du von ihnen verlangst.«
Das klang wohl sehr befriedigend, nur kannte ich leider meinen kleinen Hadschi Halef Omar allzugut, als daß ich seine Rede wörtlich genommen hätte. Wenn er sagte >Deinen< Mut und >Deine< Klugheit, so war dieses >Deine< sicherlich in >meine< umzuwandeln. So stille und sinnende Leute, wie die Ussul waren, pflegen aber ein scharfes Auge und Ohr für Übertreibungen zu haben. Ich hütete mich also, mich an der Begeisterung Halefs zu erwärmen, und tat, als ob die Umgebung, durch die wir kamen, mich vollauf beschäftigte, so daß ich für seine Worte keine Aufmerksamkeit mehr übrig habe.
Die Stadt lag auf einer ebenen Fläche, die nicht die geringste Erhebung zeigte und durch unzählige Kanäle und kleinere Gräben in Vierecke eingeteilt wurde. Zuweilen bildete sich auch, wenn mehrere Gräben zusammenstießen, entweder ein Drei- oder Mehreck. An den Außenseiten der Stadt hatte jede derartige Landfigur nur ein einziges Gebäude zu tragen; im Innern der Stadt aber rückten die Wohnungen einander näher. Da standen oftmals zwei, drei oder auch mehrere zusammen. Stets aber bestanden die Häuser und Hütten aus dem schon beschriebenen Material und glichen einander vollkommen in der Bauart. Mauern waren unmöglich; auch trennende Zäune gab es nicht, weil ja Gräben vorhanden waren. Wer nicht ganz und gar offen vor den Augen des Nachbars wohnen wollte, der schützte sich durch Büsche und Sträucher, die alle den wasserliebenden Pflanzenarten angehörten. Der Baumschlag war sehr spärlich. Obstbäume nach unseren Begriffen sah man nicht. Wo sich Baum oder Busch mit Früchten zeigte, schien er mir unmittelbares Naturerzeugnis, nicht aber Veredelung zu sein. Weil der Verkehr der Einwohner unter sich nur auf dem Wasser bewerkstelligt werden konnte, nahmen wir alle möglichen Arten primitiver Ruderfahrzeuge wahr, vom großen Einbaum im Flusse an bis zu dem kleinen, aus zusammengebundenen Weidenruten bestehenden Flosse im seichten Graben herab. Brücken waren auffallend wenige zu sehen. Jedenfalls liebte man diese Art der Verbindung nicht. Was man nicht einfach überspringen konnte, das wurde durch Rudern oder Schwimmen überwunden. Wir sahen nicht nur Kinder, die wie die Fische schwammen und tauchten, sondern auch Erwachsene, die ganz dasselbe taten. Daß dabei ihre allerdings spärliche Bekleidung naß wurde, daran lag ihnen offenbar nichts.
Unser Weg führte nach dem sogenannten >Schlosse< oder >Palaste<, der in der Mitte der Stadt direkt am Flusse lag. Dieser Weg war einer der wenigen wirklichen >Wege<, die es gab. Die Anwohner desselben standen zu unserem Empfange bereit, mit ihnen zahlreiche andere Leute aus jenen Stadtteilen, die unser Einzug nicht berührte. Aber alle verhielten sich außerordentlich still. Da war keine Spur jener Freuden- oder gar Jubelrufe, welche anderorts bei derartigen Gelegenheiten erschallen. Auch die Kinder verhielten sich ruhig. Wo wir uns zeigten, wichen sie furchtsam zurück und sperrten die Mäuler auf. Sie hätten mit ihren behaarten Gesichtern fast komisch gewirkt, wenn diese höchst bedauerliche seelische Unbeweglichkeit nicht gewesen wäre. Um nicht undankbar zu sein, muß ich erwähnen, daß allerdings einige Male ein schüchterner Versuch gemacht wurde, unserem Empfange ein festliches Gepräge zu geben. Das geschah nämlich dann, wenn wir an einem vorüberkamen, der ein Gewehr besaß. Dieses wurde dann abgeschossen, aber unter solchen Vorbereitungen und mit einer derartigen Wichtigkeit, als ob es sich um ein ganz außergewöhnliches staatserrettendes Ereignis gehandelt hätte. War dann der Knall verpufft, so fiel die zurückgekehrte Stille doppelt auf. Der voranreitende |68B Scheik aber blickte nach jedem dieser Schüsse nach uns zurück, um sich von der Wirkung zu überzeugen. Halef lächelte hierüber. Er mochte an den Empfang denken, den wir bei seinem Stamm, den Haddedihn, finden würden. Da krachten sicher Tausende von Flinten, und das Pulver blitzte zentnerweise in die Luft! Und welch ein Jubel! Welches Geschrei! Und nun dagegen hier! Das Lächeln verschwand indes nach und nach von seinem Gesichte. Er wurde ernst.
»O Sihdi,« sagte er, »was sind das für arme Leute! Sie haben nur so wenig Flinten, und das Pulver scheint bei ihnen sehr teuer zu sein. Aber das ist bei ihnen nicht der einzige Grund. Die Hauptursache liegt in ihrer Seele; das sehe ich ihnen nun an. Sie können auch innerlich nicht! Auch im Lande ihrer Seelen gibt es keine Gewehre, und auch in ihrem Charakter und ihrer Natur ist das Pulver teuer! Was kann, was soll, was wird aus solchem Volke werden?«
»Hm! Soeben erst hast Du mir versichert, daß sie mir gerne gehorsam sein und alles tun werden, was ich verlange!«
»Das glaubte ich, glaubte es wirklich. Jetzt aber kommt es mir vor, als ob ich es nicht mehr glauben dürfe. Die, mit denen wir bisher sprachen, sind die Obersten, die Klügsten und also auch die Lebendigsten ihres Volkes. Die konnte ich begeistern, wenn auch wahrscheinlich nur für kurze Zeit. Aber die unter ihnen stehen, nämlich diese da, die uns anstarren, ohne einen einzigen Laut hören zu lassen, die sind wohl schwer, sehr schwer zu veranlassen, mit uns nach dem Engpaß Chatar zu reiten, um ihre Feinde niederzuringen! Meinst Du nicht auch?«
»Warten wir es ab! Man darf nicht so, wie Du es tust, zwischen Hoffnungen und Befürchtungen hin und herschwanken, sondern man muß lernen, mit den gegebenen Kräften zu rechnen, Du mußt diese guten Leute nicht mit Deinem, sondern mit ihrem Maßstabe messen. Es liegt in ihrer Natur, daß sie nur schwer in Gang zu bringen sind; aber wenn sie erst einmal laufen, dann kannst Du sicher sein, daß sie nicht bei der geringsten Veranlassung gleich wieder stehen bleiben werden.«
Während ich dies sagte, hielt Taldscha, die mit dem Scheik voranritt, ihr Pferd an, bis ich sie eingeholt hatte. Dann setzte sie den Ritt fort und sagte:
»Wir kommen bald an dem Gefängnisse vorüber, und zwar an dem hinteren Teil desselben, wo sich der Stachelzwinger befindet. Der andere Teil grenzt an den Fluß.«
»Der Stachelzwinger?« fragte ich. »Derselbe, in dem der Dschirbani steckt?«
»Ja.«
»Kann man ihn im Vorbeireiten sehen?«
»Den Zwinger, ja; den Dschirbani aber nur dann, wenn er am Tor des Zwingers steht, um nachzuschauen, wer vorüberkommt.«
»Ob er wohl merkt, daß sich etwas hier ereignet?«
»Ganz gewiß. Er hat die Schüsse gehört, die hier überaus selten sind, und nun hört er am Getrappel der Pferde, daß wir näherkommen. Ich halte es für wahrscheinlich, daß er an das Gitter getreten ist, um nach der Ursache dieses Lärmes zu schauen.«
»Willst Du, daß wir ihn retten?« fragte der Hadschi.
»Ja, ich wünsche es!« gestand sie ein.
»Gut! So holen wir ihn gleich jetzt, sofort heraus!« versicherte der kleine Kerl in seiner gutherzigen, aber unbedachten Weise.
»Das nicht, das nicht!« wehrte sie ab. »Die Hunde würden Euch und ihn zerreißen! Wenn Ihr ihn retten wollt, so muß es auf andere Weise geschehen. Durch List, durch Zwang! Aber nicht durch einen Kampf mit den Hunden! Die sind abgerichtet!«
»Von wem?«
»Vom Sahahr. Wegen ihrer Gefährlichkeit sind auch sie von den Menschen getrennt, durch den einzigen durchsichtigen Zaun, den es hier in der Stadt gibt. Nur dadurch, daß man sie von außen sieht, wird man abgehalten, sich ihnen zu nähern. Wer sich hinter diesen Zaun wagte, der würde ebenso schnell und sicher zerfleischt wie der Dschirbani, falls er so tollkühn wäre, den seinigen zu durchkriechen oder zu überklettern. Seht! Da drüben, links, beginnen beide Zäune!«
|69A Sie deutete nach der genannten Richtung hinüber. Meine und Halefs Blicke, von einem großen, unwiderstehlichen Interesse getrieben, folgten sofort dem Fingerzeige. Um das, was nun geschah, zu verstehen, muß man sich die Örtlichkeit vergegenwärtigen. Unser Zug bestand aus der Reiterschar und einer Menge von Fußgängern, welche hinter uns herliefen. Er bewegte sich auf dem schon erwähnten Wege, der eigentlich einem Damme glich, weil er zu beiden Seiten von Kanälen eingefaßt wurde, die breiter waren, als die Sprungweite eines guten Pferdes beträgt. Ein Ussulgaul, wie Smihk, wäre gewiß nicht bis zur Hälfte hinübergekommen. Jenseits dieses Wassers lag ein Rasenplatz, der auf eine Breite von vielleicht zwanzig Schritten freigelassen, dann aber von einem Stangenzaun umgeben war, dessen Höhe etwas mehr als Manneshöhe betrug. Die Zwischenräume dieser Stangen ließen alles deutlich sehen, was sich hinter ihnen befand. Jenseits dieses Zaunes gab es eine zweite Einfriedung, die also innerhalb desselben lag; sie wurde von dicht verschlungenen und hochgewachsenen Dorn- und Stachelgewächsen gebildet. Man konnte weder durch sie hindurch noch über sie hinwegsehen, und ihre natürlichen Nadeln und Schneiden waren so spitz und so scharf, daß es für einen Menschen unmöglich war, sich ohne besondere Werkzeuge hindurchzuarbeiten. Das Morgenland ist an solchen von der Natur bewehrten Pflanzen bekanntlich überreich. Diese undurchdringliche Umfassung schloß den Platz ein, den die Frau des Scheiks als >Stachelzwinger< bezeichnet hatte. Es gab in dieser Umhegung nur eine einzige schmale Lücke, die als Ein- und Ausgang diente und von einer hölzernen, über zwei Meter hohen Lattenpforte verschlossen wurde. Der Riegel war an der Außenseite angebracht, so daß es dem Gefangenen unmöglich war, ihn zu öffnen. Aber selbst wenn er dies gekonnt hätte, wäre er unmöglich entkommen, weil sich zwischen den beiden Zäunen die Hunde befanden, die freien Lauf rund um den Zwinger hatten und den Dschirbani also an jeder Stelle, wo er etwa ausbrechen wollte, mit den Zähnen fassen konnten.
Wir waren dem Orte jetzt so nahe gekommen, daß wir die Hunde sahen. Es waren ihrer drei, so hoch, so groß und riesenstark gebaut, wie ich noch niemals einen Hund gesehen hatte, selbst meinen starken, furchtlosen Dojan nicht, den meine Leser kennen. Ihr dickes, zottiges Fell und der Bau ihres breiten, mächtigen Schädels rechtfertigten den Namen Bärenhund, doch waren sie bedeutend höher als Bären zu sein pflegen. Auch ihre kurze, weit sich spaltende Schnauze und das kleine tückische Auge erinnerten an den Bären; aber ganz unbärmäßig waren die großen, weit herabhängenden und immer triefenden Lefzen. Die Tiere hatten eine mächtig breite Brust und außerordentlich kräftige Schenkel, deren breite Füße mit scharfen Klauen und sehr ausgebildeten Schwimmhäuten versehen waren, doch war dieser Brust und diesen Schenkeln mehr Kraft und Ausdauer als Sprungfertigkeit und Schnelligkeit zuzutrauen. Man brauchte diese mächtigen Geschöpfe nur anzusehen, so war man hinlänglich gewarnt. Sie hinterließen außer dem Eindruck der überaus rohen, physischen Kraft auch den der Arglist und Verschlagenheit, und nie ist mir bei dem Anblick eines Tieres der Ausdruck >Bestie< so klar geworden, als in dem Augenblicke, da ich diese Blut- und Bärenhunde sah.
Sie hatten uns kommen hören und sich, um uns sehen zu können, grad so nach vorn an den Zaun gesetzt, daß wir sie sehr deutlich wahrnehmen mußten. Zwei von ihnen waren bedeutend strammer, derber und schwerer gebaut als der dritte, der etwas schlanker und jedenfalls jünger und behender war als die andern. Ob für ihn die Höhe des Stangenzaunes genügte, ihn festzuhalten, das wäre für mich eine sehr wichtige Frage gewesen. Kam es einem so blutgierigen, auf den Menschen dressierten Vieh in den Kopf, über den Zaun und dann noch über das Wasser zu springen, so war das Unglück, welches hierdurch entstehen konnte, gar nicht abzusehen. Das war nun aber Sache des Sahahr; er mußte wissen, wie weit er diese Bestien in der Gewalt hatte oder nicht. Wie ich später erfuhr, war er der eigentliche Züchter und Abrichter dieser Riesenhunde, denen nur durch Qual und Pein, durch immerwährende Hiebe und Schläge jener Haß gegen die Menschen aufgezwungen werden konnte, der ihnen dann als Vorzug angerechnet wurde. Priester, |69B Zauberer und Bändiger von Bluthunden! Wie sonderbar dies zusammenklang. Aber nun wurde mir sein grausames Verhalten gegen Tochter und Enkel erst erklärlich. Wer imstande ist, einen treuen, gehorsamen, liebesbedürftigen und dankbaren Hund zum blutgierigen Menschenhasser zu verquälen und zu verprügeln, der ist wohl auch imstande, gegen seinesgleichen so zu handeln, wie der Sahahr gehandelt hatte.
Grad als mich dieser Gedanke beschäftigte, wurde ich von dem Sahahr angesprochen. Er sah, daß Halef und ich mit Aufmerksamkeit nach dem Stachelzwinger schauten; er erinnerte sich seines Zornes über unser Gespräch und da kehrte dieser Zorn ihm zurück. Er wendete sich uns zu, deutete über das Wasser hinüber und sagte:
»Da drüben steckt der Mensch, von dem Ihr ganz gewiß noch viel gesprochen habt. Wollt Ihr ihn sehen?«
»Ja,« antwortete Halef sofort, obgleich er sehr wohl wußte, daß diese Frage nur höhnisch gemeint war.
»So reitet hinüber!« lachte der Zauberer.
»Über das Wasser?« fragte der Kleine.
»Ja,« lachte der andere.
»Ist das Dein Ernst?«
»Mein voller Ernst!« versicherte der Sahahr, der es für vollständig unmöglich hielt, daß man einen solchen Sprung wagen könne.
»Wohlan! Dir zu Gefallen werde ich es tun!«
Im nächsten Augenblicke flog Halef auf seinem prächtigen Assil Ben Rih durch die Luft und landete drüben auf festem Boden, ohne daß die Hufe seines Pferdes auch nur einen Tropfen des Wassers berührt hatten. Ringsum war ein Schrei des Schreckes erschollen; jetzt erscholl ein zweiter, nämlich ein Schrei der Anerkennung, der Bewunderung. Die drei Riesenhunde richteten sich sofort an der Innenseite des Zaunes empor und erhoben ein drohendes Bellen und Heulen.
»Da bin ich!« lachte Halef herüber. »Was soll ich nun noch tun?«
»Zurück, augenblicklich zurück!« befahl ihm der Sahahr.
»Fällt mir ja gar nicht ein! Du hast mich herübergeschickt, den Dschirbani zu sehen, und das werde ich jetzt tun!«
»Nein, nein! Es ist verboten!«
»Verboten? Von wem?«
»Von mir!«
»Unsinn! Grad Du hast es mir erlaubt! Oder glaubst Du etwa, ich lasse mit mir spielen?«
Er wendete sein Pferd dem Zaune zu.
»Um Gottes willen, die Hunde, die Hunde!« warnte die Frau des Scheiks voller Angst.
»Die möchten ihn fressen!« rief der Sahahr. »Aber er soll ihn nicht sehen! Er darf ihn nicht sehen! Denn er würde mit ihm sprechen! Und das will, das will ich nicht! Also zurück, zurück! Herüber!«
»Fällt mir, wie ich Dir schon sagte, gar nicht ein!« Und um den Zauberer ganz sicherlich zu ärgern, fügte Halef hinzu: »Ich spreche mit ihm! Ich hole ihn sogar heraus!«
Da griff die Frau des Scheiks besorgt nach meiner Hand und bat:
»Ruf Du ihn zurück, ruf Du! Dir wird er gehorchen! Sonst ist er verloren!«
Da bat ich sie:
»Hab keine Angst um ihn! Er wird nichts Schädliches unternehmen, denn er weiß, ich bin dabei!«
Der Zauberer aber brüllte dem kleinen Hadschi zornig zu:
»Das darfst Du nicht! Das kostet Dir Dein Leben! Kehr augenblicklich zurück! Sonst komme ich hinüber!«
»So komm! Oder bist Du zu feig dazu?«
Halef drehte sein Pferd herum und sah zu ihm herüber. Da machte der Sahahr seine Drohung wahr und ritt hinüber. Er konnte das wohl ganz ohne alle Gefahr, so meinte er, denn er war ja der Herr der Bluthunde, ihm mußten sie gehorchen. Dies war ihnen durch Kette, Hunger und Schläge beigebracht worden. Und dafür hatten sie jetzt, da sie frei von der Kette waren, ihn noch zu lieben. Aber er hütete sich wohl, seinen dicken, ungefügen Urgaul zum Sprunge zu bewegen, denn der wäre auf alle Fälle viel zu kurz geraten. Er trieb den Gaul |70A hübsch langsam in das Wasser hinein, paddelte hinüber und kam ebenso hübsch langsam drüben wieder heraus. Halef sah ihm lachend zu, dann fragte er:
»So! Nun bist Du da! Wie willst Du es jetzt verhüten, daß ich den Dschirbani sehe und mit ihm rede?«
»Indem ich es Dir verbiete!« antwortete der Gefragte.
»Sag doch nicht so lächerliche Dinge! Wer mir etwas verbieten will, der muß ein anderer Kerl sein als Du! Ich reite zu ihm hin!«
Er wendete sein Pferd wieder dem Eingange des Zaunes zu. Da zog der Sahahr sein Messer und rief:
»Du bleibst! Sonst renne ich Dir diese Klinge in die Brust.«
Schleunigst hatte Halef seine Pistole in der Hand, hielt sie ihm entgegen und antwortete:
»Wage es! Aber bedenke, daß meine Kugel schneller ist als Dein Messer!«
Dieser laute, ja zornige Wortwechsel hatte unter fortwährendem Geheul der Hunde stattgefunden. Sie waren schon bei Halefs Annäherung am Zaune emporgesprungen. Als der Sahahr, ihr Peiniger, folgte, verdoppelte sich ihre Wut. Sie versuchten, den Zaun zu überspringen, was ihnen jedoch nicht gelang, denn sie waren zu schwer; sie fielen immer wieder zurück, was ihren Grimm steigerte. Der dritte war indes nicht nur der schlankere, sondern auch der intelligentere. Als er sah, daß ihm der Sprung nicht gelang, versuchte er es mit dem Klettern. Auch das mißlang. Nun verband er das Springen mit dem Klettern. Er nahm einen Anlauf und tat einen Sprung, der ihn bis zu drei Viertel der Zaunhöhe emporbrachte, rutschte aber wieder ab, weil es ihm für diesesmal nicht gelang, sich mit den Hinterfüßen an der Querstange festzuhalten. Brachte er dieses fertig, so kam er bei einem zweiten Sprung sicher über den Zaun und war dann gewiß ebenso gefährlich wie ein Panther oder Tiger. Der zweite Versuch gelang schon besser als der erste. Vorsichtshalber rief ich jetzt Halef zu:
»Zurück! Schnell zurück! Bewahre das Pferd vor dem Hunde!«
Eben hatte er das Pistol gezogen, fest entschlossen, seinen Willen durchzusetzen. Er hätte mir wahrscheinlich nicht gehorcht, wenn ihn nicht die Liebe zu Ben Rih beeinflußt hätte. Persönlich fürchtete er sich ganz und gar nicht vor diesen Hunden; aber seinen geliebten Rappen unnötig ihren Zähnen preiszugeben, so töricht war er nicht. Er warf also nur noch einen kurzen Blick nach dem Zaune, wo der Hund jetzt grad zum letzten Sprunge ansetzte, und beeilte sich, meinem Befehle nachzukommen. |70B Eben als Ben Rih mit seinem Reiter wieder über das Wasser sprang, kam der Hund über den Zaun herübergeflogen. Ich griff, um Unglück zu verhüten, zum Henrystutzen, war aber nicht so schnell, wie es hätte sein sollen. Der Bluthund hatte diesseits des Zaunes kaum Boden gefaßt, so stürzte er sich auf seinen Herrn. Er stieß dabei ein Geheul aus, wie aus Freude, seinen Quälgeist nun endlich, endlich einmal vor sich zu haben, ohne durch Ketten, Stricke, Stacheln und Peitschen an der Vergeltung behindert zu sein. Die Bestie sprang am Pferd empor, faßte den Reiter, dem vor Schreck das Messer entglitt, am Oberschenkel, riß ihn auf die Erde herab und hätte ihm ganz gewiß zunächst die Gurgel zerfleischt, wenn ich dem Vieh nicht schnell eine Kugel in den Leib gejagt hätte. Es gleich mit diesem ersten Schusse zu erlegen, war mir unmöglich, weil ich kein sicheres Ziel hatte. Auf Kopf oder Brust der Bestie konnte ich nicht anlegen, da ich anstatt des Hundes sehr leicht den Menschen treffen konnte. Darum hatte ich nur auf den Körper gezielt, um den Hund von seinem Opfer wegzubringen. Dieser Zweck wurde erreicht. Kaum war der Hund getroffen, so ließ er den Sahahr los, tat einen Seitensprung und sah sich nach dem neuen Feinde um. Sein Auge fiel auf mich, der ich noch fest im Anschlage lag, um ihm die zweite Kugel, die nun töten mußte, zu geben. Nun nahm er alle seine Kraft zusammen. Mit zwei Sprüngen kam er an das Ufer, beim dritten flog er über das Wasser herüber. Das gab mir ein gutes Ziel. Meine Kugel traf ihn im Fluge, und zwar so tödlich, daß er, als er diesseits den Erdboden erreichte, sofort zusammenbrach und liegen blieb. Ein kurzes, konvulsivisches Zucken lief über den riesigen Körper, der sich streckte, und dann war die Bestie verendet.
Drüben heulten die beiden anderen Hunde. Zwischen Zaun und Wasser brüllte der vor Schmerz sich windende Zauberer um Hilfe. Und hüben gab die Menge der Ussul ihre Freude über diesen Schuß durch laute Zurufe kund. Man sah, daß auch sie zu begeistern seien, nur bedurfte es hierzu so seltener und kräftiger Mittel, wie dieses Ereignis war. Wir hatten gar nicht Zeit, auf diesen Beifall zu achten. Es war vor allem nötig, dem Sahahr zu Hilfe zu kommen. Er schien zwar nur am Schenkel verwundet zu sein, aber falls etwa eine wichtige Ader verletzt worden war, konnte es sich immerhin um Tod und Leben handeln. Halef setzte also wieder über den Kanal hinüber, und ich folgte ihm auf meinem Syrr, der das Hindernis mit einer so eleganten Leichtigkeit nahm, daß er ringsum laut bewundert wurde. Halef sprang von seinem Pferde, um sich |71A zu dem Sahahr niederzubücken und nach seinen Verletzungen zu sehen, dieser aber schrie ihn giftig an:
»Weg! Fort mit Dir! Rührt mich nicht an! Ich mag Euch nicht sehen! Ihr seid schuld daran, daß ich verstümmelt worden bin! Hättest Du mir gehorcht, so wäre ich drüben geblieben! Fort, sage ich! Fort, fort mit Dir!«
Er rief zu den Ussul die Namen einiger Leute hinüber, die er haben wollte. Diese folgten seinem Zurufe in ganz derselben Weise, in der er vorhin den Kanal durchquert hatte, sie gingen also sehr gemächlich in das Wasser und paddelten herüber. Dann stiegen sie von ihren Gäulen und begannen sich mit ihm zu beschäftigen. Unser Reiterzug und die ihn begleitende Menge blieb stehen, um sich die Sache weiter anzuschauen.
Halef schwang sich wieder in den Sattel, weil er infolge der Abweisung, die er erfahren hatte, annahm, daß wir sofort zum Zug zurückkehren würden. Damit zögerte ich aber, denn mir lag daran, den Dschirbani zu sehen. Es war jetzt die beste, vielleicht nie wiederkehrende Gelegenheit dazu, und es wäre ein Fehler gewesen, sie unbenutzt verstreichen zu lassen. Darum ritt ich nach der Türe des äußeren Zaunes, hinter dem sich die beiden Bluthunde befanden. Halef kam hinter mir her. Er nahm sein Gewehr von der Schulter und sagte:
»Sie können freilich nicht heraus; aber bei derartigen Ungetümen muß man auf alles gefaßt sein. Wenn sie uns gefährlich werden, schieße ich beide sofort nieder.«
Das sah der Sahahr. Trotz seiner Verletzung nahm er sich die Zeit, sich um uns zu kümmern; er schrie dem Hadschi zu:
»Wage es ja nicht, zu schießen! Wer mir einen dieser Hunde tötet, der bekommt es mit mir zu tun! Macht Euch von dannen! Was habt Ihr dort zu suchen? Ich verbiete es Euch!«
Wir achteten auf diese Worte nicht, weil er allein sich unserer Annäherung an den Stachelzwinger widersetzte. Alle andern, der Scheik und die Ältesten dabei, hatten nicht nur nichts einzuwenden, sondern waren sogar gespannt darauf, was jetzt wohl geschehen werde. Wir näherten uns also der bezeichneten Türe, ritten aber nicht ganz dicht hinan, um die Hunde nicht noch mehr aufzuregen; sie bellten und heulten nicht nur, sie brüllten und gebärdeten sich, als ob sie den Zaun in Stücke reißen wollten. Sogar Halef, der Mutige und oft sogar Übermutige, ließ sich einschüchtern und hielt sich ein wenig hinter mir.
»Das ist fürchterlich! Fast gar nicht auszuhalten!« schrie er mir laut zu. Er mußte so rufen, sonst hätte ich ihn infolge des entsetzlichen Lärmes der Hunde nicht verstanden. »Diese Scheusale sind gar nicht von der Erde, sondern sie stammen aus der Hölle!«
»So schlimm ist es nicht,« rief ich zurück. »Schau unsere Pferde an! Siehst Du etwa, daß sie sich fürchten?«
»Nein! Sie sind so ruhig wie immer! Wie das wohl kommt?«
»An ihrer Abstammung liegt das nicht. Auch das edelste Geschöpf hat Furcht vor der Bestie. Sie scheinen die Hunde also nicht für Bestien zu halten. Und betrachte die letzteren genau! Besonders ihre lang herabhängenden Lippen, sie sind feucht und nässend wie immer. Aber siehst Du eine Spur von Geifer?«
»Nein!«
»Oder gar von Schaum?«
»Noch weniger!«
»So kannst Du Dich darauf verlassen, daß diese Tiere nicht halb so schlimm sind, wie sie erscheinen. Auch ich habe sie überschätzt, aber nur bis jetzt. Nun ich sie aus solcher Nähe sehe, möchte ich behaupten, daß sie nur infolge ihrer Erziehung, nicht aber von Natur aus so wüten.«
»Das ist wohl möglich, aber mich ganz darauf verlassen, das würde ich wohl nicht! Doch schau, Sihdi! Da drüben kommt jemand!«
Er deutete mit der Hand über den Stangenzaun in den Stachelzwinger hinein. Ich habe schon erwähnt, daß sich in dem Dorn- und Stachelwerke nur eine einzige Lücke befand, und dort war die Türe. Da wir hoch zu Pferde saßen und die beiden Türen mit uns in einer Linie lagen, so konnten wir |71B nicht nur durch ihre Zwischenräume hindurch-, sondern auch über sie hinwegsehen. Das Innere des Zwingers lag also zu einem beträchtlichen Teile vor unsern Augen. Wir überschauten einen freien, grasbewachsenen Platz, auf dem eine Gestalt langsam geschritten kam, um sich der Türe zu nähern. Es schien, als ob dieser Mensch sich um den Lärm in seiner Nähe bisher gar nicht gekümmert habe und erst jetzt im Begriffe stehe, ihn zu beachten. Er war von außergewöhnlich hoher, imponierender Gestalt. Sein langsamer Gang und seine Haltung waren von einem ganz eigenartigen, charakteristischen Stolz. Seine Kleidung bestand aus einem weiten, bequemen Haïk, der um die Hüften durch einen schmalen Ledergürtel zusammengefaßt wurde. Sein Kopf war unbedeckt. Ein starkes, fast übervolles Haar, hing ihm weit über den Rücken herab. Auch sein Gesicht war lang behaart, von der Stirn bis auf den Hals herab, ganz wie bei den Ussul, aber so dünn und fein, daß man wie durch einen zarten, langmaschigen Schleier hindurch die Züge des ungewöhnlich edlen und ganz eigenartig schönen Gesichtes sehen konnte. Wie er, den Blick zur Erde gesenkt, so allmählich sich der Pforte näherte, hatte es den Anschein, als ob seine Gestalt mit jedem Schritte immer höher und breiter, immer bedeutender und eindrucksvoller werde. Ob dies nur in seiner Persönlichkeit lag oder zum Teil auch mit in der örtlichen Perspektive, das fragte ich mich nicht. Ich nahm die Wirkung in mir auf, ohne nach ihren Ursachen und Gründen zu forschen.
|72A Der Dschirbani hatte die Pforte fast erreicht; er ließ den Blick auf uns gleiten. Es war keine Spur von Überraschung an ihm zu bemerken. Das große, dunkle Auge ruhte forschend auf uns, und als ich die Hand zum Gruß gegen Brust und Stirn erhob, antwortete er mir in der gleichen Weise. Da fragte ich ihn mit lauter Stimme:
»Bist Du der Sohn des Dschinnistani?«
Ich unterließ es natürlich, ihn Dschirbani zu nennen, weil dies >der Räudige< bedeutet. Ich mußte wegen der Hunde so laut rufen, daß man es rundum hörte. Er antwortete ebenso laut:
»Ich bin es.«
Mein kleiner Halef war von der außerordentlichen Erscheinung dieses Mannes, der trotz seiner Jugend einen solchen Eindruck machte, ebenso ergriffen wie ich. Halef war gewohnt, sich derartigen Gefühlen augenblicklich hinzugeben, und so eilte er auch hier sehr schnell zum Worte, ohne daran zu denken, daß dies jetzt mir allein zustehe.
»Du bist der Enkel des Sahahr?« erkundigte er sich.
Der Dschirbani nickte.
»Wünschest Du frei zu sein?«
Da hob der Gefragte die Hände bis zur Höhe seines Gesichtes, schlug sie beteuernd zusammen und rief:
»Von ganzem Herzen!«
»So holen wir Dich heraus! Sofort! Wir schießen die Hunde nieder!«
Der Zauberer und alle bei ihm hatten jedes dieser Worte gehört. Er wollte sein Verbot wiederholen und richtete sich, so weit es sein Zustand erlaubte, in die Höhe, um uns zuzurufen, brachte es aber nur zu einigen unartikulierten Lauten und fiel dann wieder nieder. Seine Verwundung schien also doch gefährlicher zu sein, als ich angenommen hatte. Die Ussul um ihn sprachen auf ihn ein. Diese Leute gehörten, wie sich ganz von selbst versteht, zu seinen nächsten Freunden und Anhängern. Der eine von ihnen kam jetzt zu uns heran und teilte uns mit:
»Ihr seid Fremde, und Fremden ist es verboten, sich in unsere Angelegenheiten zu mischen. Selbst wenn Ihr schon unter die Ussul aufgenommen wäret, hättet Ihr kein Recht, Euch mit diesem Gefangenen zu beschäftigen. Nur der Sahahr allein hat über ihn zu verfügen. Nicht einmal der Scheik besitzt nach den Gesetzen unsers Volkes ein Recht, in dieser Angelegenheit eine Änderung eintreten zu lassen. Aber weil Ihr den Ussul einen großen Dienst erwiesen habt, weil Ihr gewillt seid, uns auch fernerhin mit Eurer Hilfe beizustehen, und endlich weil der Sahahr Euch liebgewonnen hat und dies Euch zeigen will, aus allen diesen Gründen hat er beschlossen, Euch zu Willen zu sein und den Dschirbani für immer freizugeben, wenn Ihr die eine einzige Bedingung erfüllt, die er daran knüpft.«
|72B »Welche Bedingung?« fragte Halef.
»Ihr müßt die Wächter bezwingen, ohne sie zu beschädigen.«
»Die Bestien? Die Hunde?«
»Ja, die Hunde. Sie dürfen weder verwundet noch getötet werden. Es ist Euch streng verboten, ihnen Schaden zu tun. Ihr habt also, bevor Ihr mit ihnen kämpfet, alle Waffen abzulegen und Euch ganz allein nur auf Eure Hände zu verlassen. Auch dürft Ihr nicht zu zweien zu ihnen hinein, sondern der Emir aus Dschermanistan wird beginnen, und erst dann, wenn er von den Hunden zerrissen worden ist, darf der Scheik der Haddedihn ihm folgen!«
»Das ist ja allerliebst!« rief Halef aus. »Warum ist es denn nicht umgekehrt? Nämlich so, daß die Hunde nicht miteinander auf uns los dürfen, sondern daß der zweite sich erst dann mit uns befassen darf, wenn wir den ersten aufgefressen haben!«
Er hätte in dieser Weise wohl weitergesprochen, wurde aber von andern Zurufen übertönt. Auch der Ussul hatte nämlich laut reden müssen, und zwar so laut, daß er auf der einen Seite von dem Dschirbani und auch von den auf der Straße befindlichen Ussul gehört wurde. Von dort aus rief die Frau des Scheiks uns warnend zu:
»Ich bitte Euch bei Allah, das nicht zu tun! Wenn Ihr es wagtet, wäret Ihr verloren!«
Und der Gefangene selbst, so sehr er seine Befreiung wünschte, warf uns die gewiß selbstlose Mahnung herüber:
»Ich weiß nicht, wer Ihr seid; aber hütet Euch, auf den Vorschlag des Sahahr einzugehen. Er kann bloß beabsichtigen, Euch zu verderben! Ich bin doch wohl stärker als Ihr, aber ich bleibe doch lieber gefangen, als daß ich es wage, ohne Waffen mit diesen Ungetümen zu kämpfen!«
»Hörst Du es?« fragte der Ussul, der an Stelle des Sahahr sprach. »Nun ist es wohl mit Euerm Mut zu Ende?«
Ohne diese Verhöhnung zu beachten, fragte ich ihn:
»Würdet Ihr Wort halten und den Sohn des Dschinnistani für immer freigeben, wenn es mir gelänge, die Hunde waffenlos zu besiegen, ohne sie zu verletzen?«
»Ja,« antwortete der Gefragte.
»Ja,« antworteten seine Gefährten.
»Ja,« antwortete sogar auch der Zauberer, den der Gedanke, daß ich mich von den Hunden zerreißen lassen werde, für den Augenblick alle Schmerzen vergessen ließ.
Da wandte ich mich an den Dschirbani:
»Ich brauche Zeugen hierzu. Hast Du gehört, was mir versprochen worden ist?«
»Ja,« versicherte er. »Aber Du wirst doch nicht etwa so tollkühn sein - - «
Ich ließ ihn nicht ausreden, sondern richtete an unsere Reitgefährten und an die anwesende Menge die Frage:
|73A »Habt auch Ihr es gehört, und wollt Ihr es mir bezeugen?«
»Ja, ja, ja, ja - - -!« ertönte es wie aus einem Munde, doch sofort erhoben sich auch Stimmen, um mich zu warnen, auf einen ebenso ungewöhnlichen wie ungleichen Kampf einzugehen.
Ich achtete nicht darauf, sondern stieg vom Pferde und gab die Zügel desselben Halef in die Hand. Der sah mich mit weit aufgerissenen Augen an und rief:
»Allah sei uns gnädig! Willst Du es wagen, wirklich wagen, Sihdi?«
»Ja,« antwortete ich.
»Trotz der entsetzlichen Gefahr, in Stücke gerissen und dann aufgefressen zu werden?«
»Trotzdem! Aber diese Gefahr ist bei weitem nicht so groß, wie Du denkst.«
»Hättest Du doch recht!« seufzte er unter einem tiefen, lauten Atemzuge auf.
»Ich habe recht!« versicherte ich. »Hast Du aufgepaßt, als der Hund, den ich erschoß, sich auf seinen eigenen Herrn stürzte?«
»Ich habe es gesehen, aber erst dann, als der Sahahr bereits am Boden lag.«
»Das war zu spät; da war das, was ich sagen will, schon vorüber. Ich habe genau aufgemerkt, wie diese Hunde dressiert sind. Sie reißen den Menschen vorher nieder, und erst wenn dies geschehen ist, beißen sie drauf los. Die Hauptsache ist also erstens, sich nicht werfen zu lassen, und zweitens, zu verhüten, daß sie an Hals und Gurgel kommen. Auch wird der Dschirbani mir helfen.«
»Der? Wieso?«
»Er muß die Hunde so beschäftigen, daß sie sich trennen, damit sie nicht beide zugleich nach mir springen.«
»Allah sei Dank! Dieser Gedanke ist gut. Meine Sorge um Dein Leben vermindert sich bereits. Dennoch aber sage ich Dir: Ich nehme Deinen Stutzen zur Hand, und wenn es einem dieser Hunde gelingen sollte, Dich niederzureißen, so bekommt er augenblicklich so viele Kugeln in den teuflischen Leib, daß er gar nicht Zeit hat, sie zu zählen!«
Ich gab Halef meine Waffen. Dann band ich mir den Gürtelschal von den Hüften und wand ihn mir, so lang er war, um den Hals.
»Er will! Er will! Er wird! Er wagt es! Er tut es!« klang es vielstimmig bei den Ussul, als sie meine Vorbereitung sahen.
Die Warnungen wiederholten sich. Auch der Dschirbani rief mir mahnend nochmals herüber. Ich aber antwortete ihm:
»Fürchte nichts! Wenn Du mich unterstützest, werde ich siegen.«
Dies hatte ich nur so laut gesprochen, daß er es hören konnte. Da trat er ganz nahe an die Pforte heran und fragte mich mit unterdrückter Stimme:
»Wie gern möchte ich Dich unterstützen! Aber wie könnte ich das?«
»Indem Du stark an Deiner Türe rüttelst, als ob Du herauswollest. Wenn Du das tust, so hoffe ich, daß einer der Hunde sich gegen Dich richtet und ich es also nicht mit beiden zugleich zu tun haben werde.«
»Wie gern will ich das tun, wie gern! Aber wann? Sag mir den Augenblick!«
»Jetzt gleich! Du kannst sofort beginnen!«
Ich stand mehrere Schritte von der Türe des äußeren Zaunes entfernt. Er befand sich den Hunden also viel näher, und als er jetzt an seiner, der inneren Türe, zu arbeiten, zu stoßen und zu pochen begann, wendeten sich beide gegen ihn, mir aber den Rücken zu. Sie heulten überlaut. Das war der rechte Augenblick für mich. Ich sprang zur Türe, schob den Riegel weg und riß sie auf. Da hörte man einen einzigen, aber vielstimmigen, großen Schrei des Schreckens rund umher; dann aber trat plötzlich tiefe Stille ein. Die Entscheidung war da, sie stand unsichtbar neben mir, an der geöffneten Türe, durch welche zu treten ich mich sehr wohl hütete. Sie war nicht breit genug für zwei so große, starke Hunde. Es konnte nur einer allein heraus. Indem ich draußen blieb, sicherte ich |73B mir den Vorteil zu, daß mich nur einer von ihnen angreifen konnte. Momentan achteten sie aber gar nicht auf mich. Ihre ganze Aufmerksamkeit war nur allein auf die Pforte gerichtet, an welcher der Dschirbani rüttelte. Daß ich die meine geöffnet hatte, das sahen sie nicht eher, als bis ich durch einen lauten Ruf ihre Blicke auf mich zog.
Es kann nicht meine Absicht sein, durch die Erzählung dieses Ereignisses nach einem Ruhm zu trachten, den ich nicht verdiene. Was ich jetzt tat, war nämlich kein so großes Wagnis, wie es schien. Schon Hunderte und Aberhunderte hatten es gewagt und zwar oft mit Erfolg. Das war drüben in Nordamerika, als in den Süd- und Mittelstaaten der Union noch die Sklaverei bestand. Wie viele jener armen Menschen waren da ihren mitleidslosen, grausamen Herren entflohen! Wie viele dieser Flüchtlinge hatte man mit Bluthunden gehetzt, die eigens für diese Negerjagden dressiert worden waren! Die Schwarzen waren gewöhnlich unbewehrt. Ihre einzige Waffe gegen die gefährlichen Hunde bestand in dem Trick, ihnen in dem Augenblicke, in dem diese nach der Kehle schnappen, die Arme fest um den Hals zu schlagen und die Gurgel derart zusammenzupressen, daß ihnen der Atem verging. Ließ man sie dann fallen, so waren sie erstickt. Freilich durfte dieser Druck der Arme keinen Augenblick zu früh oder zu spät kommen, sonst war der Flüchtling verloren. Jeder Sklave, der auf Flucht sann, übte diesen Griff und Druck. In den Turnvereinen geschah dasselbe. Von jedem Hundehändler bekam man gegen Entgeld irgend eine alte, sonst nutzlos gewordene Bestie geliehen, um sich mit ihrer allerdings höchst unfreiwilligen Beihilfe in den Stand zu setzen, mit unbewaffneten Händen einen feindlich anspringenden Bluthund zu ersticken. Das, was ich mir jetzt vorgenommen hatte, war also nichts Außerordentliches. Es gewann nur dadurch an Schwierigkeit, daß es sich um zwei Hunde handelte, anstatt nur um einen, und daß diese Ungeheuer bedeutend größer und kräftiger als die amerikanischen Negerfänger waren. Dieser Nachteil wurde aber durch die Beihilfe des Dschirbani wieder ausgeglichen. Er besaß denjenigen Grad der Intelligenz, der hiezu nötig war, in ganz vollkommener Weise.
Er hatte, wie ich schon erwähnte, die Aufmerksamkeit der Hunde auf sich allein gezogen. Als ich dann vor der geöffneten Türe stand und den lauten Ruf ausstieß, mit dem ich mich den Hunden bemerkbar machte, kam es darauf an, daß der Dschirbani einen von ihnen drüben bei sich festhielt. Das gelang ihm vortrefflich. Sobald mich beide sahen, wollten sie sich auf mich stürzen; da aber wiederholte er sein Rütteln und Schütteln mit solcher Stärke, daß der eine Hund sich ihm rasch wieder zuwendete, während der andere, ohne sich irre machen zu lassen, auf mich zugeflogen kam. Es wurde mir leicht, den ungeheuern Anprall, der mich unbedingt umgerissen hätte, abzuschwächen, und zwar mit Hilfe der Türe, die ich schnell halb wieder schloß, so daß sie den ersten Stoß auffing und ich zum Angriff übergehen konnte. Das Tier geriet nämlich mit einem Hinterfuße in die Zwischenräume der Latten. Anstatt sich zu befreien, bohrte es ihn in seiner Hast nur noch weiter hinein, und so gelang es mir ohne alle Mühe und fast gefahrlos, ihm die Arme um den Hals zu schlagen und diesen so fest an mich zu drücken, daß dem Hunde der Atem auszugehen begann. So riß ich ihn von der Türe los. Er hing, mit dem Rücken nach mir gewendet, mit der Kehle in meinen Armen, heulte vor Todesangst und versuchte vergebens, mich mit den Hinterkrallen zu fassen. Als der andere Hund das Angstgeheul hinter sich hörte, ließ er von dem Dschirbani ab und drehte sich um, jedenfalls in der Absicht, seinem Gefährten zu Hilfe zu kommen und mich zu packen. Was nun geschah, war im hohen Grade interessant. Schon setzte er nämlich zum Sprunge gegen mich an, da sah er den andern Hund, halb tot und in höchster Atemnot zuckend, in meinen Armen hangen. Er bekam einen Schreck. Ich trat gegen ihn vor, in die Türöffnung hinein. Wollte er an mich kommen, so stieß er nicht auf mich, sondern auf die in meinen Armen hängende Bestie. Er wich zurück. Ich trat weiter vor, er wich weiter zurück. Ich folgte ihm, und nun begann er, der riesige Blut- und Bärenhund, vor Angst zu winseln, zog den Schwanz ein und machte Miene, davonzulaufen. Das mußte ich benutzen. |74A Es galt, ihn nun völlig und für immer einzuschüchtern. Ich schleuderte also den andern Hund von mir ab, und zwar so, daß er lang auf ihn fiel. Der Getroffene heulte vor Schreck laut auf, rannte davon und blieb erst in sicherer Entfernung wieder stehen, wo er, sich niedersetzend, zurückschaute und durch Seufzen und Stöhnen zu erkennen gab, daß er zwar ganz leidlich entkommen sei, sich aber über das Schicksal seines Gefährten große Sorge mache. Dieser lag vollständig bewegungslos. Nur über die Brust ging ein leises, zitterndes Heben und Senken. Das Maul war weit geöffnet und die Zunge hing heraus. Der Hund war dem Ersticken nahe gewesen. Ich stand neben ihm, bereit, ihn genau wieder so zu fassen wie vorher. Als der erste Lufthauch wieder in die Lunge drang, streckte sich der mächtige Körper. Die sich verglasenden Augen gewannen wieder Blick. Er erhob sich langsam und schwer, als ob ihm seine Glieder den Gehorsam noch verweigerten. Das war der kritische Augenblick. Ich öffnete die Arme, um sie, falls er sich wieder auf mich stürzen würde, abermals um ihn zu schlagen. Da hob er das Auge. Er sah mich vor sich stehen. Er erblickte die drohend geöffneten Arme. Zugleich hörte er das ängstliche Wimmern des andern Hundes. Er drehte den Kopf nach ihm um. Als dieser das sah, steigerte er sein Wimmern zum Heulen, und zwar zu jenem ganz eigenartigen, langgezogenen Heulen, mit der Fistelstimme, welches man meist nur dann zu hören bekommt, wenn irgendwo Feuer ausgebrochen ist. Da stimmte das vor mir liegende Ungetüm ein. Es legte, anstatt etwas Feindliches gegen mich zu unternehmen, den Hals und Kopf lang auf die Erde nieder, machte die Augen zu und ließ Jammer- und Klagetöne hören, die anfangs ganz unartikuliert erschienen, dann aber deutlicher und immer deutlicher wurden. Bei jeder Pause, die er machte, sah er mich an, als ob er fragen wolle: >Hast Du es gehört?< Nun sprach ich auf ihn ein. Er schwieg und hörte mich an. Dann antwortete er, indem er weiterheulte. Sobald er fertig war, begann wieder ich, und dann auch wieder er. So sprachen wir miteinander, er heulend und ich begütigend. Er verstand weder meine noch ich seine Sprache, aber in den Tönen lag etwas, was nicht durch Worte ausgedrückt werden konnte. Ich kniete zu ihm nieder und wagte es, ihm den Kopf mit der Hand zu streicheln. Er duldete es. Ich klopfte ihn zärtlich. Ich strich ihm über den Rücken. Das nahm er mit großem Behagen hin. Als ich mich dann wieder erhob, stand auch er auf und schob mir seine Schnauze in die Hand, um sich weitere Liebkosungen zu erbitten. Als das der andere sah, stellte er sein Jammern ein und verließ seinen Platz, doch nicht etwa, um weiter zu fliehen, sondern um sich mir zu nähern. Das geschah langsam und zagend, so ungefähr wie bei einem gutherzigen Knaben, der bestraft worden ist und sich dann nach und nach wieder an den Vater heranzuschlängeln sucht. Ich unterstützte diese seine erfreuliche Taktik dadurch, daß ich meine Zärtlichkeiten gegen seinen Gefährten fortsetzte und ihm dann mit diesem gar entgegenkam. Der Erfolg war, daß ich schließlich zwischen beiden Hunden stand und ihnen die dicken, nie gekämmten Felle derart klopfte und zauste, daß sie vor Wonne stöhnten. Ich versuchte nun, hin und her zu gehen. Sie gingen mit. Wenn ich umkehrte, taten sie es auch. Da wendete ich mich weiter, rund um den ganzen Stachelzwinger herum. Sie folgten mir. Ihre Augen waren mild und freundlich. Von der früheren Menschenfeindlichkeit gab es keine Spur mehr. Als ich dann von der andern Seite nach der Türe zurückkehrte, an welcher der Dschirbani stand, verhielten sie sich so gleichgültig, als ob sie das, was vorher ihre Pflicht gewesen war, vollständig vergessen hätten. Ich zog den Riegel weg, um die Türe zu öffnen.
»Darfst Du das wagen?« fragte der Dschirbani.
»Ja. Komm!« antwortete ich, indem ich, um ihm Platz zu machen, zurücktrat.
Die Hunde standen rechts und links von mir, ganz eng an mich gedrückt. Ich war so vorsichtig, jeden von ihnen fest an einem Ohre zu halten.
»Auf Dein Wort hin will ich es tun, Ssahib!« sagte er.
Bei diesen Worten stieß er die Türe auf und trat heraus. Hierbei öffneten sich die unteren Säume seines Haïk, und ich |74B sah, daß er unter demselben die eigentliche, lederne Kleidung trug. Auch die stiefelartige Fußbekleidung war von Leder, nicht von Bast, wie bei den meisten anderen Ussul. Die Hunde sahen zu ihm auf, ohne ein Zeichen des Hasses oder des Zornes. Auch ich schaute zu ihm auf, ja wirklich, zu ihm auf. Denn er überragte mich nach allen Dimensionen, in der Stärke, in der Höhe, in der Breite. Was war das für ein Mensch! Wie hehr, wie stolz, wie schön! Mir war, als ob in diesem Augenblicke seine Seele hinter ihm stehe, ihm unbewußt, und mir zurufe: >Schau her, und liebe ihn; er ist von königlichem Geschlecht!< Bis jetzt war der Zaun, war die Pforte zwischen uns gewesen. Wir standen uns nun also zum ersten Male ohne Hindernis gegenüber. Der erste Blick, den er frei auf mich richten konnte, war lang, erwartungsvoll und forschend. Während er mich ansah, senkte sich die Wimper für einen kurzen Moment, um sich gleich wieder zu heben, und das geschah dann sofort auch noch ein zweites Mal. Hierdurch wurde der eine, lange Blick in drei kürzere Teile geschieden, genau so, wie Schakara mir gesagt hatte, und so senkte auch ich meine Augenlider zweimal schnell hintereinander, um ihm das Zeichen, welches er mir gab, zu bestätigen. Da ging es wie ein warmer, verklärender Sonnenschein über sein Gesicht, und er sagte:
»Du bist ein Insan? Gehörst zur Insanija? Ich dachte es mir! Als ich Dich da draußen vor dem Zwinger halten sah, bevor Du abgestiegen warest, Dein Pferd viel kleiner als die unserigen, aber unendlich feiner und edler, und auch Du um so viel kleiner als ich, aber um so sicherer im Sattel und um so geistiger in allem, was Du tust, da kamst Du mir vor wie eine Vision, die mir der Himmel sendet. Weißt Du, was eine Vision ist?«
»Ja,« antwortete ich.
»Und weißt Du, daß man mich den Wahnsinnigen nennt?«
»Ja.«
»Der Mensch, der Visionen hat, ist von Gott begnadet. Solange er dies weiß, bringt er der Menschheit Segen, man mag an ihn glauben oder nicht. Sobald er dies vergißt, ist er wahnsinnig geworden und gleicht nur noch einer Vision, die nicht in Erfüllung geht.«
»Woher weißt Du das?« fragte ich erstaunt.
»Es steht in meinem Buche hier.«
Er deutete auf die Mitte der Brust, etwas unterhalb des Halses, wo man das >Hamaïl< zu tragen pflegt. Es war also anzunehmen, daß dort das Buch unter seinem Haïk hing. Dann fuhr er fort:
»Als ich Dich sah, war es mir in meiner Vision, als ob Du, der scheinbar Kleinere, zu mir, dem scheinbar Größeren, herniederkämest von den Sternen, den scheinbar kleinen, die aber immer größer werden, je mehr man sich ihnen nähert. Ich sah es Dir sofort an, daß Du gekommen seist, mich zu befreien, und daß Dir das, was jeder andere für unmöglich halten muß, wie spielend, kinderleicht glücken werde. Dann, als die Vision vorüber war und mein Auge zur Wirklichkeit zurückkehrte, sah ich in Dir nur noch den Menschen und hatte Angst um Dich. Es ist gelungen! Aber wie! Ohne alle Waffen! Ohne jede Strenge! Und in so kurzer Zeit! Ssahib, ich bitte Dich, mir zu sagen, wie es Dir gelingen konnte!«
»Denke nach!« antwortete ich. »Die Lösung ist sehr einfach. Ich möchte, daß Du sie ohne meine Hilfe findest.«
Er sah mir einige Augenblicke lang in das Gesicht, wie um nach den Gründen dieser meiner Antwort zu suchen. Dann sagte er:
»Ich danke Dir! Du handelst richtig. Was der Mensch sich durch eigenes Nachdenken verdienen kann, das soll er sich nicht schenken lassen! Ich frage Dich nicht, wer Du bist und woher Du kommst. Du bist Insan, und das genügt. Aber eines möchte ich wissen: Wo wirst Du wohnen?«
»Wahrscheinlich beim Scheik, denn ich bin sein Gast.«
»So trennen wir uns jetzt. Aber wünschest Du, daß ich Dich wiedersehe?«
»Von Herzen!«
»Ich ebenso. Kannst Du nach meiner Insel der Heiden kommen?«
|75A »Ja. Ich komme sehr gern. Aber wann?«
»Morgen früh, um die Mitte des Vormittags. Ich werde dort auf Dich warten.«
»Muß ich allein kommen? Oder darf ich meinen Begleiter mitbringen?«
»Den kleinen Mann, der Dein Pferd hält?«
»Ja. Er ist mein Vertrauter. Ich habe ihn lieb.«
»So bringe ihn mit, aber nur ihn allein. Nun laß mich gehen!«
Wir wendeten uns der Türe des äußeren Zaunes zu. Ich wollte die Hunde innen zurücklassen und die Türe dann von außen verriegeln. Aber als sie meine Absicht bemerkten, drängten sie sich mit aller Gewalt heraus, so daß ich es nicht verhindern konnte. Das hätte mir Sorge machen müssen, denn jetzt, wo sie losgelassen waren, konnte ihre Wildheit ungeheuren Schaden anrichten. Aber es war nicht die geringste Spur von Wildheit zu sehen und sie zeigten so wenig Lust, von mir wegzugehen, daß ich ihrer vollständig sicher zu sein glaubte. Ich hielt nur höchstens das Eine für nötig, sie wieder, wie vorhin, an den Ohren zu halten, und das ließen sie sich gerne gefallen. Jetzt versuchte auch der Dschirbani, sie zu liebkosen. Sie duldeten es nicht nur, sondern sie sahen dankbar zu ihm auf, und dabei gewannen ihre Augen einen rührend treuen und ehrlichen Ausdruck, der nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit dem frühern hatte. Da sagte er:
»Und solche Tiere zu verderben, gibt sich der Mensch so große Mühe! Wer steht da höher, er oder sie! Komm Ssahib!«
Wir gingen zunächst dorthin, wo Halef mit den Pferden hielt. Er war abgestiegen. Der Dschirbani blieb stehen, schaute ihm in das Gesicht und sprach:
»Ja, den bring mit morgen, wenn Du kommst!«
Dann betrachtete er die Pferde, still, lange Zeit und aufmerksam, mit bewundernden Blicken.
»Gefallen sie Dir?« fragte Halef, der es nicht über sich brachte, hierzu so lange zu schweigen.
Der Dschirbani lächelte zu dieser Frage, antwortete aber doch:
»Sie stammen nicht aus diesem plumpen Lande. Sie gehören zur Vision. Welch ein Glück für uns, wenn sie zur Wahrheit werden könnte!«
Wir gingen weiter, dem Kanale zu. Wir mußten an der Stelle vorüber, an welcher der Sahahr lag. Er hielt die Augen geschlossen. Den bei ihm befindlichen Männern war es noch nicht gelungen, das Blut zu stillen. Der Dschirbani trat hinzu; ich folgte ihm. Da sprangen sie auf und wichen zurück, um aus der Nähe des >Räudigen< zu kommen. Man hatte die Kleidung des Sahahrs aufgeschnitten und nun sahen wir die Wunde; sie sah gefährlich aus. Der untere Teil des Oberschenkels war zerfleischt und die Kniescheibe zerknirscht und zermalmt. Der Dschirbani griff in seinen Haïk, zog ein Päckchen sehr breiten Bastes aus der Tasche und sagte:
»Wenn diese Wunde nicht sehr sorgfältig behandelt wird, muß er an ihr sterben. Ich werde ihn verbinden.«
»Verstehst Du das?« fragte ich.
»Mein Vater war der berühmteste Arzt, den es gab. Ich bin sein Schüler.«
Er wollte sich zum Sahahr niederbeugen; da öffnete dieser die Augen, richtete sich in sitzende Stellung auf, streckte dem Dschirbani beide Hände mit weit ausgespreizten Fingern entgegen und rief ihm im Tone höchsten Abscheues zu:
»Zurück mit Dir! Rühre mich nicht an! Du bist verflucht!«
Da richtete sich der Dschirbani empor und antwortete, trotz der Beleidigung, im ruhigsten Tone:
»Es gibt außer mir hier keinen, der solche Verletzungen richtig zu behandeln versteht. Wirst Du aber schlecht verbunden, so tritt Brand und Gift hinzu, und Du mußt sterben!«
»So sterbe ich!« schrie der Sahahr. »Fort, fort! Laß Deine Hand von mir! Ich habe mit Dir, dem Räudigen und Wahnsinnigen, nichts zu schaffen!«
Der Dschirbani steckte den Bast wieder zu sich und ging, ich mit ihm.
»Schrecklich!« rang es sich über meine Lippen. Ich wollte schweigen, doch konnte ich nicht. Dieses eine Wort wenigstens mußte ich sagen. Dieser Haß war nicht nur abstoßend häßlich, |75B sondern geradezu unnatürlich. Aber der von seinem Großvater abgewiesene Enkel belehrte mich:
»Nicht schrecklich ist es, sondern im Gegenteile ganz natürlich. Er leidet an dem Selbstbetruge, daß ich verwandt mit ihm sei. Nun weißt Du aber bereits: wer die Lügen seiner Einbildung für Wahrheit hält, ist wahnsinnig. Nicht also ich bin irr im Kopf, sondern er ist geisteskrank. Was noch gesund in ihm ist, bäumt sich gegen diese Lüge auf, und es ist nur eine Folge seines Wahnsinnes, daß er diesen berechtigten Widerspruch in Haß und Empörung kleidet. Es wäre ungerecht, ihn wegen dieses Hasses nun gleich für einen bösen Menschen oder gar für einen unwürdigen Zauberpriester zu halten. Sein Haß entstammt dem Wahn; sein Glaube an Gott aber ist echt und wahr und frei von jeder Lüge. Ich bitte Dich, ihn zu achten!«
Wir hatten jetzt den Kanal erreicht. Da brachte man ein Floß gerudert. Es hatte in der Nähe gelegen und war vom Scheik herbeibeordert worden, um den verwundeten Sahahr nach seiner Wohnung zu schaffen. Das benutzte der Dschirbani, um über das Wasser hinüberzukommen. Sobald das Floß angelegt hatte, bestieg er es. Aber der Ruderer stieß einen Schrei des Schreckens aus und sprang an das Land, damit ihn der >Räudige< nicht berühre. Dieser achtete gar nicht hierauf, sondern richtete seine Aufmerksamkeit nur auf mich.
»Ich bedanke mich jetzt nicht bei Dir, Ssahib,« sprach er. »Wer derart handelt, wie Du an mir gehandelt hast, dem sagt man nicht Dank, sondern man lebt ihm Dank. Auch gebe ich Dir nicht die Hand, um Deinetwillen. Man würde sich scheuen, Dich zu berühren!«
Hierauf trieb er durch einen kräftigen Fußtritt gegen das diesseitige Ufer das Floß nach dem jenseitigen hinüber, stieg aus, stieß es wieder herüber und ging von dannen, langsam, ruhigen Schrittes, hoch aufgerichtet wie ein Herrschender, ohne nach rechts oder links zu schauen. Er schien die Menschen, die ihm, sobald er sich ihnen näherte, schleunigst Platz machten, indem sie vor ihm wie vor einem durch und durch Aussätzigen auseinanderprallten, gar nicht zu bemerken. Hier und da aber war es, als ob ihm nicht aus Furcht und Scheu, sondern aus Ehrerbietung Platz gemacht werde. Ich glaubte, dies deutlich zu sehen; es fiel mir auf.
Nicht weniger auffällig war das allgemeine Schweigen, mit dem man seine Befreiung entgegengenommen hatte. Wie gefährlich die Hunde gewesen waren, zeigte die Verletzung ihres eigenen Herrn. Anderwärts hätte man den waffenlosen Sieg über sie wahrscheinlich mit lautem oder gar stürmischem Beifall begrüßt. Hier hatte man nicht ein einziges Wort, einen einzigen Ruf gehört. Diese Stille beim glücklichen Erfolg stach ganz ungemein gegen die vielen, lauten und wohlgemeinten Zurufe ab, mit denen ich vorher gewarnt worden war, das Wagnis zu unternehmen. Welchen Grund das hatte, konnte ich mir wohl denken. Nun der Dschirbani seine Freiheit zurückerhalten hatte, lag es wieder wie ein Alp auf dem ganzen Volke, und da sich dieses vor der Ansteckung fürchtete, nahm es das, was ich getan hatte, nicht als Wohltat, sondern als etwas geradezu Gegenteiliges auf. Ich, der ich ihnen bisher so sehr willkommen, hatte ihnen gleich bei meinem ersten Schritt in die Stadt etwas außerordentlich Störendes und Unwillkommenes aufgezwungen. Daher die allgemeine Lautlosigkeit, die man wohl am besten als >Stille der Verlegenheit< bezeichnen kann. Denn daß es eine Verlegenheit nicht nur der einzelnen Person, sondern auch großer Menschenmassen gibt, versteht sich ganz von selbst.
Mein kleiner Halef schien sich mit ganz ähnlichen Gedanken zu beschäftigen. Er stand, die Zügel der Pferde in den Händen, neben mir, schaute dem sich entfernenden Dschirbani mit leuchtenden Augen nach und brummte, als dieser verschwunden, fast zornig vor sich hin:
»Undankbares Volk! Du hast Dein Leben doppelt und dreifach auf das Spiel gesetzt, und nun es Dir gelungen ist, sind alle Mäuler stumm. Aber nachmachen kann es keiner! Und schau nur die Augen, die sie auf uns richten! Eindruck hast Du doch auf sie gemacht! Da hast Du Dein Pferd und Deine Waffen. Wir müssen wieder hinüber!«
Wir stiegen wieder auf und ließen uns von unseren Pferden über das Wasser setzen. Die Frau des Scheiks befand sich noch |76A immer an der Stelle, wo wir sie verlassen hatten. Sie nahm uns wieder auf. Sie war die einzige, die beabsichtigte, uns ihren Beifall zu zollen. Eben wollte sie damit beginnen, da deutete sie erschrocken auf das Wasser des Kanals und rief:
»Die Unholde! Die Ungeheuer! Sie kommen hinter Dir her! Nimm Dein Gewehr! Schieß sie nieder!«
Die beiden Hunde waren hinter uns in das Wasser gegangen und schwammen herüber. Alles drängte voller Angst nach vorn und nach hinten, denn nach der anderen Seite konnte man nicht entweichen, weil da auch Wasser war. So wurde die Stelle, nach welcher die Hunde trachteten und wo ich mich mit Taldscha und Halef befand, frei. Jeder, der in der Nähe war, griff nach seiner Waffe, nach Messer, Pfeil oder Spieß, um sich zu schützen. Da hob ich warnend den Arm empor und rief:
»Hütet Euch, sie anzugreifen, zu verletzen! Sie würden dann wieder unbändig, wie zuvor! Ich stehe gut für sie!«
»Wenn Du Dich verbürgst, so bleibe ich bei Dir,« antwortete die Frau des Scheiks beherzt.
Ich sprang vom Pferde und trat an das Wasser, um die Hunde liebkosend zu empfangen. Da leckte mir der eine die ihm entgegengestreckte Hand, und der andere beeilte sich, diesem Beispiele zu folgen. Ich wartete, bis sie sich das Wasser aus den Zotteln geschüttelt hatten, und band sie dann mit Hilfe zweier Riemen rechts und links an meine Steigbügel. Sie ließen sich das nicht nur gefallen, sondern gaben durch ein befriedigtes Winseln sogar ihre Freude darüber zu erkennen. Sie betrachteten es als den Beweis, daß sie nun zu mir gehörten. Das hatten sie ja gewollt, und als ich nun wieder in den Sattel stieg und das Pferd sich in Bewegung setzte, bellten sie laut und gingen fröhlich nebenher.
|77A Die Frau des Scheiks blickte mich mit dem Ausdrucke unverhohlenen Erstaunens an.»Welch ein Wunder!« rief sie. »Du bist auf alle Fälle ein größerer und unendlich geschickterer Zauberer als der Sahahr!«
»Durch Verstand und Liebe gut zu machen, was der Unverstand und Haß verschuldet hat, dazu bedarf es nur des guten Willens, nicht aber eines Wunders oder gar der Zauberei,« antwortete ich. »Ein Wunder ist es nur, daß Ihr das Selbstverständliche und Natürliche für ein Wunder haltet. Bei allem, was soeben geschehen ist, beschäftigt mich nur die eine Frage, ob ich unnütz gehandelt habe oder nicht.«
»Unnütz? Wieso?«
»Ist der Dschirbani nun wirklich frei?«
»Ja, wirklich!« versicherte sie.
»Für wie lange?«
»Für immer!«
»Er kann nicht wieder eingesperrt werden?«
»Als Aussätziger und Wahnsinniger nie wieder. Der Sahahr hat ihn freigegeben, und zwar unter Bedingungen, die von Dir erfüllt worden sind. Er ist also von jetzt an, bis er stirbt, ein freier Mann, dem niemand etwas anhaben darf, so lange er sich nicht in anderer und neuer Weise gegen die Gesetze der Ussul vergeht. Ich habe seine Freiheit gewünscht. Ich habe Dich um sie gebeten. Ich möchte nun gern von meinem Dank sprechen; aber ich habe nun gehört, was er hierüber sagte, nämlich daß man solchen Dank zu leben hat und nicht nur von ihm reden soll. Ich halte seine Ansicht für klug und weise und richte mich nach ihr, indem ich für jetzt schweige, um von nun an durch die Tat mit Dir zu sprechen. Das, was Du wünschest, soll mir nicht weniger wert sein, als mein Wunsch Dir gewesen ist. Ich bitte Dich, mich Deine Freundin nennen zu dürfen!«
»Du darfst nicht nur, sondern ich bitte Dich sogar darum, und zwar recht herzlich! Es ist mir eine große Beruhigung, zu wissen, daß diese Befreiung des Dschirbani für das ganze Leben gilt. Auf den Vorwurf, daß er wahnsinnig sei, habe ich ihn noch nicht prüfen können, aber einen Ausschlag hat er keineswegs. Ich habe ihn daraufhin sehr scharf betrachtet. Seine Haut ist unter und zwischen dem Haar nicht nur vollständig rein und blütenweiß, sondern an den Wangen rosig angehaucht wie bei einem jungen Europäer, durch dessen Adern noch keine Spur von Sünde und Krankheit rollt. Ihn gar als räudig zu bezeichnen, ist unbedingt eine Lüge!«
»Das nicht, das nicht!« entgegnete sie. »Der Ussul kann sich irren, lügen aber nicht. Wenn der Sahahr von einer Krankheit spricht, die er als Räude bezeichnet und ansteckend nennt, so hat er das für wahr gehalten - - -«
»Aber nur in seinem Wahnsinn!« unterbrach ich sie.
»Wahnsinn?« erkundigte sie sich. »Hält ihn der Dschirbani etwa für geisteskrank, für irr?«
|77B »Ja.«
»Sonderbar! Seine Frau ist derselben Meinung.«
»Wessen Frau?«
»Des Zauberers Frau. Haben wir noch nicht von ihr gesprochen?«
»Nein, ich erfahre erst in diesem Augenblicke, daß er eine Frau hat.«
»Und zwar eine, die bedeutender ist als er. Sie ragt hoch über ihn empor. Ich möchte sagen, daß sie die Seele, er aber nur der Körper ist. Ich verkehre viel mit ihr. Du wirst sie kennen lernen, vielleicht sogar schon heute. Aber sag, was schaust Du so erstaunt um Dich?«
Diese Frage bezog sich auf eine Beobachtung, die ich erst jetzt machte, weil wir nun in das Innere der Stadt, in ihre bewohnte Gegend, gekommen waren. Hier wurde der Weg, den wir ritten, viel breiter als bisher, zuweilen hörten die Kanäle auf, und es gab freie Plätze, an denen die Wohngebäude der Reichen und Vornehmen standen. Hier hatten sich viel mehr Menschen aufgestellt, als bisher, und unter ihnen bemerkte ich auffallend viel Verletzte, Verunstaltete und Krüppel, die, wenn sie auch nicht zusammen, sondern allein standen, doch infolge einiger Eigentümlichkeiten ihrer Kleidung als zusammengehörig erschienen. Sie hatten nämlich alle sehr hohe, lederne Stiefel an, die denen unserer Kürassiere und Gardereiter glichen. An diesen Stiefeln steckten ungeheuere Reitsporen mit riesigen Rädern, die bei jedem Schritte laut klirrten, und darauf schienen die so armen Leute außerordentlich stolz zu sein. Auf dem Rücken trug jeder von ihnen einen schwer gefüllten, rucksackähnlichen Ranzen aus Hundefell. Den Inhalt konnte man nicht sehen. Hierzu kamen zwei eiserne Nachbildungen von Kanonenrohren, auf jeder Achsel eines, natürlich in verkleinertem Maßstabe. Die Rohre hatten etwas mehr als die Länge der Achselbreite. Sie ragten also noch ein wenig über die Schultern hinaus, was der betreffenden Person den Ausdruck größerer Körperentwicklung und Kraft verlieh. Man hat sich diesen Schmuck oder diese Auszeichnung so ungefähr als Achselklappe oder Epaulette zu denken, unter der auf der linken Seite in heller Schrift >Wir sterben für< und auf der rechten Seite >den 'Mir von Ardistan< zu lesen war. Wie ich später sah, gab es nicht nur solche eiserne, sondern auch versilberte und sogar vergoldete Kanonenrohre, je nach der Höhe des Ranges, den diese Leute auf der Stufenreihe ihrer öffentlichen Geltung einnahmen. Alle, die ich während unseres Einzuges hier stehen sah, hatten ein sehr hilfsbedürftiges Aussehen. Dennoch hielt ich sie nicht für gewöhnliche Krüppel, sondern für eine Art von Kriegsinvaliden, die es verdienten, daß man sie achtete. Darum widmete ich ihnen im Vorüberreiten meine besondere Aufmerksamkeit, die von der Frau des Scheiks bemerkt worden war. Daher ihre Frage, warum ich so um mich schaue.
|78A »Dir scheinen unsere Soldaten aufzufallen,« fuhr sie fort.
»Soldaten?« fragte ich. »Du meinst Veteranen, die Gebrechlichen, die Siechen, die Verabschiedeten?«
»O nein! Sie sind Soldaten, wirklich Soldaten!«
»Das heißt, sie sind nicht als invalid zu betrachten? Sie kämpfen noch?«
»Ja, sobald ein Krieg entsteht. Dazu sind sie da. Sie sind es auch, welche das eigentliche Heer bilden werden, wenn es so weit kommt, daß wir den Tschoban entgegenziehen.«
»Und so sind sie es wohl auch, die Euch verteidigt haben, so oft Ihr von den Tschoban belagert wurdet?«
»Gewiß! Auch das waren sie! Sie sind ja für nichts anderes zu brauchen!«
»So! Hm! Für nichts anderes zu brauchen! Bei Euch nimmt man also zum Kriegführen nur Leute, die sonst unbrauchbar sind?«
»Natürlich! Ist das etwa bei Euch anders?«
»Ja! Da sucht man grad die besten, die kräftigsten, die gesündesten heraus!«
»Wie schade, jammerschade! Ich habe geglaubt, daß bei Euch alles so klug, so weise, so wohlüberlegt gehandhabt wird, und nun erfahre ich von Dir grad das Gegenteil!«
»Kannst Du mir beweisen, daß Ihr in dieser Sache mehr Klugheit und mehr Überlegung zeigt als wir?«
»Ja! Sofort!«
»So tue es!«
»Sehr gern! Du weißt, es gibt Krieg und es gibt Frieden. Welches von beiden ist der natürliche Zustand, den Gott will und den auch wir wollen?«
»Der Friede.«
»Du gibst also zu, daß der Krieg nur die unglückliche Ausnahme von der glücklichen Regel ist?«
»Ja.«
»Sehr gut! Doch weiter: Es gibt nützliche Menschen und es gibt unnütze, ja, sogar schädliche Menschen. Welcher Zustand von beiden ist der natürliche, der erstrebenswerteste Zustand: nützlich zu sein oder unnütz, wohl gar schädlich zu sein?«
»Der erstere.«
»Wie würdest Du wohl einen Menschen nennen, der anstatt das Gute zum Guten und das Nützliche zum Nützlichen zu fügen, das Böse zum Guten und das Schädliche zum Nützlichen gesellt? Würdest Du ihn für klug, für weise, für wohlüberlegt halten?«
»Nein.«
»Also gehören die nützlichen Menschen, die gesunden, die arbeitsfähigen, zum Frieden, die andern aber für den Krieg! Es ist eine unverzeihliche Unklugheit und Sünde, grad die Ernährer des Volkes dem Feinde entgegenzusenden, damit er sie vernichte! Wir tun das Gegenteil: wir behalten sie daheim -«
»Und werdet darum fast regelmäßig geschlagen!« warf ich ein.
»Nein! Nicht regelmäßig, sondern nur meist! Aber bedenke, daß die Tschoban nur kommen, um Herden zu stehlen. Ich nehme an, daß sie uns überfallen und tausend Ochsen rauben. Ich kann das verhüten, indem ich ihnen zweihundert oder dreihundert junge, kräftige Männer opfere, die im Kampfe mit ihnen getötet werden. Effendi, ich sage Dir, daß mir die Wahl zwischen diesen tausend Ochsen und dreihundert Jünglingen nicht schwer fallen kann. Ich werde mit Freuden die Ochsen geben, um die Menschen zu retten! Es kann uns nicht einfallen, dem 'Mir von Ardistan grad unsere besten und auserwähltesten Leute zu schicken, zumal der Tribut, den er außerdem von uns verlangt, kaum zu erschwingen ist.«
»Ihr zahlt Tribut?« fragte ich.
»Ihr etwa nicht?« fragte sie entgegen.
»Nein,« antwortete ich.
»Wie nennt Ihr es sonst?«
»Steuern.«
»Das ist genau dasselbe. Steuern sind erzwungener Tribut. Keiner gibt sie gerne. Werden sie für Werke des Friedens verwendet, so bringen sie Segen. Verlangt man sie aber für den Krieg, so bringen sie Fluch. Die Steuer, die wir dem 'Mir von Ardistan bezahlen, ist nur für den Krieg. Wir haben genau soviel zu entrichten, wie die Unterhaltung seiner Leibgarde kostet. Diese Leibgarde besteht nur aus hochgewachsenen Ussul, |78B mit denen er prangt, und vor denen sich alle fürchten. Die haben wir ihm natürlich auch zu liefern. Wir rechnen also folgendermaßen: Wir haben die Leibgarde und alles zu liefern, was zu ihrer Unterhaltung erforderlich ist; folglich liefern wir nur solche Leute, die wir los sein wollen oder die wir auch hier in der Heimat ohnedies unterhalten müßten, ohne daß wir Nutzen davon hätten. Das sind die Kranken, die äußerlich und innerlich Kranken, die Faulen, die Leichtsinnigen, die Unzuverlässigen, die Lügner, die Diebe. In dieser Weise verhindern wir Verbrechen und ersparen Gefängnisse. Nur darum konnten wir Dir versichern, daß kein Ussul Dich belügen werde, denn die Schlechten sind bei dem 'Mir, nicht aber mehr bei uns.«
»Fügen sie sich denn diesem Brauche, Soldat zu werden?«
»Mit Freuden!«
»Und auch körperlich Kranke sendet Ihr?«
»Ja. Nur müssen sie die vorgeschriebene hohe Statur besitzen. Es gereicht ihnen fast stets zum Nutzen. Sobald sie aus unsern niedrig liegenden, feuchten Wäldern heraus in die Sonne und hinauf in die Berge kommen, werden sie gesund. Auch die sittlich Kranken pflegen gesund zu werden. Die Zucht des 'Mir von Ardistan ist streng. Wer sich hier nicht fügt, der geht zugrunde. Daher kommt es, daß alle diejenigen seiner Leibgardisten, die er auf ihren Wunsch ausscheidet und in die Heimat schickt, sehr brauchbar gewordene und bewährte Menschen sind, die ihren Stolz dareinsetzen, hier bei uns geachtet zu werden. Wir haben es für vorteilhaft gehalten, aus ihnen unser kleines, stehendes Heer zu bilden, und ich bin überzeugt, daß Du uns sehr bald dafür loben wirst. Du wirst eine ganze Abteilung von ihnen sehen, die bereitsteht, uns zu empfangen, denn unsere Ankunft ist gemeldet worden. Nur noch zwei Minuten, so sind wir am Palast. Erlaube mir, mich wieder zum Scheik zu gesellen!«
Sie trieb ihr Pferd an und befand sich nach wenigen Augenblicken an der Seite ihres Gemahls. Ich war nun wieder mit Halef allein in Reih und Glied. Dieses Glied im Zuge nahm allerdings beträchtlich mehr Raum ein als die andern Glieder, und zwar wegen der Hunde. Man traute ihnen nicht. Voran ritt der Scheik mit seiner Frau, dann folgte die Hälfte der Ältesten, hierauf kamen wir beide. Hinter uns hatten wir die andere Hälfte der Ältesten, denen sich der übrige Zug mit der abschließenden Menge Schaulustiger anfügte. Die vordere Hälfte beeilte sich derart, aus der Nähe der Hunde zu kommen, und die hintere Hälfte zögerte so sehr, sich ihnen zu nähern, daß ich mit Halef mitten in einer großen Lücke ritt, die sich nicht schließen wollte. Die Leute, an denen wir vorüberkamen, konnten uns also sehr bequem und deutlich von allen Seiten betrachten. Der Eindruck, den wir hervorriefen, schien keineswegs ein solcher zu sein, daß wir uns etwas auf ihn zu gute tun durften. Wir und unsere Pferde waren ihnen zu klein. Man konnte das ihren Bewegungen entnehmen, die eine Enttäuschung aussprachen. Die Kunde von uns war uns vorausgeeilt. Was Halef von uns erzählt und berichtet hatte, war höchst wahrscheinlich schon überall bekannt. Und nun konnten diese guten Menschen, die gewohnt waren, nur nach der Körpergröße zu urteilen, das, was sie gehört hatten, mit unsern kleinen, zerbrechlich erscheinenden Gestalten nicht in Einklang bringen.
Jetzt tauchten vor uns zwei große, turmartige Bauwerke auf, die um so massiger zu werden schienen, je mehr wir uns ihnen näherten. Unser bisheriger Weg nahm ein Ende. Er mündete auf einen großen, freiliegenden Platz von genau quadratischer Form. Die uns gegenüberliegende Seite wurde vom Fluß begrenzt und schien den Hauptlandeplatz zu bilden. An den beiden übrigen Seiten, also rechts und links von uns, standen die erwähnten Türme, die einander vollständig glichen, nur daß der eine Fenster hatte, der andere aber nicht. Sie bildeten genau nach dem Zirkel gebaute Mauerringe im äußern Durchmesser von vielleicht hundertfünfzig Schritten. Die Höhe der Mauer betrug ungefähr zwanzig Meter; aber die Höhe der Türme war viel beträchtlicher, denn aus der Mauer stiegen viele aus sehr starken Holzstämmen gezimmerte Säulen empor, welche das Dach trugen. Dieses Dach zeigte die Form eines riesigen Regenschirmes, dessen Stock aus den stärksten Bäumen zusammengesetzt war und im Innern der Türme genau auf dem Mittelpunkt |79A des Kreises stand. An diesem Stock führte eine aus einzelnen Gliedern bestehende Holztreppe nach der Höhe empor, nach einer kleinen, mit Geländer versehenen Plattform, die hoch oben auf der Spitze des Schirmdaches lag. Die Säulen, auf welchen das Dach ruhte, waren nicht durch Zwischenwände verbunden, sondern standen frei und ließen eine solche Fülle des Lichtes in das Innere fallen, daß man auf Fenster allerdings verzichten konnte. Dennoch war das Innere vollständig gegen den Regen geschützt, weil das Dach rundum weit über die Mauer hinausgriff und dadurch den Regen verhinderte, hereinzufallen. Auch die beiden sehr hohen und breiten Tore glichen einander vollständig; sie besaßen die allereinfachste Steinrahmung und enthielten keine Spur eines künstlerischen Schmuckes oder Gedankens.
Der Turm rechts von uns, der nur die nackte Mauer und kein einziges Fenster zeigte, war der sogenannte >Tempel<; der andere, zur Linken von uns liegend, war der >Palast<. Letzterer hatte rundum vier Reihen von Fensteröffnungen, aber klein, schießschartenähnlich und ohne Glas und Rahmen. Dieser Turm war innerlich ausgebaut, mit Balken und Wänden von Holz. Die Zimmer, Stuben, Gemächer oder wie man sie sonst nennen will, lehnten sich an die Mauer. Jedes von ihnen hatte ein, zwei oder auch mehrere Fenster. Es gab auch einige größere Räume, welche als Säle dienten. Die Zimmer füllten aber nicht den ganzen Innenraum, sondern es blieb in der Mitte, also um den Stock des Regenschirmes herum, ein freier Platz, so eine Art Innenhof, auf dem sich zwei mächtige Feuerherde befanden; die auf dem Boden liegenden Matten und Kissen deuteten darauf hin, daß er bei schlechtem Wetter die Versammlungs-, Beratungs- und Unterhaltungshalle bilde.
So viel über den >Tempel< und den >Palast< der Ussul. Es hatte ihnen genügt, zwei steinerne Gebäude von dieser Größe zu besitzen. Von einer Architektonik war keine Rede. Aber diese Türme wirkten doch und zwar grad durch ihren Mangel an Ausdruck und Geist. Man sah, dieses Volk hatte architektonisch reden wollen, aber es nicht vermocht und es nur zu diesem einen gewaltigen Schrei, zu diesem einen, großen, unartikulierten Ausruf gebracht; dann war es in das frühere Schweigen zurückversunken und fortan stumm geblieben. Stumm, vollständig stumm? Doch nein! Ein zweiter Versuch war noch gemacht worden, wenn auch nicht auf architektonischem, sondern auf mehr rein plastischem Gebiete. Nämlich zwischen den breiten Turmmassiven, grad auf dem Mittelpunkte des freien Platzes, an dem sie lagen, stand auf einem hohen Backsteinunterbaue die nicht ganz übel gelungene Statue eines gesattelten Pferdes, welches aus starken Holzteilen zusammengesetzt und dann durch Farbe vor den zerstörenden Angriffen des Witterung geschützt worden war.
Massig, schwer und wohlbeleibt, so stand das Pferd hier auf seinem Postament. Es war, wie gesagt, nicht übel geraten, aber wenn man den Kopf nur ein ganz wenig veränderte und hüben und drüben ein Horn ansetzte, so war es ein Ochse. Aber daß es keinen Ochsen, sondern ein Pferd vorstellen sollte, ersah man schon daraus, daß es einen Reiter trug, wenigstens grad in dem Augenblick, als wir den Platz erreichten. Dieser Reiter war lebensgroß, das heißt, nach den Maßen der Ussul. Das Pferd aber war über lebensgroß, und darum erschien der Reiter viel zu klein für dieses außerordentlich wohlbeleibte Roß. Man fragte sich, wie der Künstler auf so ein Mißverhältnis hatte kommen können. Und auch über einen noch anderen Punkt war man sich bei Betrachtung dieses Denkmals nicht klar, nämlich über das Material, aus dem man den Reiter gefertigt hatte. Das Pferd bestand, wie bereits gesagt, aus Holz. Der Stoff aber, aus dem die darauf sitzende Gestalt bestand, war nicht zu erkennen, denn die Gestalt war vollständig bekleidet und mit wirklichen Kleidungsstücken angetan. Auch das Gesicht verriet das Material nicht, weil es über und über behaart war. Der Bildhauer hatte diese Behaarung so vorzüglich, so außerordentlich gut getroffen, daß man versucht war, auch sie für natürlich zu halten. Auf dem Kopfe des Reiters saß ein heller, großer, indisch gewundener Turban mit einem sehr hohen Agraffenbusch aus Reiherfedern. Die Gestalt war in eine Art von Krönungsmantel eingehüllt, der aus rotem Zeug gefertigt, am Kragen und längs des unteren Saumes mit weisem Pelz besetzt |79B war. Infolge der großen Länge und Weite dieses Mantels bedeckte er nicht nur die ganze Figur des Reiters, sondern auch noch den hinteren Teil des Pferdeleibes; man sah nicht einmal die Steigbügel mit den Füßen.
»Ein Denkmal!« sagte Halef erstaunt. »Hier bei den Ussul! Also von Kunst haben sie auch etwas. Wer hätte das gedacht! Den Reiter sehe ich mir noch genauer an. Wie schade um den schönen roten Mantel und um den weißen Turban mit dem Federbusch, wenn es regnet! Jetzt haben wir leider keine Zeit dazu, ihn aufmerksam zu betrachten!«
Das war richtig. Denn der Scheik hatte, sobald die beiden Türme in Sicht kamen, sein Pferd in Trab gesetzt, und wir mußten in demselben Tempo folgen. Er wollte hierdurch den Eindruck erhöhen, den wir zu machen hatten. War doch der große Platz ebenso wie seine Umgebung mit einer bedeutenden Menschenmenge derart angefüllt, daß wir nur noch Raum für uns und die Ältesten fanden, um hindurch zu gelangen; die übrigen mußten bleiben, wo sie waren.
Alles war still. Diese Schweigsamkeit war mehr als musterhaft zu nennen; sie hatte etwas Enttäuschendes, fast gar Beängstigendes. Doch sie fiel nur uns beiden Fremden auf; die Einheimischen waren das gewohnt. Übrigens wurden wir zwei durch das rund um uns vorhandene Menschengedränge nicht im geringsten belästigt. Man hielt sich der Hunde wegen in möglichst großer Entfernung von uns.
Als wir uns dem Tore des >Palastes< näherten, sahen wir zu beiden Seiten desselben je eine Kanone aufgepflanzt; bei jeder standen vier Soldaten von der bereits beschriebenen Art. Der eine hielt die brennende Lunte, der zweite den Schrupper zum Auswischen des Rohres, der dritte und der vierte einen Sack voll Pulver und das Zündkraut bereit. Seitwärts war die >ganze Kompagnie< Soldaten aufmarschiert, von der die Frau des Scheiks gesprochen hatte. Wir hielten nahe vor ihrer Front an, um den militärischen Pomp zu genießen, den man uns zugedacht hatte. Der Scheik und seine Frau hielten sich neben uns, um uns nötigenfalls Auskunft zu erteilen. Die Kompagnie zählte vierzig Mann, die mit langen Schleppsäbeln und Feuersteingewehren ausgerüstet waren. Sie bildeten nicht eine Doppel-, sondern eine einfache Linie. Das war länger und imponierte also mehr. Diese Leute waren alle barhaupt, hatten aber die schon erwähnten hohen Reiterstiefel mit mächtigen Sporen an und den gewaltigen, wohlgefüllten Rucksack auf dem Rücken. Es gab da alle möglichen Blessuren, Verwundungen und Krüppelhaftigkeiten zu sehen: ein- und anderthalbbeinige, ein- und anderthalbarmige Leute. Da war kaum ein Körperteil oder Sinneswerkzeug, das nicht bei einem oder einigen entweder fehlte oder doch wenigstens verletzt worden war. Aber sie standen alle höchst wohlgenährt und stramm in Reih und Glied, und als sie nun zu exerzieren begannen, waren ihre Bewegungen so frisch und lebhaft, daß man sah, sie seien mit ganzem Herzen bei der Sache. Zwei waren um einen Schritt vor die Front herausgerückt; sie trugen kein Gewehr, sondern hielten den gezogenen Säbel in der Hand.
»Das sind die Leutnants,« erklärte mir der Scheik. »Du siehst, ihre Kanonenrohre auf der Achsel sind nicht schwarz, sondern versilbert.«
Einer stand noch weiter voraus, grad in der Mitte. Der hatte auch einen Säbel, aber hochrote Achselrohre.
»Wer ist das?« fragte ich.
»Das ist der Oberst,« belehrte man mich.
»Da fehlen doch der Oberleutnant, der Hauptmann, der Major und andere!«
»Ja, die fehlen allerdings,« gestand er ein. »Die haben wir nicht, weil uns das viel zu viel Geld kosten würde.«
»Aber ich habe nur von eisernen, von versilberten und vergoldeten Achselrohren gehört, nicht aber von roten!«
»Ja, das ist auch richtig! Als Oberst müßte er eigentlich vergoldete haben, die aber waren mir zu teuer. Da habe ich sie ihm rot anstreichen lassen, und ich finde, daß sie ganz gut aussehen. Er freute sich sogar selbst darüber und sagte, das sei noch niemals dagewesen. Weißt Du, Soldaten haben ist eigentlich gar nicht übel. Man kann dann doch zeigen, wer man ist. Aber sobald es aufhört, einträglich zu sein, und anfängt, |80A Geld zu kosten, so will ich lieber verzichten! Man kann sich doch ganz unmöglich große Kosten machen, um Leute zu erhalten, die im Grunde genommen nur dazu da sind, andere umzubringen! Doch merkt jetzt auf! Das Schießen beginnt! Zunächst mit Kanonen! Alles Euch zu Ehren!«
Er hatte diese seine Ansicht über die Daseinsberechtigung des Soldatenstandes in einem so unbefangenen, ehrlichen Tone ausgesprochen, als ob man überhaupt gar nicht anders denken könnte. Halef, dem der Anblick von Truppen stets Freude bereitete, lächelte mich heimlich an. Ich antwortete nicht. Was ich hier zu entgegnen hatte, konnte ich später viel besser sagen als jetzt, wo augenscheinlich sehr große Dinge vorbereitet wurden. Der Oberst wendete sich den Kanonieren zu, erhob den Säbel hoch und rief:
»Paßt auf!«
Um zu zeigen, daß sie dieses Kommandowort auf sich bezogen und auch erfüllen wollten, warf jeder der acht Feuerwerker den Kopf so weit wie möglich in den Nacken.
»Laden!« befahl der Oberst.
Kaum hatte er das gesagt, so sprangen die acht Artilleristen mit einem Eifer auf die Geschütze ein, als wollten sie die ganze Welt in Grund und Boden schießen. Wer nicht wußte, um was es sich handelte, der hätte glauben können, daß es ihre Absicht sei, einen Kriegstanz oder Ringelreigen aufzuführen. Dabei wurde gestoßen, geschoben, geklopft, gepocht, geschüttet, gerüttelt, gewischt, geächzt, gestöhnt, gestrampelt und gesprungen, daß ihnen der Schweiß aus allen Poren brach.
»Es wird Großartiges geleistet!« rief der Scheik voll Anerkennung aus, zu mir gewendet. »Zehn Schüsse! Bedenke, zehn Schüsse! Wie teuer! Und alles Euch zu Ehren!«
Endlich standen die Kanoniere wieder still. Der Mann mit der Lunte blies diese kräftig an.
»Paßt auf!« befahl der Oberst wieder.
Abermals flogen die Köpfe hintenüber. Die Menge aber, auf welche die Läufe gerichtet waren, duckte sich unwillkürlich.
»Feuer!« brüllte der Oberst mit aller Macht.
Da tippte der Mann mit der Lunte die Kanone von hinten an, einmal - zweimal - - vier- und fünfmal - - - doch vergebens! Und genau wie bei der einen, war es auch bei der anderen Kanone! Es fiel weder der einen noch der anderen ein, zu tun, was ihnen zugemutet wurde.
»Was ist denn los?« fragte der Kommandeur.
»Es geht nicht los - !« antworteten die beiden Luntenleute.
»Warum denn nicht?«
»Das Pulver ist ganz naß!« erklärte der eine, und der andere fügte hinzu: »So habe ich also recht? Ich habe gleich von allem Anfang gesagt, daß es nicht zünden wird! Du wolltest es aber nicht glauben!«
Dieser Vorwurf war an den Obersten gerichtet. Der warf einen verlegenen Blick auf den Scheik und klagte:
|80B »Es ist ein wahres Unglück mit dem ewig nassen Pulver hier in diesem feuchten Lande! Was kann man da tun? Was soll ich machen?«
Da wendete sich der Scheik an mich:
»Du weißt, daß die Schüsse nur Euch gewidmet sind. Und Du hörst, daß das Pulver nicht Feuer fangen will. Bestehst Du auf den zehn Schüssen, die ich Dir versprochen habe, so müssen wir es trocknen!«
»Wie lange dauert das?« erkundigte ich mich.
»Drei oder vier Tage.«
»So bitte ich Dich, diese tapfere Artillerie ja nicht unnütz zu bemühen! Denn das Pulver würde ja doch wieder feucht.«
»Allerdings. Du bist also bereit, zu verzichten?«
»Ja.«
»Ich danke Dir! Zehn Schüsse kosten doch immerhin Geld.«
Er sagte das so laut, daß auch die Soldaten es hörten. Darum rief nun der Oberst zu ihm herüber:
»So sind wir mit der Batterie wohl fertig?«
»Ja,« nickte der Scheik.
»Und das Exerzieren der abgestiegenen Gardereiter kann beginnen?«
»Ja!«
Jetzt wendete sich der Oberst der langen Linie zu und donnerte sie an:
»Paßt auf!«
Ein jeder von ihnen gab sich einen kräftigen Ruck, um dem Befehle nachzukommen. Hierauf folgten höchst eindrucksvolle Bemühungen, um zu zeigen, wie man einen Menschen tot schieße. Die Sache wurde sehr anschaulich gemacht. Das Pulver schien hier bedeutend trockener zu sein als bei der Artillerie, denn von den vierzig Gewehren gingen ungefähr zwanzig bis fünfundzwanzig wirklich los, wenn auch nicht zugleich. Immerhin aber ergaben jene Flinten, die nicht losgingen, eine Pulverersparung von über vierzig Prozent, was den Scheik in eine derartige gute Laune versetzte, daß er immerfort schallend Beifall |81A rief. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich in seine Begeisterung einstimmte. Halef gab sich alle Mühe, ihn und mich zu überschreien. So wurden auch die Ältesten angesteckt, daß sie anfingen, mitzuschreien. Und nun öffnete auch Smihk, der Dicke, sein Maul und brüllte in allen möglichen Tönen mit, daß es über den ganzen, weiten Platz erschallte. Das wirkte überwältigend. In der Menge wurden erst einige und dann immer mehr mit fortgerissen, bis sich endlich alles an dem Heidenlärm beteiligte. Das ergab einen Spektakel, der gar kein Ende nehmen wollte. Alles war entzückt. Und als sich das Getöse endlich zu legen begann, schritt der Oberst in seiner stolzesten Haltung auf uns zu, machte Honneur und fragte den Scheik:
»Bist Du zufrieden?«
»Ja,« antwortete dieser.
»Und Du?« wurde auch ich gefragt.
»Sehr zufrieden! Sage Deinen tapferen Truppen, daß ich mich über sie freue!«
»Und Du?« wendete er sich nun auch an Halef.
»Ich bewundere Euch!« lobte dieser. »Ich bitte Dich, Deinem Heere zu berichten, daß wir es für unüberwindlich halten!«
Der Kommandant kehrte zu seinen Leuten zurück, um ihnen diese Anerkennung mitzuteilen. Über dieses Lob waren sie so erfreut, daß die >abgesessenen Gardereiter< diejenigen Flinten, die losgingen, noch einmal abschossen, ohne den Befehl hiezu erhalten zu haben. Auch die beiden Luntenträger von der Artillerie machten noch einen sehr ernstlichen Versuch, ihr feuchtes Pulver anzuzünden. Aber es gelang nicht. Und nun war der feierliche Empfang vorüber. Ich bedankte mich bei dem Scheik und seiner Frau für diese ungewöhnliche Ehrung. Halef folgte meinem Beispiele, und dann wurden wir gebeten, von den Pferden abzusteigen und mit in das Innere des >Palastes< zu gehen, um den >Willkommen< zu essen und zu trinken. Ich bedeutete den Hunden, bei den Pferden zu bleiben; sie verstanden mich sogleich, setzten sich nieder und blieben bis zu unserer Rückkehr sitzen.
|81B Das Innere des >Palastes< sah beinahe wie ein Zirkus aus, in dem man sich nur auf der runden, in der Mitte liegenden Arena bewegen kann, weil der ganze Zuschauerraum ringsum von unten bis oben mit Brettern verschlagen ist. Hinter diesen Brettern lagen die ein-, zwei- und mehrfenstrigen Stuben und Räume, von denen ich bereits gesprochen habe; zu den oberen führten schmale Holztreppen empor. Der Mittelplatz, zu dem man uns geleitete, erhielt sein Licht nur von oben. Auf den beiden Herden brannten mächtige Holzfeuer, an denen mehrere Rinderviertel und kleinere Fleischstücke brieten. Gekocht wurde in großen, irdenen Töpfen. Auch gebacken wurde, und zwar lange, schmale Brote, die beinahe so dünn wie Kuchen waren.
»Großartig, Sihdi! Großartig!« sagte Halef entzückt, indem er mit der Zunge schnalzte.
Ihm bereitete nämlich der Geruch und Genuß von neubackenem Brote das denkbar größte Behagen.
»Was meinst Du da, das Fleisch oder das Brot?« fragte Taldscha, als sie seine Worte hörte.
»Das Brot!« antwortete er und machte dabei ein Gesicht, das in lauter Wonne glänzte.
Sie lachte und sprach:
»Des Brotes wegen haben wir Euch ja in dieses Haus geführt. Ihr sollt den >Willkommen< essen, und der besteht aus Salz und Brot. Erlaubt, daß ich Euch gebe!«
Sie ging an den Herd, auf dem die noch warmen, duftenden Brote lagen, bestreute eines mit Salz und brach es dann für uns vier Personen in ebenso viele Teile. Die üblichen Worte, die sich auf die Rechte und Pflichten des Wirtes und des Gastes beziehen, wurden gegenseitig ausgewechselt, und dann aß jeder seinen Bissen.
»Noch ein Stück, aber ein ganzes!« bat Halef.
Taldscha erfüllte diesen Wunsch mit Wonne, sah lächelnd zu mir herüber und fragte:
»Auch Du noch eins, Effendi?«
»Ja, bitte, ein ganzes!« antwortete ich.
Sie holte uns das Gewünschte. Da setzte sich Halef gleich auf den ersten besten Bastdeckel nieder, der an der Erde lag, und begann zu schmausen.
»Komm, Sihdi!« sagte er, indem er ein wenig zur Seite rückte, um mir Platz zu bieten. »Setz Dich mit her! ich stehe nicht eher wieder auf, als bis ich fertig bin!«
Ich folgte dieser Aufforderung ungesäumt. Das war allerdings im höchsten Grade unzeremoniell gehandelt, aber der Scheik und seine Gattin freuten sich darüber, und später äußerte man sich meinem kleinen Hadschi gegenüber, daß wir uns durch die ungezwungene Aufrichtigkeit, mit der wir ihre Backkunst ehrten, die Herzen aller Anwesenden im Nu gewonnen hatten.
|82A Taldscha entfernte sich für kurze Zeit. Als sie zurückkehrte, hatte sie einen großen Steinkrug in der einen und vier kleine, chinesische Porzellantäßchen in der andern Hand. Die letzteren gehörten jedenfalls zu ihrem kostbarsten Besitz.
»Der >Willkommen< wird bekanntlich nicht nur gegessen, sondern auch getrunken,« sagte sie. »Ich bringe Euch also auch den Simmsemm, der hierbei üblich ist.«
Sowohl Simm als auch Semm heißt: Gift; Simmsemm bedeutet also Doppelgift. Das klang nicht sehr verführerisch. Die Flüssigkeit, die sie in die Täßchen goß, war durchsichtig hell und roch sehr stark nach Spiritus. Der Scheik sprach einige begrüßende und bewillkommnende Worte und trank sodann seine Tasse in einem Zuge aus. Halef antwortete ihm in seiner höflichen Weise und schluckte dann das Zeug ebenfalls mit einem Male hinab. Ein gewaltiger Hustenanfall war die Folge. Auch Taldscha trank aus; ich sah aber, daß sie sich nur sehr wenig eingegossen hatte. Leider durfte ich dieses messerscharfe Getränk nicht fortschütten; es mußte getrunken werden, weil es eben der >Willkommen< war. Ich tat es so langsam wie möglich und darf der Wahrheit gemäß gestehen, daß ich bis hierher noch niemals etwas so ätzend Widerliches getrunken hatte.
»Verzeihung, o Scheik!« bat Halef, als er seinen Hustenanfall überwunden und die ihm aus den Augen perlenden Tränen abgetrocknet hatte. »Ich habe keineswegs die Absicht, diese Art, uns willkommen zu heißen, zu tadeln, aber ich muß Dich wenigstens bitten, mir zu sagen, was für ein Höllentrank und Teufelswasser das ist, damit ich es später verhüte, mein Inneres nach außen und mein Äußeres nach innen wenden zu müssen!«
»Das ist Simmsemm,« antwortete der Gefragte. »Ihr habt den Namen bereits gehört. Dieser Trank wird aus viel Getreide und wenig Wurzelwerk gemacht und pflegt nur starken Leuten zu bekommen. Ich trinke ihn sehr gern!«
»Leider ja!« tadelte seine Frau, indem sie freundlich warnend den Finger hob. »Wer seinen Stamm dadurch glücklich machen will, daß er ihm mit gutem Beispiele vorangeht, der darf solches Zeug nicht trinken. Gott hat dem Menschen das Getreide gegeben, daß er das Brot, nicht aber Gift daraus bereite. Wer seinem Nächsten Gift anstatt des Brotes gibt, der tut, was er nicht soll! Wie gut schmeckt Euch dieses Brot, und wie wohl wird es Euch bekommen! Wie häßlich dagegen schmeckt dieser Simmsemm, der jeden, der ihn oft genießt, in bösen Rausch oder schlimme Krankheit stürzt! Und doch sind beide, der Segen und der Fluch, aus ganz denselben Früchten und Körnern gemacht! Hast Du schon einmal hierüber nachgedacht, Effendi?«
»Schon oft, sehr oft!« antwortete ich.
»Wie mag es nur kommen, daß der Mensch sich so energisch bemüht, den Segen, den Gott ihm sendet, in Fluch zu verwandeln? |82B Und hat er das getan, so pflegt er dieses sein Werk noch dadurch zu krönen, daß er den Fluch als Genuß empfindet! Sogar Amihn, der berühmte Scheik der Ussul, hat soeben eingestanden, daß auch er ihn gern trinke!«
Die letzten Worte wurden in scherzhafter Weise gesprochen, waren aber ernsthaft gemeint, und so kam es dem Scheik sehr gelegen, daß wir unser Brot mittlerweile gegessen hatten und es ihm nun erlaubt war, dieses ihm nicht ganz behagliche Thema abzubrechen.
»Der Willkomm ist vorüber,« sagte er, »ich werde Euch nun nach Eurer Wohnung führen. Sie liegt nicht hier im Schlosse, sondern in einiger Entfernung von ihm am Strome.«
»Wir taten das zu Eurer Bequemlichkeit,« erklärte seine Frau, um dem Verdacht zu begegnen, daß es ihnen an der uns schuldigen Achtung fehle. »Der immerwährende Lärm des Palastes würde Euch in Eurem Wohlbefinden stören; auch wäre es für Euch nicht möglich, Eure Pferde bei Euch zu haben. Darum werden wir Euch nach einem ruhigen und bequemen Hause bringen, wo es Euch besser gefallen wird, als hier bei uns. Ich gehe mit.«
Wir verließen also den allerdings sehr geräuschvollen Palast und kehrten zu unsern Pferden zurück. Die Menschenmenge war inzwischen beinahe verschwunden. Es gab nur noch einige kleine Gruppen, die stehen geblieben waren, um uns vor Nacht doch vielleicht noch einmal sehen zu können. Indem wir unsere Blicke über den Platz und diese Leute schweifen ließen, rief Halef plötzlich mit einem lauten Schrei der Überraschung:
»Maschallah! Was sehen meine Augen? Es geschehen hier Zeichen und Wunder!«
Er deutete nach dem Reiterstandbilde. Mein Blick folgte seinem ausgestreckten Arme nach dieser Richtung, und nun sah ich, daß der Reiter sich auf dem Pferde zu bewegen begann. Er schlug den langen Mantel auseinander und ließ ihn auf das Postament herunterfallen. Dann blickte er sich um, erst nach rechts und links, hierauf hinter sich. Bisher hatte er vollständig unbeweglich nur immer grad vor sich hingestarrt. Als er sich nun aber überzeugte, daß der Platz vollständig leer geworden, hielt er es für überflüssig, länger sitzen zu bleiben. Er zog das rechte Bein nach hinten in die Höhe, schwang es über das Pferd herüber und kletterte dann zur linken Seite auf den Ziegelunterbau herab.
»Der lebt! Der lebt!« rief Halef aus. Er fühlte sich so urkomisch berührt, daß er zu lachen begann. »Der lebt! Der lebt! Ein lebender Reiter auf einem hölzernen Pferde!«
Er lachte immer lauter und lauter. Ich mußte mich stark beherrschen, um nicht mitzulachen.
»Was gibt es da sich zu wundern?« fragte der Scheik, halb erstaunt und halb beleidigt. »Welche Kunst ist wohl größer, Menschen oder Holz in Bildsäulen zu verwandeln?«
|83A Diese Frage verblüffte Halef. Er begriff, daß sein Lachen beleidigend war. Nun senkte er den Blick und schämte sich. Gleich aber sah er wieder empor, wobei er in seiner aufrichtigen, freimütigen Weise antwortete:
»Verzeihe, o Scheik! Aber ich habe so etwas wirklich noch nie gesehen!«
»So bist Du also gewohnt, zu lachen, wenn Du etwas siehst, was Du noch nie gesehen hast? Da werde ich Dir hier bei uns fast gar nichts zeigen dürfen, denn Du würdest da sehr wahrscheinlich so viel Unbekanntes sehen, daß Dein Lachen gar nicht zu Ende käme!«
Dieser Hieb saß fest, aber Halef war viel zu stolz, sich dies merken zu lassen. Er tat, als ob er nicht getadelt, sondern gelobt worden sei, und fragte:
»Was hat denn diese ganze, sonderbare Sache vorzustellen?«
»Eine Übereilung, weiter nichts,« antwortete Taldscha an Stelle ihres Mannes. »So oft Fremde zu uns kamen, oder ein Ussul aus der Ferne zur Heimat zurückkehrte, hörten wir, daß andere Völker ihre berühmten und verdienten Männer dadurch ehren, daß sie ihnen ein Denkmal setzen. Es soll sogar vorkommen, daß man Personen ein Denkmal stiftet, die sich weder Berühmtheit noch Verdienste erworben haben. Da begannen die Ussul, sich zu schämen. Sie glaubten, schon viele große und verdiente Männer gehabt zu haben, aber keinem einzigen unter ihnen war noch ein Standbild errichtet worden. Da traten die Ältesten zusammen, um hierüber zu beraten. Es wurde beschlossen, diese schöne Sitte mitzumachen und jedem berühmten und verdienstvollen Verstorbenen aus dem Volke der Ussul ein Reiterbild zu setzen, ganz gleich, ob er ein schlechter oder ein guter Reiter gewesen. Die Hauptsache ist doch nicht das Reiten, sondern das Verdienst, welches man ehren will. Es verstand sich ganz von selbst, daß man mit der Reihe der Scheiks beginnen mußte und erst später die anderen großen Geister zu bringen hatte. Es wurden zwei Ausschüsse gebildet, nämlich ein erster Ausschuß für die Erbauung des Denkmals im besonderen und ein zweiter Ausschuß für die Feststellung der Reihenfolge, in welcher die Abzubildenden einander zu folgen hatten, denn es galt, in dieser Beziehung die Berühmtheit und die Verdienste eines jeden einzelnen mit peinlichster Gewissenhaftigkeit gegen die der anderen abzuwägen, damit ein jeder genau an die Stelle komme, die ihm gebühre. Also handelte es sich zunächst darum, welcher Scheik der größte, der berühmteste und der verdienteste sei, denn nur mit diesem durfte man beginnen. Während der zweite Ausschuß mit den Vorarbeiten und Studien begann, welche zu einer ebenso gerechten wie bestimmten Ausführung einer solchen Wahl erforderlich sind, ging auch der erste Ausschuß an seine Arbeit, indem er den Sockel für die erste Säule errichtete. Als dieses fertig war, hatte sich der zweite Ausschuß noch nicht über den Reiter geeinigt, sondern nur erst über das Pferd. Darum wurde weitergebaut. Man begann mit dem Pferde. Als dieses vollendet auf dem Platze stand, war der andere Ausschuß zu der Überzeugung gekommen, daß man grad dem allerberühmtesten Scheik kein Denkmal setzen könne, weil er ganz ohne Verdienste sei und vielmehr sein Volk an den Rand des Abgrundes gebracht habe. Auch gab es mehrere Ussul, die zwar keine Scheiks gewesen waren, aber an Berühmtheit und guten Werken hoch über ihm standen. Nun begannen Spaltungen, die immer weiter griffen und sich über den ganzen Stamm verbreiteten. Der eine wollte Denkmäler nur für Krieger, der zweite hingegen nur für friedliche Leute; der dritte war für beide. Der vierte verlangte Pferde, der fünfte keine. Der sechste forderte diese, der siebente die andere Reihenfolge. Der achte - - doch kurz und gut, seit das Pferd hier auf dem Platze stand, glaubte jedermann, daß entweder einer seiner Ahnen oder gar er selbst, natürlich erst nach seinem Tode, hinaufzusetzen sei. Es herrschte soviel Zank und Streit und Haß und Zorn, wie es noch nie gegeben hatte. Wir Frauen kannten unsere Männer und Söhne gar nicht mehr. Es gab nur noch Wüteriche, Besessene und Narren. Da traten wir Frauen zusammen. Wir bildeten auch zwei Ausschüsse. Der erste Ausschuß hatte nachzuweisen, wie alle diese berühmten und verdienten Männer aussehen, wenn sie von Frau und Kind betrachtet |83B werden. Der zweite Ausschuß verlangte, daß an Stelle dieser entlarvten Berühmtheiten nur brave und verdiente Frauen Denkmäler zu bekommen haben, und hatte zugleich nach solchen Frauen zu forschen. Da stellte es sich denn sehr bald heraus, daß es viele Tausende gab, die es verdienten, auf einen Sockel gestellt zu werden, und es wurde schleunigst damit begonnen, die Reihenfolge unter ihnen festzustellen. Jetzt gingen den Männern die Augen auf. Sie erkannten an der Dummheit ihrer Weiber, wie dumm sie selbst gewesen seien und waren gern bereit, den Frieden zwischen dem männlichen und dem weiblichen Heerlager wieder herzustellen. Die zwei Ausschüsse von hüben traten mit den zwei Ausschüssen von drüben zusammen. Es wurde nun mit Verstand und Herz beraten, und da fand man denn, daß es bei den Ussul noch niemals weder eine männliche noch eine weibliche Person gegeben habe, die es verdient hätte, durch ein Denkmal hoch über die andere, die keins bekommen, erhoben zu werden. Da hieraus zu schließen war, daß sich auch fernerhin niemand finden werde, der in dieser Weise auszuzeichnen sei, so wurde allerseits beschlossen und genehmigt, von der Errichtung von Denkmälern im Lande der Ussul für alle Zukunft überhaupt abzusehen.«
»Aber, hier steht doch noch das Pferd! Und heute saß einer darauf!« warf Halef ein.
»Ja,« lächelte sie, »Das Pferd steht noch. Meinst Du etwa, daß wir es hätten wegreißen und verbrennen sollen?«
»Ja; denn es hatte keinen Zweck mehr.«
»O doch! Wir ließen es als ein Erinnerungszeichen an unsere Torheit stehen. Das ist doch wohl ein Zweck, und zwar ein guter! Und zu diesem gesellte sich sehr bald ein zweiter. Kurze Zeit, nachdem wir klug geworden waren, forderte der 'Mir von Ardistan, daß man ihm in allen ihm untertänigen oder tributpflichtigen Reichen und Provinzen ein Denkmal zu errichten habe. Auch wir waren hierzu verpflichtet. Wir berieten und beschlossen, ihm nicht eine gewöhnliche Fußfigur, sondern ein erhabenes Reiterstandbild zu errichten. Das Pferd war ja schon da! So wurden Kosten erspart. Und zweitens beschlossen wir, ihm nicht eine tote Figur, sondern eine wirkliche, lebendige Gestalt zu geben. Tote Figuren sind außerordentlich teuer; Menschen aber hat man überall ganz oder fast umsonst. Wir verzichteten also darauf, uns Künstler und Steine aus der Ferne kommen zu lassen, und verpflichteten den längsten und breitesten Ussul, der sich finden ließ, als 'Mir von Ardistan. Er bekam einen roten Mantel mit weißen Rändern und einen großen Turban mit Reiherfedern. Lohn beansprucht er dafür nicht; er tut es um die Ehre. So oft, wie heute bei Eurem Einzuge, die Gelegenheit ist, mit unserm 'Mir von Ardistan zu glänzen, setzt dieser Mann den Turban auf, wirft sich den Mantel um und steigt auf das Pferd. Da bleibt er sitzen, bis die festlichen Augenblicke vorüber sind, und steigt dann wieder herab. Hat er seine Sache gut gemacht und jede Bewegung vermieden, so daß man ihn wirklich für eine leblose Figur halten konnte, so wird er hiefür besonders ausgezeichnet, indem wir ihm erlauben, am Festessen teilzunehmen. Hat er aber Fehler gemacht, so wird ihm jene Ehre versagt. Seht! Da ist er abgestiegen. Nun steht er da und wartet, ob wir ihn einladen werden oder nicht.«
»Wirst Du es tun?« fragte Halef. »Ja, denn er hat sich heute sehr gut gehalten. Den außerordentlich langen Säbel, der an seiner Seite hängt, hat er sich selbst besorgt. Er sagt, dies gehöre zu seiner hohen Würde. Er hat sich nämlich so in die hohe Würde, die er darzustellen hat, hineingelebt, daß er sie bereits für seine eigene hält und sich auch dann als 'Mir von Ardistan gebärdet, wenn er nicht auf dem Pferde sitzt. Man sagt deshalb, er sei im Kopfe irr geworden. Besonders scheinen ihn die verschiedenen Palmen-, Lotos-, Löwen-, Tiger- und andere Orden, die er auf seiner Brust trägt, in den Wahn versetzt zu haben, daß er alle die Tugenden besitze, derentwegen sie verliehen werden sollen.«
»Sind sie denn echt?« erkundigte sich Halef, der gern alles wissen mußte.
»Selbstverständlich! Sie sollen eigentlich nur Belohnungen sein, nicht Bezahlungen; aber die Beherrscher von Ardistan sind stets der Ansicht gewesen, daß man gewisse, wichtige Verdienste |84A viel besser vorher als nachher belohne. So wurden auch die Scheiks der Ussul, so oft es sich um hohe Wünsche handelte, mit Orden bedacht, die sich nach und nach zu einer ganzen Menge angesammelt haben. Der 'Mir von Ardistan, nämlich dieser hier, nicht der richtige, kam auf den Gedanken, sie jedesmal anzulegen, wenn er in seinen Würden zu erscheinen hat. Wir haben es ihm erlaubt. Er darf sie sogar noch während des Essens tragen, und dann dauert es immer Tage lang, bis er sich wieder herabläßt, mit jemand zu sprechen. daß der Mantel die flimmernden Auszeichnungen verdeckt, ist für ihn eine wirkliche Qual. Darum wirft er ihn stets schon oben ab, wenn er noch auf dem Pferde sitzt, damit man sie so bald wie möglich sehe. Soll er sie Euch zeigen?«
»Ich bitte darum!« antwortete Halef, den es in hohem Grade interessierte, sie betrachten zu dürfen.
Taldscha winkte dem Manne. Er kam langsam und in, seiner Ansicht nach, fürstlicher Haltung bis zu uns her.
»Ich bin der 'Mir von Ardistan!« sagte er sehr hoch von oben herunter.
»Und ich,« antwortete Halef, »ich bin - - -«
Da schnitt der Mann ihm mit einer gradezu gebieterischen Armbewegung das Wort ab und befahl ihm:
»Schweig! Was Du mir sagen willst, das weiß ich alles schon längst. Ich habe jetzt keine Zeit, es abermals zu hören!«
Halef sah mich mit einem Blicke an, in dem die Absicht lag, eine geharnischte Antwort zu geben; ich winkte aber ab. Taldscha zeigte und benannte uns die einzelnen Orden, ebenso auch die Namen der Scheiks, die sie empfangen hatten. Alle diese Auszeichnungen stammten nur vom 'Mir von Dschinnistan, von keinem anderen Fürsten, waren aus unechtem Metall gefertigt und mit unechten Steinen geschmückt, ein Umstand, der meine Achtung vor diesem hohen Herrn nicht gerade förderte. Als wir mit der Betrachtung der Dekorationen fertig waren, sagte Taldscha zu dem gegenwärtigen Träger derselben:
»Du hast Deine Sache heute gut gemacht; Du darfst also mit uns essen!«
Er gab durch eine herablassende Handbewegung seine gütige Genehmigung zu erkennen.
»Und kannst nun gehen!« fügte sie hinzu.
Da warf er einen vernichtenden Blick auf uns zwei kleine Kerle und schritt majestätisch dem Tore des >Palastes< zu, um in dessen Innern auf den Beginn des Mahles zu warten. Wir aber gingen nach dem Hause, welches wir bewohnen sollten. Die Pferde folgten uns, ohne daß wir sie zu führen brauchten, die beiden Hunde gingen natürlich mit.
Das Haus lag neben und, weil wir um dasselbe herumgehen mußten, für uns zugleich hinter dem Palast, und zwar, wie dieser, am Ufer des Stromes. Es war eigentlich eine in vier Stuben abgeteilte Blockhütte, neben der ein kleines Gebäude zur Unterbringung von allerlei Dingen stand. Jetzt war es leer, und so bestimmten wir es zum Pferdestall. Das Wohnhaus war nach dortigen Begriffen möbliert. Im vorderen der vier Räume befand sich ein Herd, auf dem ein Feuer brannte. Zwei Männer empfingen uns; sie waren zu unserem Dienste bestellt und hatten den Befehl bekommen, dies ebenso aufmerksam zu tun, wie bei dem Scheik selbst. Das Feuer war keineswegs überflüssig. Alles, was man berührte, fühlte sich feucht an. Schon um das Modern zu verhüten, mußte trockene Wärme geschafft werden. Für Menschen wäre es unmöglich gewesen, in dieser Wohnung zu bleiben, ohne zu erkranken. Die Herrin der Ussul schaute sich sehr genau im Hause um. Welchen Zweck das hatte, sahen wir erst, als sie mit ihrem Manne gegangen war. Da schickte sie nämlich Kissen, Decken, Gefäße und eine ganze Menge Dinge und Kleinigkeiten, die unsere Behaglichkeit erhöhen sollten.