"Also handelt es sich nicht nur um den Kampf am Engpaß Chatar?"

"Nein."

"Ihr wollt dann gleich weiter? Durch ganz Ardistan? Hinauf nach Dschinnistan?"

"Ja."

"Und diese Hunde sollen mit?"

"Ich denke es!"

"So hast Du mich noch immer nicht verstanden! Ich begreife das nicht. Ich habe Dir doch gesagt, daß ein Fremder kommen wird, der - - -"

Da fiel ich ihr schnell in die Rede:

"Der Dir nur dieses vorzuzeigen hat, so gibst Du ihm die Hunde, die der 'Mir von Dschinnistan ausdrücklich für ihn bestimmte!"

Während ich das sagte, zog ich mein Obergewand vorne auseinander und zeigte ihr den Schild auf meiner Brust. Da hielt sie ihr Pferd an, hob die Arme empor und rief:

"Gott sei Dank! So hat auch hier der Glaube über den Zweifel gesiegt! Marah Durimeh hält das Wort, das sie uns gegeben hat! Wir Blinden! Daß Du es sein müssest, das konnten wir uns doch denken! Ich befand mich in großer Verlegenheit. Ich gönnte die Hunde keinem anderen, als nur Dir allein, und mußte sie doch für einen anderen aufheben. Nun bist Du dieser andere selbst! Wie mich das freut! Hier hast Du meine Hand. Ich danke Dir!"

Also, anstatt daß ich mich bei ihr bedankte, bedankte sie sich bei mir! Sie folgte da einer Regung, welche nicht oberflächlich, sondern tief zu beurteilen war. Als wir dann weiterritten, war sie sehr still. Sie dachte nach. Erst nach längerer Zeit traten diese ihre Gedanken zutage, indem sie sagte:

"Das Leben ist doch etwas ganz, ganz anderes, als gewöhnliche Menschen denken! Gott lenkt; gewoben aber wird es nicht nur von uns selbst, sondern außer uns auch von Personen und Kräften, auf die wir zu achten haben; von großen Meisterinnen und Meistern; von Gesellen, die noch nicht Meister sind, und von Lehrlingen, deren Hand, wenn man sich auf sie verläßt, meist alles verdirbt. Die größte Meisterin, der alles gelingt, ist Marah Durimeh. Auch der Dschinnistani war ein Meister. Der Sahahr ist Lehrling. Seine Frau, die Priesterin, denkt schon höher als er. Sie weiß zwar noch nichts, aber sie ahnt den Zusammenhang der Dinge. Ich bin ihre Vertraute, ich allein. Effendi, willst Du ehrlich sein und mir aufrichtig bekennen, daß ihr Bild nicht klar und rein vor Deinem inneren Auge steht?"

"Ich bekenne es."

(Seite 108A) "Es kann nicht anders sein. Aber es tut mir weh, sie von Dir noch ungekannt zu sehen. Sie ist edel; sie ist rein. Wenn Du mir versprichst, zu schweigen, so will ich Dir ein Geheimnis mitteilen, dessen Kenntnis Dich befähigt, die Wahrheit zu schauen. Es betrifft den Dschirbani. Wenn ich es Dir erzähle, so tue ich das aus zwei Gründen. Nämlich um die Ehre meiner Freundin in Deinen Augen zu retten und um Dich zu befähigen, meinen Schützling, den Dschirbani, von falschen Gedankenwegen abzulenken. Ihm aber darfst Du nur in der höchsten Not etwas davon sagen. Versprichst Du mir das?"

"Ich verspreche es."

"So erschrick nicht über das, was ich Dir berichten werde! Du warst bei ihm. Hast Du das Grab seiner Mutter gesehen?"

"Ja."

"So wisse: es ist leer!"

Ich war betroffen, sagte aber nichts und sah sie fragend an.

"Du wirst erschrocken sein," fuhr sie fort.

"Erschrocken nicht," antwortete ich. "Doch staune ich, daß er so richtig fühlt und richtig ahnt."

"Wie? Er ahnt es?"

"Ja. Er bezweifelt, daß seine Mutter gestorben sei. Es gibt Augenblicke, in denen er das Grab mit den Händen aufkratzen möchte, um nachzuweisen, daß der Sarg leer ist."

"Er ist nicht leer. Er enthält an Stelle der Leiche eine wohlverwahrte Schrift, die alles aufdeckt, was damals geschah. Der Sohn war verreist, um ferne Verwandte zu besuchen. Die Mutter, die wir alle für verwitwet hielten, war also allein. Sie wohnte, wie Du weißt, auf der >Insel der Heiden<. Des Abends, als niemand ihn sah, erschien ihr Mann bei ihr, der Dschinnistani, der bei uns für tot gegolten hatte. Er (Seite 109A) lebte noch. Er wohnte in Dschinnistan und kam, sie dorthin abzuholen. Aber nur sie, den Knaben nicht. Der hatte noch zu bleiben. Und dennoch wurde er von den beiden geliebt, wie nur Vater und Mutter lieben können. Begreifst Du das, Sihdi?"

"Sehr gut! Es gab höhere Rücksichten, denen man zu gehorchen hatte. Diese Rücksichten hatten dem Dschinnistani bisher verboten, zurückzukehren oder auch nur etwas von sich hören zu lassen. Sie untersagten ihm jetzt, den Sohn mitzunehmen oder ihm auch nur mitzuteilen, daß der Vater da gewesen sei, um die Mutter zu holen. Diese Letztere kam zu Euch, um Euch das zu erzählen, um Abschied zu nehmen und Euch das Wohl ihres Sohnes an das Herz zu legen? Sie war vorher bei ihren Eltern gewesen? Der Sahahr schied im Zorne von ihr? Er jagte sie fort, weil er geistig nicht hoch genug stand, die Verhältnisse, von denen sie sich leiten ließ, zu begreifen? Aber von ihrer Mutter wurde sie verstanden? Die gab ihr sogar ihren Segen mit, ihren Segen und die Hoffnung auf ein glückliches Wiedersehen?"

Da hielt Taldscha ihr Pferd wieder an. Sie staunte.

"Woher weißt Du das?" fragte sie. "So richtig und so ausführlich! Du kannst es unmöglich wissen und weißt es doch! Es ist ein Wunder!"

"O nein! Es ist vielmehr ganz natürlich! Man kann, ja man muß es sich denken, weil es so außerordentlich einfach ist. Als sie fort war, dünkte es dem Sahahr unmöglich, öffentlich einzugestehen, daß seine Tochter, die spätere Priesterin der Ussul, aus Liebe zu ihrem Manne ihr Land und ihr Volk verlassen habe, um nach Dschinnistan zu gehen. Auch konnte er nicht begreifen, daß eine Mutter dies tun könne, ohne ihr Kind mitzunehmen, ohne es auch nur erst noch einmal zu sehen! Seine Tochter war für ihn eine Verbrecherin. Er begrub sie in seinem Herzen, und er begrub sie auch auf der >Insel der Heiden<, um das, was er für eine Schande hielt, verschweigen zu können. Aber wie das Begräbnis auf der Insel eine Unwahrheit war, so ist auch das Begräbnis im Herzen eine Lüge. Er hat geglaubt, die Ussul zu täuschen, und täuschte doch vor allen Dingen sich selbst. Wie er weiß, daß seine Tochter körperlich nicht gestorben ist, so weiß er auch, daß sie in seinem Vaterherzen lebt. Das quält und peinigt ihn. Er kann die Lüge nicht los werden. Sie läßt ihm Tag und Nacht keine Ruhe. Wie jede Lüge zur Wahrheit treibt, so auch diese. Der Sahahr wird nicht eher Ruhe finden, als bis es an den Tag gekommen ist, daß man in jenem Grabe nicht die Spuren des Todes, sondern grad im Gegenteile die Beweise des Lebens zu suchen hat."

"Hat er mit Dir davon gesprochen?" fragte sie.

"Nein."

"Aber woher weißt Du das? Ich bin die einzige Vertraute seiner Frau, der Priesterin, und weiß also, daß auch sie Dir hiervon nichts verraten hat. Du sagst, es sei so einfach und so selbstverständlich, es sich zu denken; ich aber begreife es nicht."

"Schau um Dich, und schau in Dich, so wird Dir nicht nur diese, sondern auch so manche andere, scheinbare Unbegreiflichkeit des Lebens sehr leicht verständlich werden. Es gibt ein zweifaches Leben, ein äußerliches und ein innerliches. Das innerliche ist die Hauptsache, denn es gehört der Ewigkeit an. Das äußerliche ist Nebensache, weil es sich aus Vergänglichem zusammensetzt. Das äußerliche ist für das innerliche da, daß es sich offenbare. Man soll durch das Äußere auf das Innerliche schließen. Wer seine Aufmerksamkeit nur auf das Außenleben richtet, der bleibt, mag er nach dieser Richtung hin noch so viel erreichen, in Beziehung auf das eigentliche, höhere, wirkliche Leben doch nur ein armer, beklagenswerter, blinder Mann. Wer sich aber gewöhnt, in allem, was er empfindet, denkt und tut, vom Niedrigen auf das Höhere, vom Körperlichen auf das Geistige und Seelische zu schließen, dem tun sich tausend, tausend Wunder auf, indem er sehen lernt, während der andere erblindet. Vor allen Dingen lernt er unser gegenwärtiges Leben als einen Anschauungs- und Übungsunterricht betrachten, den der Himmel der Erde erteilt, damit sie dann, wenn der Tod die Schule schließt, sich für die neue, herrliche Gotteswelt, in die sie tritt, bereits hier in der alten, nun für sie vergangenen, vorbereitet habe. Wer sich gewöhnt, in dieser Weise zu trachten und zu forschen, der lernt nicht nur von außen nach (Seite 109B) innen zu folgern, sondern ebenso auch von innen nach außen zurückzuschließen und kommt dabei zu Erkenntnisschätzen, von denen andere keine Ahnung haben. Was Ihr in Beziehung auf den Dschinnistani, seine Frau und seinen Sohn geheimzuhalten trachtetet, weil Ihr glaubtet, daß es Euch vor dem Volke der Ussul bloßstelle, das wiederholt sich täglich und stündlich hier in allerbreitester Öffentlichkeit, so daß es nur die Blinden, von denen ich sprach, nicht sehen."

"So bin auch ich noch blind?" fragte sie. "Denn ich sehe nichts!"

"Ja," antwortete ich. "Du glaubst, zu sehen. Aber was in Dein Auge fällt, ist nur erst ein leiser, leichter, kaum bemerkbarer Schein des strahlenden Lichtes, für welches sich Deine Augen langsam, nach und nach öffnen sollen. Und was ich Dir jetzt sagte, das sage ich eben nur Dir und niemand anderm. Dein Auge kennt schon jenen leisen, dämmernden Schein, der Dir den vollen, hellen Tag verspricht, und ich finde also Glauben, wenn ich von dieser Helligkeit, von diesem Tage zu Dir spreche; ein Blinder aber würde wahrscheinlich zweifeln, würde den Kopf schütteln, würde vielleicht gar lachen."

"Da hast Du recht!" sagte sie sehr ernst. "Ein Blinder würde lachen! Ich aber lache nicht! Der ahnende Schein, der meinen Augen gestattet worden ist, stammt aus dem Paradiese, dessen irdisches Bild wir während der Nacht in Flammen vor uns liegen sahen. Durch die Worte, die Du jetzt zu mir gesprochen hast, will er mir lichter werden. Und wenn Ihr nun von hier nach Dschinnistan reitet, begleite ich Euch auf den Pfaden meiner Seele hinauf. Wenn ich nicht vorwärts kann, müßt Ihr mir Botschaft geben, denn ich will und darf nicht so töricht sein, den Augenblick zu versäumen, an dem die alte, fromme Sage der Ussul zur Wahrheit wird. Komm! Reiten wir weiter nach dem großen Versammlungsplatz, wo die Hukara exerzieren! Bis dahin erzähle ich Dir, daß es dem Dschirbani gelungen ist, seinem Großvater, dem Sahahr, den alten, schlechten Verband abzunehmen und einen neuen anzulegen, ohne daß dieser es bemerkt hat. Ich glaube, das Leben des Zauberers ist hierdurch gerettet."

Der Versammlungsplatz war eine große, quadratische Lichtung, wo bei unserer Ankunft ein außerordentlich reges Leben herrschte. Über fünfhundert Hukara exerzierten, und zwar zu Pferde. Eine große Menge von Ussul, Männer, Weiber und Kinder, waren gekommen, um zuzusehen. Der Dschirbani war anwesend; er leitete das Ganze, aber mehr genehmigend als ausführend. Der eigentliche Kommandant war Halef, der eine zwar sonderbare, aber keineswegs lächerliche Rolle spielte. Er, das kleine, schmächtige Kerlchen, saß auf einem so dicken, breiten und fetten Gaule, daß seine Beine nur von der Kniekehle an über den Sattel herunterhingen. Mit den Füßen die Bügel zu erreichen, davon konnte keine Rede sein. Aber er hatte es verstanden, mit Hilfe einiger gut angebrachter Maulknoten in den Zügeln das alte Trampeltier derart in seine Gewalt zubringen, daß es gehorchte. Wir hatten unter den letzten Bäumen des Waldes gehalten und ließen uns nicht sehen. Halef führte soeben eine höchst interessante, taktische Übung aus, die ihm sehr gut gelang. Da seiner Truppe die Gewehre fehlten, konnte er sich nur auf Pfeil und Spieß verlassen. Darum hatte er es seiner Schar vor allen Dingen beigebracht, sich im Gebüsch zu verbergen, aus diesem Versteck zwei oder drei dichte Pfeilwolken schnell hintereinander auf die Gegner niederschwirren zu lassen und dann auf die Erschrockenen mit angelegten Spießen loszugaloppieren. Er brachte diese Pfeilsalven und den Lanzenchok in wirklich lobenswerterweise fertig, und ich will schon jetzt verraten, daß dieser taktische Kniff, der von seinen Haddedihnarabern stammte, uns späterhin bedeutende Erfolge brachte. Ein geschlossener Lanzenangriff der riesigen Ussul auf ebenso riesigen Pferden konnte, wo europäische Waffen fehlten, nur von vernichtender Wirkung sein. Eine heitere Wirkung brachte es hervor, daß Hu und Hi, die beiden Bärenhunde, dem Hadschi überall auf Schritt und Tritt folgten und immer gleiches Tempo mit ihm hielten. Taldscha versicherte mir, daß sie ihn bitten werde, diese anhänglichen Tiere als ein Geschenk von ihr zu behalten.

Wir hatten uns entfernen wollen, ohne uns gezeigt zu haben, wurden aber entdeckt. Das Auge des Dschirbani war (Seite 110A) ganz zufälligerweise grad auf die Stelle gerichtet gewesen, an der wir uns befanden. Da sah er uns. Wir mußten infolgedessen unter den Bäumen hervor. Man freute sich unseres Kommens. Halef verdoppelte sofort seine Tätigkeit und gab sich alle mögliche Mühe, uns zu zeigen, was für ein Exerziermeister er sei. Wir aber stiegen von unseren Pferden und ließen uns bei dem Dschirbani nieder, um die Gelegenheit, mit ihm allein zu sein, zur notwendigen Aussprache mit ihm zu benützen. Mochten andere Leute von Verhandlungen sprechen, und mochten sie so gern glauben, daran beteiligt zu sein, das, was sie als Verhandlung bezeichneten, war doch nur Einbildung. Das, was zu geschehen hatte, ja, vielleicht gar die ganze Zukunft der Ussul, hing in Wirklichkeit lediglich von den zwei Personen ab, mit denen ich jetzt beisammensaß. Mochten die Dinge, die man soeben im Palaste beschloß, noch so wichtig erscheinen, die eigentliche und wirkliche Entscheidung hing nur von dem ab, was zwischen uns dreien jetzt besprochen wurde. Der Dschirbani teilte uns mit, daß seine gegenwärtige Botschaft an den Scheik und an die Ältesten vor allen Dingen zwei Zwecke verfolge: erstens solle der Zug gegen die Tschoban nur von ihm und seinen Hukara zu unternehmen und die Beteiligung anderer, etwa gar der Invaliden, unbedingt ausgeschlossen sein, und zweitens solle der Scheik gezwungen werden, ihn, den am meisten Verachteten, und die zehn Hukara heut mit den Ältesten und den anderen Vornehmen zum Abendessen einzuladen. Diese Einladung war unbedingt notwendig, um die Gleichwertigkeit der Hukara mit allen anderen Ussul festzustellen und dem Hochmute der Ältesten einen Dämpfer aufzusetzen. Erst, wenn das geschehen war, konnte nach dem Essen eine Besprechung der Forderungen erfolgen, welche die Hukara zu stellen, die Ältesten aber zu erfüllen hatten, sollte der Zug nach dem Engpaß überhaupt ermöglicht werden. Es versteht sich ganz von selbst, daß wir ihm recht gaben. Taldscha war überzeugt, daß die Ältesten sich zwar lange weigern, endlich aber doch nachgeben würden. Was mich betraf, so teilte ich meinen Entschluß mit, schon morgen früh mit meinem Halef die Stadt zu verlassen und dem Zuge voranzureiten, um Zeit zu finden, die Gegend zu studieren und die Ankunft der Feinde zu erspähen. Ich zählte die Punkte auf, die ich vorzubringen hatte, weil ohne ihre Erfüllung ein Gelingen unserer Pläne nicht möglich war. Besonders betonte ich gute, sichere Zwischenstationen, ausreichende Verpflegung, die eben durch die Stationen ununterbrochen frisch nachzuliefern sei, und vor allen Dingen eine ausreichende Menge von Wasserschläuchen, denn es sei nicht nur möglich, sondern höchst wahrscheinlich, daß unser Zug dann von dem Engpasse aus nicht heimwärts, sondern quer durch die trockenen Wüste der Tschoban nach Norden gehen werde.

So saßen wir weit über eine Stunde lang und brachten alles vor, was wir vorzubringen hatten. Ich kann hier diese hochwichtige Besprechung übergehen, weil sich die Resultate derselben im Verlaufe unserer Erlebnisse deutlich zeigen werden. Ganz selbstverständlich verlangte ich, daß die drei gefangenen Tschoban unter sicherer Bedeckung mitgenommen würden, weil sie für uns ein Kapital bildeten, dessen Wert bei den Verhandlungen mit unseren Gegnern sehr schwer in die Wagschale fallen mußte. Und schließlich erklärte ich, daß ich heute abend nicht zum Essen erscheinen werde, auch Halef nicht. Ich war der Meinung, daß der geplante Zusammenprall der neuen mit den alten Anschauungen viel schneller einen friedlichen Verlauf nehmen werde, wenn Fremde nicht zugegen seien. Taldscha gab mir recht. Sie erwies sich überhaupt als eine so verständige, mutige und opferbereite Verbündete, daß ich wiederholt ihre Hand an meine Lippen zog, worüber sie sich außerordentlich freute, weil sie sehr wohl wußte, daß ich es mit dieser Anerkennung ernst und aufrichtig meinte.

Da die Hukara ihre Übungen noch bis zur Dämmerung fortsetzen wollten, so stiegen wir zwei wieder zu Pferde und verabschiedeten uns von Halef und dem Dschirbani. Der Letztere fragte mich, ob ich heute um Mitternacht der Einsegnung seiner Krieger beiwohnen werde, und als ich ihm antwortete, daß dies ganz selbstverständlich meine Absicht sei, bat er mich, eine Stunde eher zu kommen und auf der Zinne des Tempels auf ihn zu warten, damit er mir über die Ergebnisse des Abends Bericht (Seite 110B) erstatten könne. Ich sagte zu und ritt dann mit der Frau des Scheiks fort und in die Stadt zurück. Aacht und Uucht, meine beiden edlen Hunde, hatten während dieser ganzen Zeit ruhig neben mir gesessen und sich durch kein Geschrei und keinen Lärm der Reiterei aus ihrer Ruhe bringen lassen. Nur einmal, als Halef mit seinen beiden Bärenhunden zu uns kam, hatten sie leise, leise mit den Spitzen ihrer Schwänze gewackelt und ein wenig mit den Ohren gezuckt, genau so, wie der hochgeborene, blaublütige Orientale einen unter ihm stehenden Menschen auch nicht mit dem ganzen >Sallam aaleikum<, sondern nur mit den beiden Wortanfängen >Sal-al< begrüßt. Wäre ich mein Hadschi Halef Omar gewesen, so hätte ich geglaubt, daß ein Abglanz dieser Hoheit auch auf mich, den Herrn, gefallen sei!

Unterwegs begegneten uns die zehn Abgesandten der Hukara, die nach dem großen Versammlungsplatze gingen, um ihrem Kommandanten Bericht zu erstatten. Sie hatten erreicht, was sie erreichen wollten, aber nicht, weil man ihnen recht gab, sondern, wie es den Anschein hatte, nur um sie los zu werden. Heute abend aber sei der Dschirbani selbst dabei; da werde man in einem anderen Tone mit den Ältesten reden! So sagten und so erzählten sie uns; dann gingen sie weiter.

(Seite 111A) Zu Hause angekommen, verbrachte ich die Zeit bis zur Dämmerung damit, unser Sattel- und Riemenzeug nachzusehen, meine Gewehre und Revolver in Stand zu setzen und meinen Anzug, soweit es nötig war, zu reparieren. Das tut man am besten immer selbst. Dann kam Halef. Er war überglücklich und überschwemmte mich sofort mit einer Menge taktischer und strategischer Pläne, daß ein freundliches und ein feindliches Heer von je einer Million Soldaten dazu gehört hätte, nur die Hälfte von ihnen wenigstens auszuprobieren. Ich ließ ihn reden und hörte lächelnd zu. Er hatte sich den ganzen Nachmittag lang ehrlich geplagt, und so war ihm diese Art von Selbstbelohnung, die er sich erteilte, wohl zu gönnen. Der Fluß seiner Rede stockte nach und nach ganz von selbst, je mehr er bemerkte, daß ich ihm zwar meine Aufmerksamkeit schenkte, selbst aber kein einziges Wort zur Sache sprach.

"Was ist das, Sihdi?" fragte er mich. "Du redest nicht. Warum?"

"Weil Du redest," antwortete ich. "Wenn zwei sich miteinander unterhalten, so erfordert die Höflichkeit, daß der eine schweigt, während der andere spricht."

"So habe ich wohl unaufhörlich gesprochen?"

"Ja."

"Dir keine Lücke gelassen, einzuspringen?"

"Keine."

"So bitte ich Dich um Verzeihung! Aber mein Herz ist voll, und mein Kopf gleicht einem Lesebuche, in welches tausend Feldherren und zehntausend Helden ihr Erfahrungen und Kenntnisse eingetragen haben! Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Male Krieg kann ich Dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin! Glaubst Du das! Und begreifst Du das?"

"Ja. Ich habe es selbst erlebt."

"An Dir selbst?"

"An mir und anderen. Auch ich bin das gewesen, was Du noch heute bist!"

"Was?"

"Ein Knabe! Ein dummer Junge!"

"Oho! Was soll das heißen?"

"Genau das, was ich damit sagen will! Ich habe als Knabe mit anderen dummen Jungen sehr oft Soldaten gespielt. Fast regelmäßig endete das Spiel mit einer wirklichen, ernst gemeinten Prügelei. Und ebenso regelmäßig brachten wir derartige Spuren des Kampfes mit heim, daß unsere lieben, zärtlichen Väter und Mütter, die leider nicht von der Notwendigkeit des Krieges zu überzeugen waren, dann zu den Stöcken griffen, um uns die hohe Politik und Strategie zu vertreiben."

(Seite 111B) "Und das hast Du erlebt? Wirklich selbst erlebt?"

"Jawohl!"

"Wirkliche Schläge bekommen, wirkliche Prügel?"

"Wirkliche! Ich fühle sie noch heut!"

"Und das sagst Du, ohne Dich zu schämen?"

"Schämen? Ich bin stolz darauf!"

"Pfui! Effendi, Du hast kein Ehrgefühl! Ich kündige Dir meine Freundschaft! Oder meinst Du, daß es ehrenvoll ist, sich im Kampf als Held und Sieger zu gebärden und dann, wenn man nach Hause kommt, vom Vater Prügel zu erhalten? Mein Vater hat das nie getan!"

"Der meine aber stets! Er war vernünftig und betrachtete mich und die Prügelei mit himmlischen, nicht aber mit irdischen Augen!"

"Mit himmlischen? Ah, verzeih, Sihdi! Du hast ironisch gesprochen! Du hast es bildlich gemeint, wie fast immer, wenn ich Dummheiten mache! Du meinst mit Deinem Vater also Gott?"

"Ja. Und nun frage ich Dich: Was hilft mir, dem kurzsichtigen Knaben, mein ganzer Ruhm vor andern kurzsichtigen Knaben, wenn ich dadurch den Vater, anstatt ihm zu gehorchen und ihm Freude zu machen, mit aller Gewalt zwinge, mich hinterher immer wieder von neuem zu verhauen, zu verwichsen und zu versohlen? Schau in die Weltgeschichte! Wie mancher Knabe hat sich mit andern, bessern und edleren Knaben herumgeschlagen, anstatt sie in Ruhe zu lassen, damit sie sich naturgemäß und friedlich entwickeln könnten! Und dann am Schluß: Wer hat den Schaden auszugleichen, die Risse und Schmisse zu heilen, die Verluste zu ersetzen, die Spuren zu vertilgen gehabt? Etwa der sogenannte Held? Der sicher nicht! Wir wissen ja heut, daß ihn der Vater dann hernahm und ihm den Stock zu kosten gab!"

"So bist Du also gegen den Krieg?"

"Nicht gegen den heiligen Krieg, den Gott gesegnet hat und immer segnen wird! Das ist der Krieg, in dem die Menschheitsseele in eigener Person zum Schwerte greift, um den Entwickelungsgang der Sterblichen zu schützen. Stets aber bin ich gegen den Krieg unter Knaben, der nur den Zweck hat, um eines kulturgeschichtlich unreifen Apfels willen einander Hose und Rock zu zerreißen und dann die Nadel und den Zwirn der Mutter und den Stock des Vaters in Bewegung zu setzen. Frag die Völker, denen das grausame Los beschieden war, infolge solcher Versündigungen an Gottes >Friede auf Erden< jahrhundertelang zu hungern und zu kümmern, um abzubüßen, was Knaben sündigten! Und ich bin ganz besonders gegen jeden Krieg, der sich auf das armselige, elende Gerede gründet, das ich vorhin aus Deinem Munde vernommen habe: >Sihdi, ich verlange Krieg! Ich muß Krieg haben, unbedingt Krieg! Denn nur durch Krieg und wieder Krieg und zum dritten Male (Seite 112A) Krieg kann ich Dir zeigen, was für ein außerordentlicher, ganz unvergleichlicher und berühmter Kerl ich bin!< Halef ich kenne Dich anders, als Du Dich da gezeichnet hast, und das ist Dein Glück! Denn wenn Dir diese Verlästerung unserer herrlichen Marah Durimeh wirklich aus dem Herzen gekommen wäre, würde ich Dich auf der Stelle zum Teufel jagen!"

"Würdest Du das? Wirklich?" fragte er kleinlaut.

"Ja, und zwar sofort!"

"So ist es ein wahres Glück, daß man grad jetzt in diesem Augenblick das Abendessen bringt! Setz Dich, Effendi! Setz Dich, und iß! Ich lege Dir vor! Ich schneide Dir alles zurecht! Ich selbst! Du ersiehst daraus, wie sehr ich Dich liebe, wie gern ich Dir gehorche und daß wir eigentlich ein Herz und eine Seele miteinander sind! Von diesem Kriege aber sprechen wir nicht weiter! Ich brauche ihn ja nicht! Ich bin auch ohne ihn berühmt! Und was Du nicht willst, das mag ich auch nicht haben! Komm also, iß! Du siehst, ich kaue schon!"

Wir befanden uns in der Stube. Die Diener hatten das Essen gebracht, weil ich gesagt hatte, daß wir nicht kommen würden. Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er nahm ihnen alles schnell ab und schob sie dann wieder hinaus, um mich selbst bedienen und dadurch besseres Wetter erwirken zu können. Dennoch verlief das Essen fast ohne jedes Wort. Nicht etwa, daß ich ihm zürnte, sondern weil er Zeit und tiefe Stille brauchte, um über sich nachzudenken. Und überdies war für ihn, ohne daß er es ahnte, grad heut ein wichtiger Tag. Er sollte heut zum letzten Male der sein, der er bisher gewesen war. Ich wünschte, daß mit seinem äußeren Ritte hinauf nach Dschinnistan auch seine innere Läuterung und Erhebung beginne. Um dies zu erreichen, mußte ich ihn anders behandeln als bis jetzt. Sein Wille war gut, aber seine innere Kraft bedurfte eines festen, immerwährenden Haltes. Und der hatte ich ihm zu sein, nur ich allein, weiter keiner!

Als er mich nach dem Essen fragte, womit wir nun den Abend auszufüllen hätten, sagte ich ihm, daß ich jetzt auf die Zinne des Tempels steigen werde, um das >Feuer der Berge< zu betrachten. Was ich erwartet hatte, das geschah: Er bat mich, ihn mitzunehmen, und ich willigte ein, denn grad diese Bitte war ja mit berechnet worden. Der Eindruck, den ich erwartete, sollte in ihm die Pforte öffnen, die, wenn sie sich dann einmal hinter ihm geschlossen hatte, ihm nicht erlaubte, jemals wieder in sein früheres Naturell zurückzukehren. Wir fanden die Türe des Tempels geöffnet. Es wurden für den heutigen Einsegnungsgottesdienst neue Lichter aufgesteckt. Das gab uns Gelegenheit, de hohe Treppe einigermaßen erleuchtet zu finden, so daß Halef mir folgen konnte, ohne sich allein nur auf den Tastsinn verlassen zu müssen. Als wir oben aus dem Innern in das Freie traten, rief Halef aus:

"Ia Maschallah - welch ein Gotteswunder! Schau, Sihdi, schau! Die Erde steht in Flammen!"

Er war sehr wohl zu diesem Ausruf berechtigt. Im Norden von uns loderten fünf, sechs gewaltige Flammen hoch zum Himmel empor. Von uns aus hatte es sogar den Anschein, als ob sie das Firmament erreichten und die Sterne verdunkelten. In Wahrheit aber stiegen sie, wie jedes irdische Licht, nicht über den Dunstkreis ihres Entstehungsortes hinaus. Ein starker Luftzug trieb sie hin und her, sie loderten, zogen ihre Riesenleiber bald tief und breit zusammen, bald streckten sie sie dünn und lang empor bis in die Wolken. Eine dunkle Färbung dämpfte ihren Schein, er war matt und vermochte nicht, wie gestern, das Dunkel unserer Nacht zu mildern.

Da plötzlich sanken sie in sich zusammen; sie verschwanden. Es wurde auch da, wo sie soeben noch gelodert hatten, dunkle Nacht. Darum traten nun auch an dieser Stelle die Sterne ebenso hell hervor wie anderwärts. Aber die Kraft, welche unterirdisch arbeitete, ruhte nicht. Die Erde zitterte leise. Man vernahm und empfand ein knirschendes Rollen. Wir hatten das Gefühl, als ob die Zinne des Tempels hin- und herzuschwanken beginne. Darum setzten wir uns. Da plötzlich gab es einen Stoß und gleich darauf einen Krach wie von vielen ungleich starken und darum ungleich klingenden Kanonenschlägen. Ein Feuerstrom entstieg der Erde, doch nur für einen kurzen (Seite 112B) Augenblick. Nichts folgte nach. Erst glich er einer hohen, runden Säule. Dann nahm er die Gestalt einer Birne an, mit dem Stiele nach unten. Nach und nach näherte sich diese Gestalt der Kugelform, worauf sie sich in sich selbst zusammenzog und allmählich erlosch.

"Allah ist groß!" rief Halef aus. "Sihdi, so etwas habe ich noch nicht gesehen!"

Er faltete die Hände. Er war hingerissen und tief im Innern bewegt! Da tat es einen zweiten, lauten Knall. Ein Schwaden brennender Gase fuhr hoch empor, um sofort zu zerstäuben. Ihm folgte eine dunkelglühende, schwere, dicke Masse, die zu kochen schien. Sie flog nicht in die Höhe, nein, sondern sie stieg langsam, ganz langsam, wie eine nur halbflüssige, quellende Masse, der nach und nach zugegossen wird. Und je mehr sie stieg, desto dunkler wurde sie, desto mehr verlor sie die Glut, desto weniger bewegte sie sich in sich selbst, und desto schärfer wurden die Konturen, die sie bekam. Dann stand sie fest, still, unbeweglich, wie ein kolossaler Serpentinquader mit Reliefornamenten an den Ecken und Kanten, der von innen erleuchtet wird. Das sah aus wie ein riesiger Altar, an welchem unsichtbare Giganten beschäftigt sind, ein nächtliches Feueropfer zu bringen. Und das Feuer blieb nicht aus. Der Altar öffnete sich. Es entstieg ihm ein so gewaltiges Flammenmeer, daß es ihn selbst verzehrte, nach allen Richtungen weit auseinanderfloß und die Nacht ringsum in Tag verwandelte. Doch dieser Tag war nicht hellen, klaren Angesichts, sondern dunkelorangegelb, und in der Mittellinie der Eruption arbeitete eine immer höher aufsteigende, dunkle Rauch- und Schlackenesse, welcher große Massen unreiner Asche entströmten, die, indem sie sich ausbreiteten, den Himmel des Nordens gänzlich unsichtbar machten und einen Eindruck hervorbrachten, als ob Mensch und Tier sich vor Entsetzen verkriechen müsse. Mich faßte Grauen. Halef wurde noch tiefer erschüttert. Er glitt von seinem Sitz herab, kniete nieder, faltete die Hände und betete:

"Im Namen des allbarmherzigen Gottes. Der Klopfende! Wer ist der Klopfende? Wer lehrt Dich begreifen, was der Klopfende ist? An jenem Tage werden die Menschen sein wie umhergestreute Motten, und die Berge wie verschiedenfarbige, gekämmte Wolle. Der nun, dessen Wagschale mit guten Werken beladen sein wird, der wird ein glückliches Leben führen, und der, dessen Wagschale zu leicht befunden wird, dessen Mutter wird der Abgrund der Hölle sein. Was lehrt Dich aber begreifen, was der Abgrund der Hölle ist? Es ist das glühendste Feuer!"

Das war die hunderterste Sure des Koran. Der Mensch mag sich in späteren Jahren noch so sehr von den Anschauungen seiner Jugend entfernen, bei tiefen, seelischen Erregungen wird er aber fast stets zu den Bildern, Ausdrücken und Hilfsmitteln seiner ersten Lebenszeit zurückkehren. So auch mein Halef jetzt. Er war Moghrebiner, das heißt, er stammte aus dem Westen von Nordafrika. Dort ist es üblich, in der Angst vor Tod und Verdammnis die hunderterste Sure zu beten. Und obwohl Halef in seinem Innern schon längst Christ geworden war, flüchtete er sich in seiner jetzigen, außerordentlichen Ergriffenheit zum Gebete seiner Kindheit zurück, weil diese Kindheit ihm den Glauben gab, der überhaupt beten lehrt. Meinen kleinen Hadschi beherrschten keine höheren Erwägungen, sondern Naturell und Temperament. Seine Seele war noch Leibesseele, nicht aber schon Geistesseele; sie trachtete vor allen Dingen nach dem körperlichen anstatt nach dem geistigen Wohle, sie verwechselte in Beziehung auf Leib und Geist den Herrn mit dem Knecht, die schaffende Hand mit dem Werkzeuge, die Ursache mit der Folge. Sie hatte noch nicht jenen Schritt getan, welcher sich vom Leibe zum Geiste, vom Vergänglichen zum Ewigen wendet und wurde darum von dem sich vor unsern Augen entwickelnden, rein physikalischen Schauspiele viel tiefer und nachhaltiger bewegt als durch eine noch viel wunderbarere Erscheinung auf rein geistigem Gebiete. Ich hoffte aber, daß die erwähnte Wendung zum Höheren sich heut durch den Anblick des packenden Naturereignisses in ihm vorbereiten werde, und hütete mich darum, diesen Vorgang dadurch zu stören, daß ich meine Gefühle in Worte kleidete. Auch ich konnte und wollte mich der vollen Wirkung dieser wunderbaren Erscheinung nicht entziehen. Und auch ich (Seite 113A) fühlte in mir das unwiderstehliche Bedürfnis, den in mir erklingenden Tönen und Akkorden äußerlich Ausdruck zu geben, aber während Hadschi, der Erdenmensch, sich ohne eigene Gedanken in geistiger Hilflosigkeit an Mohammed wendete, stieg in mir ganz plötzlich ein Strahl der Erkenntnis noch viel lichter und noch viel höher auf, als da draußen die Aschenflamme der Vulkane von Dschinnistan, so daß ich mich beeilen mußte, das Notizbuch zur Hand zu nehmen, um das, was an mich herantrat, festzuhalten. Es war ja hell genug zum Schreiben.

Als ich fertig war, fragte Halef, der nun wieder neben mir saß, ob er das, was ich geschrieben hatte, hören dürfe.

"Es ist ein Gedicht," antwortete ich. "Man liest Gedichte nicht vor, zumal in solchen Augenblicken. Aber um Deinetwillen soll die Ausnahme gelten, nicht die Regel. Du hast nur den Flammen- und Aschenstrahl gesehen, weiter nichts. Mir aber wurde mehr gezeigt als Dir. Und was ich da sah, und was ich da beschloß, das sollst Du hören. Die Zeilen sind deutsch. Ich werde versuchen, sie Dir samt den Reimen zu übersetzen."

Ich las ihm die sechzehn Zeilen vor, langsam und deutlich. Er hörte sehr aufmerksam zu. Als ich geendet hatte, bat er mich, es noch einmal zu tun, da er noch nicht alles verstanden habe. Natürlich erfüllte ich ihm diesen Wunsch. Das, was er hörte, lautete zu deutsch:

Entschluß.

Ich saß so manchen langen Tag Bei Dir vor dem Katheder, Jedoch, was Deine Weisheit sprach, Das wußte fast schon jeder.

Ich saß so manche lange Nacht, Um Dich auch noch zu lesen, Doch, was Du mir da eingebracht, Ist nicht von Dir gewesen.

Und gestern hab' ich Dich belauscht, Als Du die Psalmen lasest Und, wie von ihrem Duft berauscht, die Weisheit ganz vergaßest.

So stell' ich nun das Grübeln ein Und will Dich nicht mehr fragen. Der Herrgott soll Professor sein; Der wird mir alles sagen!

Als ich zum zweiten Male fertig war, schwieg Halef. Er hielt seinen Blick nach Norden gerichtet, um das Erstaunliche voll und ganz in sich aufzunehmen, und äußerte zunächst kein Wort. Nach einiger Zeit aber sagte er:

"Du hast recht, Effendi. Ich habe weniger gesehen, als Du; nicht nur heute, sondern immer, immer. Daran bin aber nicht ich schuld, sondern Allah. Wo etwas Schönes, Edles, Beglückendes, Großes, Erhabenes geschieht, da ist Euer Gott und Vater stets zu finden, unser Allah aber nie! Der bewacht für seine Gläubigen die sieben Paradiese und rasselt gegen die Ungläubigen mit dem Säbel! Den Gedanken Deines Gottes und Vaters findest Du in jedem, auch im kleinsten seiner Werke; der Gedanke Allah aber steckt weder in der Morgenröte, noch in der Zärtlichkeit der Nachtigall oder in der Lieblichkeit der Blume auf dem Felde. Wir sind arm, bitter arm! Wir kennen kein liebes, freundliches Band, welches die irdische Natur mit dem himmlischen Schöpfer vereint. Allah spricht weder im Donner noch im Blitz, weder im Sausen des Sturmes, noch im Brausen des Meeres. Er ist überhaupt gern still. Er hat, glaube ich, nur ein einziges Mal gesprochen, durch Mohammed. Und auch das war nicht er selbst, sondern der Erzengel, den er sandte. Euer Vater aber ist überall! Du bist Dichter! Jeder Baum erzählt Dir von ihm; hinter jedem Strauch lugt sein gütiges Auge hervor, um Dir Liebe zu erweisen. Allah aber wohnt nur in den alten, schmutzigen, leblosen, papierenen Blättern des Koran, sonst nirgendwo! Sihdi, glaube mir, es gibt mehr, viel, viel mehr Gottessehnsucht auf Erden, als Du denkst! Aber es fehlt an einem andern und natürlichen Weg, Gott kennen zu lernen, als durch den Koran oder durch den Sahahr!"

"Es gibt einen anderen Weg!" antwortete ich.

"Wo?"

"Hier! Von diesem Tempel aus! Es ist der Weg, den wir morgen früh zu reiten haben. Der Weg vom Lande der Ussul hinauf nach Dschinnistan."

(Seite 113B) Um die Richtung, die ich meinte, anzudeuten, hob ich den Arm und zeigte nach Norden, wo die Glut der Erde zum Himmel flammte, als ob sie die Sehnsucht, von der Halef gesprochen hatte, zu versinnbildlichen habe.

"Gibt es da oben wirklich den Vater, nach dem die Menschheit sucht?" fuhr Halef fort. "Ich sehe da oben nur Berge, die Feuer speien. Das überwältigt mich, gibt mir aber keine Antwort auf meine Frage. Du aber hast, wie Moses einst im glühenden Busche, in diesem Feuer Gott gesehen und bist Dir sofort darüber klar geworden, daß nur er allein Professor sein und bleiben könne. Ist es denn möglich, daß auch ich zu einem solchen scharfen Auge und zu einer so beseligenden Erkenntnis komme?"

"Nicht nur möglich, sondern wirklich!"

"Wieso?"

"Du selbst hast es bewiesen. Deine ersten Worte, als Du hier heraufkamst, waren: >Welch ein Gotteswunder!< und >Allah ist groß!< Du hast also sofort und wiederholt in diesem Feuer, wenn auch nicht Gott erkannt und gesehen, aber doch seine Macht und sein Wirken herausgefühlt. Es wird - -"

"Sei still! Sei still, und schau!" unterbrach er mich, indem er an das Geländer trat und seine ganze Aufmerksamkeit nach den Bergen richtete.

Dort dunkelte es für einen Augenblick, und dann begannen die gestrigen Erscheinungen sich in ganz genau derselben Art und Weise und in ganz genau derselben Reihenfolge abzuspielen, wie ich sie beschrieben habe.

"Das ist ja das Paradies!" rief er aus, als sich die Feuermauer bildete und dann das große Tor sich öffnete. "Das ist ja die Sage der Ussul! Von der großen Engelsfrage, ob Friede auf Erden sei, und von dem Gott, der aus dem Paradies herniedersteigt, um - - - still, sei still, und störe mich nicht!"

Ich hatte gar nichts gesagt und auch nichts sagen wollen. Er sank wieder auf die Knie nieder, legte die Arme auf die Balustrade, faltete die Hände und hing sich mit den weit und begierig geöffneten Augen so fest an das sich vor ihm entwickelnde Bild, daß es eine Sünde von mir gewesen wäre, seine Aufmerksamkeit von dort ablenken zu wollen. Da blieb er knien, bis das Paradies verschwunden war, und noch beträchtliche Zeit länger. Er sog den Anblick in sich wie ein Verdürstender, dem man Wasser reicht. Er rückte in unbeschreiblicher Spannung auf den Knien hin und her. Er sprang wiederholt vor Erregung auf, um sich aber gleich wieder niederfallen zu lassen. Er ließ die verschiedensten Ausrufe hören, und als er sich endlich zu sehr ergriffen fühlte, hob er die Arme hoch empor und betete die >Beschließerin<, die hundert Namen Gottes:

"O Allbarmherziger! O Allerbarmender! O Allbesitzender! O Allheiliger! O Allfehlerfreier! O Allsichernder! O Allbedeckender! O Allgeehrter! O Allersetzender! O Allherrlicher! O Schöpfer! O Allhervorbringender!" und so weiter bis zum Schluß: "O Allwundervoller! O Allwährender! O Allerbender! O Allgerader! O Allgeduldiger! O Gott!"

Durch das laute Hersagen dieses langen, mohammedanischen Gebetes war er innerlich zwar noch nicht ganz wieder auf das gewöhnliche Niveau herabgestiegen, aber doch nun so weit gelangt, sich wieder mit mir beschäftigen zu können.

"Sihdi," sagte er, "lache mich nicht aus! Ich habe einen Wunsch, einen großen, mächtigen Wunsch, der mir aber leider nicht erfüllt werden kann."

"Warum nicht?" fragte ich.

"Weil seine Erfüllung überhaupt unmöglich ist. Ich möchte nämlich so gern ein Engel sein!"

Er sagte das im vollsten Ernste. Hundert andere hätten wohl über diesen seinen Wunsch gelacht; ich aber blieb nicht nur ernst, sondern ich freute mich sogar über ihn, und zwar von ganzem Herzen.

"Ein Engel möchtest Du sein?" fragte ich. "Nun, so sei doch einer!"

"So sei doch einer!" wiederholte er meine Worte im Tone des Erstaunens. "Als ob das nur so auf mich ankäme!"

"Auf wen denn sonst?"

"Sihdi, du scherzest! Aber ich sage Dir: wenn ich ein Engel wäre, so würde ich gewiß nicht einer von denen sein, die (Seite 114A) immer hundert Jahre lang warten und dann einmal zur Türe herausschauen, ob endlich auch Friede auf Erden sei. Sondern ich würde zum Herrgott gehen und offen und ehrlich zu ihm sagen: >Laß mich hinaus! Ich will mit der Menschheit reden! Mit dem ewigen Warten erlangen wir nichts! Und das bißchen Licht, alle hundert Jahre einmal, das reicht kaum bis zur nächsten Woche! Die Menschen tun nichts von selbst! Sie verlangen, daß man sich Mühe mit ihnen gebe. Und so bitte ich Dich, mich hinabzusenden, um ein ernstes Wort mit ihnen zu reden! Sie sind gar nicht so widerstrebend, wie es scheint, sie sehnen sich auch nach Frieden, nach Glück! Es muß ihnen nur richtig gesagt werden, nämlich vom richtigen Manne, zur richtigen Zeit und in der richtigen Weise. Aber grad hieran hat es bisher gefehlt. Sobald ich hinunterkomme, wird es anders. Ich rede ihnen ins Gewissen. Schnell geht es freilich nicht. Sogleich komme ich nicht zurück. Aber ehe die hundert Jahre vergangen sind, bin ich wieder da; darauf kannst Du Dich verlassen!< So würde ich mit ihm reden, Sihdi, und ich bin überzeugt, daß er einverstanden wäre! Die Engel sind doch nicht etwa da, um hundert Jahre lang für sich zu leben und dann der Menschheit nur einige kurze Tage oder Stunden zu widmen! Du weißt doch, was ein Engel ist?"

"Ja," antwortete ich.

"Und Du glaubst, daß es Engel gibt?"

"Selbstverständlich!"

"Es soll aber Leute geben, die es leugnen?"

"Die gibt es allerdings, und doch möchte ich zugleich auch sagen: nein, die gibt es nicht. Es kommt ganz darauf an, zu welcher Meinung man sich stellt. Die einen behaupten, Gott habe Legionen himmlischer, unsichtbarer, reiner Wesen geschaffen, die hoch über dem sündhaften, abgefallenen Menschen stehen, und doch dazu bestimmt sind, ihm zu dienen. Und die andern beteuern, daß dies unmöglich sei, weil es gegen Gottes Weisheit und Gerechtigkeit verstoße, denn die Erde würde dann für die Engel eine wahre Hölle sein. Und wie kämen die Menschen dazu, von Wesen bedient zu werden, die unendlich wertvoller sind als sie? Die Heilige Schrift spreche zwar von Engeln, aber das sei nur die bekannte orientalisch-bildliche Ausdrucksweise. Unter der Bezeichnung Engel seien nur gute Menschen gemeint, die ihre höhere Einsicht, ihre Güte und Liebe dem Bedürftigen zur Verfügung stellen, ohne einen Lohn zu erwarten."

"Und welches ist denn Deine Meinung, Sihdi?"

"Die Antwort auf diese Frage will ich Dir nicht in Worten geben, sondern durch die Tat. Wenn wir von Engeln sprechen, so denken wir an gute Geister, die weit besser sind als die Feen und andere liebe Gestalten, die wir aus unserer Märchenzeit kennen. Und nun höre, was ich Dir sage, mein lieber Halef! Es mag zwar sonderbar klingen, ist aber sehr ernst gemeint und wird unbedingt ausgeführt. Ich habe mir nämlich vorgenommen, der gute Geist des Dschirbani zu sein."

"Der - gute - Geist - des - Allah w' Allah! - Du bist aber doch kein Geist!"

"Ist auch nicht nötig! Übrigens, wie willst Du beweisen, daß ich nicht auch Geist bin? Bin ich etwa nur Körper?"

"Nein!"

"Nun wohlan! So soll alles, was ich an Geist und an Güte besitze, diesem jungen Manne gewidmet sein, der offenbar unter dem Schutze von Marah Durimeh steht und also das größte Anrecht auf meinen Schutz besitzt."

"Also Schutzgeist!"

"Nenne es so! Ich bin zwar nur Mensch, habe aber nichts dagegen! Wir sind nicht geboren, uns gegenseitig zu schädigen, sondern zu schützen. Das höchste Menschheitsideal ist uns vom ewigen Vater vorgesteckt: wer danach trachtet, wirklich Mensch genannt zu werden, der gebe sich Mühe, der Schutzgeist oder Schutzengel seiner Nebenmenschen zu sein, wenn nicht vieler, so doch von einigen oder wenigstens einem. Das kann ein jeder, sogar der Allerärmste! Ich will es während unserer Reise für den Dschirbani sein. Was aber kann ein einzelner flehender Schutzgeist ohne Schutzengel machen? Nichts! Verstehst Du mich, Hadschi Halef?"

"Hm!" murmelte er geschmeichelt. "Der Schutzengel bin ich?"

(Seite 114B) "Noch nicht; aber Du kannst es werden, wenn Du willst."

"Ob ich will! Ich habe Dir ja soeben gesagt, daß ich den Wunsch habe, ein Engel sein zu dürfen. Ich bin also bereit, mich als Schutzengel des Dschirbani an Deine Seite zu stellen."

"Gut, ich nehme an. Aber ich mache Dich darauf aufmerksam, daß es nicht leicht ist, sondern schwer, ungeheuer schwer!"

"Schwer? Ich halte es für leicht. Man hat da doch wohl weiter nichts zu tun, als aufzupassen, daß dem Beschützten nichts geschehe, was ihm schaden kann!"

"Das könnte ein Mensch wohl auch. Wir wollen aber doch Geister und Engel sein! Das ist schwer, lieber Halef, unendlich schwer! Die Engel kennen keine Sünde. Willst Du einer sein, so hüte Dich! Den Engeln und Schutzgeistern ist Macht gegeben, zu helfen. Besitzest Du diese Macht? Ihre Augen durch dringen alles; wie scharf aber sind die Deinen? Und vor allen Dingen, sie sind unsichtbar, und das haben auch wir zu werden."

"Unsichtbar?" fragte er überrascht.

"Ja!" antwortete ich.

"Wir?"

"Ja, wir!"

Da lachte er fröhlich auf und rief:

"Welch ein Scherz! Du wirst drollig, Sihdi, sehr drollig!"

"Lache nicht! Ich meine es ernst! Kannst Du etwa jetzt Hanneh sehen, Dein Herzensweib, welches für Dich die schönste und lieblichste unter allen Blumen der Erde ist?"

"Nein."

"Oder kannst Du Kara Ben Halef sehen, Deinen Sohn, auf den Du stolzer bist, als auf Dich selbst?"

"Nein. Auch nicht."

"Du gibst also zu, daß sie für Dich unsichtbar sind?"

"Ja."

"So schau doch, schau! Und doch ist Hanneh Dein Schutzengel und Kara Ben Halef Dein Schutzgeist gewesen in jeder Sorge und Qual, in jeder Not und Gefahr, die wir miteinander erlebten! Der Gedanke an diese beiden geliebten Personen hat -"

"Schweig, schweig!" fiel er mir da in die Rede. "Du hast wieder recht, wie immer, und ich war wieder einmal dumm, sehr dumm. Die Unsichtbarkeit leuchtet mir jetzt ein!"

"Aber nicht richtig, sondern falsch! Wir beide, Du und ich, werden dem Dschirbani ja stets sichtbar sein. Es handelt sich hier nicht um die Unsichtbarkeit der Körper, sondern der Engel. Das, was wir tun, soll unsichtbar sein, soll nicht gesehen werden. Der Mensch, dessen Engel Du bist, soll und muß diesen Engel spüren, darf aber niemals, hörst Du, niemals erfahren, wer der Engel ist!"

"Du, Sihdi, das ist schlimm! Das ist falsch! Das ist verkehrt! Was habe denn ich davon, daß ich mich als Schutzengel eines Menschen Tag und Nacht anstrenge, quäle und sorge?"

"Du? Willst etwa Du etwas davon haben? Sollst Du etwa Deinetwegen Engel sein? Oder bloß nur seinetwegen? Halef, höre mich an! Als Geschöpfe Gottes stehen die Engel den Menschen vollständig gleich; denn beide sind das, was sie sind, nur durch Gottes Güte geworden. Aber in Beziehung auf das, was sie tun und wie sie es tun, stehen die Engel höher, viel höher als die Menschen. Der Mensch denkt in allen Stücken zunächst an sich selbst, der Engel aber an seinen Schützling. Auch der Mensch tut Gutes, aber er will Dank sehen, der Engel aber niemals! Der Mensch tritt mit seinen Wohltaten persönlich hervor; er tut sie am liebsten öffentlich, in allergrößter Sichtbarkeit und Hörbarkeit. Auch Hadschi Halef Omar ist nicht besser. Er will gesehen, gehört, gelobt und gepriesen werden; er will prahlen können, prahlen, prahlen! Der Engel aber handelt im Verborgenen. Er läßt sich weder sehen noch hören. Wenn Hadschi Halef Omar mit mir nach Dschinnistan reitet, um für den Dschirbani öffentlich zu kämpfen, so handelt er als Mensch. Wenn er dafür geschmeichelt und scharwenzelt werden will, so handelt er als Narr, als Tor, als Einfaltspinsel. Wenn er aber in allem, was er tut, mit seiner eigenen Persönlichkeit in der Weise zurücktritt und verschwindet, daß aller Ruhm und alle Ehre und aller Dank nur auf den Dschirbani fällt, so handelt er als Gottesbote, als unsichtbarer Engel!"

(Seite 115A) Er war meinen Worten mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. Nun rief er begeistert aus:

"So, so will ich sein! Das, das ist das Richtige! Nicht Mensch, nicht Narr, sondern Engel!"

"Warte noch! Ich bin nicht fertig!"

"Noch mehr? War das nicht genug?"

"Nein. Du mußt, ehe Du Dich fest entschließt, alles wissen! Denke an die letzte Nacht! Während ich hier mit Taldscha und der Priesterin, von dem Glanze des Himmels und der Erde umflutet, in der Anbetung Gottes stand, stolpertest Du da unten in der Tiefe an der Hand des Simmsemm heim. Und heut, jetzt, willst Du ein Engel, sogar ein Schutzengel sein! Dem Menschen kann man viel verzeihen, weil Gott von ihm nur Menschliches verlangt; wer aber Engel sein will, der hat an Opfern, Selbstüberwindung, Entsagung und Geduld schier Übermenschliches zu leisten. Er muß sich selbst vergessen, vollständig vergessen. Indem Du Dich hierzu entschließest, stellst Du Dich jenseits der Grenze alles dessen, was Du bisher warst und bisher konntest. Wirst Du jetzt noch sagen, daß es leicht sei, Engel zu sein?"

"O nein, nein, nein!" antwortete er kleinlaut. "Es ist schwer, unendlich schwer!"

"Am schwersten ist das Unsichtbarwerden und das Unsichtbarbleiben. Sobald man Dich sieht, bist Du kein Engel mehr, sondern ein Mensch, wie jeder andere gewöhnliche Mensch. Der Dschirbani ist die Hauptperson; wir aber müssen verschwinden. Wir haben bescheiden zu sein, ganz außerordentlich bescheiden. Wir haben zu dienen und zu gehorchen. So will es Marah Durimeh, unsere große Meisterin, die nie etwas von uns verlangte, (Seite 115B) sondern immer nur gab, nur gab! Du mußt Dich an den Gedanken gewöhnen, daß der Dschirbani, der von den Ussul Verachtete, vor Gott viel höher steht als Du und ich! Er ist schon edel; wir aber haben erst noch edel zu werden! Er will hinauf nach Dschinnistan. Also hoch, hoch will er steigen! Indem wir ihm dienen und ihn beschützen, steigen wir mit! Indem wir ihn stärken und ihm helfen, stärken und helfen wir uns selbst. Indem wir ihn dem hiesigen Sumpfe entreißen, entkommen auch wir dem Moder des niedrigen Lebens, wo jedermann nur nach Simmsemm, Fleisch und Humus riecht. Und indem wir ihn, nach gelungenem Ritt, dem 'Mir von Dschinnistan übergeben, stellen wir auch uns in den Schutz und Schirm dieses mächtigen Herrschers, in dessen Haus der ewige Friede wohnt. Freilich, so bei ihm einzuziehen, wie wir jetzt sind, können wir nicht. Indem wir Schutzgeist und Schutzengel werden wollen, haben wir unser Todesurteil gesprochen. Wir müssen sterben!"

"Sterben?" fiel mir da Halef schnell in die Rede. "Allah sei uns gnädig! Ist das wahr?"

"Ja," nickte ich ihm ernsthaft zu.

"Wo sollen wir sterben, wo?"

"Unterwegs."

"Aber Du hast doch soeben davon gesprochen, daß wir den Dschirbani dem 'Mir übergeben und also Dschinnistan erreichen werden!"

"Ganz richtig!"

"Und doch sind wir dann unterwegs gestorben?"

"Ja."

"So ziehen wir also als Leichen in Dschinnistan ein?"

"Wenn Du es so ausdrücken willst, habe ich nichts dagegen."

(Seite 116A) "Höchst sonderbar! Fast wird mir angst! Sag mir doch wenigstens, an welcher Krankheit ich sterben werde!"

"Du wirst an keiner Krankheit sterben."

"Woran sonst?"

"Es wird Dich jemand ermorden."

"Wer, wer?" fuhr er zornig auf. "Nenne mir den Halunken, den Schurken!" Und die Hände ballend, stellte er sich vor mich hin und fügte hinzu: "Den Schuft, den Schandbuben, das Scheusal, den Ruchlosen, den Kehlabschneider, das Ungeheuer! Wie lautet sein Name, wie?"

"Hadschi Halef Omar."

Da wich er wieder von mir zurück, öffnete die Fäuste und fragte verwundert:

"Ich? Also ich selbst?"

"Ja. Du selbst!"

"So meinst Du, daß ich als Selbstmörder enden werde?"

"Gewiß meine ich das. Aber ich meine es nicht nur, sondern ich hoffe und wünsche es sogar!"

"Du hoffst - - - hoffst - - - wünschest - - Selbstmörder - - - ich - -!"

Die Stimme versagte ihm. Er trat noch weiter von mir zurück. Da sah er, daß ich lächelte. Er besann sich, kam schnell wieder auf mich zu und sagte in frohem Tone:

"Du lächelst, Effendi! Du meinst es also anders, als ich dachte. Ich bin wirklich noch kein Engel! Ja ich bin noch nicht einmal Mensch! Sondern ich bin noch erst Narr und Einfaltspinsel, wie Du vorhin sagtest! Soeben noch hast Du Dir so große Mühe gegeben, mir zu erklären, was ein Engel zu bedeuten hat, und gleich darauf weissagst Du mir, daß ich an Selbstmord sterben werde! Das paßt nicht zusammen. Ein Engel wird nicht zum Selbstmörder und ein Selbstmörder wird kein Engel. Du meinst also keinen echten, richtigen, wirklichen Selbstmord, sondern einen andern, der in der Müdschewwedet vorkommt, von der wir vorgestern gesprochen haben, als ich vom Pferde gefallen war. Weißt Du, so einen Selbstmord, wo sich zum Beispiel jemand aus dem Oberbewußtsein in das Unterbewußtsein hinunterstürzt und dabei den Hals bricht, oder wo ein anderer im Unterbewußtsein in die Apotheke läuft, um Rattengift zu holen und es sich dann im Oberbewußtsein in seine eigene Kaffeetasse schüttet. Darum habe ich Dich nicht sogleich verstanden, denn sobald Dir Deine Gedanken in die Müdschewwedet geraten, kann Dir kein Schutzgeist und kein Engel folgen, viel weniger ich, der Narr. Ich bitte Dich, mir die Sache zu erklären!"

"Sofort! Sie ist einfach folgende: Als wir uns vor Jahren zum ersten Male trafen, nanntest Du Dich Hadschi Halef und behauptetest, auch alle Deine Vorfahren seien Hadschi gewesen. Das war nicht wahr. Der Halef stimmte; das war Dein wirklicher Name. Der Hadschi aber, der warst Du nicht; der bist Du erst später geworden, und zwar dadurch, daß Du Dir meine Liebe erwarbst. Zum wirklichen Hadschi hast Du es aber nur äußerlich, nicht innerlich gebracht. Da ist noch immer der alte, imitierte Hadschi vorhanden, der fremde Titel, fremdes Verdienst und fremden Ruhm für sich in Anspruch nimmt, ohne aber ein Recht dazu zu haben. Ich glaube, wir haben schon einmal hierüber gesprochen. Ich sagte Dir, daß ich den Halef liebe, daß es mit dem Hadschi aber ganz unbedingt ein Ende zu nehmen habe. Besinnst Du Dich darauf?"

"Ja, Effendi. Nur weiß ich nicht, wo es war, daß wir über den Hadschi und über den Halef sprachen. Ich nahm mir damals vor, es mit diesem in mir wohnenden Hadschi alle zu machen, habe aber nicht wieder daran gedacht. Ich brauche nur zu wollen, so muß er fort!"

"Denke das nicht! Denke das ja nicht! Das ist ererbt von Deinen Vätern, die sich auch Hadschi nannten, ohne es zu sein. Solche Erbschaft ist nur schwer zu beseitigen. Und dennoch mußt und mußt Du sie herausreißen und von Dir werfen, weil Du es sonst nie zum Edelmenschen bringst oder gar zum Schutzengel anderer, die unendlich höher stehen als Du, weil alles echt ist, was sie sind und haben! Den Hadschi also hast Du abzutöten. Verstehst Du mich?"

(Seite 116B) Gern hätte ich noch einige Unterweisungen hierangeknüpft, doch konnte ich nicht, weil jetzt der Dschirbani kam. Halef rückte in die äußerste Ecke der Bank. Er fühlte sich außerordentlich wertlos und klein. Der junge, geistvoll ernste Ussul kam ihm nicht nur körperlich als Riese vor. Und den, den wollte er unter seine Fittiche nehmen, wollte sein Schutzengel sein! So sagte er zu sich. Daß diese Demut berechtigt war, verstand sich ganz von selbst. Was sie für Früchte trug, mußte sich erst zeigen.

Der Dschirbani hatte kurz und freundlich gegrüßt und war dann an die Balustrade getreten. Er schaute geradewegs in das soeben wieder hoch emporlodernde Feuer der Berge hinein. Seine riesige Gestalt stand wie in Flammenglut. Dann sagte er, ohne die vorangegangenen Gedanken durch Worte anzudeuten:


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