"Das werden wir sehr bald erfahren."

Indem ich dieses sagte, kniete ich nieder, um die Figur genau zu betrachten. Das Dreieck war vertieft, sein Inneres aber wieder als Relief behandelt. Die Vertiefung war mit feinstem, mehligem Flugsande ausgefüllt, welchen der nächtliche Tau in eine Kruste verwandelt hatte, die man nicht einfach durch Fortblasen entfernen konnte. Ich mußte die Spitze des Messers zu Hilfe nehmen, und indem ich dies tat, trat der Inhalt des Dreieckes immer deutlicher als ein Auge hervor, ungefähr in der Weise, wie es als Symbol Gottes, des Vaters, gebraucht zu werden pflegt, nur daß an dem, welches ich hier vor mir hatte, auch die oberen und unteren Wimperhärchen angebracht waren, und zwar in einer Anordnung und Freiheit, durch welche der Bildner dieses Symbols als Künstler erschien.

"Ein Auge!" rief Halef aus. "Ein richtiges, wirkliches Auge! Ich frage Dich, was es sagen soll? Was hat es zu bedeuten?"

"Wie ich von Sitara her weiß, ist dieses Auge das Handzeichen und Siegel des 'Mir von Dschinnistan," antwortete ich. "Wir wissen also, daß dieser Engel weder von den Ussul noch von den Tschoban stammt, sondern auf Anregungen aus Dschinnistan entstanden ist. Wann, wie und warum dies geschah, muß uns jetzt gleichgültig sein. Wir haben es nur mit der Frage zu tun, was dieses Auge grad hier an dieser Stelle soll."

"Das ist doch sehr einfach und leicht zu sagen! Man soll dadurch erfahren, wer der Schöpfer des Brunnens ist."

"O nein! Hätte das Auge nur diesen Zweck, so wäre es an einer ganz anderen Stelle angebracht worden. Hier ist es von unten nicht zu sehen, und die Stelle ist, wenn kein anderer Grund vorläge, so vollständig unsymmetrisch und täppisch gewählt, daß man sich darüber verwundern müßte. ich bin überzeugt, daß dieses Symbol grad die Stelle betonen soll, auf der es angebracht worden ist. Diese Stelle ist wichtig! Von welcher Art aber kann diese Wichtigkeit nur sein?"

"Meinst Du, daß sie sich auf den Eingang zum Brunnen bezieht, Sihdi?"

"Das meine ich allerdings. Das Auge ist das Zeichen für den Brunnendeckel. Ich nehme an, daß man es nicht am Rande, sondern in der Mitte des Deckels angebracht hat. Wir haben also rund um das Auge herum nach der Linie zu suchen, welche die Kante des Deckels mit dem Steine bildet. Haben wir sie entdeckt, so ist der Deckel gefunden."

"Das soll wohl schnell geschehen!" meinte Halef, indem er sich zu mir niederkauerte, um suchen zu helfen.

Aber es ging nicht so rasch, wie er dachte. Es zeigte sich nicht die geringste Spur einer Spalte, eines Risses, einer Linie. Der Stein schien kompakt zu sein, und nichts, gar nichts deutete darauf, daß es möglich sei, einen Teil von ihm zu entfernen.

"Sihdi, es ist nichts, und es wird nichts!" sagte Halef. "Du hast Dich geirrt. All Dein Denken ist überflüssig gewesen! Das meinige aber nicht! Hättest Du mich nicht gestört, als ich mit meinen Gedanken fast unten beim Wasser war, so wäre uns jetzt das nutzlose Suchen erspart!"

"Und das Auge, das wir gefunden haben?"

"Das Auge? Hm, das ist allerdings etwas!"

"Und, horch!"

Ich klopfte in der Nähe des Auges auf den Stein, und ich tat es in angemessener Entfernung von ihm.

"Das klingt allerdings anders, ganz anders," gestand der Hadschi ein.

"Es klingt nicht nur anders, sondern es sieht auch anders aus. Schau her!"

Die von dem Auge entfernte Stelle war durch die Berührung meiner Hände und durch das Klopfen vom Flugsande frei geworden. Der Fels erschien, und es fiel mir sogleich auf, daß er von anderer Beschaffenheit und anderer Farbe war. Diese Verschiedenheit war freilich keine große und in die Augen springende, entging mir aber nicht. Ich untersuchte, betastete und verglich, bis sich das erfreuliche Resultat ergab:

(Seite 134B) "Dieser Dschinnistani ist ein außerordentlich kluger, umsichtiger Mann. Er versteht es, mit Tatsachen zu rechnen, an die kein anderer denken würde. Er hat den Brunnendeckel mit Wasser begossen und dann Flugsand daraufgestreut. Unter der hierdurch entstandenen Kruste sind die Spuren des Deckels derart verschwunden, daß kein Auge sie entdecken kann. Der Wind hat dann das übrige getan und die Umrisse völlig verweht. Hol Wasser, Halef, hol Wasser! Steig hinab und binde mir einen der vollen Hundeschläuche an den Lasso! Ich ziehe ihn mir herauf, und dann wirst Du sehen, wie schnell sich uns das Geheimnis dieses Engels und seines Brunnens offenbart!"

Er stieg hinab und tat, was ich ihm aufgetragen hatte; dann kam er wieder herauf. Ich befeuchtete den Stein rings um das Auge her, und er scheuerte gleich mit der bloßen Hand die sich rasch auflösende Kruste weg. Und richtig, da geschah, was ich erwartet hatte: Die Umrisse des Brunnendeckels erschienen, und zwar sehr deutlich, scharf und bestimmt. Auch darin hatte ich recht gehabt, daß sich das Auge mitten auf dem Deckel befinde. Diesen Umrissen nach war der Deckel ungefähr anderthalb Meter lang und ebenso breit und stieß eng an die letzte, rechte Falte des steinernen Gewandes der Figur. Aber wie nun den Deckel entfernen? Sein Gewicht war auf weit einen Zentner zu taxieren; er lag in tiefen, fest geschlossenen Fugen und besaß weder ein Loch oder einen Griff noch irgend eine Spur einer Vorrichtung, die es ermöglicht hätte, ihn zu fassen, zu heben und zu bewegen. Ich sann und sann; ich versuchte alles und alles, doch vergeblich. Die Ritze zwischen Deckel und Stein schloß so vorzüglich, daß man nicht die dünnste Messerklinge zwischen sie hineinschieben konnte. Und selbst wenn dies möglich gewesen wäre, hätte man darandenken können, eine zentnerschwere Last mit einer solchen Klinge emporwuchten zu können? Halef machte seinem Mißmute Luft, indem er klagte:

"Da sitzen wir nun wie die Kamele, kauen wieder und sehen einander an! Ich bin mit meinem ganzen Witz zu Ende, und Du wohl auch!"

"Ich noch nicht! Es fällt mir gar nicht ein, das Spiel schon aufzugeben. Es handelt sich nur darum, unser Nachdenken nicht auf falsche Wege geraten zu lassen. Das kann nur durch mechanische Kraft geschehen. Aber von welcher besonderen Art ist diese mechanische Kraft? Werkzeuge sind ausgeschlossen, denn es gibt weder ein Schlüsselloch noch sonst etwas, wo ein Werkzeug angesetzt werden könnte. Die Steinplatte, welche wir vor uns haben, ist also lediglich durch sich selbst zu bewegen. Aber wie? Geht sie auf Rollen oder Rädern? Nein! Ist sie zu verschieben? Nein! Wahrscheinlich handelt es sich um eine sehr einfache und sehr leichte Verlegung des Schwerpunktes, die an sich weder Kraft noch Anstrengung erfordert! Für den, der es weiß, ist es zum Lachen, daß man darüber nachdenkt, ohne es zu finden!"

"Den Kerl, wenn ich ihn erwische, haue ich die Peitsche über das Gesicht, sobald er lacht!" zürnte Halef in seiner drolligen Weise. Und in ironischem Tone fügte er hinzu: "Sei doch so gut, und wende Dich an Deine Wissenschaften, auf welche Du so große Stücke hältst! Ist es ihnen dann nicht möglich, Dich aus dieser Verlegenheit zu reißen?"

"Nur möglich? Ich sage Dir, sie können und werden mir helfen! Nur darf ich nicht so dumm sein, mich in verkehrter Weise an sie zu wenden."

"Wie heißen sie denn? Nämlich diejenigen, welche?"

"Es sind ihrer nur zwei: die Ilm tabijat und die Dscherri eskal. Ich habe sie bereits zu Rate gezogen, denn die Fragen, die ich soeben aussprach, waren an sie gerichtet."

"Und da antworten sie nicht?"

"O doch! Sie haben mir ja gesagt, daß es sich jedenfalls um eine höchst einfache und sehr mühelose Verlegung des Schwerpunktes handelt. Wir müssen also nachforschen, wo er jetzt liegt, und wohin wir ihn sodann zu verlegen haben."

"So bitte ich Dich, diese Aufgabe zwischen uns zu teilen: Du schaust jetzt nach, wo er liegt, und ich lege ihn dann weiter; wohin, das wird sich finden! Übrigens, wer ist denn das eigentlich, dieser Schwerpunkt? Wenn er nicht bald aufhört, uns den (Seite 135A) Punkt so schwer zu machen, wie bisher, kann er uns nicht zumuten, uns noch länger mit ihm abzugeben! Es ist jammerschade, daß der Engel, zu dessen Füßen wir uns über Deine Ilmi tabijat und Dscherri eskal die Köpfe zerbrechen, nur von Stein ist. Wenn er ein wirklicher Schutzengel wäre, wie ich jetzt einer bin, so würde ich mich an seine Hilfe wenden und - - -"

"Er ist einer; er ist einer!" unterbrach ich den Hadschi. "Paß auf, er wird uns helfen!"

"Er? Der Engel? Dieser hier?" fragte der Hadschi verwundert.

"Ja, er, dieser Engel," antwortete ich. "In dem Augenblick, an dem Du ihn nanntest, kam mir der Gedanke, der höchst wahrscheinlich der richtige ist. Und als mein Auge diesem Gedanken folgte, stieß es auf das, was uns bisher entgangen ist, obwohl wir es sofort hätten sehen sollen. Halef, wir sind dumm gewesen, außerordentlich dumm!"

"Ihr? Also Du und Deine Wissenschaften? Da sagst Du mir nichts Neues! Das weiß ich ja schon längst! Sie werden Dir nie von Nutzen sein! Dagegen aber ich! Schau mich an, Sihdi! Kaum öffne ich den Mund, um von dem Engel zu sprechen, so kommt Dir sofort der richtige Gedanke! Der ist also doch von mir! Hoffentlich siehst Du nun endlich einmal ein, wie hoch ich über Deiner Gelehrsamkeit stehe, die Dich stets und grad dann im Stiche läßt, wenn Du sie brauchst! Aber sag, was ist denn das, was Du erst jetzt gesehen hast und was wir doch sofort hätten sehen sollen?"

"Ich frage Dich, welche Form hat die Steinplatte, welche den Deckel des Brunnens bildet?"

"Sie ist viereckig."

(Seite 135B) "Wieviel Kanten muß sie also haben?"

"Vier. Das ist ja selbstverständlich!"

"Zeige sie mir, nämlich diese vier!"

Das Viereck lag vor uns, aber nur von drei Seiten sichtbar umrissen. Die vierte stieß an die schon erwähnte Gewandfalte des Engels, und es gab da weder eine Spalte noch auch den dünnsten Strich oder Riß, welcher die Platte von der Falte trennte. Beide, Platte und Falte, bildeten vielmehr ein Ganzes; sie gehörten zusammen. Das war es, was ich erst jetzt gesehen hatte, und dann allerdings auch noch etwas anderes dazu. Halef kam meiner Aufforderung nach und zählte die Seiten des Viereckes, indem er auf die sichtbar gewordenen Umrisse deutete:

"Hier die erste; hier die zweite; hier die dritte, und hier - - -"

Da hielt er inne, denn nun sah auch er, daß die Platte nicht aufhörte, wo sie die Falte erreichte, sondern mit ihr ein Ganzes bildete.

"Sihdi, sie hat nur drei; die vierte fehlt," fuhr er fort.

"Sie fehlt nicht; nur ist sie an einer anderen Stelle, nämlich höchst wahrscheinlich weiter oben, quer über die Falte," antwortete ich. "Wir haben bisher nicht beachtet, daß auch der Saum dieser Falte über einen Meter hinauf mit der künstlichen Sandkruste überzogen ist, die wir von der Platte zu waschen hatten."

"Maschallah!" rief er aus, indem er die Stelle betrachtete und befühlte. "Das ist richtig! Also Wasser her, Wasser! Wir wollen uns sofort Gewißheit schaffen!"

Er griff wider zum Schlauche, benetzte die Falte mit Wasser und scheuerte dann die Kruste weg. Da geschah, was (Seite 136A) ich erwartet hatte. Es erschienen die bisher verborgenen Umrisse, und nun sah man ganz deutlich, daß die Platte nicht eine gerade Fläche, sondern einen rechten Winkel bildete und halb zum wagrecht liegenden Fußboden, halb aber zur senkrecht auf ihn stoßenden Falte des Gewandes gehörte. Sie ruhte da, wo sie den Winkel bildete, wahrscheinlich auf einer im Loche befestigten Achse, auf der sie sich bewegte. Ihre aufrecht stehende Hälfte war genau so hoch wie die Breite oder Länge ihres wagrecht liegenden Teiles. Es war also anzunehmen, daß beide einander das Gleichgewicht hielten und es eines gar nicht bedeutenden Druckes bedurfte, den Schwerpunkt zu verlegen und die Platte dadurch zu bewegen, daß man den aufrechten Teil in das Innere der hohlen Falte drückte und dadurch den liegenden Teil in die Höhe hob. Es machte mir Spaß, dies nicht selbst zu tun, sondern es Halef tun zu lassen. Er stand vor der Gewandfalte, betrachtete sie und sagte:

"Sihdi, Deine Wissenschaften sind doch vielleicht nicht ganz so dumm wie ich dachte; aber daß auch ein Teil des Gewandes dieses Engels mit zum Brunnendeckel gehört, darauf bist Du nur durch mich gekommen. Was aber soll nun geschehen?"

"Schiebe den Teil des Deckels, der zur Falte gehört, in die Falte hinein!" forderte ich ihn auf.

Er versuchte, es zu tun, brachte es aber nicht fertig, weil er auf dem andern Teil des Deckels, der gehoben werden sollte, stand.

"Es geht nicht, Sihdi," sagte er. "Wie kommst Du überhaupt auf die Idee, daß hier etwas hineingeschoben werden kann?"

"Tritt vom Deckel herunter, auf die Seite, und schieb noch einmal!" antwortete ich.

Er tat es und schrie fast erschrocken auf, als der Teil des steinernen Gewandes, den er berührte, unter seinem Drucke wich und nach innen ging, während die wagrechte Hälfte des Deckels zu seinen Füßen sich aus dem Boden hob und nun das Brunnenloch zu sehen war, nach dem wir trachteten. Nie habe ich bei ihm ein so sehr erstauntes, ja fast betroffenes Gesicht gesehen wie jetzt, in diesem Augenblick. Er starrte mich, das viereckige Loch in der Falte und die Brunnenöffnung abwechselnd an, blieb eine Zeitlang offenen Mundes stumm und jubelte dann:

"Hamdulillah! Das Loch ist gefunden! Sihdi, Du bist ein Zauberer, ein Hexenmeister! Zwar Deine Wissenschaften taugen alle nichts, doch bist Du glücklicherweise zuweilen so klug, Deine eigenen Gedanken zusammen zu nehmen, und dann sind wir immer, besonders wenn ich auch die meinigen dazu gebe, eines guten Erfolges sicher. So auch hier! Schiebe ich die Falte ganz hinein?"

"Ja."

Indem er den quadratischen Teil der Falte, welcher beweglich war, in diese hineinschob, wurde der andere Teil, welcher den eigentlichen Brunnendeckel bildete, so völlig in die Höhe geschoben, daß sich das Brunnenloch vollständig öffnete. Wir schauten hinein. Es führten Stufen hinunter, feste, steinerne Stufen, von rechts nach links in den harten Fels gehauen. Sie waren fast gar nicht feucht, und die kühle Luft, welche aus dem Innern stieg, zeigte nicht die geringste Spur von Moder und ähnlichen Dingen. Wir stiegen hinab. Das Innere bestand aus mehreren untereinander liegenden Abteilungen, die ich als Stockwerke bezeichnen will. Zu dem oberen Stock führten genau zwanzig Stufen. Als wir die letzte hinter uns hatten, drang das Licht des Tages nur als Dämmerung zu uns herab. Aber schon nach kurzer Zeit, als unsere Augen sich an das Licht gewöhnt hatten, konnten wir deutlicher sehen. Zur rechten Hand von uns stand ein großer, steinerner Würfel, auf dem einen dünne Steinplatte lag, die sich verschieben ließ. Als wir sie ein Stück zurückschoben, sahen wir, daß er hohl war und also einer Lade oder einer Kiste glich, in der sich allerlei Gegenstände befanden, die uns natürlich in hohem Grade interessierten. Obenauf lagen Rollen aus starkem Leder, die oben und unten zugebunden waren, um ihren Inhalt gegen Feuchtigkeit zu schützen. Wir öffneten eine. Sie enthielt eine sehr gut erhaltene Kerze, aus ungereinigtem Bienenwachs hergestellt. Wir wickelten noch eine zweite aus und brannten beide an. Sie hatten dicke, gut brennbare Dochte und spendeten Licht genug für unsere Zwecke. (Seite 136B) Außer diesen Kerzen gab es ein sehr wohl verwahrtes, uraltes Fiedelbogen-Instrument zum Licht- und Feuermachen. Wir brauchten es nicht, weil wir Zündhölzer bei uns hatten. Auch Schnuren, Stricke, Schläuche und ähnliche Dinge waren da, die mit dem Zweck des Ortes in Verbindung standen. Es gab lange, breite Riemen aus festem Rindsleder, deren Zweck uns nicht sofort in die Augen fiel. Bald aber sahen wir, daß sie zur Reparatur des Schöpfwerkes dienen sollten, welches uns zunächst in die Augen fiel.

Nämlich in der Mitte des ziemlich großen, unterirdischen Raumes, in dem wir uns befanden, stand ein langer, breiter Felsentrog mit je einem Rade vorn und hinten. Wenn man das eine drehte, so bewegte sich auch das andere mit. Über die beiden Räder war ein Lederriemen gelegt, an dem in gewissen Abständen Krüge hingen, die, mit geschöpftem Wasser gefüllt, auf der einen Seite aus dem Boden kamen, im Weitergleiten sich ihres Inhaltes in den Trog entleerten und dann auf der andern Seite nach unten zurückkehrten. Zur Reparatur des Riemens, der die Krüge trug, lagen die andern Riemen gewiß schon seit vielen Jahrhunderten da. Der Schöpfer dieses Werkes hatte einen Blick besessen, der sich durch keine zeitliche Schranke beirren ließ. Wer war er gewesen? Hoch über der Treppe, die wir heruntergekommen waren, sah ich das Zeichen des 'Mir von Dschinnistan eingegraben und darunter im alten Brahmavartadialekt das einzige Wort >Erbaut<. Dieses Wort bildete den Anfang eines Satzes; die Fortsetzung und das Ende desselben fanden wir, indem wir weiter abwärts stiegen, was uns durch die Kerzen sehr erleichtert wurde.

Im nächst tieferen Stock fanden wir ganz dieselbe Einrichtung und auch dieselben Gegenstände. nur daß hier der Krüge tragende Riemen dazukam, der nach oben führte. Über der Treppe war unter demselben Zeichen und in demselben Brahmavartadialekt das Wort >zum Sieg< zu lesen. Eine weitere Treppe tiefer, wo der Raum den beiden vorigen Räumen bis auf das Tüpfelchen glich, stand unter dem Auge >im Kampfe< eingemeißelt. Und ganz unten, wohin die vierte Treppe führte, standen wir vor einem weiten, sehr tiefen Wasserbassin, dessen Inhalt für viele Hunderte von Menschen und Tieren reichte, und, wie es schien, aus adernweise eingesprengtem Sandgeschiebe immer nachfiltriert und nachgesickert kam. Hier schöpfte das unterste Rad, um den Bottich der nächst höheren Etage zu füllen. So wurde das Wasser von Trog zu Trog nach oben getragen, und indem dies geschah, kam es derart mit der Luft in Berührung, daß es sich mit Kohlensäure sättigte und die Eigenschaft annahm, nicht nur durstlöschend, sondern auch erquickend zu sein. Über der Treppe war hier unter dem Auge die Inschrift >Für den Frieden< zu sehen, so daß der ganze Satz nun lautete:

"Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden." Wie mich das ergriff! Auch Halef wurde doppelt ernst, als ich ihm die Zeichen, die er nicht kannte, erklärte. Wir standen im Innern der Erde. Achtzig Stufen tief. Über uns der Engel von Stein. Inmitten der Wüste. Sie hatte Sonne, aber nicht Wasser. Hier aber gab es Wasser die Hülle und die Fülle, doch keinen Sonnenstrahl. Um die Wüste zu befruchten, hatte das Wasser zur Sonne emporzusteigen. So tief und noch viel tiefer, als dieses Wasser lag, stand die Vergangenheit, in der dieser Brunnen erbaut worden war, unter der Gegenwart, in der wir beide, Halef und ich, vor seinem Wasser standen. Auch sie, die Vergangenheit, hatte, um für die Gegenwart fruchtbar zu werden, zur Sonne emporzusteigen, und Gott, der allweise und allgütige 'Mir von Dschinnistan, hat auch zum Wohle der Gegenwart einen hochragenden, weit über die Wüste dahinleuchtenden Engel erbaut, in dessen wunderbaren Gedankeninnern wir in die Tiefe zu steigen haben, um mit dem befruchtenden Wasser der Vergangenheit die Gegenwart und Zukunft zu durchtränken. Wer dieser Engel ist, bedarf wohl nicht erst der Frage.

(Seite 137A) Wir kosteten von dem Wasser des Bassins. Es war sehr frisch und rein und ohne jede Spur von Beigeschmack, aber tot. Da begannen wir, die Räder zu drehen. Ich hatte gedacht, daß dies nach so langem Stillstande ein lautes Knarren und Kreischen ergeben werde; dem war aber nicht so, denn die Achsen bewegten sich in einer dicken, fettartigen Masse, die zwar eingetrocknet war, durch die Reibungswärme aber sofort wieder in ihren ursprünglichen halbweichen, elastischen Zustand zurückgeführt wurde. Als das Wasser von Trog zu Trog nach oben gestiegen war und wir dann oben in der höchsten Etage kosteten, war es nicht mehr tot, sondern hatte beinahe den lebendigen Geschmack einer fließenden Quelle. Dieses Wasser war bedeutend besser als das, welches sich in unsern Schläuchen befand; wir ließen das letztere also auslaufen, um sie mit dem ersteren zu füllen und gaben auch unsern Pferden und Hunden soviel zu trinken, als sie konnten. Nachdem dies geschehen war, verschlossen wir das Brunnenloch, indem wir den Deckelstein in seine vorherige Lage zurückbrachten.

"Streuen wir nun auch Sand auf Wasser, um die Spuren und Ritzen verschwinden zu lassen?" fragte Halef.

"Nein," antwortete ich. "Diese Vorsicht ist für uns nicht nötig, weil es keinen Feind gibt, der den Brunnen entdecken wird und wir ihn unsern Freunden nicht zu verbergen, sondern vielmehr bekannt zu geben haben. Ich sage Dir, lieber Halef, daß dieser Brunnen mir als wahrer Engel erschienen ist, und zwar nicht nur aus einem einzigen Grunde. Erstens hat er mich aus aller Sorge um unsern Zug durch die Wüste der Tschoban befreit, denn so genau wie die Karte des Dschinnistani hier an dieser Stelle stimmt, wird sie gewiß auch an den andern Punkten stimmen, und ich kann also sicher sein, daß wir nicht dürsten werden. Und zweitens erleichtert uns dieser Brunnen den Sieg an der Landenge in höchst willkommener Weise. Nämlich, um Blutvergießen zu vermeiden, werden wir die Tschoban auszuhungern und auszudursten haben. Um dies zu können, müssen wir aber selbst sehr reichlich mit Proviant und Wasser versehen sein. Das letztere ist die Hauptsache. Wir hätten eine immerwährend bewegte Reihe von Reitern gebraucht, um die große Menge des Wassers, die für uns nötig ist, vom Flusse nach der Landenge zu schaffen. Die uns nächstliegende Stelle des Flusses, die ein solches Quantum liefert, ist aber wenigstens einen und einen halben Tagesritt von hier entfernt. So lang müßte die Reihe der Reiter sein, und Du kannst Dir also denken, welche Zahl von Menschen und Pferden und welche Zeit und Arbeit uns dieser Brunnen erspart, der so nahe an der Landenge liegt, daß man die Entfernung gar nicht mit in Berechnung zu ziehen braucht."

"Glaubst Du wirklich, daß wir uns ihr bereits so sehr genähert haben?"

(Seite 137B) "Ja."

"Aber man sieht noch keine Spur von ihr!"

"Das glaube ich. Aber die Spur von ihrem Gegenteil!"

"Ihr Gegenteil? Was ist das?"

"Das Meer."

"Alla w' Allah! Du siehst es?"

"Ja."

"Wo?"

"Da rechts, genau im Osten. Schau hinaus, ganz, ganz hinaus!"

"Das tue ich ja. Aber ich sehe nichts, als nur den Sand der Wüste, der vom Lichte der sich neigenden Sonne leicht gerötet wird."

"Und dann? Noch weiter hinaus?"

"Dann kommt der Himmel, der unten, wo er auf der Erde liegt, einen Glanz wie Silber zeigt."

"Dieses Silber ist nicht der Himmel, sondern das Meer. Stände die Sonne im Osten, so würde dieser jetzt lichte Streifen dunkel erscheinen; da sie aber im Westen steht, so sehen wir ihn im silbernen Lichte. Wenn aber das Meer so nahe herangetreten ist, daß wir es bereits sehen können, so dürfen wir annehmen, daß wir bis zur Landenge nicht mehr weit zu reiten haben."

"Seit wann siehst Du schon das Meer?"

"Erst nur seit wenigen Augenblicken. Indem ich von dem Engel sprach, fiel mein Blick dort in die Ferne hinaus. Wenn wir uns nicht hier oben auf der Figur befänden, hätte ich es wohl noch gar nicht bemerkt. Steigen wir hinab, und reiten wir weiter!"

Unten von der Erde aus war die See allerdings kaum mehr zu sehen, aber je weiter wir nun kamen, desto näher trat sie uns. Ihr Streifen wurde breiter und breiter, verlor aber dadurch seinen Silberglanz. Man sah, daß das, was dort lag, eine Wasserfläche war. Bald bemerkte man auch, daß sie sich in Bewegung befand. Es schien, als ob sie atme. Auch der Boden unter uns veränderte sich. Der Sand begann, sich in Grus und Geröll zu verwandeln, und dieses vermischte sich nach und nach mit Steinbrocken, die an Größe immer mehr wuchsen. Es erschienen Felsenstücke, die zerstreut im weiten Kreise umherlagen, bald aber sich einander näherten und dabei zur Höhe wuchsen. Das alte, eigentliche Flußbett trat mit größerer Deutlichkeit hervor als bisher. Es war steil und tief und von Blöcken besät, deren abgerundete Kanten Zeugnis dafür ablegten, daß sie in früheren Zeiten mit dem Wasser in langer Berührung gestanden hatten. Die Ufer wurden von Felswänden begleitet, deren Höhe sich immerwährend vergrößerte. Sie bildeten Hügel, dann sogar Berge, die sich kulissenförmig ineinander schoben und das Auge verhinderten, einen freien Ausblick nach rechts oder links zu suchen. Wir konnten also das Meer nicht mehr sehen, aber das Grün, mit dem diese Felsenzüge bewachsen (Seite 138A) waren, deutete seine Nähe an. Ohne die Feuchtigkeit der See wäre diese Vegetation unmöglich gewesen. Sie bestand allerdings nur aus Salzstauden, Gestrüpp und niedrigen Büschen; ein Baum war nicht zu sehen.

Wir mochten wohl eine Viertelstunde lang zwischen diesen Höhen dahingeritten sein, als sie ganz nahe aneinandertraten und eine Stelle bildeten, welche genau so aussah, als ob ein Geschlecht von Giganten hier vor Tausenden von Jahren aus riesigen, rohen Felsstücken einen Tunnel gebaut habe, um die Landenge quer abzuschließen, dabei aber dem Wasser des Flusses die Fortsetzung seines Weges zu gestatten. Einem der größten Quader waren die Worte eingegraben >Fum eß Ssachr<, was soviel wie >Felsenmündung< oder >Felsenloch< bedeutet. Der Durchmesser dieses Loches war höchstens fünf oder sechs Schritte größer als die Breite des Flußbettes. Zu beiden Seiten aber stiegen die Felsen so steil in die Höhe, daß es nur an einer einzigen Stelle möglich war, zu Fuß emporzuklettern. Das letztere taten wir, nachdem wir von den Pferden gestiegen waren. Der Zweck, der uns hierher geführt hatte, machte es uns zur Pflicht, gerade diesen wichtigen Teil der Gegend so genau wie möglich kennen zu lernen. Die beiden Hunde Halefs blieben bei den Pferden, ohne daß wir es ihnen besonders zu befehlen brauchten. Als aber die meinigen sahen, daß es sich um eine Kletterpartie handelte, gaben sie ihren Wunsch mitzudürfen, in zwar nicht lauter aber doch so bittender Weise zu erkennen, daß ich ihn erfüllte. Unser Ziel lag hoch oben im Berglande, und so wollte ich gern sehen, was sie für Kletterer seien. Sie machten mir Freude. Kaum hatten sie die Erlaubnis bekommen, so schnellten sie uns voran von Kante zu Kante, von Zacke zu Zacke die in steilem Winkel ansteigenden Felsen hinan, nicht laut, sondern still, und nicht etwa unvorsichtig und unbedächtig, sondern von Schritt zu Schritt vorausschauend und überlegend, wo leichter und sicherer Fuß zu fassen sei, hier oder an einer anderen Stelle. Es war, als ob sie sich die Aufgabe gestellt hätten, den besten Weg für uns zu suchen, und als wir ihnen folgten, sahen wir allerdings, daß wir nicht klüger hätten wählen können als sie. Und dabei trugen sie ihre vollen Packsättel auf dem Rücken! Wir hatten noch nicht den vierten Teil des Aufstieges hinter uns, so standen sie schon oben auf der höchsten Felsenkante, grad senkrecht über dem >Fum eß Ssachr<, eng nebeneinander und mit den Schweifen uns die Bitte zuwedelnd, ihnen doch schnell nachzukommen. Andere Hunde hätten gebellt oder wenigstens Laute gegeben; sie aber taten das nicht; sie waren von echtem Adel und, wie wir gesehen haben, auch streng erzogen.

Es gab eine Überraschung, die unser da oben wartete. Wir befanden uns auf der Ostseite. Noch hatten wir die Höhe nicht ganz erklommen, so traten da, wo wir waren, die Spitzen der Felsen auseinander, und was sahen wir vor uns liegen? Das Meer, das Meer, das weite, blaue Meer, welches inzwischen ganz zu uns herangetreten war, ohne daß wir es hatten bemerken können. Und als wir den höchsten Punkt erreichten, wo die Hunde auf uns warteten und nun auch die andere Seite vor uns lag, schrie Halef vor Verwunderung laut auf, denn auch da war inzwischen das Meer erschienen und, einen jähen, tiefen Einschnitt des Landes benutzend, so schnell und so nahe zu uns herangekommen, daß es nun grad und genau zu unseren Füßen lag.

"Die See! Das Meer! Der Ozean!" rief Halef aus, die Hände zusammenschlagend. "Hältst Du das für möglich, Sihdi? Hast Du Dir das gedacht? Das herrliche, blauwallende Wunder ist da! Nicht bloß hier, sondern auch dort! Auf beiden Seiten! Und was ist das da draußen, ganz im Norden? Es sieht aus wie ein Baum von so riesiger Höhe, daß er bis zum Himmel ragt. Man sieht den Stamm, und man sieht auch die Krone, die er trägt. Es scheint, als ob Bewegung in ihr sei!"

"Das ist die Rauchsäule der Vulkane von Dschinnistan," antwortete ich.

"Welche des Nachts zur Feuersäule wird, ganz so, wie es im heiligen Buche und von dem Volke Gottes geschrieben steht! Der Herr ging ihm voran, des Tages in einer Rauch- und des Nachts in einer Feuersäule. Und schau, wie sonderbar! Dies Tor, grad vor uns! Es scheint, genau wie diese unsere Sperre, (Seite 138B) auch die ganze Breite der Landenge einzunehmen. Wir können nicht weiter, weder nach hüben noch drüben; wir müssen wieder hinab, woher wir emporgestiegen sind."

Das >Tor<, von dem er sprach, lag grad im Norden von uns, vielleicht eine halbe Wegstunde entfernt. Es war gewiß auf ganz natürliche Weise so entstanden, hatte aber auch das Aussehen, als ob es ein Werk von Menschen- oder vielmehr von Titanenhänden sei. Eine hohe, festgefügte Mauer lag quer über der Enge, von Küste zu Küste, von Wasser zu Wasser. Grad in der Mitte der Landzunge ging eine einzige Lücke von oben nach unten durch diese Mauer. Sie war so breit, daß einst der Fluß und neben ihm ein schmaler Weg hindurchgekonnt hatten. Oben lag eine Felsenplatte querüber, auf der es einige Büsche und eine von uns aus winzig erscheinende Erhöhung gab, die man für einen Steinhaufen halten mußte. Wenn diese Mauer keinen andern Durchlaß hatte, als nur die Mittelspalte, die wir sahen, so war der Raum zwischen uns und ihr die vortrefflichste Falle für die Tschoban. Als ich dem Hadschi das sagte, stimmte er mir gern bei. Leider war es für heut zu spät, noch bis dorthin zu kommen. Die Sonne stand bereits am Horizonte, und die Nacht bricht in jenen Gegenden so schnell herein, daß es uns gar nichts genutzt hätte, uns zu beeilen. Wir hätten die Mauer höchstens erreicht, aber doch keine Zeit gefunden, sie noch heut zu untersuchen. Wir begnügten uns also damit, festzustellen, daß es wenigstens hier am >Felsenloch< kein anderes Durchkommen gab als eben nur durch dieses Loch. Dann stiegen wir wieder hinab, um unten die Passage zu betrachten.

Sie war, wie schon gesagt, so eng, daß, wenn der Fluß Wasser gehabt hätte, nur ein vielleicht drei Meter breiter Weg geblieben wäre, um durch das Loch zu kommen. Dieser Weg war wohl fünfzig Schritte lang; er ging durch Felsen, war also unterirdisch, verlief aber so frei, daß er auf seiner ganzen Strecke mit Kugeln bestrichen werden konnte. Die unten im Flußbette zerstreut liegenden großen Steinblöcke boten zwar einigen Schutz gegen Schüsse, aber nur vereinzelten Personen, nicht etwa ganzen Ansammlungen von Menschen. Das war uns sehr günstig.

Wir stiegen wieder auf und ritten durch das Loch. Jenseits desselben war es unmöglich, die Höhe zu ersteigen, und zwar auf beiden Seiten. Wenn sich meine Vermutung bestätigte und die vor uns liegende, eine halbe Gehstunde lange Strecke als Falle für die Tschoban ausersehen werden sollte, so war vor allen Dingen die Frage zu erledigen, ob die Felswände, welche die Seiten des Engpasses bildeten, leicht gangbar seien oder nicht. Dieser Paß hieß Chatar, ein Name, der soviel wie >Gefahr< bedeutet. Das ließ vermuten, daß es nicht ungewagt sei, ihn im Kriegsfalle zu passieren. Wahrscheinlich hatten Ereignisse dies bewiesen. Wir durften also annehmen, daß die Beschaffenheit der Strecke für uns günstig, für die Tschoban aber ungünstig sei, und es stellte sich auch sehr bald in Wirklichkeit heraus, daß es so war. Wir ritten nur langsam vorwärts, um beide Seiten des Weges genau zu betrachten. Wir legten wohl drei Vierteile seiner Länge zurück und kamen dem Felsentore, welches wir von weitem gesehen hatten, ziemlich nahe, ohne eine einzige Stelle gefunden zu haben, an der es möglich war, an den regellosen, schroffen, oft sogar weit überhängenden Steinwänden emporzusteigen. Wenn es uns gelang, die Tschoban hier herein zu locken, so gab es für sie kein Entrinnen.

Auch die Wasserverhältnisse waren für uns günstig. Wir hatten ganz selbstverständlich angenommen, daß es hier gar kein trinkbares Wasser gebe, und waren daher einigermaßen überrascht, als wir an einer tieferen und sandigen Stelle des Flußbettes bemerkten, daß sie feucht sei. Wir stiegen sofort hinab, um sie zu untersuchen. Da stellte sich zu unserer Beruhigung heraus, daß sie bei längerem Nachgraben allerdings Wasser gab, aber dieses enthielt soviel Salz und widerlich schmeckende Bestandteile, daß es sowohl für Mensch als auch für Tier vollständig ungenießbar war. Diese Stelle hing mit dem Meere zusammen, welches hier am Engpaß nur eine geringe Tiefe besaß. Die gutes Trinkwasser führende Ton- oder überhaupt undurchdringliche Schicht, welche von den fernen Bergen kam und sich im Brunnenengel öffnete, schien tiefer als im Meeresboden zu verstreichen.

(Seite 139A) Wir fanden, noch ehe die Dämmerung verstrichen war, eine Stelle, welche sich zum Lagern eignete. Gras gab es freilich nicht, aber weich war das Fleckchen doch, weil es aus einer Ansammlung von Flugsand bestand, der eine kleine, abgeschlossene Bucht im Felsen bildete. Da machten wir es uns bequem. Die Hunde bekamen jeder ein Stück Fleisch, die Pferde ihre erste Wüstenration getrockneter Körner, und für die Menschen, nämlich für Halef und mich, hatte Taldscha so gut gesorgt, daß wir noch auf Tage hinaus mit Delikatessen versehen waren, nämlich aber, was bei den Ussul als Delikatesse bezeichnet wird. Mit dem Wasser wurde gespart. Pferde und Hunde bekamen nur einige Schlucke, mehr um sich die Mäuler anzufeuchten, als um den Durst zu stillen, den sie auch gar nicht haben konnten, weil sie sich am Engelsbrunnen mehr als satt getrunken hatten. Ein Feuer wurde nicht angebrannt, einesteils weil es keine besondern Gründe gab, es zu tun, und andernteils weil es hier schwer war, das nötige Brennmaterial zusammenzusuchen. Auch war keineswegs anzunehmen, daß wir vollständig sicher seien, nicht gesehen zu werden. So einsam die Gegend war, in der wir uns befanden, wer von drüben herüber und von hüben hinüber wollte, mußte sie doch passieren; der Prinz der Tschoban war hier vorübergekommen, ebenso der Maha-Lama und der oberste Minister von Dschunubistan; es konnten also wohl auch andere kommen, vor denen wir uns nicht sehen lassen durften. Wir nahmen uns vor, recht baldigst einzuschlafen. Das konnten wir, denn die Hunde hielten Wacht.

Es wurde Nacht; aber ihr Dunkel dauerte nicht lange; der zunehmende Mond stieg herauf. Es herrschte ringsum tiefe Stille, und doch war diese Stille nicht vollständig still. Was war es doch, die Meeresbewegung oder etwas anderes, was ich vernahm, als ob es nicht innerlich, sondern äußerlich und doch nicht äußerlich, sondern innerlich sei? Es schien in der Luft zu sein, und doch auch in der Erde, auf der wir lagen. Der Mond war sonderbar goldig gelb. Sah man ihm direkt in das freundliche Profil, so erschienen seine Strahlen bläulich gefärbt, wohl infolge der Feuchtigkeit der Luft. Es ging ein leises, heiliges Auf- und Niederatmen durch die sonst vollständig ruhende Welt. Kam das etwa von den Bewegungen der See? Halef betete still, ich auch. Eben hatte ich in meinem Innern Amen gesagt, da klang es plötzlich laut und vernehmlich durch die stillhelle Nacht:

"Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!"

Es kam wie von oben, wie von einer schönen, volltönenden, reinen Altstimme, die aus dem geöffneten Himmel niederklingt. Und als ob dieser Gottesgruß im Herabschweben auch eine tiefere Stimme erhalte, wiederholte er sich im weithin schallenden Bariton:

"Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!"

"Sihdi, was ist das? Wer ist das? Wo kommt es her?" fragte Halef, indem er sich überrascht in die sitzende Stellung aufrichtete.

"Still!" bat ich "Hören wir weiter!"

"Glaubst Du, daß es sich wiederholt?"

Ja, es wiederholte sich und zwar mit vereinten Stimmen. Im Alt und Bariton zugleich scholl es zu uns herab:

"Ja Kudah, ja Kudah, ja Kudah - - o Gott, o Gott, o Gott!"

Das klang so un- oder überirdisch! Es war, als ob Geister über uns schwebten, deren Stimmen uns fassen wollten, um uns hinaufzuheben. Nach einer kurzen Stille folgte diesen einleitenden Ausrufungen etwas vollständig Unbeschreibliches, für das wir in unserer abendländischen Musik und Kunst nicht einen einzigen Ausdruck haben, mit dem es möglich wäre, das, was wir hörten, auch nur annähernd zu bezeichnen. Es waren zwei Stimmen. Ein wunderbarer, jugendlich frischer Alt oder Mezzosopran und ein ebenso wunderbarer, tief ergreifender Baßtenor, bei uns Bariton genannt, die so fern voneinander und doch so nahe beieinander klangen, als seien alle himmlischen und alle irdischen Lobpreisungen in diesem einen >Ja Kudah< und was darauf folgte, vereint. Und was nun hoch in den Lüften über uns betete und flutete, das war ein Duett und dennoch keines; (Seite 139B) das waren Lieder, ohne Lieder zu sein; das war Gesang in seiner allerhöchsten, weil einfachsten Kunst, und doch kein Gesang, sondern nichts als Sprache, nur Sprache, aber jene vollendete Sprache, die erst dann über die ganze Erde klingen wird, wenn die Kunst nicht mehr zu herrschen, sondern zu dienen strebt und die Güte und Barmherzigkeit die Grammatik des einen, großen, humanisierten Menschenvolkes lehren.

Warum ich da grad die köstlichen Eigenschaften der >Güte< und der >Barmherzigkeit< in Erwähnung bringe, wird der Leser wohl morgen früh schon merken, wenn wir erfahren, wessen Stimmen es waren, die wir hörten. Es handelte sich jedenfalls um eine männliche und eine weibliche Person, welche, wie es schien, hoch oben auf der Platte des Felsentores standen. Sehen konnten wir sie nicht. Höchst wahrscheinlich aber hatten sie uns gesehen. Daß sie trotzdem sangen, sich also nicht vor uns verbargen, war ein Beweis ihrer Friedfertigkeit und Ungefährlichkeit. Und auch fromme Menschen waren sie. Wer an nichts glaubt und kein Bedürfnis hat, sich innerlich zu erheben, dem fehlen Worte und Töne, wie die waren, die wie auf Engelsflügeln jetzt droben im Mondschein schwammen. Sie verklangen in einer langsamen, feierlichen Melodie, welche von dem Alt gesungen, vom Bariton begleitet wurde und mit demselben Rufe schloß, mit dem der Gesang begonnen hatte: "Ja Kudah - - o Gott!"

Als nun wieder Stille um uns herrschte, wollte Halef, seiner Gewohnheit nach, sich in Fragen und Vermutungen über den Sänger und die Sängerin ergehen; ich aber wollte mir den tiefen Eindruck, den die Stimmen auf mich gemacht hatten, nicht hinwegschwatzen lassen und gab ihm eine so kurze Antwort, daß er mich begriff und infolgedessen schwieg. Als ich dann einschlief, trat ein lieber, holder Traum zu mir heran und zeigte mir herrliche Wesen, die mich umschwebten. Ihre Farbe war die des leuchtenden Goldes und weißer, duftiger Rosen. Ihre Gestalten erschienen mir köstlicher und schöner, als Menschen je gestaltet gewesen sind. Und ihre Stimmen erklangen in liebevollen, beglückenden Tönen, die mir die Brust so weit und selig machten, daß ich tief Atem holte, die frische, weiche Morgenluft einsog und dann die Augen öffnete. Ich wachte auf. Die Gestalten waren nicht mehr zu sehen, aber ihre Stimmen erklangen weiter, nicht mehr so nahe bei mir, sondern, wie gestern abend, von hoch oben herab. Ich schaute hinauf und konnte die beiden Singenden ganz deutlich erkennen. Es war so, wie ich vermutet hatte: Sie standen auf der Querplatte des Felsentores, ganz vorn, auf einer kühn vorspringenden Stelle. Sie mußten völlig schwindelfrei sein, um dies zu wagen. Es war eine männliche und eine weibliche Person, deren Alter ich der Entfernung wegen nicht bestimmen konnte. Ihre hellen, weiten Gewänder flatterten im Hauche des jungen Tages, der da oben natürlich kräftiger war als hier unten bei uns in der geschützten Tiefe. Vom Morgenrot umflossen, erhielten sie dadurch, daß die Falten ihrer Kleidung sich bewegten, den Anschein, als ob sie selbst in Bewegung seien und den Fels verlassen wollten, um zu uns niederzuschweben.

"Sihdi, die springen noch herab!" sagte Halef, der schon munterer als ich und nur noch nicht aufgestanden war, um mich nicht zu stören. Jetzt sprang er auf, wirbelte die beiden Arme in der Luft und schrie zum Fels empor, daß man sich doch um Allahs willen in acht nehme und ja nicht heruntergeflogen, sondern heruntergelaufen kommen möge.

Da verstummte der Gesang. Sie lauschten. Sie hatten zwar gesehen und gehört, daß er sprach, ihn aber nicht verstanden. Er legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und wiederholte, was er gesagt hatte. Da wurde er verstanden. Die Sängerin machte mit ihren Händen denselben Gebrauch wie er mit den seinen, und rief uns zu:

"So wartet! Ich komme hinunter!" Dann traten beide von der gefährlichen Stelle zurück, worauf sie verschwanden. Halef sagte, indem er erleichtert aufatmete:

"Allah sei Dank! Das war ja gar nicht mehr anzusehen! Soviel Augenblicke es gab, so vielmal schienen sie im Abstürzen zu sein! Darf ich denn endlich von ihnen sprechen? Gestern abend war es verboten."

(Seite 140A) "Weil man so tiefe, heilige Regungen zu achten hat, lieber Halef! Auch jetzt wäre es besser gewesen, wenn Du ihren Gesang nicht vor dem Schlusse abgebrochen hättest."

"Verzeih, Effendi! Ich konnte es nicht länger aushalten. Ich hatte Angst, sie würden stürzen. Sag, wer werden sie sein?"

"Das weiß ich nicht. Ihre Sprache ist kein Dialekt, sondern rein und edel, wie nur ein vornehmer Mund sich auszudrücken pflegt. Wir werden ja sehen. Wir reiten ihr die wenigen Schritte entgegen."

Gereinigt und gesattelt war schnell. Dann stiegen wir auf und wendeten uns dem Tore zu, welches zu erreichen nur ganz kurze Zeit erforderte. Auch bis dorthin gab es weder auf der einen noch auf der andern Seite des Flußbettes eine Stelle, an der man emporklettern konnte. Die Falle war also in unserm Sinne vollständig tadellos gebaut. Auch die beiden Sänger hatten nicht hier hinaufgekonnt. Der Weg, der die Altistin herunterführte, mußte jenseits des Tores liegen, auf der Nord- oder Außenseite desselben. Wir ritten also hindurch. Jenseits angekommen, ritten wir nur noch einige Schritte weiter und hielten dann, um die Ankunft der Frau - oder war es ein Mädchen? - zu erwarten.

Es vergingen einige Minuten. Halef wurde ungeduldig. Er meinte, daß wir noch ein Stück weiter vorwärts müßten; ich aber riet, zu bleiben. Ich hielt still; er dagegen ritt langsam hin und her. Da sah ich, daß er plötzlich eine Bewegung der Überraschung machte, die Hand nach seinem Gesicht bewegte und dann nach oben sah.

"Was ist?" fragte ich.

"Es fiel ein Steinchen herab," antwortete er.

Nach einiger Zeit machte er dieselbe Bewegung, und dann auch noch zum dritten Male.

"Sihdi, man wirft!" sagte er, indem er wieder nach oben schaute. "Man zielt sehr genau, nämlich immer nach meinem Gesicht. Da oben steckt jemand!"

"Wohl kaum! Kein Mensch kann da hinauf und wieder herunter!"

"Und doch muß jemand es können, denn die Steinchen kommen von oben! Wer mag es sein, der es wagt, mit mir zu spaßen?"

"Ein Mädchen. Ein liebes, munteres Kind von noch nicht siebzehn Jahren."

"Siehst Du sie etwa?" fragte er da schnell.

"Nein," antwortete ich.

"Wie kannst Du da wissen, daß sie lieb ist und munter und noch nicht siebzehn Jahre alt?"

"Weil eine, die nicht mehr so jung ist und auch nicht lieb und munter ist, wohl nicht mit Dir scherzen würde."

"Ja, das stimmt allerdings. Kennst Du etwa auch schon ihre Gestalt?"

"So ziemlich."

"Woher?"

"Ich beurteile sie nach der Kraft und Fülle und dennoch außerordentlichen Weichheit ihrer Stimme, denn ich nehme an, daß es die Sängerin ist, die versprochen hat, herabzukommen. Sie ist gewohnt, tief zu atmen; sie klettert gut; sie ist schwindelfrei. Sag, was hieraus zu schließen ist!"

"Hm!" antwortete er verlegen. "Willst Du das nicht selbst sagen, Sihdi?"

"Nein. Ich möchte es von Dir hören."

"Schön - - - gut - - - also, ich schließe daraus, daß sie scharfe Augen hat, eine kühne, vortretende Nase, einen kräftigen, breiten Mund, einen starken, dicken Hals, aus dem die lauten, vollen Töne kommen, sehr tüchtige Schultern und Achseln, zwei eisenfeste Kletterhüften - - -"

Er wurde unterbrochen. Ein kurzes, fröhliches Lachen erscholl. Halef richtete den Blick wieder in die Höhe und fragte:

"Hast Du es gehört, Effendi? Sie lacht über ihre eigenen Hüften! Das kommt mir wie - - -"

Jetzt unterbrach er sich selbst, griff sich mit der Hand nach dem Gesichte und fuhr dann fort:

"Da wirft sie wieder! Und zwar nicht mit einem, sondern gleich mit mehreren Geschossen! Ich steige ab; ich muß sie fangen!"

(Seite 140B) Er sprang aus dem Sattel und untersuchte den Riesenpfeiler des Tores, in dessen Nähe wir hielten, mit scharfen Augen. Er glaubte wirklich, der Schalk sei da oben versteckt. Ich aber hatte, so oft er getroffen wurde, aus seinen Bewegungen ersehen, aus welcher Richtung die kleinen, mit so großer Sicherheit geschleuderten Steinchen kamen. Sie kamen nicht von oben sondern von unten her, aus der Nähe des Pfeilers, wo eine Menge zwei, drei und vier Meter hoher Felsenstücke wie durcheinander geworfen lagen, hinter denen sich eine vollständig senkrechte Tafelwand so glatt in die Höhe hob, daß sie nicht einmal für ein Eichkätzchen oder einen Kletteraffen, also noch viel weniger für einen Menschen zu passieren war. Hier konnte die Sängerin ganz unmöglich herunterkommen, und darum hatte ich dieser Stelle gar keine Aufmerksamkeit geschenkt. Nun aber lenkte ich meinen Rappen hin.

"Sihdi!" rief es da leise.

"Ja," antwortete ich. "Wo bist Du? Komm hervor!"

Niemand kam. Da ging ich auf den Scherz ein und stieg vom Pferde, um zu suchen.

"Sihdi!" klang es wieder, und zwar links; aber als ich hinkam, stand ich vor der nackten Tafelwand, und kein Mensch war zu sehen. "Effendi!" rief es von rechts. Ich wendete mich dorthin, zwischen allen Steinen hindurch, erreichte aber nur wieder die Wand und weiter nichts. "Sihdi - - Effendi", und "Effendi und Sihdi", so klang es bald hier und bald dort, aber der Schabernak war nicht zu sehen und also auch nicht zu fassen. Halef mußte jetzt einsehen, daß er sich geirrt hatte. Er gesellte sich zu mir und suchte mit, doch ebenso ohne Erfolg.

"Sie ist unsichtbar!" lachte er, aber ziemlich ärgerlich.

"Nein, sondern nur barfuß," antwortete ich. "Hätte sie Schuhe an, so würden wir sie hören."

"Aber ein Mann, wie Du bist, sollte sich doch nicht von einem Mädchen, welches noch nicht siebzehn Jahre zählt, an der Nase führen lassen!"

"Da hast Du freilich recht. Ich werde sie also binnen zwei Minuten fangen!"

Da erklang links von mir ein halblautes, herzliches, herausforderndes Lachen, aber nur einige Augenblicke später rief es rechts von mir:

"Sihdi, in zwei Minuten!"

"Wahrscheinlich schon in einer!" antwortete ich. "Nimm Dich in acht!"

Ich hatte den Spaß bis jetzt in aufrechter Haltung mitgemacht; jetzt aber, da es sich sozusagen um den Befähigungsnachweis handelte, drang ich schnell zwischen die Steine ein und legte mich dann nieder, um mich auf Händen und Füßen weiter zu bewegen. Ich ahnte die Stelle, um die es sich handelte, hatte sie aber bisher vermieden, um der kleinen Humoristin die Neckerei nicht zu verderben. Es gab hier unbedingt ein Versteck, und zwar ein nicht leicht auffindbares Versteck. Dieses konnte nicht zwischen den einzelnen Steinstücken liegen, denn da war ich schon überall gewesen, ohne etwas zu sehen. Es mußte sich vielmehr in der Felswand selbst befinden und durch ein vorliegendes Felsenstück dem Auge entzogen sein. Einen solchen Ort gab es allerdings. Ich war beim Suchen schon vorbeigekommen, Halef auch. Da lag ein vielleicht fünf Meter breiter Stein, unten von der Felswand abgerückt, oben aber fest an sie gelehnt, wie ein schief abfallendes Dach. Der Zwischenraum war schmal und nicht so hoch, daß man drin stehen konnte. Man mußte sitzen oder knien. Ich hatte beim Suchen schon zweimal hineingeschaut, aber nichts gesehen. Der Raum war nach beiden Seiten offen; man sah hindurch. Aber von ihm aus mußte ein Loch oder so etwas Ähnliches in die Felswand gehen, und das war das Versteck, in welches sich unser Kobold schnell wieder verbarg, so oft er uns geworfen oder angerufen hatte.

So dachte ich, und es zeigte sich sehr schnell, daß dieser Gedanke der richtige war. Ich kroch bis an den schief vorliegenden Stein, lehnte mich eng an ihn an, um möglichst wenig Raum einzunehmen, und wartete. Ja, da kam es zu meiner linken Hand herausgehuscht und zwischen die Steine hinein, so schnell, daß ich nur etwas Weißes sah, weiter nichts. Ebenso schnell kroch ich nun zu meiner rechten Hand in den (Seite 141A) Zwischenraum hinein, und zwar bis in die Mitte desselben, wo ich zu meiner Genugtuung eine fast zwei Meter hohe und über mannesstarke Öffnung fand, durch die ich kroch, denn gehen konnte man nicht, da sie oben zu schmal war. Sie war gar nicht lang und führte zu meinem Erstaunen nicht in die Felsenwand hinein, sondern aus ihr schnell wieder heraus in das Freie. Diese Wand war nämlich nur auf ihrer vordern Seite kompakt, hinten aber zerrissen und zerklüftet. Diese Risse und Klüfte griffen ineinander ein und bildeten in ihrer Gesamtheit einen gar nicht schwer zu gehenden Zickzackweg nach oben, der aber von der Außenseite nicht zu sehen war. Der Anfang dieses Zickzackweges, nämlich die Öffnung, die ich jetzt hinter mir hatte, war früher jedenfalls nicht verborgen, sondern unverdeckt gewesen; sie hatte offen in das Tal des Flusses gemündet. Später aber hatte es Gründe gegeben, diesen Zugang zu der Höhe des Felsentores zu verstecken. Der Stein war vorgelegt worden, um die Stelle so zu maskieren, daß man sie wenigstens nicht gleich beim ersten Male sah. Ich richtete mich zunächst auf, um das alles mit einem raschen Blicke zu überfliegen; dann setzte ich mich auf einen Stein, der neben dem Loche lag, durch welches ich soeben gekommen war und durch welches nun schleunigst auch die Sängerin kommen mußte, um sich wieder zu verstecken, während wir draußen vergeblich nach ihr suchten.

Und sie kam wenige Augenblicke nach mir und genau so gekrochen wie ich! Dann richtete sie sich auf, von mir abgewendet, so daß ich hinter ihr saß und von ihr nicht gesehen wurde. Ein halblautes, unbeschreiblich liebes, süßes Lachen entquoll ihrer Brust. Hätte man weiter nichts von ihr gehört als nur dieses eine, einzige Lachen, so hätte man sie doch schon lieben müssen! Sie trat einen Schritt zurück; dabei berührte sie mich. Sie fuhr augenblicklich herum, während ich mich zu gleicher Zeit erhob.

"Sihdi! Effendi!" rief sie erschrocken aus, während ihr schönes, edles Gesicht in glühender Röte flammte.

"In einer Minute! Habe ich Wort gehalten?" fragte ich.

"Ja," antwortete sie, indem ihr Auge, um mich zu betrachten, größer zu werden schien. "Du hältst wohl immer Wort!"

(Seite 141B) "Woher weißt Du das?"

"Ich sehe es Dir an. Ich wagte, nur ihn zu werfen, nicht aber Dich. Wie heißt er?"

"Hadschi Halef Omar."

"Ein Hadschi ist er? Also ein frommer Mann? Das will mir wohlgefallen. Hätte ich das gewußt, so hätte ich nicht mit ihm gescherzt. Aber als ich ihn sah, kam es mir vor, als müsse man mit ihm spielen!"

"Er liebt den Scherz, doch nicht das Spiel. Er ist ein tapferer, treuer, weitgereister Mann, der oberste Scheik eines berühmten Stammes."

"Von welchem Volke?"

"Vom Volke der Araber."

"Von jenseits des Meeres?"

"Ja."

"Ein - - Araber! Von - - jenseits des Meeres!" wiederholte sie für sich, als ob ihr das von einem ganz besonderen, persönlichen Interesse sei. "Bist auch Du Araber?"

"Nein. Ich bin Europäer."

"Ein Europäer?" fuhr sie auf. "Aus welchem Lande? Verzeih, Effendi, daß ich Dich frage!"

"Kennst Du denn die Länder von Europa?"

"Auch ihre Völker. Mein Vater hat mich das gelehrt. Er weiß sehr viel, fast alles."

"Ich bin Alemani."

Da schlug sie die kleinen, außerordentlich schön gebauten Hände froh zusammen und rief aus:

"Ein Alemani! Wie ihn das freuen wird! Sobald ich ihm das mitteile, wird er Dich lieben! Wenn er mich fragt, wie Du heißest, was soll ich ihm da sagen?"

"Man nennt mich Kara Ben Nemsi."

"Nemsi ist dasselbe wie Alemani. Vater heißt Abd el Fadl, und ich, ich heiße Merhameh."

"Waret Ihr beide es, die gestern abend und heute früh gesungen haben?"

(Seite 142A) "Ja. Kennst Du das, was wir sangen?"

"Nein."

"Es ist das Morgen- und das Abendgebet von Dschinnistan. Wir singen sie beide täglich."

"So kennst Du Dschinnistan?"

"Es ist mein Vaterland. Das Geschlecht Fadl ist so alt, wie die Menschheit dort überhaupt. Mein Vater ist ein treuer Diener des Herrschers. Er wurde von ihm ausgesandt, um -"

Sie hielt plötzlich inne, als ob sie etwas gesagt habe, was sie nicht sagen dürfe, und fuhr dann fort:

"Nun wohnen wir schon zwei Jahre lang hier auf dem Felsentore und warten, daß in Erfüllung gehe, was uns verheißen wurde."

Sie gab diesen Worten einen Ton, der mich zu der Frage drängte:

"Meinst Du etwa eine Verheißung, die aus Sitara kommt?"

Da hob sie ihr Gesicht und ihre Augen mit dem Ausdrucke größter Spannung zu mir empor und fragte:

"Kennst Du Sitara, Effendi? Kennst Du es?"

"Ich kenne es."

"Aber nicht seine Herrscherin?"

"Auch diese."

"Dem Namen nach?"

"Persönlich!"

"Du hast sie gesehen?"

Sie fragte so langsam, so gewichtig. Ihre langen, schweren Wimpern beschatteten dabei einen Blick, der voll Erstaunen, Wißbegier und verhaltener Freude zu mir herüberleuchtete.

"Nicht nur gesehen, sondern auch gesprochen. Ich war ihr Gast."

"In Ikbal?"

"Ja, in ihrem Hause."

"Du hast bei ihr gewohnt?"

"Ja."

"Du kommst etwa von ihr? Sie hat Dich etwa gesandt?"

"Warum fragst Du das?"

Sie war wie begeistert gewesen. Bei diesen meinen Worten beherrschte sie sich und fuhr ruhiger fort:

"Verzeih, Sihdi! Ich weiß, ich bin noch zu jung zu solchen Fragen. Aber ich bitte Dich: Erlaube mir, Dich einmal zu berühren!"

"Gern! Greif zu!"

Ich nahm an, daß sie nach meiner Hand fassen wolle. Sie tat das aber nicht, sondern sie trat näher zu mir heran, hob die ihrige empor und klopfte mir mit den Spitzen des Zeige- und des Mittelfingers auf die Brust, indem sie ihr Köpfchen mir horchend entgegenneigte.

"Er hat ihn; er hat ihn!" jubelte sie auf. "Ich dachte es mir! Ich habe es geahnt! Er hat ihn!"

"Wen habe ich? Was?"

"Den Schild! Ich fühle ihn! Oder ist die Platte, welche Dein Herz zu beschützen hat, nicht ein Schild, den Dir die Herrin von Sitara mitgegeben hat?"

"Allerdings. Weißt Du, wie diese Herrin heißt?"

"Marah Durimeh! Ich muß fort! Ich muß zum Vater! Ich muß ihm melden, daß - - -"


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