Sie konnte den Satz, den sie angefangen hatte, nicht vollenden, denn in diesem Augenblicke ereignete sich etwas, was mit dem tiefen Ernste, der uns beide beherrschte, in grellem Widerspruche stand. Nämlich zu unseren Füßen, ganz unten am Boden, bewegte sich etwas. Halefs Kopf erschien. Dann kamen die Hände und die Arme aus dem Loch heraus. Die Schultern schoben sich nach. Er sah unsere Füße, überhaupt die unteren Körperteile von uns, stemmte die Ellenbogen fest auf und hob den Kopf empor, um uns anzuschauen. Das sah so drollig aus, und sein Gesicht zeigte dabei einen so belustigenden Ausdruck, daß wir beide ganz den Ernst vergaßen und herzlich zu lachen begannen.

"Ihr lacht?" fragte er, indem er nicht wußte, ob er in unsere Heiterkeit mit einstimmen oder sich über sie ärgern sollte. "Ich finde die Sache gar nicht so lächerlich wie Ihr! Sie ist sogar sehr wichtig!"

(Seite 142B) "Wichtig?" fragte Merhameh, ohne ihr Lachen einzustellen, weil er, ohne sich aufzurichten, mit halbem Leibe im Loche stecken blieb. "Weshalb?"

"Als Beweis! Der Sihdi hat sein Wort gehalten, Dich in einer Minute zu entdecken. Und ich habe bewiesen, daß auch ich nicht länger brauche, es zu tun. Das muß doch anerkannt werden! Oder nicht?"

"Allerdings!" stimmte ich heiter ein. "Wie hast Du den Weg so schnell gefunden?"

"Auf die pfiffigste und einfachste Weise, die es gibt: Ich schlich mich heimlich und leise hinter Dir her, denn ich sagte mir: Was der kann, das kann ich auch! Als Du Dich eng an den Stein lehntest, lag ich schon hinter dem nächsten Steine. Als Du die - - die - - - die - - - den Spaßvogel forthuschen sahst, sah ich ihn auch. Als Du hinter den Stein krochst, nahm ich schnell die Stelle ein, an der Du Dich soeben befunden hattest. Ich hörte das Vöglein >Effendi, Effendi< rufen; dann kehrte es wieder zurück und verschwand, ohne mich zu sehen, zwischen dem Steine und der Felsenwand. Ich wartete noch einige Augenblicke und folgte ihr. Sie war verschwunden. Wohin? Ich suchte; ich fand das Loch und kroch hinein, genau so, wie auch Ihr hineingekrochen seid. Was lacht Ihr mich da aus! Übrigens höre ich, daß sie Dich bereits Sihdi nennt; Ihr scheint also schon auf sehr vertraulichem Fuße miteinander zu stehen. Woher weiß sie denn, daß Du mein Sihdi bist."

"Das habe ich nicht erst hier, sondern schon draußen gehört," antwortete sie. "Du hast ihn ja laut genug Sihdi und Effendi genannt, als Du immerwährend hinauf zum Himmel gucktest. Jetzt scheinst Du die Erde zu lieben!"

"Die Erde?" fragt er. "Wieso - - -? Ach so! Ich stecke noch drin!"

Er kam vollends herausgekrochen und richtete sich empor. Er sah sie nun nicht mehr von unten herauf, sondern in wagerechter Augenebene. Und da geschah etwas so Überraschendes, so Seltenes, so Tiefergreifendes, daß ich es selbst noch heute nicht ohne Rührung niederschreibe. Er sah sie an, trat einen halben Schritt zurück und sah sie wieder an. Sein Gesicht veränderte sich. Es wurde ernst, dabei aber weich und immer weicher. Sein Auge befeuchtete sich. Es nahm den mildesten und zartesten Ausdruck an, dessen es fähig war. Und doch strahlte es auch in Begeisterung auf. Es war, als ob er träume. Dann griff er nach dem Ärmel ihres weißen, leinenen Gewandes, küßte den Saum desselben und sagte, sich an mich wendend:

"Sie ist schön! Sie ist sehr schön, Sihdi! Unendlich schön!"

Sie errötete nicht, und sie antwortete nicht, wie ein anderes Mädchen wohl geantwortet hätte, sondern sie sagte ebenso ernst und aufrichtig wie er:

"Er sieht nicht mich; er sieht nur meine Seele; darum spricht er so!"

"Dein Seele?" fragte er. "Ja, diese auch! Doch meinte ich zunächst nur die Gestalt. Grad so, wie Du, muß Marah Durimeh, die Menschheitsseele, vor den Augen derer, die das Glück hatten, sie zu sehen, gestanden haben, als sie noch jung und von dem Schmerz des Lebens unberührt, in Deinem Alter war!"

Da antwortete sie:

"Du küßtest mein Gewand. Dieser Kuß galt nicht mir, sondern ihr. Was von Euch schön an uns gefunden wird, was Euch an uns beglückt, veredelt und erhebt, das kommt von ihr. Ich sende ihr den heiligen Kuß, der ihr gehört, indem ich ihn dem gebe, der sie kennt."

Sie trat schnell zu mir heran und drückte ihre Lippen auf den Saum meines Ärmels. Dann fuhr sie fort:

"Vater läßt Euch fragen, ob er herunterkommen soll, oder ob Ihr vorzieht, zu ihm hinaufzusteigen?"

"Wir steigen hinauf," antwortete ich, "möchten aber unsere Pferde nicht in der Weise stehen lassen, daß jemand, der inzwischen kommt, sie sieht."

"Ich kenne einen Ort, der sich sehr gut zum Verstecke für sie eignet," erklärte sie. "Er liegt ganz in der Nähe. Ich werde ihn Halef zeigen. Es genügt, daß er mit mir geht. Du aber, Effendi, steig voran! Der Weg ist nicht zu verfehlen. In kurzer Zeit holen wir Dich ein."

(Seite 143A) Ich nickte ihr zu, sah nur noch, daß Halef sich bückte, um wieder im Loch zu verschwinden und wendete mich dann ab, nach ihrem Willen zu tun.

Der Weg war, wie bereits gesagt, ein Zickzackweg, durch enge Risse und Klüfte zur Höhe hinauf. Indem ich ihm langsam folgte, dachte ich an das junge, schöne, unendlich sympathische Wesen, welches soeben in meinen Gesichtskreis getreten war. Sie hieß Merhameh, >die Barmherzigkeit<, und gehörte dem uralten, berühmten Geschlecht der Fadl, zu Deutsch >der Güte< an. Viele Söhne dieses Geschlechtes sind erleuchtete Herrscher, bahnbrechende Gelehrte und berühmte Künstler gewesen. Wer die Geschichte der Menschheits- und Völkerentwicklung kennt, der weiß, wie groß die Zahl der bedeutenden und einflußreichen Männer gewesen ist, die Fadl, Ben Fadl oder Abd el Fadl geheißen haben. Und jetzt sollte ich so ganz unvermutet einen Abd el Fadl kennen lernen, der ein Abgesandter des 'Mir von Dschinnistan war und schon zwei Jahre lang mit seiner Tochter hier auf dem Felsentore wohnte! Welche Zwecke und Gründe hatte das?

Es fällt mir nicht ein, die Schönheit Merhamehs zu beschreiben; die wahre Schönheit hat ja eben das Erkennungszeichen, daß sie nicht beschrieben werden kann! Ich will nur sagen, daß sie nicht etwa nach Art wohlhabender Leute, sondern sehr arm gekleidet war. Sie ging barfuß, also wirklich so, wie ich vermutet hatte. Darum, und weil der Boden aus Geröll und nicht aus Sand bestand, hatte ich während des scherzhaften Suchens keine Fußspuren von ihr finden können. Ihr einfaches, orientalisches Gewand wurde von einem Ledergürtel zusammengehalten. Es bestand aus gewöhnlichem, billigem Linnen, war aber weiß und gänzlich fleckenlos, was ich bei der Seltenheit des Wassers in dieser Gegend besonders hervorzuheben habe. Ihr starkes, dunkles, welliges Haar war nicht geflochten, sondern wurde im Nacken von einer Schnur mit Blumen zusammengehalten und fiel von da wieder offen und in seltener Länge hernieder. Alles übrige, was an ihr zu erwähnen ist, wird man im weiteren Verlaufe der Ereignisse kennen lernen.

Ich war noch nicht weit gekommen, so hörte ich Geräusch hinter mir. Als ich mich umschaute, sah ich Aacht und Uucht, meine beiden Hunde, die von Halef die Erlaubnis bekommen hatten, mir sogleich zu folgen. Sobald sie mich erreichten, fragten sie mit den Augen und den wehenden Ruten, ob sie voraneilen dürften; ich aber bat sie, indem ich sie streichelte, bei mir zu bleiben. Da taten sie es gern. Man kann nämlich auch Tiere bitten, indem man das, was man von ihnen wünscht, nicht befehlend, sondern durch Liebkosungen sagt. Sie tun es da viel lieber, und ich meine, daß dies auch ihrer Zuneigung und Treue förderlich sei.

Der Zickzackweg hatte mich erst im Zick nach links und dann im Zack nach rechts geführt. Jetzt wendete er sich wieder nach links. Da hörte ich unter mir Stimmen. Merhameh und Halef kamen. Sie befanden sich auf dem tieferen Zick; ich ging auf dem höheren. Ich konnte sie ebenso wenig sehen, wie sie mich; aber ich hörte alles, was sie sagten. Soeben sprach Halef:

"Du kannst sehr ernst sein, aber auch sehr heiter, grad so wie ich. Warum warfst Du nach mir?"

"Es fiel mir so ein. Es kam mir so in die Hand. Ich konnte nicht anders. Du sahst so streitbar-sanftmütig und so - so - - so scherzerweckend aus!"

"Scherzerweckend? Maschallah! Scherzerweckend heißt doch so viel wie lächerlich! Da bitte ich doch sehr, Deine Meinung über mich zu ändern! Wenn Du wüßtest, wer ich bin, so würdest Du - - - -"

"Wer Du bist, das weiß ich!" fiel sie ihm in die Rede.

"Wirklich? Nun, also wer?"

"Du bist der Scheik eines berühmten Stammes!"

"Das stimmt!" bestätigte er stolz.

"Bist ein Araber!"

"Natürlich! Etwas anderes möchte ich gar nicht sein!"

"Bist ein tapferer, treuer und weitgereister Mann!"

"Auch das weißt Du! Hör, das gefällt mir sehr von Dir, sehr, sehr! Aber woher weißt Du es?"

"Vom Effendi."

(Seite 143B) "Von ihm? Konnte es mir denken! Er hat es Dir also mitgeteilt? Genau so, wie Du es sagtest?"

"Ja, genau so!"

"Ein tapferer, treuer, weitgereister Mann?"

"Ja."

"Allah segne ihn! Er sagt niemals eine Lüge. Er redet stets die Wahrheit, stets. Besonders dann, wenn er mich lobt! Er ist ein ganz bedeutender Menschenkenner. Das sieht man aus der Meinung, die er von mir hat."

"Allerdings! Seine Menschenkenntnis ist jedenfalls größer als die Deinige!"

"Oho! Warum denkst Du das?"

"Weil seine Meinung über Dich viel richtiger ist, als die Deinige über mich."

"Woher weißt Du das? Wer hat Dir diese Unwahrheit gesagt?"

"Du selbst."

"Nein!"

"O doch!"

"Beweis es mir!"

"Sogleich! Denke doch an meine kühn hervortretende Nase!"

"Allah w' Allah! Welch ein Fehler von mir!" rief er bedauernd aus.

"An meinen kräftigen, breiten Mund!"

"O Traurigkeit!"

"An meinen starken, dicken Hals!"

"O Wehklage!"

"An meine tüchtigen Schultern und Achseln!"

"O Jammer!"

"An meine eisenfesten Kletterhüften!"

"Halt auf, halt auf, halt auf! Das war ja bloß Vermutung! Das habe ich gesagt, noch ehe ich Dich sah; die Menschenkenntnis aber beginnt doch wohl erst dann, wenn man die Person, von der man spricht, gesehen und beobachtet hat. Meine von Dir beleidigte Menschenkenntnis zwingt mich, Dir mitzuteilen, wie ich nun jetzt über Dich denke, da ich Dich hier bei mir gehen sehe. Ich fange da beim niedrigsten Reiche, nämlich beim Steinreiche an, gehe auf das Pflanzen-, Tier- und Menschenreich über, komme von da zu den Engeln und höre dann droben bei den Sternen auf."

"Du machst mich wißbegierig!" versicherte sie.

"Ja, das glaube ich. Also höre! Du bist der schönste Edelstein, den es gibt. Kein Jaspis, kein Amethyst, kein Rubin, kein Diamant kann Dich erreichen! Bitte, geh langsamer! Du bist sogar eine Perle! Aber sag, warum läufst Du jetzt plötzlich so schnell?"

"Weil ich den Effendi einholen will."

"Das ist gar nicht nötig. Wir erreichen ihn auch droben noch zeitig genug! Also Du bist die mächtigste von allen Blumen. Kein Veilchen, kein Tausendschönchen, keine Lilie, keine - - so lauf doch nicht; so warte doch! - - Tulpe und Rose ist mit Dir zu vergleichen! Langsamer, langsamer, sonst komme ich Dir nicht nach!"

"Mach schnellere und größere Schritte!" rief sie lachend zurück.

Da sie sich beeilte, ihm voranzukommen, erhob er seine Stimme immer mehr und mehr, indem er nun zum Tierreich überging:

"Du bist der lieblichste aller Schmetterlinge - - - ein süßes, goldglänzendes Käferlein - - - eine flötende Nachtigall - - - ein schimmernder Paradiesvogel - - - ein - - - ich bitte, bleib doch stehen! Du raubst mir sonst den Atem!"

"Wenn ich Schmetterling oder Vogel bin, so muß ich doch fliegen!" scherzte sie zurück.

Der Stimme nach schien sie ihm schon sehr weit vorangekommen zu sein. Um von ihr gehört zu werden, genügte es schon nicht mehr, laut zu sprechen, sondern er mußte rufen:

"So höre ich mit den Tieren auf und komme zu den Menschen! Du bist ein Kind der Holdseligkeit und Liebenswürdigkeit - - - eine Tochter des Ebenmaßes und der Wohlgestalt - - - so höre doch! Bleib an der Ecke stehen! - - - eine Schwester der Anmut und der Augenweide (Seite 144A) - - - bist eine Prinzessin, eine junge Königin, zu deren Füßen - - - o Qual, o Pein, o Schmerz; sie bleibt nicht stehen! Sie verschwindet um die Ecke! Und ich habe ihr noch gar nicht gesagt, daß sie ein Engel ist, sogar ein Stern, ein Stern, der sich - - -"

Mehr hörte ich nicht, denn hinter mir rief es:

"Effendi, siehst Du mich? Ich komme!"

Ich schaute zurück. Sie war soeben um den letzten Winkel des Weges gebogen und für Halef unsichtbar, für mich aber sichtbar geworden. Ich blieb stehen und ließ sie herankommen. Ihr Gesicht glänzte vor Vergnügen, und aus ihren Augen strahlte ein seelischer Lebensüberschuß, der in der Einsamkeit der letzten zwei Jahre in Gefahr gewesen war, zu verkümmern. Es ging ihr genau so wie der großen Menschenfreundin, deren Namen sie trug, nämlich der Barmherzigkeit: wenn sie sich nicht betätigen kann, verschwindet sie in sich selbst.

"Ich bin nur zehn Minuten lang mit Deinem Hadschi allein gewesen," sagte sie, "aber ich kenne doch schon seine ganze Berühmtheit nebst sämtlichen Vorzügen, die er besitzt. Auch Hanneh, die lieblichste unter den Blumen, kenne ich bereits, und ebenso auch Kara Ben Halef, seinen Sohn, der einst noch viel berühmter als sein Vater sein wird. Effendi, ich bin ihm entflohen, weil er die Absicht hatte, mich zu loben und zu preisen. Er wollte unten bei den Steinen beginnen und erst oben am Himmel aufhören. aber nicht ich verdiene dieses Lob, sondern er selbst. Er funkelt wie ein Edelstein und leuchtet wie ein Stern. Zwischen beiden liegt das Pflanzen-, das Tier- und das Menschenreich mit all den schönen Namen, die auf ihn noch besser passen würden, als auf mich. Seine Liebe zu Dir aber ist so innig, so grenzenlos und so rührend, wie die Liebe des Leibes zur Seele. Sie hat ihm sofort mein ganzes Herz gewonnen!"

Wie die Liebe des Leibes zur Seele! Welch ein Ausdruck, welch ein Vergleich! Von einem so jungen Mädchen! Ich sah von der Seite in ihr liebes, schönes Gesicht hinunter. Der Ausdruck desselben war gar nicht so, als ob sie etwas Besonderes gesagt hätte. Wenn dieser Ton für sie der gewöhnliche war, in dem sie mit ihrem Vater verkehrte, so stand mir die Freude bevor, heut einen hochdenkenden Orientalen kennen zu lernen.

Der Weg war an vielen Stellen so schmal oder so steil, daß Merhameh vorangehen mußte. Eine Unterhaltung zu führen, war also nicht bequem. Sie zog aber auch ohnedies meine ganze Aufmerksamkeit auf sich. Eine jede ihrer kräftig schönen, harmonischen Bewegungen nahm das Auge gefangen. Sie kam mir vor wie ein Gedicht, wie ein lebendiges Sonett, von Gott selbst in Fleisch und Blut geschrieben, um zu der Schönheit ihres Namens die gleiche Schönheit ihres Körpers zu gesellen.

(Seite 145A) Kurz, bevor wir oben ankamen, holte uns Halef ein. Er hatte sich gesputet, meine Begrüßung mit Abd el Fadl nicht zu versäumen. Ich sah ihm an, daß er, als er uns erreichte, eine scherzhafte Bemerkung für die Tochter auf der Zunge hatte; dieser Scherz aber zog sich vor dem Ernste und der Erhabenheit des Ausblickes zurück, der sich uns jetzt bot, da wir die Höhe erreichten. Wir standen jetzt auf dem einen, dem westlichen Pfeiler des Tores und hatten nur noch die Querplatte zu erklimmen, welche den obern Schluß der Öffnung bildete. Als wir das getan hatten, sahen wir zu beiden Seiten das unendlich weite Meer und hinter und vor uns die scheinbar ebenso weite Wüste liegen. Kein Schiff, kein Boot belebte den Ozean, der nicht, wie gestern, in langgestreckten, blauen Wogen, sondern in kurzen, dunkelgrünen, schaumgekrönten Wellen ging. Es sah aus, als bestehe dieser Schaum aus den Atmungsperlen eines sich unten in der Tiefe vollziehenden, geheimnisvollen Lebens, welches sich zwar nach oben sehne, dieser Sehnsucht aber nur in Gestalt dieser Perlen folgen könne. Zurückblickend, sahen wir weiter nichts, als ganz draußen am Rande der sandigen Öde eine kleine winzige Erhöhung, die man kaum noch zu erkennen vermochte. Das war der Brunnen mit dem Engel. Und vorwärts schauend, flog der Blick über eine ungemessene, trostlos erscheinende Wüsteneinsamkeit, die für unser Auge durch die vulkanischen Rauchwolken Dschinnistans abgeschlossen wurde. Und mitten in dieser Ausgeschlossenheit und Verlassenheit der schmale, steinerne Engpaß von Chatar, der an jedem Augenblick verschwinden kann, verschlungen von den beiden Meeren, die, unaufhörlich nagend, an ihm zehren. Und auf dem schmalen Tore dieses Passes wir paar armselig schwachen Geschöpfe, die wir uns trotz dieser Armseligkeit mit großen Plänen trugen! Wenn wir von oben hinunterblickten, erschien es uns infolge der optischen Täuschung, als ob die Landenge auf dem Wasser schwimme und immerwährend hin und hergeworfen werde, um plötzlich umzukippen und mit uns in den Fluten zu verschwinden. Halef setzte sich schnell nieder und sagte:

"Sihdi, ich kann nicht stehen bleiben, denn mir kommt der Schwindel ins Gehirn. Ich muß mich niederlassen, sonst fliege ich hinab. Geht es Dir nicht auch so?"

"Ein wenig, ja. Doch hoffe ich, daß es nur vorübergehend ist."

"Bei mir nicht. Ich fühle, daß ich nicht bleiben kann, sondern hinunter muß. Das Meer sperrt beide Rachen auf, einen rechts und einen links, um mich zu verschlingen!"

Und sich an Merhameh wendend, fuhr er fort:

"Was müßt Ihr für Augen und für Nerven haben, Du und Dein Vater! Ich sitze hier auf der Mitte des Tores und bin doch voller Angst und voller Grauen. Ihr aber standet, als Ihr gestern und heute sangt, ganz draußen auf der äußersten Ecke. Ich würde da schon gleich im ersten Augenblick hinunterstürzen!"

"Wir sind es gewohnt," sagte sie einfach. "Es ist uns unmöglich, den festen sichern Felsen mit dem trügerischen, beweglichen Wasser zu verwechseln."

"Ich habe mir während des Emporsteigens eine Begrüßungsrede einstudiert, die ich Deinem Vater halten wollte. Nun sitze ich leider da und kann sie nicht halten! Das tut meinem Herzen weh!"

"So erlaube, daß ich Dir dieses Weh vom Herzen nehme! Steh auf und komm! Ich werde Dich führen."

"Du? Mich? Hm! Ja, das ginge vielleicht. Aber hältst Du mich wohl auch fest?"

"So fest, daß Du gar nicht wanken kannst! Schau, dort ist der Vater. Er wartet. Komm!"

Wie schon erwähnt, lag hier oben auf der Höhe des Tores ein Steinhaufen, von Büschen umgeben. Diese Büsche wurzelten in der steinernen Querplatte. Wie sie da ihr Leben fristeten, erschien mir wie ein Rätsel. Jetzt sah ich, daß dieser Steinhaufen eigentlich eine Hütte war. Abd el Fadl trat soeben heraus. (Seite 145B) Er war barfuß wie seine Tochter und ebenso äußerst sauberweiß gekleidet. Das einfache, haikartige Gewand wurde an den Hüften von einer Schnur zusammengehalten. Um den Kopf war ein weißes Tuch von billigster Leinwand derart gewunden, daß zwei Zipfel in sehr eigenartiger, von mir noch nie gesehener Weise bis auf die Schultern niederhingen. Darin steckte vorn eine Nadel, deren Knopf aus einer ganz gewöhnlichen, bleiernen Flintenkugel bestand. Der eigenartige Faltenwurf dieses Kopftuches brachte mich auf die Vermutung, daß er nicht zufällig sei, sondern irgend einen gewissen Zweck habe. Später stellte sich heraus, daß diese Vermutung richtig war.

Abd el Fadl war von hoher, edler Gestalt. Seine ruhigen, sichern Bewegungen verrieten Charakterfestigkeit und Klarheit über sich selbst. Sein Gesicht war das eines Mannes von schon über sechzig Jahren, der innerlich aber noch Jüngling ist. Die Familienähnlichkeit mit seiner schönen Tochter war nicht zu verkennen. Er besaß alle ihre Züge, nur daß die seinen ausgeprägter, gereifter, fester waren. Sowohl aus ihnen wie aus seinen Augen, seiner Stimme, seinem ganzen Wesen sprach der Ausdruck einer Güte, einer duldsamen Mäßigung und einer wohlwollenden Ritterlichkeit, die mich sofort für ihn gefangen nahmen, und zwar nicht etwa nur für diesen ersten, kurzen Augenblick, sondern für immer.

Unsere Begrüßung gestaltete sich ganz anders, als zu vermuten gewesen war, besonders aber ganz anders, als Halef es sich gedacht hatte. Dieser Letztere stand, sobald Abd el Fadl erschien, von seinem Sitze wieder auf und reichte Merhameh die Hand, um sich von ihr halten und führen zu lassen. Aber der Anblick des tief unten flutenden Meeres benahm seinen Schritten alle Festigkeit. Er wankte wie ein Betrunkener. Er streckte den einen, freien Arm weit aus und warf ihn hin und her, als ob er eine Balancierstange hielte. Ich ging mit den Hunden lange hinter ihm her. So näherten wir uns dem uns erwartungsvoll entgegenschauenden Vater unserer jungen Führerin. Halef konnte sich nicht entschließen, zu schweigen. Er wollte seine Rede loslassen und rief ihm also, noch ehe wir ihn erreichten, zu:

"Wir nahen Dir, o Besitzer dieses festen Felsentores - - - na - - - pfui - - - das wackelt alles! - - - um Dir zu sagen, daß uns Deine Tochter - - - Tochter - - - Allah w' Allah, sie wird mich hinunterstürzen lassen! - - - zu Dir heraufbegleitet hat, damit wir Dich und Du uns kennen - - - kennen lernen - - - o weh, o weh! - - - kennen lernen sollen sollst! Indem ich Dir sage, wer wir sind, hoffe ich, daß - - - o Unglück, o Verhängnis! Ich glaube gar, das Tor bricht ein, noch ehe ich mit meiner Rede - - - Rede fertig bin! - - - hoffe ich, daß wir bei Dir Auskunft finden, welche wir von Dir erwarten. Vor allen Dingen - - - Handulillah - - - Allah sei Dank! Da ist die Hütte offen! Ich mache, daß ich hineinkomme! Da sehe ich hoffentlich das viele Wasser da unten nicht mehr! Effendi, sprich Du weiter! Ich muß mich wieder setzen!"

Es gibt in Deutschland einen Ausdruck, der heißt: >eine Lerche schießen<. Eine in der Luft geschossene Lerche pflegt in schnurgerader Linie auf den Acker niederzustürzen. Eine >Lerche schießen< heißt also: ganz plötzlich, wie aus einer Pistole geschossen oder wie auf den Kopf geschlagen, in schnurgerader Linie auf die Seite hinübertaumeln. Es gibt keinen bezeichnenderen Ausdruck für diese Art von unfreiwilliger und doch beabsichtigter Bewegung, die nur bei Betrunkenen oder vom Schwindel Ergriffenen vorzukommen pflegt. So auch jetzt bei Halef. Er riß sich von dem Mädchen los und schoß wie eine Lerche nach links hinüber und grad in die Hütte hinein, wo er sich rund um seine eigene Achse drehte und dann sehr vollgewichtig niedersetzte.

"Da bin ich!" sagte er, indem er sehr erleichtert Atem holte. "So bald stehe ich wohl nicht wieder auf!"

Ich hatte innerlich das Gefühl, als ob ich mich über diese Art, uns vorzustellen, vor Abd el Fadl etwas zu schämen hätte; aber (Seite 146A) die >Lerche<, die Halef schoß, sah so possierlich aus, daß ich das laute Lachen kaum verbeißen konnte. Merhameh aber lachte hell und aufrichtig heraus, und auch auf dem Gesichte ihres Vaters glänzte eine so herzliche und so offene Fröhlichkeit, daß es gar nicht dazu kam, mich verlegen zu fühlen, zumal er im Tone entschuldigender Güte sagte:

"Er ist der erste nicht. Es ging fast allen so. Es ist nicht jedem Menschen gegeben, zu gleicher Zeit die Tiefe und die Höhe zu erfassen, ohne den eigenen Halt zu verlieren."

Das war eine ebenso vielsagende Ausdrucksweise wie vorhin bei seiner Tochter. Dabei waren seine Augen mehr auf Aacht und Uucht als auf Halef und mich gerichtet. Die beiden Hunde schienen ihn außerordentlich zu interessieren. Doch fügte er zu seiner Rede noch die Worte:

"Dein Begleiter ist nicht auf Bergeshöhen geboren."

"Nein," antwortete ich. "Seine Heimat ist die Ebene der Wüste. Darum vermißt er hier auf Deiner Höhe das Gefühl für das Gleichgewicht."

"Er ist Araber," vervollständigte Merhameh. "der Scheik eines berühmten Stammes. Er heißt Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawud el Gossarah."

Ihr Vater hörte gar nicht auf diese lange Reihe von Namen. Er entfernte seinen Blick nicht von den Hunden.

"Verzeih," bat er mich, "daß ich so unhöflich bin, mich zunächst nicht mit den Menschen, sondern mit diesen Tieren zu beschäftigen! Aber sie sind mir von ganz außerordentlicher Wichtigkeit. Ich sah ein Paar Hunde, nicht diese hier, sondern ähnliche, die von Süden nach Norden gingen, als Geschenk. Und ich sah ein Paar andere Hunde, die von Norden nach Süden gingen, auch als Geschenk - - -"

"Das erste Paar ging nach Dschinnistan, das zweite in das Land der Ussul," fiel ich beistimmend ein.

"Und diese hier?" fragte er schnell.

"Sind Bruder und Schwester, die Kreuzung beider Rassen," antwortete ich.

Da trat er einen Schritt zurück, sah mich mit jenem langen, in zwei Hälften geteilten Blicke an, den meine Leser bereits kennen, und erkundigte sich:

"Sind sie Dein Eigentum?"

"Ja. Sie wurden mir geschenkt."

"Geschenkt?" rief er in frohem Tone aus. "So bist Du - - - bist Du - - - bist - - - ?"

Er wagte den angefangenen Satz nicht auszusprechen; aber seine Tochter fiel schnell ein:

"Er ist's, mein Vater, er ist's: er hat den Schild! Hörst Du?"

Sie trat zu mir heran und klopfte mir auf die Brust, so daß er den Ton des Metalls hörte. Darauf klopfte sie auch an seine Brust, und ich vernahm genau denselben Klang. Da ging ein sonnenhelles Lächeln des Glückes über sein Gesicht; aber er machte nicht viele Worte. Er nahm mich bei der Hand und sagte nur:

"Sei mir willkommen! Komm mit, an Deinen Platz."

Er führte mich zu einer weichen grünenden Rasenbank, die neben der Hütte stand, und bat mich, auf ihr Platz zu nehmen. Ich tat dies, ohne mir etwas Besonderes dabei zu denken. Sofort saßen Aacht und Uucht neben mir, zu meiner Rechten und zu meiner Linken. Dann sagte er:

"Ich bitte, uns nur für einen Augenblick zu beurlauben; dann sind wir zu Deinem Dienste bereit. Komm, mein Kind!"

Er nahm seine Tochter bei der Hand und ging mit ihr so weit von uns fort, wie die Felsenplatte reichte. Das war die äußerste Spitze, auf der sie standen, wenn sie sangen. Während sie dorthin gingen, sprach Merhameh zu ihrem Vater. Sie schien ihm kurz zu berichten, was sie von Halef und mir erfahren hatte. Dann standen sie eng nebeneinander, sie ihr Köpfchen an seine Schulter gelehnt, still, fast ohne sich zu bewegen, hinausschauend in die irdische Ferne und auch hinauf zum Himmel, mit dem sie sprachen, ohne daß ein Wort davon zu hören war.

"Sihdi, ich glaube, sie beten," sagte Halef.

Ich antwortete nicht. Es war hier oben so ungewöhnlich, so sonderbar, so heilig. Ich fühlte, daß unsichtbare Rätsel um (Seite 146B) mich schwebten, daß ihre Lösung aber nur scheinbar da draußen in der weiten Meeres- und Wüstenferne, in Wirklichkeit aber in mir selber liege. Als Vater und Tochter zurückkehrten, waren ihre Augen feucht, und auf ihren Gesichtern lag es wie eine besorgte Frage. Er setzte sich zu meinen Füßen nieder, während seine Tochter eine bescheiden zurück-, aber doch so liegende Stelle suchte, daß sie hörte, was wir sprachen. Abd el Fadl begann:

"Meine Tochter hat mir gesagt, daß Du aus dem Lande der Germani bist und Effendi oder Sihdi genannt wirst. Erlaubst Du, daß auch ich Dich so nenne?"

Ich neigte zustimmend den Kopf. Da fuhr er fort:

"Du hast den Schild; ich habe ihn auch. Wir brauchen uns nicht zu kennen und kennen uns aber doch! Wer und was Du in Deiner Heimat bist und wer und was ich in der meinigen bin, das ist in dieser Stunde und an diesem Orte Nebensache; wir wollen uns nicht damit beschäftigen. Ich bitte Dich, mir zu sagen, von wem Du den Schild hast, ob wirklich von Marah Durimeh!"

"Von ihr selbst. Sie gab ihn mir in Ikbal, als ich mit meinem Hadschi Halef Omar Gast ihres Schlosses war. Ich bekam ihn, als sie mir den Auftrag gab, nach Dschinnistan zu reisen."

"So bist Du der, den ich erwarte, doch nicht Dich allein. Noch einer ist dabei, der auch den Schild besitzt."

"Auch er wird kommen, in wenigen Tagen schon."

"Wer ist es?"

"Ein junger Mann aus dem Lande der Ussul. Man pflegt ihn dort den Dschirbani zu nennen."

"Den Räudigen? Auch hält man ihn für wahnsinnig?"

"Ja."

"Allah sei Dank! Und Dir für diese Botschaft ebenso!" Den Blick auf seine Tochter richtend, nickte er ihr freudig zu und fuhr fort: "Er ist es; er ist es! Es gibt wohl keine große Idee auf Erden, die nicht in den ersten Tagen ihrer Zeit für Wahnsinn galt. Die Stunde der Erfüllung scheint zu nahen. Die Berge brennen. Das Eis des Nordens strebt dem Süden zu. Die Wüste füllt sich mit Speise und Trank. Der >Wahnsinn<, der uns den Frieden bringen soll, kann kommen! Aber wie kommt er? in welcher Weise?"

Diese letzten, fragenden Worte waren wieder an mich gerichtet. Aber ich kam nicht dazu, sie zu beantworten, denn Halef fiel schnell ein, und zwar in seiner allbekannten, prunkvollen Weise:

"Er kommt nicht klein, sondern groß, nicht allein, sondern an der Spitze eines ganzen Heeres, nicht als Bittender, sondern als Befehlender, dem alle Welt zu gehorchen hat."

"An der Spitz eines Heeres?" fragte Abd el Fadl.

"Ja."

"Gegen wen?"

"Gegen die Tschoban. Sie kommen herangezogen, um die Ussul zu überfallen und auszurauben. Die Mutigen unter den Ussul aber, die man Hukara nennt, ziehen ihnen unter der Anführung des Dschirbani entgegen. Beide Heere werden grad hier, an diesem Engpasse, aufeinanderstoßen - - -"

"Wann, wann?" unterbrach ihn Abd el Fadl.

"In einigen Tagen. Wir sind dem Heere vorausgeritten, um den Engpaß zu prüfen und die Annäherung der Tschoban zu erkundschaften."

"Also Krieg?" rief der >Diener der Güte< aus, indem er hoch erregt die Hände zusammenschlug. "Krieg und Blutvergießen! Weil sich der Friede nur durch Blut erringen läßt!"

"Nein, kein Blutvergießen!" widersprach Halef. "Wir wollen durch List und Güte siegen, nicht durch Haß und Blut."

"Unmöglich!"

"Wie? Nicht möglich? Ich sage Dir, daß wir Übung haben in dieser Art, zu siegen. Ich werde Euch erzählen. Hört zu!"

Schon öffnete ich den Mund, um ihn zu verhindern, seine Absicht auszuführen, da kam er mir schnell zuvor:

"Schweig, Sihdi, schweig! Ich bitte Dich! Du kannst alles, aber reden kannst Du nicht! Mir aber hat Allah die Gabe verliehen, die Welt mit dem Munde zu beherrschen. So bist Du also verpflichtet, zu schweigen, mich aber reden zu lassen. Zudem (Seite 147A) weißt Du doch, daß ich krank bin, daß ich den Schwindel habe und hier in dieser Hütte sitzen muß, um nicht von dieser Höhe hinab und mitten in das Meer hineinzufallen. Kranken aber hat man den Willen zu tun, sonst werden sie nicht wieder gesund!"

"Was das betrifft," antwortete ich ihm lachend, "so will ich Dich schon wieder gesund bringen, ohne daß Du - - -"

"Nein, niemals ohne daß!" fiel er mir in die Rede. "Also, ich darf?"

"Ich bitte Dich, laß ihn sprechen," nahm sich Abd el Fadl seiner an. "Er gefällt mir auch, dein berühmter Hadschi Halef!"

"Mir ebenso!" lächelte Merhameh, indem sie mit einem leisen, heimlichen Augenzwinkern an meine Nachsicht appelierte. Dieses liebe Einverständnis, in welches sie sich zu mir stellte, entwaffnete mich vollständig.

"So sprich!" nickte ich dem kleinen Hadschi zu. "Aber mach es gnädig!"

"Ich werde es so gnädig machen, daß selbst Du von dieser meiner Gnade nicht nur gerührt, sondern auch überwältigt bist," antwortete er.

Und er hielt Wort. Er erzählte zwar in seiner poetischen Weise, aber er hütete sich vor jeder Übertreibung. Er sprach so objektiv und sachgemäß, wie ich es aus seinem Munde noch nie gehört hatte. Es war dieses Mal wirklich eine Freude, ihm zuzuhören, auch für mich. Das war um so mehr zu verwundern, als er doch so hochtrabend begonnen hatte. Aber es gab in der ganzen Zeit, während er sprach, einen pfiffig-ironischen Zug in seinem Gesicht, von dem ich mir die Aufklärung über diese ungewöhnliche, rednerische Enthaltsamkeit und Selbstbeherrschung versprach. Und richtig, es kam auch wirklich ganz so, wie ich dachte! Er erzählte aus vergangenen Zeiten, vom >Tal der Stufen< und von verschiedenen Ereignissen aus unserm Leben, welche bewiesen, daß die Klugheit über die Gewalt und die Güte über das Unrecht geht. Dann erzählte er, wo und wie wir mit Marah Durimeh bekannt geworden waren und sie dann wieder getroffen hatten. So kam er schließlich nach Sitara und von da aus zu den Ussul. Er sprach dabei so kurz und bündig, so treffend und so vorsichtig, daß er seine gewöhnliche Art und Weise vollständig verleugnete. Und was er bisher noch niemals fertig gebracht hatte, dieses Mal gelang es ihm: Er vermied alles Indiskrete; er griff mir nicht vor, und er unterließ jedes Lob und jeden Tadel, der nicht in der Sache selbst lag und also unvermeidlich war. Er ließ von unsern Erlebnissen bei den Ussul und während unsers Rittes hierher nichts weg, so daß am Schlusse Abd el Fadl über alles unterrichtet war, was er wissen mußte. Als Halef geschlossen hatte, wendete er sich an mich:

"Nun, Sihdi, bist Du mit mir zufrieden? Ich hoffe, daß Du an dem, was ich gesprochen habe, nichts auszusetzen hast?"

"Es war gut, sehr gut!" lobte ich ihn.

Er nickte mir herablassend und verzeihend zu und fragte dann Merhameh, indem er die ironische Pfiffigkeit seines Gesichtes deutlicher hervortreten ließ:

"Und Du? Bist auch zufrieden?"

"Ja," versicherte sie.

"Nein! Gewiß nicht!" behauptete er.

"Warum nicht?"

"Weil Du meinem Effendi heimlich mit den Augen zugezwinkert hast! Du dachtest aber, ich sehe es nicht; ich bemerkte es gar wohl. Darum habe ich genau wie Kara Ben Nemsi gesprochen, nicht aber wie Hadschi Halef, der im Reden berühmter ist als jeder andere Mensch. Du hast also nicht mich gehört, sondern ihn. Das ist meine Rache erstens für das hinterlistige Zwinkern und zweitens auch dafür, daß Du mir vorhin ausgerissen bist, als ich alle Stein- und Pflanzen-, Tier- und Menschenreiche zu Deinem Lobe in Bewegung setzte. Du hörtest mich jetzt sprechen, aber nicht reden! Das hast Du nun davon!"

Vater und Tochter hatten mit außerordentlicher Spannung zugehört. Die Wirkung auf Abd el Fadl war eine ungewöhnliche. Er sagte nichts. Er stand von seinem Sitze auf und ging langsamen Schrittes dorthin, wo er vorhin mit Merhameh gestanden hatte. Sie bat:

"Verzeih es ihm, daß er sich entfernt, ohne zu sprechen! Er ist tief bewegt. Wir baten vorhin Gott, daß der, den wir (Seite 147B) erwarteten, nicht ein Mann der Gewalt, sondern ein Held der Güte sein möge. Und nun wir gehört haben, daß dieser Wunsch in Erfüllung geht, ging Vater fort, um Allah Dank zu sagen. Er tat stets so; er kann nicht anders! Wir haben uns Euch zwei Jahre lang entgegengesehnt. Wie wir uns auf Euch gefreut haben, kann ich Dir nicht sagen. Aber der Teppich, auf dem Du sitzest, sagt es Dir."

Sie deutete auf die Rasenbank. Ich schaute an mir hernieder und auf die weiche, grünende Fläche, die ich durch das Gewicht meines Körpers niederdrückte. Da ging mir plötzlich das Verständnis dessen auf, woran ich gar nicht gedacht hatte, als ich mich vorhin niedersetzte. Ich stand schnell auf.

"Dieser Teppich!" rief ich aus. "Er ist eine Kostbarkeit in dieser Gegend! Habt Ihr Wasser?"

"Wir sammeln den Tau de Nacht und trinken den Saft der Narasfrüchte," antwortete sie.

"Aber dieses Gras stand nicht ursprünglich hier? Ihr habt es gesät?"

"Ja. Wir holten den Samen aus der Ferne."

"Und womit habt Ihr es begossen?"

"Mit dem Tau, den wir nicht tranken, damit der Teppich wachsen möge."

"Und für wen sollte er wachsen?"

"Für - - - für - - - für - - - "

Sie sagte es nicht sogleich. Sie sah sich ängstlich um, als ob sie nicht gehört werden dürfe.

"Ich darf nicht davon sprechen. Es ist ein Geheimnis. Aber Dir möchte ich es doch sagen, Dir, nur Dir allein. Der Vater schaut nicht hierher, und Dein Halef hört es auch nicht, wenn ich leise spreche. So sollst Du es erfahren. Aber ich bitte Dich, sage es keinem Menschen wieder, keinem einzigen!"

Sie trat ganz nahe zu mir heran, legte beide Hände an den Mund und raunte mir zu:

"Für - - - für den neuen 'Mir von Dschinnistan!"

"Ist denn der alte tot?" fragte ich schnell.

"O nein! Das möge Gott verhüten!"

"Und doch gibt es einen neuen?"

"Wir hoffen es!"

"Sonderbar! Und für den soll dieser köstliche Teppich sein?"

"Ja."

"Kommt er denn hierher?"

"Wenn die Weissagung in Erfüllung geht, so kommt er über diese Landenge gezogen."

"Warum mußte da ich mich auf den für ihn bereiteten, seltenen Teppich setzen? Ich bin es doch nicht!"

"Das kannst Du doch nicht wissen!"

"Nicht?" fragte ich erstaunt. "Ein Europäer kann doch ganz unmöglich 'Mir von Dschinnistan werden?"

"Warum sollte er nicht? Wenn er nun der Betreffende ist?"

"Der Betreffende? Welcher? Ich verstehe Dich nicht!"

"Du wirst mich schon verstehen lernen. Da kommt der Vater zurück. Ich bitte Dich, zu schweigen. Ich habe Dir nichts gesagt!"

Das brachte mich ihm gegenüber in Verlegenheit, denn es wäre mir unmöglich gewesen, mich wieder auf den grünen Teppich zu setzen. Jeder einzelne Grashalm hätte mir leid getan, ganz abgesehen davon, daß auf keinen Fall ich es war, der auf diesen Sitz gehörte. Nachdem er mich wiederholt gebeten hatte, mich wieder zu setzen und ich mich schließlich nicht auf, sondern neben die Bank niederließ, wurde er aufmerksam. Er sah mich und seine Tochter prüfend an und bemerkte, daß sie tief und verlegen errötete.

"Warum setzt sich der Effendi anders?" fragte er sie.

"Weil ich es ihm gesagt habe," gestand sie sofort ein, indem sie die Hände bittend zusammenlegte.

"Was hast Du ihm gesagt?"

"Daß die Bank für den neuen 'Mir von Dschinnistan ist."

Da erhob er nur den Zeigefinger; eine andere Strafe gab es nicht. Zu mir aber sagte er:

"Und Du hast Dich wohl nicht für den neuen 'Mir gehalten?"

"Weder für den neuen noch für den alten," lächelte ich.

"Wer der Letztere ist, das steht fest. Wer aber der Erstere ist, das kann noch niemand sagen."

(Seite 148A) "Aber ich bin es jedenfalls nicht!"

"Weißt Du das wirklich?"

"Ja."

"Nein! Denn niemals wird der neue 'Mir von Dschinnistan in Dschinnistan geboren und erzogen!"

"Aber in Europa wahrscheinlich nicht!"

"O doch! Nichts hindert, daß er sogar aus Amerika zu uns kommt! In Dschinnistan gibt es sehr eigene Gesetze. Im gegenwärtigen Fall weiß ich allerdings, daß Du der neue 'Mir nicht bist; aber Dein Kommen hängt mit dem seinigen so eng zusammen, und Du hast, wie ich Dir aufrichtig sage, gleich als ich Dich sah, die Wirkung auf mich ausgeübt, daß ich Dich bat, Dich auf den Platz zu setzen, der eigentlich nur für ihn bereitet ist. Von Dir kommt der Gedanke, die Tschoban hier zu fassen. Und nur von Dir geht der gütige Vorsatz aus, dies ohne Blutvergießen zu tun. Darum ist es mir, als ob der von mir bereitete Sitz eigentlich viel mehr Dir gehöre als dem andern, von dem wir sprechen. Nach allem, was der Scheik der Haddedihn soeben erzählte, ist es Euch wohl zuzutrauen, daß Euch gelingt, was Ihr Euch vorgenommen habt, aber ich bitte, Euch auch unseres Beistandes zu bedienen, falls es uns beiden möglich sein sollte, Euch nützlich sein zu können."

"Ich weise Eure Hilfe nicht zurück, sondern ich bitte Euch sogar ganz besonders darum, sie uns zu erweisen. Freilich muß ich dabei eine Bedingung stellen, von deren Erfüllung ich nicht abgehen kann."

"Welche ist es?" fragte er.

"Die Verschwiegenheit. Es soll sein, als ob alles direkt vom Dschirbani ausgehe. Man soll nicht von uns sprechen, sondern von ihm. Auf ihn sollen Ruhm und Ehre fallen; aber uns zu rühmen und zu preisen, daran soll man gar nicht denken."

"Maschallah!" rief Abd el Fadl da aus. "Gibt es bei Euch in Deinem Vaterlande auch ein Dschinnistan?"

"Wie meinst Du das?" fragte Halef, der den Ausdruck nicht sogleich verstand.

"Ein Dschinnistan vielleicht auch bei Euch in Arabien? Ich meine einen Kreis von höher stehenden, weiter denkenden und tiefer fühlenden Menschen, bei dem ein jeder verpflichtet ist, der gute Engel eines seiner Nächsten zu sein, ohne daß dieser eine Ahnung davon hat? Denn das ist es doch, was Ihr Euch vorgenommen habt! Ihr wollt die Schutzengel des Dschirbani sein, ohne daß er oder ein anderer davon erfährt. Das ist ja von Euch derart im Sinne von Dschinnistan gedacht, daß ich Euch von Herzen gern meine Hilfe zur Verfügung stelle und mit ihr auch unsere Verschwiegenheit. Nur möchte ich da wissen, in welcher Richtung und in welcher Weise wir Euch unterstützen können. Großes freilich werden wir Euch nicht bieten können, Ihr seht, wir sind arm."

"Wie der Reiche oft ärmer als der Arme ist, so ist auch der Arme oft reicher als der Reiche," sagte ich. "Ihr könnt uns wahrscheinlich mehr geben, als Ihr selbst denkt oder ahnt. Ich will Dir sagen, wie ich mir den Zusammenstoß der Tschoban (Seite 148B) mit den Ussul denke. Dann wird sich leicht finden, ob und womit Ihr uns unterstützen könnt."

Ich teilte ihm mit, was der Leser bereits weiß, und fügte noch einige Gedanken hinzu, die mir gekommen waren, während ich mich seit gestern hier an Ort und Stelle befand. Er stimmte nicht nur bei, sondern er fühlte sich begeistert. Er fand nicht das Geringste an dem, was ich beschlossen hatte, zu ändern. Dann fügte er hinzu:

"Ich bin Dir unendlich dankbar, Sihdi, daß Du uns für wert gehalten hast, diese Mitteilungen aus Deinem Munde zu hören. Nun wissen wir ja, daß es uns möglich ist, das Unsere zum Gelingen beizutragen. Unsere Hilfe wird sich über zwei Gebiete erstrecken, nämlich über den Engpaß selbst und sodann auch über die Steppe und Wüste der Tschoban, durch die ich so oft in meinem Leben gekommen bin, daß wohl keiner Dir bessere Auskunft geben kann als ich. Den Engpaß kennen wir beide ganz genau. Wir haben volle zwei Jahre Zeit gehabt, ihn bis in seinen kleinsten Winkel zu durchsuchen. Erlaubst Du mir, Dir einen Vorschlag zu machen?"

"Ich bitte Dich, ihn auszusprechen!"

"Ihr reitet heute nicht weiter, sondern Ihr bleibt bis morgen hier. Der Paß ist für Euch von so großer Wichtigkeit, daß Ihr ihn nicht vernachlässigen dürft. Ihr müßt ihn kennen lernen; ich zeige ihn Euch. Das geschieht zu Fuß; Eure Pferde haben also Ruhetag. Am Vormittag werden wir die eine Hälfte und am Nachmittag die andere Hälfte der Landenge durchforschen. Merhameh bleibt hier, um uns für den Mittag und für den Abend das Mahl zu bereiten, wenn wir nach Hause kommen."

"Zu diesem Mahle kann ich ihr Fleisch und auch noch anderes liefern," fiel ich ein.

"Wir danken Dir!" antwortete er abwehrend. "Eure Vorräte sollen nicht angegriffen werden. Wir brauchen nicht zu hungern. Das Meer liefert uns köstliche Fische; aus der Wüste holen wir uns Manna, und an der Küste ziehen wir uns schmackhafte Narasäpfel, die Euch sicher schmecken werden. Morgen aber bleibt der Scheik der Haddedihn bei Merhameh hier zurück, weil Ihr nur zwei Pferde habt; wir beide aber, Du und ich, wir reiten nach dem Norden auf Kundschaft aus, um nach den Kriegern der Tschoban zu spähen. Die Gegend ist mir bekannt. Wir werden also wahrscheinlich mehr Erfolg haben, als wenn Du mit Halef rittest, der doch hier vonnöten ist, für den Fall, daß während unserer Abwesenheit etwas nicht Vorausgesehenes geschieht."

Dieser Vorschlag gefiel dem Hadschi so, daß er ohne lange Überlegung ausrief:

"Allah, w' Allah, Tallah! Das finde ich sehr gut! Ich bleibe morgen hier, den ganzen, langen Tag! Da werde ich wohl sehen, wohin Merhameh überall laufen wird, um vor meinen Diamanten, Blumen, Paradiesvögeln, Prinzessinnen und Engeln auszureißen! Ich stimme also bei! Du natürlich auch, Effendi! Oder nicht?"

Ja. Auch ich gab meine Einwilligung, wenn auch aus andern Gründen als er. (Seite 149A) Dieser Vater und seine Tochter waren uns ja fast wie von der Vorsehung gesandt! Daß sie unter Geheimnissen standen, die sie uns nicht gleich in der ersten Stunde des Bekanntwerdens entdecken konnten, das war kein Grund für mich, ihre Güte und ihre Hilfe zurückzuweisen. Und was beschlossen war, das wurde sofort ausgeführt. Wir brachen auf, um wieder hinabzusteigen und Abd el Fadl mitzunehmen. Hoch oben mußte Halef wieder geführt werden. Sobald ihm aber die wogende See aus dem Auge verschwand, war er seiner Füße wieder ganz sicher.

Unten angekommen, führte mich Merhameh nach dem Verstecke der Pferde. Dieser Ort war sehr pfiffig ausgedacht und als ganz sicher zu bezeichnen. Wir sattelten ab, nicht nur die Pferde, sondern auch die Hunde. Die Letzteren sollten uns begleiten und also frei von ihren Lasten sein. Unser Wasser und unsere Speisevorräte übergaben wir Merhameh, unsere Gewehre auch, meinen Stutzen ausgenommen. Es genügte, daß ich nur diesen mitnahm, da eine Gelegenheit oder gar ein Zwang, zu schießen, wohl kaum zu erwarten war. Wir brauchten den Vormittag, um denjenigen Teil des Engpasses, durch den wir gestern gekommen waren, genau kennen zu lernen. Der Nachmittag war dem Teile gewidmet, der noch vor uns lag, also nach der Seite der Tschoban. Es liegt kein Grund vor, dieses schmale Felsenband, welches aus dem einen Lande in das andere hinüberführte, ausführlich zu beschreiben. Es gab einige so schmale Stellen, daß man von Ufer zu Ufer rufen konnte und deutlich verstanden wurde. Seine größte Breite war in einer kleinen Viertelstunde zu überschreiten. Seine Ufer fielen auf beiden Seiten so steil in die Tiefe, daß es ganz unmöglich war, da hinabzuklettern. Wenn Abd el Fadl fischen wollte, so ging er nach dem südlichen Ende der Landenge, also dahin, wo sie an das Land der Ussul stieß. Dort hatte er zwischen Felsen ein Rutenfloß versteckt, mit dem eine Uferfahrt und Fischpartie zu wagen war, aber nur bei ruhiger, nicht aber auch bei stürmischer See. Dort hatte er sich ein kleines, sehr gut verstecktes Bassin gebaut, in welchem die gefangenen Fische aufgehoben wurden, für die Zeit, in der er sich nicht auf das Wasser wagen konnte. Und auf derselben Seite, doch nicht direkt am Wasser, sondern eine ziemliche Strecke in das Land hinein, gab es eine halb natürliche, halb künstliche Pflanzung von einer Art Kukurbitacee, die er Naras nannte, obwohl es nicht die eigentliche Naras war, die meines Wissens nur in Südafrika vorkommt. Aber sie hatte große Ähnlichkeit mit Acanthosicyos horrida und bedeckte mit ihren vielverzweigten, durcheinander gewirrten Ranken eine so bedeutende Strecke, daß man mit ihren Früchten ganze Wagen hätte füllen können. Diese Früchte haben die Größe einer Apfelsine bis zu der eines kleinen Zierkürbis. Unreif schmecken sie bitter, später aber sehr angenehm aromatisch. Getrocknet werden sie als Nahrungsmittel aufbewahrt. Die Samen schmecken wie Nüsse und sind auch ebenso nahrhaft wie sie. Wir waren gestern von weitem an dieser Stelle vorübergeritten, ohne sie zu sehen und ohne zu ahnen, daß hier mitten im Hunger der Felsen-, Sand- und Wasserwüste ein Brotkorb geöffnet stand, an dem sich viele Menschen erquicken konnten.

Diese Früchte waren es, von denen uns Merhameh zu Mittag ein Gericht vorsetzte, das ich fast als köstlich bezeichnen möchte. Hierzu gab es Fische und eine Art Mannabrot, das aus dem stärkehaltigen Thallus einer Lecanoraart bereitet wird, die in Wüstengegenden nicht nur vereinzelt, sondern sogar in großen Mengen vorzukommen pflegt. Diese kleinen Thallusbrocken gleichen den Weizenkörnern, sind aber so leicht, daß sie durch den Wind emporgehoben werden, der sie über Strecken trägt und in den Vertiefungen der Wüste sammelt. Man pflegt dann zu sagen, daß es Manna geregnet habe. Es gibt in jenen Wüsten Löcher, die man, wenn sie mit Wasser gefüllt wären, als Teiche oder Seen bezeichnen würde. Sie enthalten aber nicht Wasser, sondern Lecanorakörner, die vom Winde so tief zusammengetrieben worden sind, daß er sie nicht wieder emporheben und forttragen kann. Indem er sie dann noch mit einer Schicht von Sand bedeckt, so daß die Stelle der Umgebung völlig gleich ausschaut, legt er verborgene Brotkammern an, von denen eine einzige, falls man sie zur rechten Zeit entdeckt, imstande ist, eine Karawane vom Hungertode zu erretten. Abd el Fadl sagte mir, daß eine solche Kammer nur (Seite 149B) eine halbe Stunde im Nordosten der Landenge liege; er habe sie nur durch Zufall entdeckt, da er keinen Mannahund besitze.

"Gibt es denn Hunde, mit deren Hilfe man das Manna findet?" fragte ich.

"Ja," antwortete er. "Weißt Du das etwa noch nicht?"

"Nein. Ich habe noch nichts davon gehört. Welche Rasse mag das sein?"

Da nahm sein Gesicht einen ganz anderen Ausdruck an. Er nickte leise und bedeutungsvoll vor sich hin und fragte:

"Aber das weißt Du, daß die Hunde der Ussul das Wasser finden?"

"Ja."

"So finden die Hunde von Dschinnistan das Brot. Kein Ussulhund wird stehen bleiben, wenn er über Manna läuft; er merkt es gar nicht. Der Hund von Dschinnistan aber meldet es sofort, nämlich der Hund von echter, reiner Rasse, und deren gibt es nicht etwa sehr viele. Ihr Preis ist außerordentlich hoch."

Als er das sagte, ging mir, wie man sich auszudrücken pflegt, ein Licht auf.

"Also darum die Kreuzung!" rief ich aus. "Hunde, deren Nasen auf beides gerichtet sind, nicht nur auf Wasser allein! Wie weitsichtig und bedachtsam von dem 'Mir! Und das erste Paar dieser neuen Hunde wird grad mir geschenkt, der ich - - "

"Das erste Paar?" fragte er, mich unterbrechend.

"Ja doch?"

"O nein! Der 'Mir von Dschinnistan war doch der erste, der ein Hundepaar vom Scheik der Ussul empfing. Er machte sofort die Probe, und erst als die Kreuzung glückte, erwiderte er das Geschenk mit zwei Exemplaren seiner edlen Dschinnistanirasse. Der erste, der diese neue Rasse besaß, ist also er."

"Wie ist sein Name? Ich hörte ihn nie. Man spricht stets nur vom >'Mir von Dschinnistan<, sagt aber niemals, wie er heißt."

"Weil er keinen Namen hat!"

"Keinen Namen?" rief Halef verwundert aus. "Der Name ist doch die Hauptsache! Denke zum Beispiel an den meinen!"

"Das ist in Deinem Lande Sitte, in dem meinen aber nicht. Es gibt Länder, in denen der unverträglichste Mensch Friedrich heißen kann; ein Ungläubiger wird Gottlieb und Gottlob genannt, und einer, der vor lauter Kummer, Not und Sorge nicht weiß, wohin, wird Felix gerufen; das heißt der >Glückliche<. Das kommt in Dschinnistan nicht vor. Dort ist der Name wahr. Er stimmt mit dem Wesen, mit der Tätigkeit, mit dem Beruf. Ich heiße Abd el Fadl, und so ist es auch wirklich mein Beruf, ein >Diener der Güte< zu sein. Meine Tochter wird Merhameh genannt; bald werdet Ihr sehen, daß sie nur von der Barmherzigkeit geleitet wird, die gewohnt ist, alles mit zu tragen, auch wenn es verschuldet ist. So wird unser Herrscher ganz kurz nur 'Mir genannt; aber das, was dieses Wort besagt, das ist er auch in voller Wirklichkeit. 'Mir ist die Abkürzung des Wortes Emir, was so viel wie Fürst, Herr, Herrscher bedeutet. Das ist er im vollsten Sinne des Wortes. Wozu da noch andere Namen? Bei uns gibt es keine Herrscherlisten mit Hunderten von Namen und Zahlen, die man auswendig zu lernen hat. Bei uns gibt es nur den 'Mir, den 'Mir. Du willst zu ihm; Du wirst ihn sehen, vielleicht gar ihn kennen lernen. Darum kann ich darauf verzichten, Dir lange Reden über ihn und uns zu halten, die doch nicht sagen, was zu sagen ist."

Als wir gegen Abend mit unserer Rekognoszierung fertig waren und ich annahm, den ganzen Engpaß kennen gelernt zu haben, drückte ich Abd el Fadl meine große Befriedigung über die Lage und Beschaffenheit desselben aus. Die Örtlichkeit konnte für unsere Zwecke gar nicht passender sein. Wenn es uns gelang, die Tschoban zwischen das Felsenloch und das Felsentor zu bekommen, so war uns der Erfolg im höchsten Grade sicher. Der einzige Wunsch, der mir versagt zu bleiben schien, war der, auch oben in der Höhe einen Verbindungsweg zwischen dem Loch und dem Tor zu haben. Wenn die Feinde als Gefangene unten steckten und es einen verborgenen Weg in der Höhe gab, auf dem man zwischen unsern Abteilungen hin und her gelangen konnte, ohne daß die Tschoban es bemerkten, so (Seite 150A) hatte man Vorteile in der Hand, die großen Wert besaßen. Als ich dies Abd el Fadl mitteilte, zeigte er mir ein sehr befriedigtes Gesicht und sagte:

"Ein solcher Weg ist da. Er führt von der Höhe des Loches nach der Höhe des Tores hin. Du hast aber weder seinen Anfang noch sein Ende gesehen, weil er sich nicht im Gebrauch befindet und also nicht ausgetreten ist. Ich und meine Tochter gehen immer nur unten hin, nicht aber da oben."

"Kann man von diesem Höhenpfade nach unten gelangen?"

"Nein, nicht ganz. Wir haben es versucht, konnten aber von der letzten, unteren Felsenplatte nicht weiter."

"Ist es dann noch sehr weit hinab?"

"O nein. Wenn man auf dieser Platte steht, befindet man sich höchstens drei Mann hoch über dem Ufer des Flusses."

"Das ist ja doch nicht viel. Habt Ihr nicht versucht, den Weg bis vollends hinab zu führen?"

"Nein. Der Stein ist zu hart, und es fehlen uns die Werkzeuge, ihn zu bearbeiten. Willst Du die Stelle sehen?"

"Ich bitte Dich, mir diesen Höhenweg überhaupt zu zeigen. Dann wird es sich finden, ob der Pfad, der nicht ganz nach unten führt, uns nützlich werden kann oder nicht."

Als wir dies besprachen, befanden wir uns in dem Versteck unserer Pferde, für welche Merhameh auf das Beste gesorgt hatte. Sie fraßen Mannakörner, und es war mir eine große Genugtuung zu sehen, daß ihnen dies für sie ganz ungewohnte Futter vortrefflich schmeckte. Es schien sogar eine Delikatesse für sie zu sein. Nun war die sehr wichtige Frage nach der Fütterung unserer Pferde in der Wüste nicht mehr imstande, mir Sorge zu bereiten.

Wir stiegen von da zum Tore empor. Noch ehe wir seine Zinne erreichten, zweigte der Höhenweg ab. Nur weil er nicht begangen wurde und also keine Spuren vorhanden waren, hatten wir ihn gestern, als wir zum ersten Male vorüberkamen, nicht entdeckt. Nur sein Anfang verlief in Verborgenheit; dann aber fiel er ganz von selbst in die Augen. Später wurde er sogar bequem und verlor diese Eigenschaft erst in der Nähe des Felsenloches, wo er wieder unbemerkbar wurde. Erst hatte ich einen solchen Weg nicht für möglich gehalten, und nun war es nicht nur erwiesen, daß es einen gab, sondern jetzt, wo es Mondschein gab, getraute ich mir sogar, ihn auch des Nachts zu gehen. Das konnte für uns außerordentlich nützlich sein. Wir waren ihn jetzt direkt von seinem Anfang bis an sein Ende gegangen, ohne daß Abd el Fadl uns die Stelle gezeigt hatte, an der ein Seitenpfad von ihm nach unten führte. Nun aber, als wir zurückkehrten und die Stelle erreichten, bogen wir um eine Felsenkante, die wir vorhin gar nicht beachtet hatten, und bemerkten, hinter derselben angelangt, eine ganze Reihe von ausgewitterten natürlichen Stufen und Absätzen, welche den Abstieg so weit ermöglichten, bis man auf die Platte gelangte, von der Abd el Fadl gesprochen hatte. Diese Platte lag gewiß fünf Meter hoch über dem unteren Weg, der längs des Flußufers hinführte, und war so groß, daß man, wenn man auf ihr lag, von unten nicht gesehen werden konnte. Höchst willkommenerweise lagen die Stufen, die nach der Platte führten, nicht etwa frei, sondern sie führten in Gestalt einer Rinne nach unten, welche den, der von oben herunterkam, den Blicken der Untenstehenden entzog, das war ein Umstand, den ich für außerordentlich günstig hielt. Für die Zwecke, die ich im Auge hatte, nämlich ein heimliches Eindringen mitten unter die Feinde, war mir die Höhe der Platte nicht hinderlich. Mein Lasso war genügend lang, um da hinabzureichen, und Spitzen, Löcher und Spalten gab es genug, ihn so zu befestigen, daß man sich ihm anvertrauen konnte. Doch sagte ich jetzt hiervon nichts. Später, wenn es sich als nötig zeigte, war immer noch Zeit genug dazu, es auch andern mitzuteilen.


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