4. Kapitel

Ard.

Es war etwas über zwei Monate später. Dschunubistan hatte sich fügen müssen. Der Dschirbani stand mit seinem stark vermehrten Heere nun an der Grenze von Gharbistan, welches keinen besonderen Herrscher besaß, sondern ebenso wie auch Scharkistan dem 'Mir von Ardistan unmittelbar untergeben war. Wir beide aber, nämlich Halef und ich, befanden uns unsern Truppen weit voraus; warum, das wird der Leser bald erfahren. Wir hatten Gharbistan quer durchritten und uns dann bei dem 'Mir von Ardistan als Abgesandte des Dschirbani melden lassen. Es war uns von ihm eine Reiterschar entgegengeschickt worden, um uns nach Ard, seiner Hauptstadt und Residenz, zu führen. Diese Leute behaupteten, daß sie die Aufgabe hätten, uns zu beschützen. In Wahrheit aber hatten wir uns als ihre Gefangenen zu betrachten, weil es ihnen bei Leben oder Tod befohlen war, uns der Gewalt des gefürchteten Tyrannen auszuliefern. Sie waren das, was wir in Europa als Soldaten bezeichnen, und wurden von einem Oberst angeführt, der sich alle Mühe gab, uns glauben zu machen, daß nicht die geringste Gefahr für uns vorhanden sei. Daß wir unsere beiden Hengste ritten, versteht sich ganz von selbst. Aber unsere Gewehre hatten wir bei dem Dschirbani zurückgelassen, ebenso auch die Pistolen und Revolver, und zwar aus zwei gewichtigen Gründen. Erstens wollten wir als Gesandte oder vielmehr als Parlamentäre gelten und durften also nicht bewaffnet sein, und zweitens wollte ich meine beiden kostbaren Gewehre nicht der Gefahr aussetzen, in die Hände des 'Mir zu geraten. Wir waren also vollständig unbewaffnet, denn die Messer, die dort ein jeder fortwährend trägt, waren nur als Eßwerkzeuge, nicht aber als Waffen zu betrachten. Auch unsere Hunde hatten wir nicht mit. Es war ausgeschlossen gewesen, sie mit nach Ardistan zum 'Mir zu nehmen. Sie konnten uns da leicht hinderlich sein. Darum hatten wir sie zurückgelassen und der Pflege Abd el Fadls, Merhamehs und des Dschirbani anvertraut.

Unsere Eskorte hatte uns schon anderthalb Tage lang durch ein Land geführt, welches sich immer gesegneter und fruchtbarer zeigte, je mehr wir uns der Hauptstadt näherten. Aber (Seite 185B) wir bemerkten gar wohl, daß man einsamen Wegen den Vorzug gab, um Begegnungen möglichst zu vermeiden. Das Terrain stieg langsam, aber ununterbrochen an. Das Land war bergig geworden. Aber die Berge waren nicht kahl, sondern teils dicht bewaldet, teils mit Reben oder Fruchtbäumen besetzt. Wo es eine breitere Ebene gab, sahen wir Häuser, Gärten und Felder liegen, und aus der Tiefe der Bergesengen glänzte fließendes Wasser zu uns herauf. Das war gegenüber der Wüste der Tschoban, die wir glücklich überwunden hatten, ein erfreulicher Anblick für uns.

Der heutige Nachmittag war schon über halb verflossen, als sich die Zeichen mehrten, daß die Residenz nahe sei. Auf allen Wegen sah man Menschen, die entweder dorthin gingen oder von dorther kamen. Begegnungen waren gar nicht mehr zu vermeiden. Besonders fiel uns der große Prozentsatz der Militärpersonen auf, die sich unter diesen Leuten befanden. Sie waren, wie vor zwei Monaten die Dschunub, fast ganz gleich gekleidet und an ihren Gewändern mit Abzeichen versehen, die sich auf die betreffende Charge bezogen.

Wir hatten eine lang hingestreckte Höhe zu erklimmen gehabt, an der sich Wein- und Johannisbrotgärten aneinanderreihten. Ich dachte dabei an meinen Lieblingsberg, den Karmel, auf dessen Höhe es auch Wein und Johannisbrot in Menge gibt. Jetzt, als wir den Kamm erreichten, hielten wir unwillkürlich unsere Pferde an, denn der Anblick, der sich uns von hier aus bot, war überraschend schön, war sogar selten schön. Vor uns lag ein weiter, weiter, rundum von Bergen eingeschlossener Talkessel, den vier Flüsse durchzogen, die sich grad unter uns vereinigten. An den Ufern dieser Flüsse lag Haus an Haus und Garten an Garten, so weit unsere Blicke reichten. In den Gärten herrschte die Palme vor. Es war fast so, wie wenn man von den Baradafelsen aus auf Damaskus herunter schaut, nur noch viel schöner. Die Häuser zeigten alle möglichen Baustile. Auch Gotteswohnungen gab es in großer Zahl und, wie es schien, von jeder geschichtlichen Art. Wir sahen geschlossene und offene Säulentempel; links drüben ein Bau, der einem indianischen Teokalli glich, und rechts, auf der andern Seite, eine hoch und massig gebaute Chinesenpagode. Dazwischen ragten schlanke, mohammedanische Minarets in die Lüfte. Hier und da stand auch ein kleineres, bescheideneres Haus, mit einem christlichen Kreuze auf dem Dache. Sollten das etwa Kirchen sein?

Vor allen Dingen stieg grad im Mittelpunkte der Stadt ein wunderbar komponierter und gegliederter Bau aus Stein zum Himmel auf, der unsere Blicke auf sich zog und gar nicht wieder von sich lassen wollte. Das Mittelstück desselben, ein großes, kühnes Kuppelwerk, wurde nach Nord, Süd, Ost und West von vier gewaltigen Türmen flankiert, welche ganz gewiß die Höhe des Kölner Domes hatten, einander auf das genaueste glichen und, unten massig geschlossen, sich nach oben hin immer feiner und feiner filigranisierten, so daß ihre Spitzen sich in Äther zu verwandeln und ganz in ihm zu verschwinden schienen. An diese vier Haupttürme schlossen sich nach den vier Himmelsrichtungen wieder Kuppeln an, aber kleinere, die eine Interpunktion von gleichmäßig kleineren Türmen bekamen und in eine weitere Folge von immer tiefer herabsteigenden Kuppeln, Türmen und Türmchen verliefen, bis der hoch aufgeschwungene Grundgedanke die Erde wieder erreichte, aus der er gestiegen war. War das christlicher Dom? Etwa die Kathedrale?

"Nicht wahr, eine herrliche Stadt?" fragte der Oberst, der es uns ansah, welchen Eindruck das alles auf uns machte. "Hier stand zur Zeit der ersten Menschen das Paradies. Siehst Du die vier Flüsse? Sie heißen Phison, Dschihon, Tigris und Phrat. Diese Namen stehen schon in Euerm Koran oder in Eurer Bibel oder in Euern Vedabüchern. Mich geht das nichts an, denn ich glaube an kein solches Buch. Die Türme sind das Schloß des 'Mir. Gott selbst hat den Grundstein gelegt, als das Paradies noch stand, grad in der Mitte desselben. Er (Seite 186A) befahl den Assyra und Babyla, die Riesen waren, den Bau zu beginnen, den er zur Wohnung für den 'Mir von Ardistan bestimmte. Sie gehorchten. Später aber kamen die Christen, welche behaupten, daß alles nur ihnen allein gehöre. Sie trieben die Assyra und Babyla von dannen und bauten weiter. Als alles fertig war, setzten sie auf jede Spitze, Ecke und Kante ein Kreuz. Der damalige 'Mir ließ das geschehen. Er lächelte dazu, daß sie glaubten, in diesem seinem Hause wohnen zu können. Als das letzte Kreuz seinen Platz erhalten hatte, ließ er sie alle wieder entfernen und zog hinein, wo nun sein Nachkomme noch heutigen Tages wohnt. Die Christen aber wurden ob ihres Hochmutes streng bestraft. Sie sind noch heut verachtet und verhaßt, und es ist eine große Gnade des 'Mir, daß er sie nicht ganz vernichtet oder vertrieben, sondern ihnen erlaubt hat, in den kleinsten und abgelegensten Häusern der Stadt zu wohnen, die als Warnungszeichen mit einem Kreuz versehen sein müssen, damit niemand sich verunreinige, indem er seinen Fuß über eine solche Schwelle setzt. Doch kommt! Wir müssen weiter. Der 'Mir hat befohlen, Euch noch vor Abend abzuliefern, weil die von Euch gewünschte Audienz noch heute stattzufinden hat."

"Wohin führst Du uns?" fragte ich.

"Natürlich nach dem Schlosse, in dem Ihr wohnen werdet, denn Ihr seid seine Gäste."

"Gäste?"

Bei diesem Worte sah ich ihm scharf in die Augen. Er wurde zwar ein wenig verlegen, bestätigte aber doch:

"Ja, Gäste!"

"Hat er Dich beauftragt, uns dieses Wort zu sagen? Wirklich dieses?"

"Grad dieses! Ganz gewiß!" Nach dieser Versicherung fuhr er gedämpften und vertraulichen Tones fort: "Er ist außerordentlich begierig, Euch zu sehen. Er kennt Euch schon."

"Woher?"

"Das darf ich nicht verraten. Vielleicht sagt er es Euch selbst."

Wir setzten uns wieder in Bewegung und ritten auf der andern Seite der Höhe zur Stadt hinab. Niemand beachtete uns. Wir waren nicht anders gekleidet als hier jedermann, und keiner von allen, deren Blicke auf uns fielen, hielt uns für fremde oder gar für aus irgend einem Grunde interessante Menschen. Es war genauso, wie wenn zwei Deutsche mit einigen Einheimischen durch die Straßen von Paris oder London reiten. Die paar Menschen verschwinden unter der ungezählten Menge der übrigen Passanten. Wir ritten wohl eine ganze Stunde lang durch verschiedene Straßen, Gassen und Gäßchen, kamen über mehrere Brücken und hatten bei den Verschiedenheiten und den Gegensätzen, die uns da überall und in jeder Form und Beziehung entgegentraten, das Gefühl, uns in einer Weltstadt zu befinden, die alles in sich vereinigt, was die Erde ihren Bewohnern bietet. Das machte auf meinen wackeren Halef einen beinahe entmutigenden Eindruck.

"Mir beginnt, angst zu werden, Sihdi!" sagte er. "Das ist etwas ganz anderes als draußen im Walde, auf dem Felde oder gar in der freien Wüste, wo man tun kann, was einem beliebt. Hier aber ist man nicht mehr Herr seiner selbst. Hier hilft alle Tapferkeit und Klugheit nichts. Man wird erdrückt, mag man sich noch so wehren! Du aber lächelst?"

"Ja. Du fürchtest Dich weder vor den Bäumen des Waldes noch vor den Halmen des Feldes noch vor den Sandkörnern der Wüste, obgleich Du sie nicht zählen kannst. Vor diesen Menschen aber wird Dir bange, obgleich ihre Zahl noch lange nicht so groß ist als die Zahl der Blätter oder Nadeln eines einzigen ausgewachsenen Baumes im Walde! Glaubst Du etwa, daß Allah draußen vor der Stadt geblieben ist? Oder haben wir unsern Mut, unsern Scharfsinn, unsere List da draußen weggeworfen und reiten nun ohne Glauben an Gott und an uns selbst als Narren und Dummköpfe einem unvermeidlichen Untergange entgegen?"

Da reckte er seine kleine Gestalt so hoch wie möglich empor und antwortete:

"Nein, Sihdi, nein; das nicht! Wenn Du so weiter denkst und bleibst wie jetzt, werden wir diese Riesenstadt so frei verlassen, (Seite 186B) wie wir gekommen sind! Ja, es ist wohl richtig, daß es ein unendlich kühner und verwegener Plan gewesen ist, nach Ard zu reiten, um den 'Mir kennen zu lernen, bevor der eigentliche Kampf gegen ihn beginnt. Wenn er uns durchschaut, so weiß er, daß wir nur als Spione gekommen sind, die man entweder mit Knüppeln totzuschlagen oder mit Stricken am Halse aufzuhängen pflegt. Und er ist ein rücksichtsloser, grausamer Mensch, dem es ein großes Vergnügen machen wird, uns von der Spitze eines seiner vielen Türme herunterwerfen zu lassen. Aber wir würden uns so etwas doch wohl nicht ganz gutwillig gefallen lassen. Wenigstens ich würde, falls es uns wirklich an das Leben gehen sollte, ihm schnurstracks an den Hals springen und ihm zwei Hände breit weiter unten fühlen lassen, wie lang die Klinge meines Messers ist! Also sei getrost, Sihdi! Ich verlasse Dich nicht, mag es kommen, wie es will!"

So war er, der liebe, kleine Kerl; er tröstete und munterte mich auf, obwohl die Bangigkeit sich doch nicht an mich, sondern an ihn herangeschlichen hatte. Daß er mich selbst in der gefährlichen Lage nicht verlassen würde, verstand sich ganz von selbst!

Der Riesenbau des >Schlosses< blieb uns durch jede Straßen- und Häuserlücke sichtbar, an der wir vorüberkamen. Er schob seine Füße viel weiter vor, als wir dachten, und so waren wir überrascht, als wir plötzlich an einem Mauertore hielten und der Oberst uns sagte, daß wir am Ziele angekommen seien. Das Tor führte nicht in ein Gebäude, sondern in einen offenen Hof, dessen zwei Hauptseiten aus Stallungen bestanden. Hier wurden, wie wir erfuhren, die Pferde der Gäste des 'Mir untergebracht, und zwar nur die wertvollen Pferde, nicht aber die gewöhnlichen, die nicht der Mühe wert waren, welche man sich mit Tieren besserer oder gar reinster Abstammung gibt. Der Oberst wollte uns, sobald wir abgestiegen waren, gleich weiterführen, doch gingen wir nicht darauf ein, denn in unserer gegenwärtigen Lage hatten unsere Pferde für uns genau denselben Wert wie wir selbst. Er mußte warten, bis sie untergebracht, gesäubert, gewaschen und getränkt worden waren und ihr Futter vorgelegt bekommen hatten. Als er darüber ungeduldig wurde und uns sagte, daß er nicht so lange warten könne, sondern dem 'Mir Bericht erstatten müsse, antwortete Halef in seiner ihm eigenen, deutlichen Weise:

"Wir verlangen ja gar nicht, daß Du länger bleibst. Nur den 'Mir soll warten, da Du nicht warten kannst. Mein Pferd steht mir höher als er!"

Der Offizier aber wartete doch! Dann führte er uns durch ein Innentor nach einem der kleinen Nebentürme, in dem die beiden Stuben lagen, die uns angewiesen wurden. Dort übergab er uns einem Diener und entfernte sich. Der Diener war sehr höflich aber auch sehr einsilbig. Er brachte uns Essen und Trinken und setzte sich dann draußen vor die Türe, so daß es, da er Pistolen im Gürtel stecken hatte, ganz so aussah, als ob er nicht unser Domestik, sondern unser Wächter sei. Das Essen war sehr gut und sehr reichlich. Als wir gesättigt waren, genossen wir für kurze Zeit die Aussicht, die sich uns durch das Fenster bot. Wir sahen von da aus bis weit zu der Höhe hinaus, von der wir herabgekommen waren. Dann gingen wir hinunter nach dem Hofe, weniger, um noch einmal nach unseren Pferden zu sehen, als vielmehr um zu erfahren, wie es mit der Freiheit bestellt war. Der Diener hinderte uns nicht, die Stuben zu verlassen, aber er kam dann hinter uns her. Und als wir unten nach dem Außentore schritten, machte er uns darauf aufmerksam, daß es verschlossen sei. Es werde uns geöffnet werden, wenn wir in die Stadt zu gehen wünschten; aber da müsse er vorher die Wache kommen lassen, die uns zu begleiten habe, weil der 'Mir nicht wünsche, daß uns auf irgend eine Weise ein Leid oder etwas Ähnliches geschehe. Nun wußten wir, woran wir waren. Man betrachtete uns als Gefangene, obgleich man es uns nicht direkt zu hören gab. Das beunruhigte uns aber nicht, denn wir hatten überhaupt nichts anderes erwartet. Als wir hierauf in unsere Wohnung zurückgekehrt waren, brach die Nacht herein, und der Diener brachte uns Licht. Eine Stunde später kam der Oberst und teilte uns mit, daß er den Befehl habe, uns zum 'Mir zu führen. Dieser werde zwar nicht mit uns sprechen; wir aber hätten ihm die (Seite 187A) vorgeschriebene Demut zu erweisen und alle Fragen, die er durch andere an uns richten lasse, schnell und der Wahrheit gemäß zu beantworten.

"Da sehe ich schon kommen, was kommt!" flüsterte Halef mir zu. "Das wird sich mein Sihdi wohl kaum gefallen lassen!"

Der 'Mir von Ardistan ist ein hochstehender, orientalischer Fürst, ein Selbstherrscher, der kein anderes Gesetz kennt, als nur seinen eigenen Willen. Die Fama sprach nicht gut über ihn, sondern schlecht, sehr schlecht. Man sagte ihm nach, daß selbst der reichste, der höchste, der beste und klügste Mensch für ihn nichts weiter sei als nur eine Mücke, die man zwischen zwei Fingerspitzen zerdrückt. Ich aber wußte, daß der Mensch stets menschlich bleibt, sowohl in guten, als auch in bösen Dingen. Kein Mensch kann so vortrefflich sein, daß er nur Engel ist. Und kein Mensch kann von Gott so völlig aufgegeben werden, daß man nur noch Teuflisches, nichts Menschliches mehr an ihm findet. Auch der 'Mir von Ardistan war jedenfalls weder ein Engel noch ein Teufel und stand dem letzteren wohl kaum so nahe, wie das Gerücht behauptete. Wenn ihm ein Menschenleben so gar nichts galt, so lag das vielleicht weniger an ihm als an dem Umstande, daß er es jahraus jahrein nur mit niedrigen, kriechenden Speichelleckern, Schmarotzern und Schranzen zu tun hatte. Womöglich war ihm noch niemals ein Mensch von wirklichem Werte vor die Augen gekommen. Das war aber doch nur ein Grund, ihn zu bemitleiden, nicht aber ihn zu fürchten oder gar zu hassen!

Wir wurden durch lange Gänge und mehrere Treppen hinauf und hinunter geführt. Es gab überall nur sowenig Licht, wie grad nötig war, zu sehen, wo man ging. Die Wände waren verhangen. Die Teppiche und Matten töteten den Schall eines jeden Schrittes. Wie draußen im Freien war man auch hier bemüht, jede Begegnung zu vermeiden. Wir trafen keinen Menschen, nicht einmal eine dienstbare, uns die Räume öffnende Person an. Das alles tat der Oberst selbst. Endlich führte er uns gar in einen langen, schmalen, vollständig dunklen Raum, den wir in seiner ganzen Ausdehnung durchschritten, indem wir uns hüben und drüben mit den Händen weitertasteten. Das war, wie sich dann herausstellte, Berechnung. Wir sollten uns infolge dieser Dunkelheit von der uns nun entgegenstrahlenden Lichtfülle überwältigt und geblendet fühlen.

Zum Verständnisse der nun folgenden Szene habe ich zu bemerken, daß ich, wenn ich vom >Öffnen der Räume< sprach, nicht habe sagen wollen, daß wirkliche, hölzerne, verschließbare Türen vorhanden gewesen seien. Ob es überhaupt welche gab, das wußten wir nicht; gesehen hatten wir keine, ausgenommen das Tor, durch welches wir aus der Straße in den Hof geritten waren. Sonst aber waren alle Türöffnungen, durch die wir bis zum jetzigen Augenblick gekommen waren, mit Teppichen oder Gardinen verhangen gewesen, die man, um passieren zu können, zurückzuschlagen hatte. Dieses Zurückschlagen der Vorhänge meinte ich, als ich von dem Öffnen der Türen oder der Räume redete. Als der Oberst die dicken, schweren Gardinen, welche das gegenwärtige tiefe Dunkel abschlossen, auseinanderzog und uns aufforderte, einzutreten, drang uns zu gleicher Zeit beides entgegen, eine Fülle aller möglichen Wohlgerüche und eine Fülle aller möglichen Licht- und Strahlenbrechungen mit Hilfe gefärbter Gläser, Ampeln und Laternen, die von der Decke hingen und an den Wänden befestigt waren. Das brennende Sesamöl und die brennenden Kerzen waren parfümiert. Das Auge wurde geblendet und jeder Empfindungsnerv sofort in eine Art von Betäubung versetzt.

Es war ein Saal, in den wir traten, sogar der Thronsaal des 'Mir von Ardistan, und doch auch wieder nicht, sondern etwas ganz anderes. Dieser Saal hatte, architektonisch betrachtet, etwas Frommes, Heiliges, ja Kirchliches an sich, doch drang dieser Ausdruck oder Eindruck nicht vollständig durch; er wurde durch die weltliche Ausschmückung, so kostbar diese auch war, profaniert.

Ich will den köstlichen Thronstuhl nicht beschreiben, auch nicht den, der darauf saß, denn ich sah ihn nicht, sondern ich sah nur die Gewänder, die er trug, und die weißen Schleier, die sein Angesicht so verhüllten, daß nur eine schmale Queröffnung für die Augen offen blieb. Das alles glänzte von Gold und blitzte und funkelte von Diamanten und anderen (Seite 187B) edlen Steinen. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken standen seine Hofstaaten und die höchsten seiner Offiziere, sie alle in flimmernde Kleidungen oder Uniformen gehüllt. Noch weiter von ihm entfernt eine Menge niedrigerer Chargen, die aber eine solche Menge von Waffen trugen, daß man damit eine sechsmal größere Anzahl für den Kampf hätte ausrüsten können. Es war also nicht nur auf die Wirkung des Reichtums und die Pracht, sondern wenigstens ebenso auch auf den kriegerischen Eindruck abgesehen, den man auf uns machen wollte. Wir zwei armen Teufel kamen uns dagegen wie ein Paar wertlose Pfennige vor, die unter einen Haufen von Zwanzigmarkstücken geraten sind.

Warum diesen Aufwand wegen uns beiden? So fragten wir uns. Doch blieb uns keine Zeit, diese Frage zu beantworten, denn wir konnten doch nicht stehen bleiben. Aller Augen waren auf uns gerichtet, was wir tun und sagen würden. Wir schritten also zur Mitte des Saales vor, bis wir dem Throne grad gegenüberstanden. Da blieben wir stehen und schauten auf den Herrscher oder vielmehr auf seine weit ausgebreiteten, übereinanderliegenden Prachtgewänder, unter denen er, die Augen abgerechnet, vollständig verschwand. Er regte sich nicht, wir also ebenso nicht.

"Warum grüßt Ihr nicht?" fragte eine Stimme, die mir sofort bekannt vorkam.

"Wen sollen wir grüßen?" antwortete ich.

"Den Herrscher!"

"Wo ist er? Er zeige sich!"

"Hier sitzt er, hier! Bist Du blind?"

Der, welcher sprach, hatte bisher hinter dem 'Mir gestanden; jetzt trat er ein wenig zur Seite, so daß wir ihn sahen. Es war - - - der >Panther<. Darum war mir die Stimme sogleich bekannt vorgekommen. Ich ließ mich von seiner Anwesenheit nicht im geringsten überraschen, sondern entgegnete:

"Blind wohl kaum. Aber wie es scheint, sehe ich falsch. Ich bin gekommen, um mit dem 'Mir von Ardistan zu sprechen und sehe an seiner Stelle weiter nichts als einen ganz gewöhnlichen Tschoban, der seinen Vater, sein Volk und seine Heimat verlassen hat, um sie an ihre Feinde zu verraten. Pfui!"

Ich spuckte aus und wendete mich, um wieder fortzugehen.

"Halt! Du bleibst!" versuchte er, mich anzudonnern.

"Wer will mich halten?" fragte ich.

"Ich! Wir alle!"

"Versuche es!"

Ich ging. Halef, der wackere, folgte mir.

"Halt, halt!" befahl der >Panther< abermals.

"Halt, halt, halt, halt!" riefen die andern.

Die näher Stehenden eilten uns nach. Einige faßten nach uns. Einer, der mich mit der Linken beim Arm ergriff, zog sogar seinen krummen Säbel. Den riß ich ihm aber aus der Hand, schleuderte den Kerl mitten unter die andern hinein und rief:

"Zurück! Nehmt Euch in acht! Wer aber sofort zum Teufel fahren will, der komme her!"

Einen Augenblick lang war alles still. Jeder stand vor Entsetzen unbeweglich. Eine solche Entweihung dieses Thrones, dieses Heiligtumes war unerhört, war noch niemals vorgekommen, war ein todeswürdiges Verbrechen, welches unbedingt gerochen werden mußte. Im nächsten Augenblicke brach man auf uns ein; soviel war sicher! Ich war entschlossen, bis hinaus in den engen Gang zu retirieren und, indem wir uns dort in der Finsternis zurückzogen, niemand an uns heranzulassen. Vielleicht erreichten wir den Hof und den Stall. Was dann zu geschehen hatte, das lag dann freilich nicht in unserer Hand. Aber es kam, trotz der Größe und der Nähe der Gefahr, doch nicht so weit. Draußen näherte sich ein ungeheurer Lärm, eine Menge Stimmen, die angstvoll durcheinanderschrien. Die Gardine des Haupteinganges wurde weggerissen, und man brüllte herein:

"Zu Hilfe! Zu Hilfe! Rettet Euch! Vier tolle Hunde, vier tolle Hunde! Wie die Kamele so groß!"

"Wo?" fragten die, welche soeben auf uns eindringen wollten.

"Erst unten am Tore des Stallhofes. Da heulten sie und wollten herein. Sie konnten aber nicht. Da rannten sie nach dem Haupttore und hetzen nun, nach Spuren suchend, durch alle Räume und Gänge - - - da, da! Rettet Euch! Sie kommen! Sie kommen!"

(Seite 188A) Das Geschrei da draußen und auch hier bei uns wurde jetzt von scharf rufenden Hundestimmen übertönt. Das war kein Heulen und Bellen, sondern jenes weittönende, sehnsuchtsvolle Suchen und Fragen, welches nicht eher verstummt, als bis der Hund den vermißten Herrn gefunden hat. Es näherte sich. Es wollte vorüber, denn es gab da draußen keine Fährte von uns, weil wir von der andern Seite gekommen waren. Wir sahen sie vorüberjagen, alle vier, erst Hu und Hi, dann, schärfer windend, auch Aacht und Uucht. Schon waren sie vorbei, da kehrte Uucht um und warf einen Blick herein. Sie hatte einen hinaustreibenden Lufthauch aufgefangen. Uns sehen und wie eine Löwin brüllend, vor übergroßer Freude, das war eins. Im nächsten Augenblicke waren auch die drei andern da. Sie warfen sich auf uns. Sie hätten uns umgerissen und überkugelt, wenn wir nicht schnell an die Wand retiriert wären, um ihren Liebkosungen standhalten zu können. Was aber außer uns beiden und ihnen sich noch im Saal befand, das rief, schrie, heulte und brüllte vor Schreck und Entsetzen aus allen Kehlen und rannte schleunigst zur Türe hinaus.

Die braven Tiere hatten sich also nicht halten lassen. Es war, wie wir später hörten, jede Mühe und alle Zärtlichkeit vergebens gewesen. Wir wußten gar wohl, daß sie unbedingt geblieben wären, wenn man sie nicht falsch behandelt hätte, denn wir hatten es ihnen befohlen und waren von ihnen verstanden worden. Welchen Fehler man gemacht hatte erfuhren wir hernach; jetzt aber konnten wir nicht darnach fragen und mußten uns darein, daß sie uns nachgeeilt waren, fügen, gleichviel ob es für uns gut war oder nicht. Jedenfalls war es eine ganz bedeutende Leistung von ihnen. Fast vier volle Tagesreisen, erst zwei durch Gharbistan und dann fast zwei durch Ardistan. Durch eine stockfremde, reich belebte Stadt! Wegen des verschlossenen Tores durch den ganzen Palast, bis sie uns hatten! Wie verdurstet, verhungert, vergrämt und abgehetzt sie aussahen! Und wie sie nun vor Freude wimmerten und weinten. Wir meinten es ehrlich gut mit ihnen. Wir liebkosten sie mit allen Händen und mit allen Worten, die sie verstanden. Sie mußten Wasser und Fleisch bekommen!

"Ja, Wasser, vor allen Dingen Wasser!" sagte Halef. "Und Fleisch, viel Fleisch! Und wenn ich die Küche des 'Mir erstürmen müßte! Sie haben es verdient, wahrhaftig verdient!"

"Brauchst nicht zu stürmen!" ließ sich da eine tiefe, klare Stimme vernehmen. "Herrliche Hunde! Prächtige Hunde! Werde selbst Befehl geben! Geht getrost in Eure Stuben! Es geschieht Euch nichts, solange Ihr in diesem Hause seid! Ihr seid meine Gäste. Verstanden, meine Gäste! Werde Euch den Nahsir es Serahja senden. Sogleich!"

Man denke sich unser Erstaunen. Wir hatten angenommen, sie alle seien hinaus, und hatten nur noch Augen für unsere Hunde gehabt. Und nun jetzt, da er zu sprechen begann und wir zu ihm hinschauten, sahen wir, daß grad die Hauptperson, nämlich der 'Mir, ganz ruhig sitzen geblieben war und unsere Liebe und Zärtlichkeit für die erschöpften Tiere beobachtete. Jetzt stand er auf, nahm seine Kleider zusammen, hob sie, um sich fußfrei zu (Seite 188B) machen, vorn empor und ging hinaus. An der Türe blieb er noch für einen Augenblick stehen, wendete uns das Gesicht, welches wir des Schleiers wegen auch jetzt nicht sahen, noch einmal zu und wiederholte:

"Werde den Nahsir es Serahja senden. Der bringt Fleisch. Lebt wohl!"

"Maschallah!" wunderte sich Halef, als der 'Mir sich entfernt hatte. "Hättest Du so etwas für möglich gehalten, Effendi?"

"Wohl kaum!"

"Ich denke, wir werden erst geköpft, dann enthauptet und schließlich gar noch hingerichtet, weil wir mit dem Säbel - - Du, da liegt er noch! Und nun scheint er ganz zufrieden zu sein und schickt uns gar noch Fleisch! Was sagst Du dazu?"

"Daß die Hunde uns gerettet haben!"

"Ich auch! Wer hat sie gesandt?"

"Frag nicht, sondern komm!"

"Gleich, gleich, Sihdi. Erlaube nur, daß ich erst einmal - - Hier ist keine Wand, sondern nur ein großer, dünner Schleier, durch den man sieht, daß kleine Sternchen sich dahinter bewegen. Was mag das sein?"

Er ging nach der betreffenden Seite. Dort gab es, wie gewöhnlich bei Kirchenemporen, eine Balustrade, die eigentlich frei, jetzt aber bis hinauf an die Decke abgeschlossen war, und zwar durch senkrechte Reihen allerfeinsten bucharischen Wollenstoffes, zwischen denen man, wenn man sie zur Seite schob, in den hinter der Balustrade liegenden Raum hinausschauen konnte. Der war groß, sehr groß, aber völlig finster. Die Sterne, von denen Halef gesprochen hatte, waren brennende Lämpchen, zwar ziemlich zahlreich, aber doch nicht imstande, auch nur die allergeringste Beleuchtung hervorzubringen. Nur von dem Raume aus, in dem wir uns befanden, fiel ein nebelhafter Schein hinaus, der dem Schweife eines Kometen glich. Ich vermutete, daß wir uns unter der Hauptkuppel der Kathedrale befanden, konnte es aber nicht behaupten, da wir wohl erst morgen am Tage imstande waren, hierüber zu entscheiden.

Das unverhoffte, gütige Verhalten des 'Mir war, wie man zugeben wird, geeignet, uns zu veranlassen, dem, was uns erwartete, ruhiger entgegenzusehen als bisher. Über sein Äußeres befanden wir uns im Unklaren. Nur seine Stimme hatten wir gehört. Sie klang tief und rein und gar nicht unsympathisch. Die Zunge stieß, wie es schien, bei den Konsonanten >Sin< und >Sad< ein wenig an. Das klang gar nicht so, wie man sich die Stimme eines finstern Tyrannen, Despoten oder Wüterichs gewöhnlich zu denken pflegt. Ich hatte das Gefühl, als sei das Herz dieses Mannes keinesfalls von Stein, und Halef war ganz derselben Meinung. Eben, als wir den Rückweg nach unserer Wohnung antreten wollten, kam der Oberst gerannt. Der 'Mir selbst hatte ihn getroffen und ihm befohlen, zu uns zu eilen, um uns wieder dahin zurückzuführen, woher er uns geholt hatte. Wenn ich an den Lärm und an den Aufruhr dachte, den unsere Hunde hier im Schlosse hervorgebracht hatten, so wäre mir der höchste Zorn des Fürsten erklärlich gewesen. Und was trat ein? Das gerade Gegenteil! Er nahm sich ihrer grad so wie wir in Liebe an! War das nicht wunderbar? Als wir uns dann wieder bei uns befanden, waren wir viel ruhiger als vorher, zumal (Seite 189A) der Diener die Weisung erhalten zu haben schien, von jetzt an weniger Wächter als vielmehr Domestik zu sein.

Er brachte zunächst Wasser für die Hunde. Dann drei Pfeifen und Tabak. Die dritte sei für den Nahsir es Serahja, der bald erscheinen werde. Doch sollten wir ja mit dem Rauchen nicht auf ihn warten, sondern immer beginnen. Wir taten das, und da stellte sich heraus, daß der Tabak von jener außerordentlich seltenen Sorte war, die man Bachuhr nennt und nur einmal bei Fürstlichkeiten oder sonstwie vom Schicksale bevorzugten Personen zu rauchen bekommt. Ich rauchte ihn hier zum ersten Male. Für den Schloßhauptmann war er jedenfalls nicht bestimmt. Wahrscheinlich war dieser, wie ja so mancher Diener, ein heimlicher Mitraucher seines Gebieters, und wir hatten das Vergnügen, ebenso heimlich daran teilnehmen zu dürfen.

Als er sich einstellte, war er ein ganz anderer Mann, als wir uns ihn gedacht hatten. Wir verbeugten uns bei seinem Gruße ganz unwillkürlich viel tiefer und erwiderten ihn viel höflicher, als es von der dortigen Sitte vorgeschrieben war. Er stand in den mittleren Jahren, war hoch und schlank, aber kräftig gebaut, und hatte einen köstlichen, nachtdunklen, bis auf die Brust herabwallenden Bart, der sein männlich schönes, farbloses Gesicht fast totenbleich erscheinen ließ. Seine Augen waren sogenannte Rätselaugen. Man mußte sie studiert haben, ehe man wagen konnte, sie zu beschreiben. Gekleidet war er in einen ganz gewöhnlichen, einfachen, weißen Stoff, und weder an seiner Hand noch sonst irgendwo war ein Ring oder sonst ein Schmuck zu sehen. Nachdem er uns begrüßt hatte, ging er sofort zum Zweck, der ihn herbeigeführt hatte, über: er setzte sich zu den Hunden nieder, streichelte und liebkoste sie und gab dem Diener einen Wink, auf welchen dieser einen Korb voll Fleisch hereinbrachte, der draußen niedergesetzt worden war, und ein Messer dazu. Hierauf begann er, das Fleisch in (Seite 189B) kleine Stücke zu zerschneiden und den Hunden zu geben. Natürlich weigerten sie sich erst, es zu nehmen. Sie hätten trotz ihres jedenfalls großen Hungers alles zurückgewiesen, wenn ihnen von uns die Erlaubnis versagt worden wäre. Das rührte ihn. Er gab jedem gleich viel, keinem ein Stückchen mehr. Er schnitt je vier Stückchen ab, und diese mußten von genau gleicher Größe sein. War eines größer, so wurde den drei andern das, was fehlte, zugelegt. Dabei unterhielt er sich mit ihnen. Er gab ihnen Kosenamen. Er sprach mit ihnen, als ob sie Menschen seien. Und wenn ihn einer verstand, so freute er sich. Noch viel mehr aber, wenn sich einer vertraulich an ihn schmiegte oder ihm dankbar die Hand leckte. Dabei hatte er eine ganz andere Stimme. Sie klang zärtlich, kindlich, hingebend, vertrauensvoll und ebenso Vertrauen erweckend.

Als er fertig war, schob er zwar den Korb, nicht aber die Hunde von sich. Sie mußten bei ihm bleiben. Er stopfte sich eine Pfeife und steckte sie selbst in Brand, denn der Diener war nicht mehr da. Er hatte ihm durch einen Wink bedeutet, sich zu entfernen. Nachdem er einige Züge des köstlichen Rauches getan und ausgeblasen hatte, begann er das Gespräch, indem er sagte:

"Wundert Euch nicht, daß ich die Hunde liebe! Sie sind besser als die Menschen. Hat Dich jemals ein Hund belogen?"

"Nein", antwortete ich, weil er bei dieser frage mich ansah.

"Betrogen?"

"Nein."

"Zeigt er Dir Liebe, wenn er Dich haßt?"

"Gewiß nicht!"

"Und wenn ein Hund, ein Pferd oder irgendein Haustier mißrät, mißtrauisch und bissig wird, wer ist schuld daran? Der Mensch, der nicht wie ein Mensch, sondern wie eine Bestie an ihm handelt! Ich liebe die Hunde, die Pferde. Sie sind wahr. Sie sind offen und ehrlich. Sie lügen nicht! Die Menschen aber hasse ich, verachte ich. Ich habe noch keinen gefunden, der es wert wäre, auch nur ein einziges Stück Fleisch von mir zu bekommen, wie diese Eure Hunde!"

"Armer Mann!" sagte Halef.

(Seite 190A) "Arm? Bloß arm?" fragte der Ardistani. "Noch schlimmer als arm, noch schlimmer! Selbst die Hunde, die ich mir halte, um doch auch einmal ehrliche Liebe zu finden, dürfen nicht immer bei mir sein und werden mir von andern verzogen. Man unterschlägt, entwendet und raubt mir ihre Zuneigung und Treue. Wie beneide ich Euch! Wie freute ich mich über die Treue dieser schönen Tiere und über Eure Einsicht und Euern Verstand, daß Ihr sie nicht bestraftet, anstatt ihnen dankbar zu sein. Ich sage Euch, der Augenblick, an dem Eure Hunde kamen und fast vor lauter Liebe zu Euch gestorben wären, ist ein unendlich wichtiger für mich, viel wichtiger, als Ihr ahnt. Es kam zum ersten Male nach dem Tode meiner Mutter die Ahnung, ja die Gewißheit über mich, daß es außer ihr doch Menschen gibt, die wert sind, nicht nur von Hunden, sondern auch von Menschen geliebt zu werden!"

"Du warst dabei, als unsere Hunde kamen?"

"Ja. Doch in anderer Kleidung. Darum erkennt Ihr mich nicht wieder. Warum habt Ihr den 'Mir nicht gegrüßt?"

"Wir sind keine Schneider, die Kleiderstoffe und Anzüge studieren wollen, sondern wir kommen als Männer, um den Mann zu sehen und zu sprechen! In unserer Heimat grüßt man den Mann, nicht aber das Gewand."

"Wie stolz!"

Dieser Ausruf klang halb bewundernd, halb aber auch beleidigt, mit einem Anfluge von Zorn, den er doch nicht ganz überwinden konnte. Er erhob warnend, wahrscheinlich auch drohend, den Finger und fuhr fort:

"Dieser Stolz hätte Euch das Leben kosten können!"

"Wohl kaum!" antwortete ich.

"O doch! Sogar gewiß! Man hätte Euch mit den Säbeln zerhackt und zerhauen! Nur Eure Hunde haben Euch gerettet!"

"Vielleicht, vielleicht auch nicht! Wir hatten unsere Messer. Ich hatte auch schnell einen Säbel. Und wir hatten einen Schild, mit dem wir ganz sicher jeden Stich oder Hieb und jede Kugel abgehalten hätten."

"Einen Schild?" fragte er. "Ich sah doch keinen!"

"Er saß auf dem Throne. Ich meine den 'Mir."

"Wieso? Den 'Mir!"

"Wir wären zu ihm hingesprungen und hätten ihn gepackt, um uns durch seinen Körper zu schützen. Er hätte sich nicht wehren können, schon der unbehilflichen Kleidung wegen nicht. Dieser Schild war gut. Ihm hätte man jedenfalls nichts getan."

"Und wenn aber doch?" fragte er.

"So wären wir gewiß nicht gestorben, ohne ihm vorher unsere Messer in das Herz zu bohren!"

Da schnellte er mit einem Sprunge in die Höhe und rief:

"Ist das wahr? Bei allen Teufeln! Ist das wahr?"

"Gewiß! Ich gebe Dir mein Wort!"

Halef bestätigte es. Da schritt der Ardistani nach dem Fenster, schaute, um zu überlegen und sich zu beruhigen, lange, lange Zeit hinaus, drehte sich dann zu uns um und sprach:

"Ich sage Euch, daß der 'Mir niemals, so lange er lebt, wieder eine so unbehilfliche Kleidung anlegen wird! Und ich sage Euch weiter, daß es schade, jammerschade um Euch gewesen wäre, wenn man Euch erschlagen hätte. Ich sehe endlich, endlich einmal Menschen, die wirklich Menschen sind, sogar Männer, wirkliche Männer! Freilich, was Ihr mir da sagt, das würdet Ihr dem 'Mir wohl nicht zu sagen wagen, denn - - - "

"Warum nicht?" unterbrach ich ihn.

"Er ist ein Tyrann, ein Despot, ein schonungslo - -"

"Ja, das ist er!" fiel ich ihm abermals in die Rede. "Aber warum ist er es? Wer hat ihn dazu gemacht? Haben die Menschen, die ihn umgaben, irgend einen Wert? Und wenn sie einen haben, dann doch nur als Masse! Wieviel Hunderttausende von ihnen werden geboren, nur um wieder zu sterben und zu verfaulen, ohne daß es auch nur einem einzigen von ihnen gelingt, auf sie gestützt, über sie emporzusteigen. Ist es da ein Wunder, daß er, der nicht emporzusteigen braucht, weil er oben geboren ist, dieses sogenannte Menschenmaterial eben nur als Material betrachtet, als weiter nichts?"

Er trat wieder näher, langsam und tief atmend. Seine Augen begannen zu glänzen. Seine bleichen Wangen färbten sich. Ich fuhr fort:

(Seite 190B) "Wäre er in meinen Augen ein Tyrann, so wäre ich nicht hierher zu ihm gekommen; darauf verlasse Dich! Du glaubst, ich fürchte mich vor ihm? Habe ich mich nicht in seiner Gegenwart geweigert, ihn zu grüßen? Habe ich ihm nicht gesagt, daß es genauso ist, als ob ich ihn gar nicht sehe? Habe ich ihn nicht dadurch gezwungen, aus dem lächerlichen toten Herrschergewande, welches einem Sarge gleicht, herauszutreten und mir den Menschen, den Mann, den wahren 'Mir zu zeigen, nicht aber den Sklaven seines höfischen Mummenschanzes und seiner eigenen Knechte und Mägde?"

"Gezwungen hast Du ihn?" fragte er verwundert. "Und herausgetreten ist er?"

"Ja", antwortete ich.

"Wann? Wo?"

"Jetzt, hier!"

Während ich das sagte, stand ich auf, um die Arme über der Brust zu kreuzen und mich höflich zu verneigen. Halef tat dasselbe. Da wich der Ardistani einen Schritt von uns zurück und fragte:

"So wißt Ihr, wer ich bin? Ihr habt mich erkannt?"

"Ja."

"Woran?"

"An Deiner Aussprache, an Sin und Sad."

Da ging ein fröhliches Lächeln über sein Gesicht, und er rief aus:

"Wirst Du es glauben, daß Du außer Mutter, Vater und Lehrer der erste bist, der es wagt, von diesem Fehler zu sprechen? O, diese Kriecher, diese Würmer, diese Läuse, Wanzen und Flöhe. Es zuckt einem der Fuß, sie hinabzustoßen, so oft sie kommen, gleich tausend auf einen Tritt!" Er machte eine Fußbewegung, als ob er jemand oder irgend etwas mit dem Fuße in die Tiefe stoße, setzte sich nieder, stopfte sich seine Pfeife von neuem, schob uns den Tabak hin, dasselbe zu tun, und sprach dabei weiter: "Es sollte geheim bleiben, wer ich bin, aber nun Ihr es wißt, mag es so auch richtig sein. Ich will zunächst als Fürst zu Euch sprechen, aber nur kurz; viel länger dann auch als Mensch. Als Fürst betrachte ich Euch als Feinde. Ich weiß, wer Ihr seid. Du bist ein Effendi aus Germanistan und Dein Begleiter ist ein arabischer Scheik, der den Ussul alle Eure Erlebnisse erzählte. Von ihnen erfuhr es der Prinz der Tschoban, der es dann mir hier berichtete. Ihr wißt nun also, warum ich Euch so behandle, wie ich keinen andern Menschen behandelt habe oder später behandeln werde. Wir sind Feinde, aber Männer. Unser Stolz sei, ehrlich zu sein, uns einander nicht zu belügen. Ich bitte Euch darum, mich nur nach Dingen zu fragen, die ich Euch mitteilen darf, sonst bin ich gezwungen, entweder zu schweigen oder unwahr zu sein. Warum seid Ihr gekommen? Seid aufrichtig! Es geschieht Euch nicht mehr, als wenn Ihr lügt. Vor allen Dingen seid Ihr versichert, daß Ihr das Gastrecht meines Hauses und meiner Stadt genießet und erst jenseits der Stadtgrenzen wieder vogelfrei werdet."

"Ich danke Dir!" erwiderte ich. "Ja, laß uns Männer sein und nur die Wahrheit sagen! Wir sind nicht Deine Feinde, sondern nur Deine Freunde, wahrscheinlich sogar die besten und ehrlichsten, die Du hast. Doch, um das zu erkennen, mußt Du besser über uns unterrichtet sein, als der >Palang< Dich unterrichtet hat. Es ist Krieg. Der Dschirbani steht vor der Pforte von Gharbistan, bereit, die Grenze zu überschreiten, sobald er Nachricht von uns bekommt. Ebensowenig, wie ich Dich nach Deinen Kriegsplänen und Deinen Truppen frage, ebensowenig wirst Du mich nach den meinigen fragen. Wir kommen nur wegen der Geiseln zu Dir, wegen weiter niemand und nichts. Wir wollen sie befreien und - - - "

"Ihr zwei?" fragte er da schnell.

"Ja, nur wir zwei", antwortete ich.

"Das sieht Euch ähnlich; beim Himmel, das sieht Euch ähnlich! Und das sagst Du mir so offen?!"

"Warum sollte ich das nicht? Wir sind ja grad aus dem Grunde gekommen, es Dir zu melden und von Dir zu erfahren, was wir wissen müssen, um sie befreien zu können."

Da nahm sein Gesicht einen Ausdruck an, den ich nicht beschreiben kann. Er wußte nicht, ob er mich für maßlos unverschämt und frech oder für ganz wahnsinnig aufrichtig halten (Seite 191A) solle. Daß ich einfach nur psychologisch handelte, war für ihn nicht zu erkennen. Er schlug die Hände zusammen, sah mich wie ein Wunder an und rief:

"Ich soll Euch verraten, was Ihr wissen müßt, um mir meine Gefangenen zu stehlen! Ich selbst, ich selbst! Wer so etwas zu verlangen wagt, der muß - - - - doch, sprich: Was willst Du wissen?"

"Ob die Geiseln noch leben?"

"Sie leben noch."

"Wo sie sich befinden."

"In der Stadt der Geister, die man auch die Stadt des Todes oder der Toten heißt."

"Droht ihnen der Tod?"

"Ja, der sichere."

"Wann?"

"Sobald ihre Truppen die engere Grenze von Ardistan überschreiten. Das ist unabänderlich bestimmt."

"So danke ich Dir! Wir haben weiter keine andere Frage, denn das ist alles, was wir wissen wollen."

"So könnte ich Euch wohl, wenn ich wollte, sofort entlassen, und Euer Zweck wäre damit erreicht?"

"Ja."

Da sprang er wieder auf, lief in der Stube hin und her und staunte:

"Was seid Ihr doch für Menschen! Noch nie habe ich so etwas erlebt! Kaum ist es zu begreifen!"

Er trat wieder zum Fenster und schob den Kopf weit hinaus, als ob er das Bedürfnis fühle, seine Stirn zu kühlen. Dann kehrte er zu uns zurück, setzte sich nieder und entschied:

"Unsere Unterredung als Feinde, Offiziere und Diplomaten ist jetzt zu Ende. Der 'Mir von Ardistan gewährt Euch für morgen eine zweite Audienz, in welcher er Euch Bescheid sagen wird auf das, was wir jetzt sprachen. Und nun wollen wir nur noch Männer und nur noch Menschen sein, weiter nichts. Es ist jetzt, seitdem ich Prinz war und hernach regierte, das erste Mal, daß ich mich frei von Fesseln, frei von Ekel und Verachtung fühle. Meine Seele möchte atmen, möchte wirklich einmal atmen. Gewährt ihr das! Stört sie nicht, die Lebenslust zu trinken, die mit Euch hier hereingekommen ist! Sprecht frei und ohne Sorge! Seid offen und seid ehrlich! Fürchtet den Tyrannen nicht! Ich weiß, daß ich es bin, ein Bedrücker, ein Gewalt- und Schreckensherrscher, anmaßend, hochmütig, erbarmungslos. Aber dieser Despot sitzt nicht hier vor Euch. Der blieb vor Schreck über die vier >tollen Hunde< im Prunkgewande stecken. Und als er sah, daß alle die Schurken und Speichellecker vor den Hunden flohen, ohne daß es einem einzigen von ihnen einfiel, auch nur eine Hand für den Fürsten zu rühren, um ihn vor den giftigen Bissen der Ungetüme zu bewahren, da erschrak er über die unendliche Größe dieses Undankes und dieses Verlassenseins und kroch tiefer und tiefer in die Majestät des Audienzanzuges hinein. Da steckt er noch und wird uns hier nicht stören. Hierher ist nur meine Seele gekommen. Gönnt ihr ein wenig Licht, ein wenig Wärme, daß es ihr möglich wird, auf eine kurze Stunde zu vergessen, daß sie weiter nichts, weiter gar nichts ist, als die verschmachtende innere Sehnsucht eines - - - von Gott zur Nächstenliebe geschaffenen, vom Schicksale aber zur Gewalttätigkeit verurteilten Herrschers!"

Sein Wunsch wurde erfüllt, und zwar unendlich gern. Wir unterhielten uns zunächst wie Männer, die einander kennen lernen wollen, dann wie Menschen, die nach den ersten und letzten Gründen und Zwecken ihres Daseins suchen, nach der Aufgabe, human zu sein und Frieden zu halten, hierauf wie gute Bekannte, die sich bestreben, einander zu veredeln und zu heben, und endlich fast gar wie innerlich Verwandte, die untereinander verpflichtet sind, eines einigen Sinnes zu sein. Der 'Mir war ganz bei der Sache, und er blieb auch dabei, obwohl Stunde um Stunde verrann. Er schien sich wie neugeboren zu fühlen. Er wurde heiter. Er lachte oftmals glücklich auf. Es kam sogar vor, daß er zu uns herübergriff und unsere Hände drückte. Freilich geschah es hier oder da, daß der Herrscher und Gewalthaber plötzlich in ihm rege wurde. Dann schaute er einen Augenblick wie ganz verdutzt um sich und nahm einen Anlauf, uns in unsere Nichtigkeit hinabzuwerfen, stets aber gewann die (Seite 191B) Seele schnell wieder die Oberhand und stellte das in Gefahr geratene Gleichgewicht wieder her.

Einmal während des Gespräches, als der Audienzsaal erwähnt wurde, fragte Halef, was das für viele und kleine Flämmchen seien, die man durch die dünne Stoffwand sehen könne.

"Das ist der Himmel von Bet Lahem, dessen Sterne nach einem alten Gesetze jetzt während der Nacht brennen müssen, um auf den großen, heiligen >Stern des Erlösers< zu warten. Hörtest Du noch nichts hiervon?"

"Nein", antwortete ich.

"Aber die Sage vom zurückgekehrten Flusse kennst Du wohl? Und auch die Behauptung, daß alle hundert Jahre sich das Paradies öffne und daß die Erzengel und Engel über die Erde rufen, ob endlich Friede sei?"

"Ja, das hat man uns bei den Ussul erzählt."

"Das alles ist natürlich weiter nichts als Sage, nur Sage. Aber das Volk glaubt daran und hält es für Wirklichkeit. Man hat diesen Glauben zu respektieren, wenn man nicht wagen will, die Macht über die Gewissen der nur allzu Leichtgläubigen zu verlieren. Da oben in Dschinnistan gibt es natürlich nur feuerspeiende Berge, aber nicht das Paradies. Auch ist weder Gott jemals herabgekommen noch der Fluß wieder zurückgelaufen. Er hat sehr einfach infolge einer geologischen Katastrophe seinen Lauf geändert und fließt nicht mehr diesseits, sondern jenseits der Berge ab. Dadurch wurden die Bewohner von Ardistan gezwungen, ihre damalige Hauptstadt, die jetzige >Stadt der Geister< oder >Stadt des Todes< zu verlassen und sich eine andere Residenz zu bauen. Das taten sie in dieser Gegend, hier, wo zwischen vier kleineren Flüssen, die nicht von dem System des großen Stromes abhängig waren, die damals sehr reichen Christen sich diese Landeskirche gebaut hatten, die ganz natürlich nur zum Fürstensitze dienen mußte. Um dieses Volk nicht allzusehr zu empören, warf man es nicht ganz aus der Kirche hinaus, sondern ließ ihm einen Anteil an ihr, der ein fast ganz ideeller war und die jetzigen Besitzer gar nicht störte. Man knüpfte nämlich an die alten Sagen an und fügte eine Art prophetischen Versprechens hinzu, welches sich selbstverständlich niemals erfüllen wird, weil es kein göttliches ist, obgleich die Christen es für ein göttliches halten. Man sagte nämlich, daß diese Kirche ein Bild der kommenden Erlösung, also des Christentums sei, und daß sich die Weltereignisse in ihrer Mittelkuppel vor ihrem Eintritte bildlich vollziehen würden. Diese Kuppel wurde den Christen gelassen, aber nicht für stets, sondern nur für große Zeiten. Für gewöhnliche Zusammenkünfte haben sie ihre kleinen, mit einem Kreuz bezeichneten Gotteshäuser; aber alle hundert Jahre einmal, wenn die Berge brennen und da oben sich für die Frage nach dem Frieden das Paradies öffnet, muß Bet Lahem gerüstet sein, den Stern des Erlösers zu sehen. Dann dürfen sie allabendlich bis früh die Kirche besuchen. Dann hängen zahlreiche Lämpchen von der hohen Kuppel herab, um das Firmament von Bet Lahem darzustellen, und grad über dem stets tief verhüllten Hochaltar wartet der große Stern des zündenden Funkens, der von der Erde hinaufzusteigen und ihn zu entflammen hat."

"Was für ein Stern ist das? Und was für ein Funke?" erkundigte ich mich.

"Alle die vielen Flammen und Flämmchen können natürlich nur durch Zündschnur angezündet werden. Für den gewöhnlichen Gebrauch führen zwei Schnüre empor, welche von der rechten Seite des Hochaltars aus bedient werden. An seiner linken Seite aber steigt diejenige Schnur in die Höhe, welche bestimmt ist, die Flammen des großen Sternes zu entfachen. In der Mitte aber befindet sich die für den Hochaltar selbst, der, seitdem hier Fürsten wohnen, nie enthüllt worden ist und auch nie enthüllt werden wird. Die Christen aber denken anders. Sie behaupten Folgendes: Wenn die Zeit endlich gekommen ist, daß die Erlösung vom Himmel steigt und Friede auf Erden werden soll, grad dann wird sich alles vereinigen, was den Frieden nicht fördert, sondern unterdrückt. Es wird nicht nur Krieg sein zwischen Ardistan und Dschinnistan. sondern auch zwischen den Staaten von Ardistan untereinander. Darum (Seite 192A) kommt der Friede nicht den Fluß herab, sondern den Fluß herauf, ganz ungeahnt und in fremder, ganz unbekannter, aber christlicher Gestalt. Er hat ein Heer bei sich, keine Art von irdischen Waffen. Aber er verbindet sich mit den Bewohnern der >Stadt der Geister und der Toten< und kommt mit ihnen nach der Residenz gezogen, sie ohne Schuß und Schwert und ohne eine Spur von Blutvergießen zu erobern. Der 'Mir, der um diese Zeit über Ardistan herrscht, wird ein Feind des Christentums sein und es unterdrücken, so viel er nur vermag. Aber er wird gezwungen sein, den Stern, der über Bet Lahem zu erscheinen hat, mit eigener Hand zu entzünden. Sobald er dieses tut, ist der Gang des Kommenden unmöglich aufzuhalten. Er wird zunächst den Hochaltar für immer enthüllen. Sobald er dieses tut, werden die Stimmen der Barmherzigkeit und Güte aus der Höhe des Firmamentes schallen und Himmelstöne, die man im Lande Ardistan noch niemals hörte, werden zu vernehmen sein, laut, wie des Sturmes Brausen, lieblich, wie Engelsworte, und leise, wie die Atemzüge der Seelen, die am Herzen Gottes ruhen."

Er machte jetzt eine kurze Pause und sprach dann mit einer geringschätzigen, wegwerfenden Handbewegung weiter:

"Du siehst, Effendi, daß man diesen törichten Menschen viel versprechen konnte, weil man wußte, daß nichts zu halten war. Man hat in Zeiträumen von hundert Jahren einmal die Lampen und Kerzen für den Hochaltar und für den >Stern von Bet Lahem< vorzubereiten und sich, solange die Berge leuchten, den abendlichen Besuch der Christen gefallen zu lassen; das ist alles. Keinem 'Mir von Ardistan wird es jemals, zumal wenn er das Christentum haßt, einfallen, den >Stern der Erlösung< zu entzünden. Wer soll als >Güte< und >Barmherzigkeit< in der Höhe des Firmamentes singen? Und welcher Mensch soll die Himmelstöne hervorbringen, die man im Lande Ardistan noch niemals zu hören bekam? Auch Du wirst lachen. Oder nicht?"

"Nein", antwortete ich. "Für mich sind Sagen heilig."

"Aber diese Sage wurde fabriziert, absichtlich fabriziert, um die Christen zu betören!"

"Das zu beweisen, würde Dir wohl schwer fallen! Wie nun, wenn die Fabrikanten sich selbst getäuscht haben? Wenn sie unbewußt einem höheren Gebote gehorchten, während sie glaubten, ihren eigenen Absichten dienstbar zu sein? Also, der heilige Raum steht den Christen gegenwärtig offen?"

"Ja, während der ganzen Nacht."

"Und kommen sie?"

"Von weit und breit her! In langen, großen Pilgerzügen! Heute kam ein Zug aus Scharkistan, der große Feier hält."

"Um welche Stunde?"

"Von Mitternacht bis früh. Sie hat also schon begonnen."

"Du weißt, ich bin Christ. Ist es mir als Deinem Gaste erlaubt, dann, wenn Du uns verlassen hast, hinabzugehen, um dem Schlusse dieser Feier beizuwohnen?"

Er schaute mich eine kleine Weile an und lächelte dann wie belustigt. Es schien ihm ein Gedanke zu kommen. Er antwortete:

"Ja, Du bist Christ, leider, leider! Aber ein gebildeter, kein unvernünftiger und blindgläubiger. Dieses Reden und Plärren wird Dich nicht erbauen, sondern Dir ebenso lächerlich vorkommen, wie mir selbst. Ich habe also nichts dagegen, daß Du gehst. Ja, Du kannst es sogar gleich tun, und ich werde Dich begleiten. Ich gehe sehr oft des Abends unbekannt durch die Stadt, den verräterischen Bart unter dem Gewand verbergend. Warum nicht auch einmal in den nächtlichen Gottesdienst der Christen. Ich sah ihn noch nie. Wenn Ihr wollt, so können wir gehen. Wir kehren dann nach hier zurück."

Er stand auf und knüpfte seinen langen, köstlichen Bart unter sein Obergewand. Dann zog er den Zipfel seines Turbantuches hervor und ließ ihn wie einen Halbschleier über Stirn und Augen fallen. Hierdurch wurde er unkenntlich. Wir gingen.

Unser Weg führte uns auch jetzt über mehrere nur ganz spärlich beleuchtete Treppen und Gänge, aber diesesmal bis hinab zur ebenen Erde. Daß wir die Hunde nicht mitnahmen, sollte ich wohl nicht erst erwähnen. Das Hauptportal des hohen, herrlichen Kuppelbaues war geöffnet; wir aber traten durch eine Seitentür herein. Ja, das sah allerdings aus wie ein nächtlicher Himmel, wie ein Firmament. Der Himmel war dunkel (Seite 192B) und die Sterne erschienen sehr klein. Sie standen überhaupt nur an der einen Hälfte der Wölbung; auf der andern Hälfte gab es keinen einzigen. Der betreffende Beamte war wohl ein sparsamer Mann. Er glaubte, das Christentum habe auch am halben Himmel genug und ließ also den andern Teil des Firmamentes dunkel. Darum gab es hier unten in der Tiefe nur eine Art von besserer Dämmerung, die alles, was wir sahen, geheimnisvoll oder schattenhaft erscheinen ließ.

Es waren viele, sogar sehr viele Menschen vorhanden. Es gab welche, die kamen, und welche, die gingen. Andere wandelten leise durch den weiten, weiten Raum; er war ihnen heilig. überall, an allen Orten, knieten welche, die beteten. Die nicht von hier, sondern aus anderen Gegenden waren, standen in Gruppen beisammen und hörten ihre Redner sprechen, deren Worte nur in der Nähe verstanden werden konnten, dann aber nur bloß als Lärm in die Lüfte stiegen. Wir schritten, das alles beobachtend und von Gruppe zu Gruppe stehen bleibend, nach dem Hochaltar, welcher vollständig verhüllt war. Diese Hülle bestand aus einem starken Holzgerüst, worauf man dicke Filzplatten genagelt hatte. Es gab da in Manneshöhe einige Öffnungen, die mich augenblicklich nicht interessierten. Hoch über diesem Altare schwebte irgend etwas, was nicht deutlich zu erkennen war. Vielleicht der >Stern von Bet Lahem<, auf den sich die von dem 'Mir erzählte Sage bezog.

In der Nähe der Stelle, an der wir uns jetzt befanden, standen viele, viele Menschen eng beisammen, um einem Prediger zuzuhören, der von einer Kanzel herab zu ihnen sprach. Ich hörte, daß er die Sage erzählte, aber nicht als Sage, sondern als Weissagung. Er war ein ehrwürdiger alter Priester, der in schöner Begeisterung redete und seine Hörer hinriß. Gern hätte ich ihm länger zugehört, aber der 'Mir, der sich vorgenommen hatte, mir alles zu zeigen, lenkte meine Aufmerksamkeit von ihm ab nach dem dunkeln Teile des weiten Raumes, wo etwas in die Höhe stieg, was ich nicht erkennen konnte.


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