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5. Kapitel.

Weihnacht.

Während wir jetzt nun weiterritten, hörten wir den 'Mir einige Male halblaut vor sich hinlachen. Er war wohl bei guter Laune. Er freute sich über die Art und Weise, in der er den Oberpriester geprüft und dieser die Prüfung bestanden hatte. Er ritt uns um eine ganze Pferdelänge voraus, wohl um anzudeuten, daß er jetzt nicht sprechen wolle, sondern nachzudenken habe. Sein silberweißer Schimmel hatte ein unvergleichliches Kamm- und Schwanzbehänge. Er leuchtete uns förmlich wie ein führendes Märchenroß, dem wir zu folgen hatten, voran. Das ging so, bis die Stadt hinter uns lag. Wie groß sie war, ersahen wir daraus, daß wir trotz des schnellen, lebhaften Schrittes unserer Pferde über eine Stunde brauchten, um von ihrem Mittelpunkte, in dem der Schloßdom lag, an die Peripherie zu gelangen.

Als dies geschehen war und die sich nun vereinzelnden Häuser von der Straße zurückzutreten begannen, wurde es Tag. Der Anblick, den er uns brachte, war ein für meine deutschen Augen sehr erfreulicher. Wir kamen durch ununterbrochene Wein- und Obstgärten, an die sich später ein herrlicher, dichter Tschamwald schloß, der mir die Fiktion, daß ich in der Heimat sei, erleichterte. Der Anblick dieses Waldes war mir um so willkommener, als Tannen in jenen Gegenden äußerst selten sind. Zudem wird der geneigte Leser sehr bald erfahren, welche Rolle sie bei dem uns gestatteten >Fest der Geburt des Erlösers< spielten. Ich sah sie schon jetzt gleich darauf hin an und machte zu Halef die Bemerkung, daß es in meinem Vaterlande niemals ein Weihnacht ohne brennende Tanne gebe. Der 'Mir hörte das und fragte, indem er sich zu uns zurückwendete:

"Niemals ohne brennende Tschambäume? Welches ist der Grund, daß Ihr sie bei diesem Feste verbrennt?"

"Wir verbrennen sie nicht, sondern wir schmücken mit ihnen das Innere der Kirchen und der Häuser. Jedermann kauft sich einen Weihnachtsbaum und stellt ihn in die Stube, um ihn mit Früchten, Engelsfiguren, bunten Sternen und brennenden Lichtern zu schmücken."

"Mit brennenden Lichtern? Aus welchem Grunde? Und wie macht man das?"

Diese Fragen gaben mir sehr willkommene Veranlassung, ihm unser herzliebes, deutsches Weihnachtsfest zu beschreiben und ihn auf die tiefe, sinnbildliche Bedeutung des Weihnachtsbaumes hinzuweisen. Ich sah, daß ihn das packte und erwärmte.

"Hm!" machte er nachdenklich. "Da liebt man sich! Da beschenkt und beschert man sich! Mir hat noch keiner etwas beschert! So lange ich lebe noch nicht!"

"Würdest Du mir gestatten, Dir und den Deinen eine so köstliche Bescherung zu bereiten?"

Da richtete er sich mit einem schnellen, frohen Rucke auf und fragte:

"Kannst Du das?"

"Ja, ich kann es", antwortete ich. "Du brauchst es nur zu gestatten."

"Du sprachst von Mann und Weib, von Eltern und von Kindern, die einander beschenken. Würde das auch bei mir möglich sein?"

"Sehr leicht! Und ich bin überzeugt, daß es Dich unendlich glücklich machen würde. Du brauchst mir nur die Personen zu nennen, die hierbei in Frage kommen."

"Mein Weib und vier Kinder, zwei Söhne und zwei Töchter; außerdem die Mutter meines Weibes. Einen Harem habe ich nicht. Du wirst mir beschreiben, wie ich das zu machen habe, und mir dabei helfen! Wir bringen heut eine Tanne mit heim. Und ich bitte Dich, sie so zu schmücken, wie Ihr es in Dschermanistan tut. Gefällt es mir, so werde ich nicht nur meinem Weibe und meinen Kindern, sondern auch den Dienern und Beamten bescheren, mit denen ich zufrieden bin. Das darf man doch?"

"Gewiß! Je mehr Du Liebe spendest, desto größer kommt sie zu Dir zurück!"

(Seite 201A) Welch ein Glück, dieses Erwachen des Weihnachtsgedankens! Ich begann zu ahnen, daß uns das Fest ein mächtiger Helfer sein und dann auch bleiben werde. Der 'Mir blieb einige Zeit still. Er beschäftigte sich innerlich. Sein Blick schweifte wiederholt wie schätzend und berechnend am Rande des Waldes entlang, an dem wir hinritten, und der so groß war, daß er gar kein Ende zu nehmen schien. Plötzlich nickte er vor sich hin. Er hatte eine Idee. Er ließ seinen Schimmel langsamer gehen, so daß wir an seine Seite gelangten, und fragte mich:

"Woher bekommen in Dschermanistan so viele Menschen so viele Tannenbäume?"

"Sie kaufen sie", antwortete ich.

"Von wem?"

"Von der Regierung und von den übrigen Waldbesitzern."

"Die Regierung, die bin ich! Und andere Waldbesitzer gibt es hier nicht. Meinst Du, daß ich die Tannen verkaufen würde?"

"Warum nicht?"

"Und daß man sie mir bezahlte?"

"Gewiß!"

"Könntest Du mir das besorgen?"

"Wenn Du es wünschest, gern!"

"Hamdulillah! Der Wald hat mir noch niemals etwas eingebracht; jetzt wird er mich bezahlen! Bedenke, die vielen, vielen Tausende von Christen! Und - - und - - - Du sprachst ja auch von Lichtern! Wie viele gehören an einen Baum?"

"Zehn bis zwanzig, oft auch noch mehr."

"Maschallah! Tausende von Bäumen! Und an einem jeden zwanzig Lichter! Das werden ja Hunderttausende! Woher bekommt man die bei Euch in Dschermanistan?"

"Man kauft auch sie."

"Von wem?"

"Von dem, der sie macht."

"Wer aber soll sie hier bei uns machen lassen und verkaufen? Ich glaube, ich! Denkst Du nicht?"

"Ich denke es!"

"Willst Du mir das besorgen?"

"Mit Vergnügen! Nur müßten dazu die nötigen Materialien und auch Arbeiter vorhanden sein!"

"Das wird besorgt! Und, Effendi, Du erwähntest auch Engel, Sterne und andere Dinge, mit denen die Bäume geschmückt werden. Woraus werden diese gemacht?"

"Aus Papier, Holz, Metall und anderen Stoffen. Das ist bei (Seite 201B) uns eine große Industrie für sich. Weil es diese hier aber nicht gibt, so ist es für Euch geraten, sie aus Papier zusammenzukleben und aus Teig zu backen."

"Wie viele Engel und Sterne gehören an einen Baum?"

"Je nach der Wohlhabenheit, zehn, zwanzig, dreißig, fünfzig und wohl auch noch mehr."

"Wunder Gottes! Das werden ja auch Hunderttausende! Ob ich wohl auch die zusammenkleben und backen lassen und dann verkaufen kann?"

"Gewiß! Es ist auf jeden Fall besser, daß diese ganze Produktion sich in einer einzigen, kräftigen Hand befindet, die mehr und Besseres leistet als alle andern ungeübten und unzuverlässigen Leute. Ich freue mich darüber, daß Du Dich für diese Sache interessierst. Du ersiehst hieraus, wie leicht es für einen intelligenten Menschen ist, sich Einnahmequellen zu erschließen, die andern verborgen bleiben. Solche kluge Leute bezeichnet man bei uns als Finanzgenies."

"Finanzgenie!" lächelte er geschmeichelt.

"Die Hauptsache (Seite 202A) ist, daß Du genau weißt, wie man solche Engel bäckt und solche Sterne leimt!"

"Ich weiß es."

"Und willst Du mir auch das besorgen?"

"Ja. Doch stelle ich die Bedingung, daß ich in allem freie Hand behalte und auch die Preise zu bestimmen habe!"

"Das versteht sich ganz von selbst! Du bist nicht nur ein wohlwollender, sondern auch ein kluger Mann und wirst ebenso auf meinen eigenen Vorteil wie auf den der Käufer sehen. Ich ernenne Dich zu meinem Weihnachtsengel und - - -"

"Mich auch!" bat Halef, ihn mit lachendem Gesicht unterbrechend.

"Ja, auch Dich!" nickte der 'Mir. "Ich ernenne Dich zum Kommandanten der Engelschar, die in allen Straßen der Stadt und ihrer Umgebung einen Probebaum herumzuzeigen und den Leuten zu verkündigen hat, daß Weihnacht kommen soll."

"So müssen wir heut nicht nur einen Baum, sondern mehrere mit heimnehmen, die sofort zu schmücken sind, damit kein Tag der Vorbereitung unbenützt vorübergeht!"

"So viele Du willst. Meine Ussul werden Dir dabei behilflich sein."

"Deine Ussul? Welche?"

"Das fragst Du mich? Ihr seid doch bei Amihn, dem Scheik der Ussul, gewesen und habt von ihm gewiß erfahren, daß ich eine ganz besondere, persönliche Leibgarde habe, die aus fünfhundert der riesigsten Ussul besteht. Dem Obersten an ihrer Spitze waren zwei Söhne Amihns und Taldschas beigesellt. Als ich dem 'Mir von Dschinnistan den Krieg erklärte, weigerten sich diese drei, nämlich der Oberst und die Prinzen, mir zu gehorchen, weil ihr Vater mit dem Herrscher von Dschinnistan befreundet sei und niemals gegen ihn kämpfen werde. Da habe ich sie, nämlich diese drei, nach der >Stadt der Toten< geschickt, damit sie sich dort entweder eines Bessern besinnen oder sterben. Die fünfhundert aber habe ich von mir entfernt und aus der Stadt verbannt. Sie hausen in alten Gebäuden, die aus der Zeit meiner Urväter stammen und als Strafkasernen benutzt worden sind. Zu ihnen reiten wir jetzt. Sie haben sich allezeit als treu erwiesen. Die Wache aber, die ich an ihre Stelle setzte, hat mich heut töten wollen. Wie werden sich die Verbannten freuen, von mir in eigener Person abgeholt und zur Stadt zurückgeführt zu werden! Indem ich ihnen die Bewachung des Schlosses wieder anvertraue, erreiche ich zwei Absichten zu gleicher Zeit, nämlich ich mache gut, was falsch und unklug war und ersetze die Mörder durch ehrliche Leute, auf die ich mich verlassen kann. Ich habe den Basch Islami laufen lassen und darf also auch nach keinem mit ihm Einverstandenen fassen; aber Du wirst sehen, wie schnell die Verschworenen aus der Hauptstadt verschwinden. Wenn sie es nicht selbst tun, so helfe ich nach. Die Rückkehr der Ussul an die Stelle der jetzigen Wache wird ihnen Wink und Warnung sein."

"Und der Oberst der Ussul? Und die beiden Prinzen?" fragte ich.

Da hielt er sein Pferd an und rief aus:

"Ja, diese, diese! Maschallah! Das habe ich mir noch gar nicht klar gemacht! Wenn ich meine Leibwache zurückhole, kann ich doch ihre obersten Gebieter, die mir gar nichts getan haben, unmöglich ins - - -"

Er hielt mitten im Satze inne, machte ein Gesicht, welches keineswegs geistreich war, schüttelte den Kopf und fuhr dann fort:

"Was ist denn das mit Euch beiden? Ihr schlagt und besiegt mich doch auf Schritt und Tritt? Und das Sonderbarste ist, daß Ihr gar nichts dabei tut, sondern daß ich gezwungen bin, Euch selbst entgegenzukommen! Erst mußte ich Euch verraten, daß diese Gefangenen überhaupt noch leben. Dann sagtet Ihr mir offen, daß Ihr gehen würdet, sie zu befreien. Und nun erweist sich das als gar nicht nötig, weil ich sie selbst befreien muß; ich kann ja gar nicht anders! Es gibt hier eine Macht, die ich nicht kenne. Sie steht an Eurer Seite, und ich habe das Gefühl, daß sie sich auch an die meinige stellen wird, sobald ich mich entschließe, in Eurem Sinne zu handeln."

Als er das sagte, tauchte über dem dunkeln Streifen des Waldes die neugeborene Sonne auf und lachte uns strahlend (Seite 202B) in die Augen. Das war ein ganz alltäglicher Naturvorgang, von dem sich der 'Mir aber heut tief ergriffen fühlte. Kaum hatte die Flut des Lichtes ihn getroffen, so warf er den Arm in die Luft und rief:

"Und ich werde mich entschließen! Ich tue es! Die Sonne will es haben! Sie ist heraufgekommen, es mir zu sagen! Vorwärts, vorwärts, mag daraus werden, was da will!"

Er gab seinem Schimmel die Sporen und stürmte im Galopp weiter. Wir folgten ihm. Unser Weg führte genau dem Aufgange zu, und so war es, als ob wir die Absicht hätten, mitten in all die Sonnen-, Licht- und Farbenpracht hineinzureiten und in ihr zu verschwinden. War dieser Mir von Ardistan wirklich ein Tyrann, ein Wüterich? Oder war er nur das letzte Glied einer Kette von Despoten, welches ebenso hart wie seine Vorgänger zu erscheinen hatte, obgleich es aus edlerem und weicherem Metall bestand als sie?

Wir sahen bald, daß er stolz auf die Schönheit und Güte seines Pferdes war. Er wollte uns zeigen, was es leistete. Er steigerte den Galopp zur Karriere. Halef hatte große Lust, ihm zu beweisen, daß es uns leicht sei, ihn zu überholen, doch verbot ich ihm das. Der Mann fühlte sich schon in so vielen Stücken übertrumpft; er sollte nicht auch noch in Beziehung auf sein Pferd gekränkt und übertroffen werden. Es war genug, daß wir ihm den Vorrang ließen, ohne grad weit zurückzubleiben. Wir kamen dadurch sehr rasch vorwärts, und es dauerte nicht lange, so sahen wir, an drei Seiten vom nahen Wald und auf der vierten von einem großen, offenen Reit- und Übungsplatz umgeben, den alten, mehr als ehrwürdigen Gebäudekomplex liegen, den er als >Strafkaserne< bezeichnet hatte. Er bestand aus niedrigen Mannschaftshäusern und Ställen. Ledige Pferde tummelten sich rundum. Es waren echte Ussulpferde, ganz von der Gestalt und Größe des Urgaules Smihk, meines besonderen Busenfreundes. Auch die Leute waren im Freien zu sehen vor den Häusern. Sie beschäftigten sich, wie wir sahen, mit der Zubereitung ihres Morgentrankes. Unser Kommen erregte ungewöhnliches Aufsehen, obwohl die Entfernung zwischen uns und ihnen, als sie uns bemerkten, wenigstens zweihundert Pferdelängen betrug. Es war ihnen also nicht möglich, die Züge des 'Mir zu erkennen; aber sie kannten seinen Schimmel. Ein solcher persönlicher Besuch des Beherrschers war noch nie dagewesen, war unerhört. Man ließ alles stehen und liegen und rannte zu den Waffen und Pferden. Glücklicherweise war bei dieser Truppe das Verhältnis der Offiziere zu den Soldaten ein durchaus patriarchalisches. Die ersteren bildeten die Väter, die letzteren die Kinder; sie gehörten zusammen. So befanden sich auch jetzt die Vorgesetzten bei den Untergebenen und brauchten nicht erst geholt zu werden. Zudem war der 'Mir rücksichtsvoll und ritt jetzt langsamen Schritt. Dadurch bekam die Truppe Zeit, sich zu sammeln und aufzustellen. Als wir den Platz vor den Gebäuden erreichten, hielten sie, zehn Glieder hoch und die Offiziere voran, in regelrechter Front auf ihren Pferden und boten einen martialischen Anblick, der, wenigstens für mich, eine Wonne war. Ich mußte, indem ich die fünfhundert gewaltigen, zum Himmel ragenden Spieße sah, an Goliath, den Philister, denken, von dem die Bibel erzählt, daß der seinige so stark wie ein Weberbaum gewesen sei.

"Oh, Sihdi, wenn ich ihnen jetzt eine Rede halten könnte! Was würde ich ihnen alles sagen!" raunte mir mein kleiner Halef zu, dessen Sprachseligkeit sich bei diesem Anblicke ganz gewaltig regte.

Aber der 'Mir war es, der da sprach, wenn auch in ganz kurzer, befehlender Weise. Er sagte, daß er gekommen sei, den Morgenkaffee mit ihnen zu trinken und sie nach der Stadt zurückzuholen. Er gebot ihnen, abzusteigen und sich wieder an ihre Kochtöpfe zu begeben. War das ein Jubel nun!

Einige Minuten später saßen wir beide mit dem 'Mir, einem alten Major und zwei Kapitänen auf einem wenigstens ebenso alten, schnell herbeigeholten Zeltteppich, ein jeder einen schweren, tönernen Napf in der Hand, aus dem das, was man Kaffee nannte, nach allem Möglichen, nur nicht nach Kaffee duftete. Es schmeckte aber; es schmeckte sogar dem 'Mir, der sich in einer Stimmung befand, über die er sich wohl selbst am meisten wunderte. Er strahlte am ganzen Gesicht und sah dabei (Seite 203A) doch zuweilen aus, als ob er über sich selbst und seine Leutseligkeit erstaune.

Er gab die nötigen Befehle zu dem Ritte nach der Stadt, was man alles mitzunehmen habe und was nicht. Als er dabei auch auf die Tannenbäume zu sprechen kam, bat ich, in den Wald gehen zu dürfen, um die, welche mir gefielen, zu bezeichnen. Da sprang er auf und sagte, daß er selbst mitgehen werde, und zwar gleich. Die Offiziere schlossen sich an. Während wir nach hübsch gewachsenen, passenden Exemplaren suchten, machte ich dem 'Mir einen Anschlag, wie viele ich wohl brauche, große und kleine. Wir hatten auszustellen, und zwar an verschiedenen Orten, damit die Bevölkerung so schnell wie möglich unterrichtet werde, was wir meinten und wie wir es uns dachten. Da machte er kurzen Prozeß und sagte:

"Warum so einzeln zählen? Ard ist groß, und was wir heut nicht brauchen, das brauchen wir morgen. Nehmen wir hundert Bäume mit! Wir haben ja Zeit und Menschen genug, sie zu fällen."

Das geschah. Es dauerte nicht lange, so hatte ich mit dem Säbel des Majors hundert Stück gezeichnet, und das Umschlagen, Köpfen und Zurichten konnte beginnen. Ich lehrte die Ussul, Seile aus langen grünen Zweigen zu drehen, mit denen die Äste eng an den Stamm gezogen wurden, um leicht transportiert werden zu können. Während ein Teil der Leibwache mit dieser Arbeit beschäftigt war, nahm Halef sich die anderen vor. Sie mußten sich, wohl an die dreihundert Personen, wie Schulkinder eng nebeneinander niedersetzen, und er stellte sich vor sie hin und hielt ihnen einen Vortrag über das für sie allerdings hochinteressante Thema, wann, wo und wie wir ihre Verwandten in der Heimat kennen gelernt hatten und was seitdem mit ihnen und uns geschehen war. In dieser Weise erfüllte er sich selbst seinen Wunsch, zu diesen Leuten einmal reden zu können. Er tat es in der ihm eigenen, hinreißenden, mit Komik gewürzten Weise, so daß seine Zuhörer gar nicht dazukamen, ein Auge von ihm zu verwenden. Er ließ sich auch nicht im geringsten stören, als wir mit dem 'Mir aus dem Walde zurückkehrten und uns hinstellten, um ihm zuzuhören. Doch nahm er sich da nun wohl mehr in acht, als vorher und erreichte dadurch einen Erfolg, dem sich selbst der 'Mir nicht entziehen konnte, denn dieser sagte zu mir, als der Kleine geendet hatte und die Ussul ihm ihren Dank und ihre Anerkennung zujubelten:

"Dieser Dein Hadschi Halef Omar ist ein außerordentlich kluger und brauchbarer Mann! Ein vortrefflicher, guter Mensch! Man muß ihn lieb haben! Ich wollte, er wäre mein Freund, in ganz derselben aufrichtigen Weise, wie er der Deinige ist!"

"Das brauchst Du Dir gar nicht erst zu wünschen, denn es ist Dir schon erfüllt" antwortete ich ihm. "Er ist Dein Freund. Du brauchst es nur zu glauben und Vertrauen zu ihm zu haben!"

Er sage nichts hierzu, schaute mir prüfend in das Gesicht, drückte mir die Hand und wendete sich dann an die Offiziere, um ihnen zu sagen, daß es Zeit zum Aufbruche sei. Dies galt nur den Reitern; die Bagage hatte nachzukommen. Zu dieser aber gehörten die Weihnachtsbäume nicht. Sie wurden gleich mitgenommen. Dies geschah in der Weise, daß man die Lanze am Stamme des zusammengebundenen Bäumchens hinaufschob und sie dann unten, ganz wie gewöhnlich, in den Lanzenschuh des Steigbügels setzte. Das Bäumchen wurde dann, genauso wie sonst die Lanze, mit der einen Hand in der Mitte gehalten, während die andere die Zügel führte. So setzten wir uns denn, eine Art >Wald von Dunsinan< mit uns führend, in Bewegung, voran wir mit dem 'Mir, dann die Offiziere und hierauf die Truppe. Wir machten die Bemerkung, daß die hiesigen Ussul bei weitem nicht so behaart waren wie die in ihrer Heimat. Das lange Haar war kürzer geworden und hatte sich einfach in Bart verwandelt, der nicht nur die Stirn frei ließ, sondern oft auch den oberen Teil der Wangen. Als ich mich später hierüber erkundigte, wurde mir von den Betreffenden selbst gesagt, daß sich die Behaarung in der Fremde nach und nach verliere, und zwar um so schneller, sicherer und gründlicher, je mehr Intelligenz diese Fremde vom Menschen verlange.

Als wir die Stadt erreichten, erregte unser Zug ein ganz ungewöhnliches Aufsehen. Man erkannte den 'Mir trotz der (Seite 203B) Einfachheit seines Anzuges. Man wußte, daß er die Ussulgarde verbannt hatte. Nun brachte er sie persönlich zurück. Es verstand sich ganz von selbst, daß man hieraus auf wichtige Ereignisse schloß, zumal man zwei ganz fremde Menschen neben ihm reiten sah. Die Wißbegierde wurde erregt und pflanzte sich schnell weiter, von Straße zu Straße, durch die ganze Stadt und noch weit über sie hinaus.

Als wir das Schloß erreichten, wurden zunächst die hundert Bäume in einem Hofe desselben untergebracht. Dann wurde die bisherige Schloßwache abgelöst und ihre in der Nähe liegende Kaserne umringt. Dieses ganze, unzuverlässige Korps mußte die Munition abliefern und hinaus nach der Strafkaserne marschieren, um dort an Stelle der Ussul interniert zu werden. Überhaupt wurde dieser Tage alles Militär, dem nicht zu trauen war, also besonders die bigottmohammedanischen und die Lamatruppen aus der Stadt entfernt. Ich nahm mir nicht die Zeit, mich um diese Maßnahmen zu bekümmern, weil ich mit den Vorbereitungen zum Christfest mehr als genug zu tun hatte. Diese militärischen und diplomatischen Bewegungen hatten nur rein äußerliche Zwecke und Ziele. Wir aber, Halef und ich, standen vor der Aufgabe, die schlafende Volksseele aufzuwecken und in ihr die größte, die herrlichste und wichtigste Bewegung zu erzeugen, die es im Leben der Völker und des einzelnen gibt, nämlich die Bewegung zu Gott empor, die in der Tiefe der Seele beginnt, um nach den ewigen Höhen des Himmels zu steigen. Und ich gestehe aufrichtig, daß mir diese unsere Aufgabe wichtiger erschien als jede andere, obgleich sie mich zunächst zu Dingen und zu Arbeiten zwang, welche man daheim fast nur den Kindern und kindlichen Gemütern anvertraut. So unwichtig diese Sachen zu sein scheinen, ich muß doch über sie berichten und schicke da vor allen Dingen die Bemerkung voraus, daß Ard eine große Stadt mit Hunderttausenden von Einwohnern ist, die nicht etwa nur die niederen Beschäftigungen, sondern auch alle möglichen orientalischen Wissenschaften, Künste und Gewerbe treiben. Die Stadt ist der Mittelpunkt eines weit ausgedehnten Handels. Es gibt da eine mohammedanische, eine buddhistische und eine konfuzianische Universität und eine Menge Schulen für den gewöhnlichen Mann. Daraus folgt, daß es hier keineswegs für mich unmöglich war, alles das zu finden, was ich zur Erreichung meiner Zwecke brauchte, wenn ich auch zugeben muß, daß mir das nicht so bequem lag wie daheim.

Zunächst erwähne ich, daß wir unsere zwei kleinen Zimmer nicht wieder bekamen. Es wurde uns eine Reihe sehr bequemer, prächtiger Räume angewiesen, die unmittelbar an die Wohnung des 'Mir stießen. Auch unsere Pferde wurden in dementsprechender Weise anders untergebracht. Das war ein gutes Zeichen. Hierbei erfuhr ich, daß der >Panther< die Zimmer bewohnt hatte, die ich jetzt bekam. Er hatte sie ganz plötzlich und unvorbereitet verlassen müssen, und zwar schon in der vergangenen Nacht. Als der 'Mir uns verließ, um zum Ritte nach der Strafkaserne satteln zu lassen, war er mit Halefs Hunden direkt zum >Panther< gegangen, um ihn über die geplante Verschwörung zu unterrichten und ihm den Befehl zu erteilen, sofort zu den gegen den 'Mir von Dschinnistan marschierenden Truppen aufzubrechen und den Oberbefehl über sie zu übernehmen, weil der jetzige General ein leidenschaftlicher Mohammedaner und also nun verdächtig war. In echt orientalischer Weise wurde dem >Panther< keine Zeit gegeben, sich auf diese Reise vorzubereiten. Er hatte sich nur schnell umzukleiden und binnen zehn Minuten im Sattel zu sitzen. Was er brauchte, wurde ihm nachgeschickt. Der 'Mir führte ihn selbst in den Stall, wo er ja ohnedies seinen Schimmel für sich satteln zu lassen hatte, und sah ihn dann mit eigenen Augen auf das Pferd steigen und fortreiten. Er selbst erzählte es mir, und als ich ihn fragte "Warum so schnell?" antwortete er:

"Wenn es sich um meinen Thron und um mein Leben handelt, gibt es keine Zeit, die Ausführung meiner Befehle aufzuschieben! Habe ich Unrecht getan? Du scheinst den >Panther< nicht zu lieben!"

Ich antwortete nur:

"Du tatest recht. Nun handelt es sich nur darum, ob auch er das Richtige tut!"

(Seite 204A) Um diesem nicht ganz ungefährlichen Gespräch eine andere Richtung zu geben, trug ich nun dem 'Mir die Wünsche vor, die ich in Beziehung auf die Vorbereitung zum Weihnachtsfest hatte. Sie wurden mir alle erfüllt. Ich bekam mehrere Parterreräume angewiesen, in denen wir unser >Weihnachtsbureau< aufschlugen. Schreiber und Arbeiter wurden uns zur Verfügung gestellt, vor allen Dingen auch Zimmerleute zur Herstellung der >Füße< für die Tannen. Händler kamen, um Proben von Pappe und Papier vorzulegen. Ein alter, orientalischer Goldschlägermeister wurde mit zwei Gesellen engagiert. Bekanntlich ist die Goldschlägerkunst eine echt orientalische Kunst. Schon die alten Ägypter hatten es darin zu großer Vollkommenheit gebracht. In diesem unserem Falle handelte es sich selbstverständlich nur um billiges Blattmetall aus Messing und Tombakblech. Ein Drechsler bekam den Auftrag, Lichterdillen aus Holz zu drehen. Bei einem Schlosser wurden sie aus Draht bestellt. Einige Bäcker und Konditor mußten verschiedene Probeteige packen. In einer Klempnerwerkstatt wurden dünne Blechformen in Auftrag gegeben, um Engel, Sterne und verschiedene andere Figuren in Teig auszustechen. Ein Farbenhändler wurde angewiesen, diese Figuren anzumalen resp. mit Gold- und Silbertupfen zu versehen. Kurz, es gab Arbeit über Arbeit.

Als punkt drei Uhr der alte, liebe, so leicht zu begeisternde Basch Nasrani kam, um sich bei uns zu bedanken, fand er uns in allergrößter geschäftlicher Tätigkeit. Er kannte die hiesigen Verhältnisse genau und war geradezu entzückt, als er hörte, um was es sich handelte. Er schaute sofort in die Zukunft. Er jubelte. Er weissagte, daß aus dieser so primitiv beginnenden Weihnachtsarbeit sich für die hiesigen Christen eine Zukunft entwickeln werde, die wohl imstande sei, alles, was die Vergangenheit an Druck und Leid gebracht habe, wieder auszugleichen. Nur müsse man sofort und kräftig zufassen und keinen Vorteil, der sich biete, wieder aus den Händen geben. Er bat um die Erlaubnis, sich an unserer Arbeit beteiligen zu dürfen, und ich gab sie ihm mit Freuden. Er kannte so viele Menschen und wußte für alle Fälle die beste Auskunft und den besten Rat. Erst durch ihn kam die nötige Klarheit und Übersicht in das, was wir erst berechneten und dann taten.

Die Hauptsache für heut war die Anfertigung des allerersten Weihnachtsbaumes, also sozusagen des Modellbaumes, der dem 'Mir gezeigt werden sollte. Wenn dieser ihm gefiel, so hatten wir gewonnen. Ich machte mich also so zeitig wie möglich an die Herstellung, die oben in der Wohnung des 'Mir vor sich gehen sollte. Es wurde mir hierzu ein sehr geräumiges Zimmer angewiesen, und ich bat, bis ich fertig sei, ja nicht gestört zu werden. Das wurde mir zugesagt. Ich beschloß, drei Bäume zu schmücken, einen großen und zwei kleine. Die Lichter kaufte ich von einem Mumedschy, der in der Nähe des Schlosses seinen Laden hatte. Als ich ihm sagte, daß ich, falls sie gut seien, ihm die Anfertigung vieler Tausender übergeben werde, bekam ich sie umsonst. Nun wurden Früchte vergoldet, Sterne und Beutel und andere Dinge aus buntem Papier geschnitten, Girlanden aus weißen, roten und blauen Fäden geflochten. Die fürstliche Küche hatte mehrere riesige Nudelteige zu liefern, aus denen ich Sonnen, Monde, Sterne, Engel, Drachen und allerlei andere Gebilde aus der Tertiärzeit der menschlichen Phantasie schnitt. Als diese teils schönen, teils schaurigen Sachen über Feuer hart gebacken waren, bekamen Halef und der Oberpriester die Pinsel in die Hand, um sie nach Kräften zu bemalen. Sie taten das, wie ich gleich voraussagen will, nicht nur zur allgemeinen Zufriedenheit, sondern sogar zur lauten Bewunderung von der Seite des 'Mir und seiner Familie. Ich aber wickelte mir inzwischen mit der rechten Hand sehr fleißig Draht um den linken Daumen, um die achtzig Dillen herzustellen, die nötig waren. Der Abend hatte sich (Seite 204B) schon längst eingestellt, als wir diese Vorbereitungen vollendeten. Die Sachen brauchten bloß noch an die Bäume gehangen werden. Ich zeigte dem Hadschi und dem Basch Nasrani, wie das zu machen sei, und ließ auch noch einen Diener kommen, uns zu helfen. Diese Beschleunigung war nämlich geboten, denn der 'Mir ließ mir sagen, daß seine Kinder absolut nicht mehr warten wollten, die Schagarat el Muhallis zu sehen. Jedenfalls aber war er selbst der alte, große Junge, der nicht länger warten konnte!

Der große Baum wurde in die Mitte der einen Wand gestellt, ihm zu beiden Seiten die kleineren. Indem ich den hierzu nötigen Raum mit den Augen abmaß, sah ich in der einen Ecke ein hölzernes Möbel stehen, dessen Form keine hier gewöhnliche war. Ich fragte den Diener, was es sei.

"Eine Musik", antwortete er.

"Was für eine Musik?"

"Ich weiß es nicht, und niemand weiß es. Es sind weiße und schwarze Tasten; aber man kann darauf drücken, so sehr man will, es ist nichts zu hören. Der Emir von Bochara hat sie unserm 'Mir geschenkt; aber noch kein Mensch hörte sie singen. Sie ist stumm!"

Ich öffnete. Es war eine alte, sogenannte Realharmonika aus früherer Zeit. Man hatte nur auf die Tasten gedrückt, die Tritte unten aber nicht beachtet. Darum war sie >stumm<, aber auch unverletzt geblieben. Als ich probierte, versagte kein Ton. Wie mir das zustatten kam, gerade jetzt, unter Weihnachtsbäumen! Der Diener schrie vor Überraschung laut auf, als die schönen, klaren Zungenstimmen erklangen. Zugleich erschien ein anderer Diener, um uns zu sagen, daß die Herrschaft uns nur noch einige kurze Minuten Zeit gebe; die Kinder könnten sich unmöglich länger gedulden! Da wurden schnell die Lichter in Brand gesteckt und die >Musik< vor den großen Baum gerückt. Durch mehrere übereinandergelegte Kissen bereitete ich mir den zum Spielen nötigen Sitz; dann sagte ich den beiden Dienern, daß die Herrschaft kommen könne. Halef und der Oberpriester zogen sich bescheiden in je eine Ecke zurück. Und da hörte ich auch schon die Schritte des 'Mir, der in seiner Ungeduld seiner Frau und seinen Kindern voraneilte.

Sobald er eintrat, ließ ich ein kurzes Vorspiel erklingen und begann dann, unser altes Weihnachtslied zu singen: "O Du fröhliche, o Du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit!" Ich bin kein Sänger und habe auch nur eine ganz gewöhnliche Baritonstimme; aber die Wirkung war trotzdem eine ganz ungewöhnliche. Man kennt den Einfluß unserer deutschen Lieder selbst auf Leute, welche die deutsche Sprache nicht verstehen. Er bewährte sich auch hier. Der 'Mir war zunächst darüber sehr erstaunt, daß seine bisher stumme >Musik< jetzt plötzlich >singen< konnte. Sodann wirkte der lichtstrahlende und reichbehangene Baum auf ihn. Vielleicht war es in seinem Leben der erste poetische Anblick, der sich ihm bot und dessen Hauch er tief in seinem Innern spürte. Und sodann das Lied, dessen Worte er zwar nicht verstand, dessen Seele aber zu seiner eigenen Seele sprach. Kaum hatte er nur einen Augenblick gehört und gesehen, so drehte er sich unter der Türe zurück und winkte. Da folgte ihm zunächst seine Frau. Sie war unverschleiert und ebenso einfach gekleidet wie er. Ihr ernstes, außerordentlich sympathisches Gesicht besaß keinen einzigen Zug, der von Glück erzählen konnte. Sie blieb unter der Türe stehen. Ihre Augen wurden groß und immer größer. Ihre bleichen Wangen röteten sich. Ihre Stirne schien breiter und höher zu werden und leuchten zu wollen wie in Strahlen stehendes Elfenbein. Sie trat einen Schritt näher, noch einen und noch einen und sank dann, obgleich ihr Gesicht hoch erhoben blieb, langsam auf die Knie nieder und faltete, als ob sie beten müsse, die Hände.

Und da kamen auch die Kinder. Erst zwei Stück und dann wieder zwei Stück, je ein Knabe und ein Mädchen, die (Seite 205A) einander führten. Allerliebste Buben und Mädchen! Der Älteste vielleicht neun und die Jüngste vier Jahre alt. Als sie die Mutter knien sahen, knieten auch sie nieder, je zwei und zwei zu ihrer Rechten und Linken. Aber ihre Augen strahlten vor Erstaunen und vor Glück, und ihre Mäulchen sperrten sich immer weiter und weiter auf. Da war ich mit dem ersten Liede fertig, spielte einen Übergang zur anderen Melodie und sang dann >Stille Nacht, heilige Nacht<. Das schien noch besser zu wirken als das erste. Besonders die Tonfolge und Wiederholung >schlafe in himmlischer Ruh< riß die Kinder hin. Schon bei der zweiten Strophe begann der kleinere, drollige Knabe mitzusingen, natürlich nur auf trallerala. Und bei der dritten Strophe fielen auch der größere Knabe und das größere Mädchen ein. Das kleinste Dirndel aber wartete fein, bis ich fertig war, sprang dann auf, kam zu mir hin und sagte:

"Du, Fremder, wem gehören denn diese Bäume? Sind sie alle Dir?"

Da erhob ich mich von meinem Sitze und antwortete:

"Sie gehören nicht mir, sondern Euch. Den großen da schenkt Euch der Vater, und die beiden kleinen habt Ihr von der Mutter bekommen."

"Ist das aber auch wahr?"

"Ja, gewiß!"

Nun erhob sich großer Jubel. Die Buben eilten zur Mutter, um sich bei ihr zu bedanken, und die Dirndeln kletterten an dem Vater in die Höhe, was diesem wohl noch nie geschehen war. Er half ihnen dabei, bis er beide auf den Armen hatte und sie an das Herz drücken konnte. Ich aber schlich mich hinaus und gab Halef und dem Oberpriester einen Wink, mir zu folgen. Wir gingen nach meiner Wohnung.

Dort half mir der Basch Nasrani bei einem Kostenanschlag für den 'Mir, um nachzuweisen, wieviel Anlagekapital die Festproduktion erforderte und auf wieviel Gewinn man rechnen konnte. Wir kamen dabei sogar auf eine Festschrift zu sprechen, für welche der 'Mir zu begeistern war. Sie wirkte jedenfalls nachhaltiger als eine vorübergehende Predigt, und da der Oberpriester die Festrede im Dom zu halten hatte, wünschte ich sehr, daß er auch diese Schrift verfasse, und er ging darauf ein. Sie sollte den Titel >Der Stern von Bet Lahem< führen und von der Holztypographie der mohammedanischen Universität gedruckt werden. In dieser Typographie arbeitete nämlich der einzige Holzschneider, den es in Ard gab, und da der Festschrift das Bild eines brennenden Weihnachtsbaumes mitgegeben werden sollte, so wünschten wir, daß sie an dieser Stelle gedruckt und ausgestattet werde. Es war zwar im höchsten Grade fraglich, ob diese Mohammedaner sich herbei lassen würden, ein christliches Werk zu drucken, doch rechneten wir auf ein Machtwort des 'Mir, mit dem ich hierüber noch extra zu sprechen hatte.

Er suchte uns noch im Laufe des Abends auf, als der Oberpriester nicht mehr bei uns war. Er zeigte sich wie umgewandelt. Wahrscheinlich hatte er heute zum ersten Male gesehen und erfahren, wie richtig es im deutschen Liede heißt: "Ein braves Weib, ein herzig Kind, das ist mein Himmel auf der Erde!" Ich teilte ihm mit, daß der Basch Nasrani den Besuch von Hunderttausenden aus Ardistan, Gharbistan und Scharkistan erwartete. Er behauptete, ganz derselben Meinung zu sein. Da legte ich ihm unseren Kostenüberschlag vor. Da staunte er nun freilich über die Größe dieser Summen und über die Höhe des Gewinnes. Das enthusiasmierte ihn noch mehr, als er es so schon war. Dann legte ich ihm die Berechnung vor, die sich auf die Herausgabe und die Einträglichkeit der Festschrift bezog, und seine Verwunderung wuchs noch mehr.

"Das wird gemacht; das wird gemacht!" rief er aus. "Der Basch Nasrani mag sofort beginnen, zu schreiben!"

"Die mohammedanische Universität wird sich wohl aber weigern, etwas zu drucken, was der Oberpriester der Christen geschrieben hat", bemerkte ich.

"Sie muß!" sagte er. "Sie muß! Der Titel wird lauten: >Der Stern von Bet Lahem, verfaßt vom Mir von Ardistan<. Verstanden? Ich bin also der Verfasser und der Verleger. Wer will es wagen, das, was ich schreibe, nicht zu drucken? Bring mir das Manuskript. In der nächsten Minute wird mein Name darunterstehen. Fertig!"

(Seite 205B) Das war ja viel, viel mehr, als wir erwartet hatten! Ich will in diesem Falle den Ereignissen vorgreifen und schon jetzt berichten, daß er wirklich seine Unterschrift gab, daß die Schrift unter seinem Namen gedruckt wurde und daß sie unzählige Käufer fand und wahrscheinlich auch heut noch findet. An diesem Abende gab es, als ich mich schon niedergelegt hatte, noch ein Ereignis, welches ich nicht übergehen kann. Aacht und Uucht hatten sich vor meinem Lager ausgestreckt. Kein Licht brannte mehr. Ich war im Einschlafen. Da taten beide Hunde zu gleicher Zeit einen Satz nach der Türe zum Nebenzimmer. Ein unterdrückter Schrei erscholl; dann war es wieder still. Ich stand auf und machte Licht. Da lag ein Mann, der sich hatte hereinschleichen wollen. Die schweren Körper der Tiere lasteten auf ihm. Sie hatten ihn nur niedergerissen und festgehalten, ihm aber sonst nichts getan. Als ich ihm in das Gesicht leuchtete. war es - - - der >Panther<. Ich befahl ihm, aufzustehen. Er tat es. Da zogen sich die Hunde nach der Türe zurück, um diese zu bewachen. Er konnte nicht fliehen. Sein Blick schweifte auf den Teppich nieder, als habe er etwas verloren. Dann sah er mir mit dem Ausdrucke des grimmigsten Hasses in das Gesicht und sagte in verächtlichem Tone:

"Natürlich wirst Du es sofort dem 'Mir verraten!"

"O nein!" antwortete ich. "Wenn ich von jemandem spreche, muß er es wert sein; das bist Du aber nicht. Ich denke an Deinen Vater und Deinen Bruder, denen ich die Schande nicht gönne, die Du ihnen bereitest. Du kannst Dich frei entfernen. Ich werde Dich sogar bis vor das Tor begleiten, damit Dich nicht etwa ein anderer ergreift, während ich Dich entwischen lasse. Aber das sage ich Dir: Sehe ich Dich nochmals hier in der Stadt, während der 'Mir Dich fern bei dem Heere glaubt, so höre ich auf, zu schweigen. Tritt in das Vorzimmer und warte!"

Er gehorchte. Die Hunde gingen mit ihm hinaus und ließen ihn nicht weiter. Ich zog mich vollends an und schaute dabei schief gegen das Licht nach der Stelle des Fußbodens, wo er gelegen hatte. Da sah ich das liegen, was ihm entfallen war. Ein kleiner, eiserner Gegenstand, viereckig, zugespitzt und rechtwinkelig gebogen. Jedenfalls ein Drückerschlüssel, mit dem er etwas hatte öffnen oder holen wollen, was er bei seiner eiligen Abreise nicht hatte in Sicherheit bringen können. Das mußte etwas sehr Wichtiges und ihn Belastendes sein, sonst hätte er nicht das große Wagnis unternommen, hierher zurückzukehren. Ich steckte das Werkzeug zu mir und ging dann zu ihm hinaus, um ihn hinunter- und an der Wache vorbeizuführen. Nachdem ich das in scheinbarer Ruhe und Gleichgültigkeit getan und er sich entfernt hatte, eilte ich so schnell wie möglich nach dem Privatstalle des 'Mir, wo auch unsere beiden Pferde standen. Da waren mehrere Mann der Stallwache munter. Ich fragte, ob einer von ihnen die vor der Stadt liegende Wohnung des Basch Islami kenne. Sie kannten sie alle. Ich befahl dem, der am besten Bescheid zu wissen schien, sich schnell aufzusetzen und mit mir zu reiten, um sie mir zu zeigen. Erst zu satteln, gab es keine Zeit.

Wir verließen das Schloß durch ein Seitentor und durcheilten so schnell wie möglich die vollständig finsteren Gassen und Straßen. Das Gebäude, welches ich suchte, war das letzte aller Häuser auf dieser Seite. Es lag in der Nähe eines kleinen Wäldchens, in welchem wir abstiegen und die Pferde anbanden. Auch die Hunde mußten dableiben; der Reitknecht ebenso. Ich aber näherte mich dem Hause. Da stampfte ein Pferd. Ich schlich mich möglichst leise hin. Es gab da eine Gartenmauer mit einem kleinen Kiosk nach innen. Außerhalb der Mauer aber war ein Pferd angebunden, mit dem aus dem Kiosk heraus eine weibliche Stimme liebkosend sprach. Hier handelte es sich jedenfalls um ein privates Stelldichein und um ein politisches Geheimnis zu gleicher Zeit. Der alte Basch hatte getan, als ob er der Oberste der Verschwörer sei. Nach seiner Meinung war er es vielleicht auch. Ich aber hielt den >Panther< für die eigentliche Seele des Aufstandes. Diese beiden Männer standen jedenfalls in näherer Beziehung zueinander, als sie wissen lassen wollten. So wahnsinnig das auch klingen mag, ich hielt den >Panther< für den Nachfolger, der dem jetzigen 'Mir gegeben werden sollte, und hatte aus diesem Grunde vorhin angenommen, (Seite 206A) daß er, nachdem er mich verlassen hatte, den Basch Islami aufsuchen werde, und war hierhergeritten, um mich zu überzeugen, ob ich da irre oder nicht.

Die Mauer war nicht sehr hoch, aber ziemlich breit und von allerlei Buschwerk überwachsen. Auch unten stand Gebüsch, von dem das fressende Pferd sich Zweige riß, deren lautes Prasseln und Knacken sehr geeignet war, mir ein unhörbares Verbergen zu ermöglichen. Ich schwang mich also in gehöriger Entfernung auf die Mauer hinauf und kroch auf derselben hin, bis ich die unmittelbare Nähe des Kioskes erreichte. Dort schob ich mich langsam und äußerst vorsichtig in das Gezweig hinein. Das Rauschen der Blätter, welches ich verursachte, wurde von dem Geräusch, welches beide, das Pferd und das Frauenzimmer, machten, vollständig verschlungen. Ich stieß mit dem Kopfe an die Holzwand des Kioskes. Ich lag also so nahe, daß ich alles hören konnte, was hier gesprochen wurde, und brauchte nur darauf zu achten, mich nicht etwa durch Niesen oder Husten zu verraten.

Wenn mich nicht alles trog, so befand sich die Insassin des Kioskes in außerordentlich zärtlicher Stimmung. Sie sprach mit dem Pferde wie mit einem Menschen. Sie offenbarte ihm, sie >ihn< außerordentlich liebe und daß sie alles aufbieten werde, daß >er< an die Stelle des jetzigen 'Mir gelange. Sie schüttete nach und nach ihr ganzes Herz aus, wodurch ich erfuhr, daß >seine< Liebe nicht so groß und ehrlich sei wie die ihrige. Sie gestand dem Pferde, daß es bange Stunden gebe, in denen sie an >ihm< zweifle und >ihn< für einen Betrüger halte, der ihr nur darum Liebe heuchle, um ihren Vater und dessen Einfluß für seine Pläne zu gewinnen. Gerade als sie mit ihrer Aufrichtigkeit bis zu diesem Punkte gekommen war, ließen sich Schritte hören, die sich schnell näherten.

"Er kommt; er kommt! Nun freue Dich, er kommt!" sagte sie zum Pferde.

Und sie hatte recht; er kam. Es war der >Panther<. Aber das Tier hatte keine Ursache, sich über sein Kommen zu freuen. Er befand sich in äußerst schlechter Laune. Er öffnete die Zügel, riß das Pferd vom Zaune weg, daß das Gebiß in die Lippen schnitt und es vor Schmerz aufstöhnte. Dann schwang er sich auf, grub dem armen Geschöpf die Sporen derart in das Fleisch, daß es vom Schmerze kerzengerade in die Höhe getrieben wurde, und fluchte dabei:

"Allah verdamme die Beine, auf denen man läuft, während man doch Pferde hat, um zu reiten! Welche Zeit habe ich dadurch versäumt, daß ich Deinem Rate folgte, zu Fuß durch die Stadt zu schleichen! Der Teufel hole die Weiber!"

"Und auch mich?" fragte sie.

"Wenigstens jetzt noch nicht! Du bist noch nicht die Schlimmste!" lachte er roh.

"Hattest Du Glück?"

"Frag nicht so dumm! Ich wurde ertappt. Wahrscheinlich ist alles verloren!"

"Und der Vater? Der arme Vater - - -?"

"Kann mir dann nichts mehr helfen!"

"Allah, Allah! Ich bitte Dich, ihn zu grüßen!"

"Leb wohl!"

Er ritt fort.

"Schon verlassen willst - - -"

"Leb wohl!" wiederholte er, nun schon von weitem.

"So bleib doch nur noch einen - - -"

Ich sah, daß sie ihm die Hände nachstreckte, und hörte von ihm einen Fluch und das Klatschen der Peitsche, mit welcher er das Pferd zur Eile trieb. Das war alles so gefühllos, so menschenunwürdig, so grausam! Kann man so etwas wirklich erleben? Wohl nur im Traume, aber nicht im Wachen! Ich hörte im Kiosk ein tiefes, tiefes Atemholen und dann Schritte, die sich entfernten. War das dann ein Schluchzen? Oder nicht? Auch ich entfernte mich und kehrte zum Wäldchen zurück, um nach der Stadt zu reiten. Ich wußte nun, woran ich war. Der alte Basch Islami hatte nicht nur die Stadt, sondern auch sein Haus verlassen. Er befand sich dort, wohin der >Panther< jetzt ritt, der ihm versprochen hatte, seine Tochter zur Fürstin von Ardistan zu machen, falls er selbst zum 'Mir gewählt werde. Nun der >Oberste der Mohammedaner< aber hatte fliehen müssen, (Seite 206B) konnte man sich gestatten, die Tochter nicht grad fürstlich zu behandeln!

Am nächsten Morgen begann die eigentliche Vorarbeit für das Fest. Es wurden Kontrakte angefertigt und unterschrieben, nach denen die Fabrikanten, Lieferanten und Arbeiter sich zu richten hatten. Diese Oberleitung führte ich. Den direkten Verkehr mit den Leuten übernahm Halef, der hierzu wie geschaffen war. Der dritte von uns, nämlich der Oberpriester, wirkte in geradezu unvergleichlicher Weise, und zwar ebensosehr nach außen wie nach innen. Er schickte Boten nach Gharbistan und Scharkistan, damit man dort überall erfahre, daß man nach Ard zu wallfahren habe, weil dort der >Stern von Bet Lahem< aufgegangen und der >Friede auf Erden< gekommen sei. Auch durch ganz Ardistan gingen seine Boten. In der Hauptstadt selbst aber wirkte er durch persönliche Besuche und durch Vertiefung und Veredelung unserer äußerlichen, geschäftlichen Reklame. Wir stellten an allen Plätzen und größeren Straßen der Stadt Musterbäume und Verkäufer aus. Wir ließen mit Christbaumschmuck hausieren gehen. Wir ließen Vorträge halten. Wir gründeten Wohltätigkeitsvereine und Klubs des >Sternes von Bet Lahem< zur Christbescherung für die Armen und Kranken. Und das alles in nur zehn Tagen! Man kann sich da wohl denken, daß wir während dieser ganzen Zeit fast nicht zu Atem kamen!

Auch für die Unterbringung und Ernährung der erwarteten zahllosen Fremden mußte gesorgt werden. Das erforderte die Herbeischaffung von Vorräten und die Anstellung ehrlicher, zuverlässiger Leute. Höchst wichtig war die sofortige Gründung einer starken, christlichen Freiwilligenpolizei. Es waren von seiten der Andersgläubigen und der Aufrührer feindliche Kundgebungen, vielleicht sogar noch Schlimmeres zu erwarten; da war es geboten, Gegenmaßregeln zu treffen. So mühevoll und kompliziert das alles war, wir brachten es doch fertig, denn hoch über unserer Arbeit schwebten der Wille und das Machtwort des 'Mir, dessen plötzliche Herzens- und Sinnesänderung wie bezaubernd wirkte, und in noch größerer Höhe stand über all diesen Weihnachtssorgen und Weihnachtshoffnungen der allgütige Himmel mit seiner ewigen Liebe, Weisheit und Gerechtigkeit, die in die fernste Zukunft schaut und die richtige Zeit der Erlösung jedes einzelnen und jedes vereinten Volkes kennt.

Darum war ich wohlgemut. Ich wußte, daß alles gelingen werde, äußerlich und innerlich. Denn meine eigentliche Aufgabe hatte sich weniger auf die Außendinge als vielmehr auf die Seele zu richten, auf die Volks- und auf die Menschheitsseele, mit der ich mich beschäftige, seit ich überhaupt beschäftigt bin. Mit dem Geiste der Bevölkerung von Ardistan hatten wir jetzt nichts zu tun. Der mochte sich gegen uns aufbäumen, sich empören; er machte uns nicht bange. Aber wenn es uns gelang, die Seele dieses Volkes wachzurufen, wie wenn man zu einem Kinde sagt: "Steh auf vom Schlaf, und komm herein aus Deiner Kammer; es brennt der Weihnachtsbaum; Dein Heiland ist geboren!" dann hatten wir erreicht, was wir erreichen wollten. In dieser Beziehung geschah etwas, was sehr geeignet war, unserer Arbeit eine schönere Weihe und tiefere Heiligung zu erteilen. Ich erzähle es.

Hier muß ich erwähnen, daß wir nicht mehr als Gefangene betrachtet wurden. Wir waren frei. Wir konnten gehen und kommen, ganz wie es uns beliebte. Jedermann durfte uns besuchen; unser Weihnachtsbureau stand aller Welt offen. Am liebsten sahen wir den Oberpriester kommen. Er lebte sich immer mehr in unsere Herzen ein und hatte die ganz besondere Gabe, immer gute Nachrichten zu bringen. Gleich an einem der ersten Tage brachte er zwei Personen mit, eine männliche und eine weibliche, die ihre Mantelkapuzen so weit vorgezogen hatten, daß sie ihre Gesichter fast ganz verdeckten.

"Hier bringe ich Dir zwei liebe Bekannte von mir", sagte der Basch Nasrani. "Sie sind nicht von hier, doch oft schon hier gewesen. Sie pflegen, ganz wie ich, in dem Hause meines Gastfreundes zu wohnen, in dem Du mich mit dem 'Mir besuchtest. Sie sind soeben wieder einmal eingetroffen und haben den Wunsch, mit Dir sprechen zu dürfen. Erlaubst Du es?"

Ich nickte. Da warfen sie ihre Kapuzen zurück, und wen sah ich vor mir stehen? Abd el Fadl, den Fürsten von Halihm, (Seite 207A) und Merhameh, seine Tochter! Das war nicht Zufall, sondern Schickung! Sobald ich sie sah, kam ein Gedanke über mich, den ich festzuhalten hatte. Wie lautete die Weissagung, von der uns erzählt worden war? Die Güte und die Barmherzigkeit sollten hier im Dome ihre Stimmen erheben! Und überhaupt sollten Töne erklingen, die in Ardistan noch niemals erklungen seien! Heißt Fadl nicht Güte? Und Merhameh Barmherzigkeit? Und hatte ich sie nicht ihr herrliches >Morgen- und Abendgebet von Dschinnistan< singen hören? Wenn ihre beiden, unvergleichlichen Stimmen im Solo oder Duett im Dome erschallten, mußte es von größter Wirkung sein! Und gab es nicht eine Orgel, die zwar hier aufgerichtet, aber noch nie gespielt worden war? Ich bin kein berufsmäßiger Orgelspieler und noch viel weniger ein Orgelvirtuos, aber den musikalischen Kenntnissen und Anforderungen der hiesigen Bevölkerung glaubte ich entsprechen zu können. Durfte da vielleicht das, was ich spielte, nicht als jene >Töne< genommen werden, >die in Ardistan noch nie erklungen sind

Die Freude, die wir über das Eintreffen dieser beiden hochstehenden, seltenen Menschen empfanden, war ebenso groß wie aufrichtig. Die eigentliche Veranlassung ihres Kommens waren unsere Hunde, die sie nicht zu halten vermocht hatten. Ihre Flucht hatte besonders den Dschirbani in große Unruhe versetzt. Er glaubte, daß wir hierdurch in die größte Gefahr gebracht werden könnten, und hielt es für höchst notwendig, uns jemand nachzusenden, der die Befähigung besaß, sich heimlich in Ard nach uns zu erkundigen und die zu unserer Rettung geeigneten Maßregeln zu ergreifen. Sollte das nicht gelingen, so war er gesonnen, direkt hierher zu marschieren und uns mit Gewalt zu befreien. Abd el Fadl hatte sich sofort bereit erklärt, mit Merhameh nach Ard zu gehen. Er kannte das ganze Land, und er kannte auch die Stadt. Er war schon oft dagewesen, wenn auch nur heimlich, weil der 'Mir eine persönliche Abneigung gegen ihn besaß und ihn in seiner Residenz nicht duldete. Er gab sich als Märchenerzähler aus, der mit seiner Tochter nach Ard reite, um dort seines Berufes zu walten. Um nicht aufzufallen, waren sie nicht auf Pferden, sondern auf drei unscheinbaren, aber schnellen Eseln geritten und gestern abend angekommen. Ich sage drei, nicht bloß zwei Esel, weil der Dschirbani ihnen einen treuen, gewandten Begleiter mitgegeben hatte, der sofort den Rückweg antreten sollte, um sichere Nachricht zu bringen.

Glücklicherweise stand alles nicht nur gut, sondern sogar viel besser, als jemals zu erwarten gewesen war. Der Bote bekam außer dem mündlichen von mir auch noch einen schriftlichen Bescheid, durch welchen der Dschirbani von allem genau unterrichtet und also befähigt wurde, sich den Verhältnissen angemessen zu verhalten.

Es verstand sich ganz von selbst, daß die Anwesenheit des Fürsten und der Prinzessin von Halihm geheim zu bleiben hatte. Vom 'Mir konnten sie nicht erkannt werden, weil er Merhameh noch niemals und ihren Vater einmal nur aus sehr weiter Ferne gesehen hatte. Und auf die wenigen wirklich Bekannten, die es hier gab, konnte man sich verlassen; die verrieten nichts!

Als ich ihnen meinen Plan mitteilte, daß sie zur Orgel singen sollten, gingen sic beide sofort hierauf ein, und zwar mit Freuden. Der Oberpriester aber geriet gar in helle, lodernde Begeisterung, als ich ihn darauf aufmerksam machte, daß durch die persönlichen Namen der beiden Sänger und durch den Orgelklang die alte, in aller Munde lebende Weissagung genau wörtlich in Erfüllung gehe. Er wäre am liebsten aufgesprungen und hinausgerannt, um es aller Welt sofort zu verkünden; ich aber mahnte ihn, ja noch zu schweigen, weil der 'Mir das jetzt auf keinen Fall schon erfahren dürfe. Er mußte sich ganz unbedingt vor die vollendete Tatsache gestellt sehen, sonst stand zu befürchten, daß alles verdorben werde, und aus dem Feste eine Erniedrigung anstatt Erhebung des Christentums hervorgehe. Ich stellte die Forderung, daß kein Mensch jetzt von dieser Erfüllung der Verheißung zu sprechen habe und daß der 'Mir ganz allein nur von mir über sie unterrichtet werden dürfe. Der Oberpriester ging nebst Abd el Fadl und seiner Tochter hierauf ein.

(Seite 207B) Die beiden wichtigen Fragen, die es nun gab, lauteten: Was sollen Abd el Fadl und Merhameh singen? Und in welchem Zustande befindet sich die Orgel? Was die erstere Frage betrifft, so entwarf selbstverständlich der Basch Nasrani das Programm des dreitägigen Gottesdienstes. Abd el Fadl wählte einen Dschinnistanischen Lobgesang auf Gottes Güte und Barmherzigkeit, den ich auf der Orgel zu begleiten hatte. Da ich diesen Gesang, der ein zweistimmiger war, nicht kannte und es auch keine Noten gab, mußte ich ihn mir vorsingen lassen, um ihn aufzuschreiben und die Begleitung hinzuzufügen. Hierzu war ein anderes, kleineres Instrument nötig als die große Orgel. Ich beschloß, den 'Mir hierzu um sein altes Regalharmonium zu bitten, zumal ich mich ja auch wegen der Orgel an ihn zu wenden hatte, die mir ganz unmöglich ohne seine besondere, ausdrückliche Erlaubnis zur Verfügung stehen konnte. Ihm diese Wünsche mitzuteilen, nahm ich die nächste, passende Gelegenheit wahr. Ich hatte ihm eine Berechnung vorgelegt, die sehr zu seinem Vorteile sprach. Darüber freute er sich. In dieser Freude versicherte er mir, daß er für das Fest alles sehr gern tun werde, was er tun könne, ich solle nur wünschen und bitten. Das tat ich denn sofort. Er hörte mich an und freute sich darüber, mir die beiden Wünsche erfüllen zu können.

"Ich werde die Schlüssel zu der großen Orgel suchen lassen und sie Dir geben", sagte er. "Spiel, was Du willst, und wenn sie dabei zugrunde geht! Sie stammt von unserem Feinde, dem alten Abd el Fadl! Ich bin neugierig, wie sie klingt. Und weißt Du: Ich werde öffentlich verkünden lassen, daß sie an allen drei Tagen und Abenden gespielt wird. Das zieht viele Tausende herbei! Und ein Märchenerzähler mit seiner Tochter soll singen! Haben die Christen keine anderen, besseren Sänger? Ich will Dir gern meine kleine Orgel dazu borgen; aber in Deine Wohnung bekommst Du sie nicht, sondern Du mußt mit den beiden Personen in die meine kommen."

Ich gestehe, daß ich in diesem Augenblicke eine sehr wohl erlaubte Abart jener Freude empfand, von der man scherzhaft zu sagen pflegt: >Die Schadenfreude ist die reinste Freude.< Also sein Feind Abd el Fadl sollte zu ihm kommen! Als ich es diesem sagte, war er sofort einverstanden; es wurde ausgeführt. Wir gingen zum Herrscher, bekamen die >Musik< geliehen, spielten und sangen, und der 'Mir hörte zu. Beim nächsten Male holte er auch Frau und Kinder. Als wir gesungen hatten, durfte nur ich mich entfernen. Der angebliche arme Märchenerzähler aber mußte mit seiner Tochter bleiben, um Sagen und Märchen zu erzählen. Es versteht sich ganz von selbst, daß er dies nur tat, um auf den 'Mir und seine Kinder veredelnd zu wirken. Schließlich durfte er gar nicht wieder fort, sondern er bekam mit seiner Tochter im Schlosse eine Wohnung angewiesen.

So kam das Fest an jedem Tage näher. Die Spannung wuchs. Die Zahl der Bäume, die der 'Mir verkauft hatte und noch immer verkaufte, war bereits Legion. Zu jedem Baum gehörte ein Fuß, der eigens bezahlt werden mußte. Die verkauften Lichter, Figuren und sonstigen Schmuckgegenstände zählten nach Millionen. Und doch wollte das noch nicht reichen. Wir konnten nicht genug liefern. Dabei wurde das Geld alle. Einige kluge, voraussichtige Köpfe hatten das geahnt und sich welches aus der Ferne kommen lassen. Das vertauschten sie nun mit Profit. Der letzte Tag war für uns der schlimmste von allen. Wir hatten veröffentlicht, daß an diesem Tage um sechs Uhr nachmittags der Verkauf überhaupt geschlossen werde. An diesem Nachmittage wurden unsere Verkaufsstände fast gestürmt. Aber es ging glatt ab. Schon lange vor sechs Uhr war kein Bäumchen, kein Engelchen, kein Sternchen mehr zu haben. Alles verkauft, alles, bis auf das letzte, bunte Papierschnitzel! Wir atmeten auf! Das war eine wahre Riesenarbeit gewesen. Zuletzt hatten wir alle, bis zum letzten Arbeiter herunter, gar nicht mehr schlafen können. Nun kam aber auch der Lohn. Ich brauchte nicht zu geizen, denn der materielle Erfolg war weit, weit größer, als wir erwartet hatten. Reiche Leute hatten zehn- und zwanzigfache Preise bezahlt, weil sie glaubten, daß dies der 'Mir erfahre. Das zahlreiche Personal, welches uns nötig gewesen war, erhielt, was wir ihm versprochen hatten, und ein jeder noch eine Geldsumme dazu als unsere Christbescherung. Sie jubelten.


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