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6. Kapitel.

Nach der Stadt der Toten.

Die Wirkung unserer Weihnachtsfeier war eine gewaltige. Wer da war, wollte nicht wieder fort. Die Menschheit, die in und um Ard lagerte, vermehrte sich von Tag zu Tag, anstatt sich zu verringern. Es kamen täglich neue Pilger, welche teilnehmen wollten, und das begeisterte den alten, lieben Basch Nasrani zu immer neuen Anstrengungen und Wiederholungen. Aus den erst geplanten drei Feiertagen wurden sieben, also eine ganze, volle Woche lang. Dann konnte er nicht mehr; er mußte sich Ruhe gönnen. Das Ansehen der früher so verachteten Christen war plötzlich derart gestiegen, daß man sie, was vorher niemandem eingefallen war, jetzt schon von weitem grüßte. Man sah ein, daß man sich über sie im Unklaren befunden hatte, im Unklaren über ihre Zahl und im Unklaren über ihren Charakter. Niemand hatte geglaubt, daß es ihrer so sehr viele gebe. Das war eine direkte Folge ihrer Bedrückung. Sie hatten sich gescheut, öffentlich hervorzutreten. Nun aber, als sie erfuhren, daß das Wohlwollen des 'Mir sich ihnen zugewendet habe, strömten sie in hellen Haufen herbei und belebten die Stadt in der Weise, daß man glauben konnte, daß sie überhaupt nur christliche Einwohner habe. Und diese Scharen verhielten sich so bescheiden, so ruhig und wohlgesittet, daß der Herrscher versicherte, die öffentliche Ordnung sei noch nie so wenig gestört worden wie grad jetzt, wo so eine Menge von Menschen sich in der Hauptstadt angehäuft habe. Er fügte hinzu: Wären die Straßen und Gassen in derselben Menge von Lamas und Mohammedanern belebt, so würde es nur unter dem Aufgebote der kräftigsten Mittel möglich sein, fortgesetzte Ausschreitungen zu verhüten.

Es war allerdings auffällig, wie wenigen Mohammedanern, Lama- und Andersgläubigen man begegnete. Sie waren nicht etwa verschwunden. Sie hatten sich ganz ebenso wie vorher am öffentlichen Verkehre zu beteiligen; aber sie taten das nicht mehr in ihrer früheren, altgewohnten Weise, sondern derart, daß sie sich weder durch ihre Kleidung noch durch ihr Benehmen von den Christen unterschieden. Sie waren ganz plötzlich außerordentlich vorsichtig geworden, und sie hatten ihre guten, triftigen Gründe dazu.

Der 'Mir hatte nämlich begonnen, unter seinen Gegnern leise, aber energisch aufzuräumen. Die Listen der Verschworenen konnten ihm dabei als sichere Wegweiser dienen. Der Basch Islami war, wie wir wissen, schon vorher verschwunden. Von dem >Panther< gewarnt, hatte er Zeit gefunden, zu entkommen. Nun verschwand jetzt auch der Maha-Lama von Ardistan mit seinen nächsten, besten, treuesten Anhängern und Freunden. Sein herausforderndes Verhalten am ersten Weihnachtstage konnte nicht der einzige Grund hiervon sein. Das Verschwinden auch seiner Anhänger mußte auf tieferliegende Ursachen zurückgeführt werden, zumal dann auch noch zahlreiche andere Beamte und Offiziere nicht mehr zu sehen, sondern abhanden gekommen waren, man wußte nicht, wohin. Das ging so einige Wochen lang weiter, ohne daß hierbei von einer Arretur oder einem andern Gewaltmittel etwas zu bemerken war. Die betreffenden Personen verschwanden auf die geheimnisvollste Weise, und es traten andere an ihre Stelle, ohne daß offiziell ein Wort hierüber verlautet wurde. Auffällig hierbei war, daß die Verschwundenen zu den Verschwörern gehörten, die an ihre Stelle getretenen aber treue Anhänger des 'Mir waren. Auffallen konnte es natürlich nur denen, die hiervon wußten, die also selbst Verschwörer waren. Denen konnte auch nicht entgehen, daß dieses Verschwinden sich an eine ganz gewisse Reihenfolge hielt. Es betraf zunächst die ganz Hochgestellten, dann die hohen, hierauf die ihnen im Range Nächstfolgenden. Es ging also abwärts, und zwar mit so untrüglicher Sicherheit, daß dem Eingeweihten angst und bange werden mußte, denn ein jeder von ihnen konnte hieraus ersehen. daß und wann die Reihe (Seite 217B) auch an ihn kommen werde. Da lag denn nun für sie alle der Gedanke nahe, sich ganz von selbst, noch ehe das Verhängnis nahte, also freiwillig, aus dem Staube zu machen, um diesem doppelt schrecklichen, weil unsichtbaren und unhörbaren Verderben zu entrinnen. Die Klugen unter ihnen folgten diesen Gedanken. Es kam eine Zeit, in der eine Menge von Menschen ihre guten, scheinbar ganz sicheren Stellungen und auch die Stadt verließen, ohne vorher anzugeben, warum sie es taten und wohin sie sich wendeten. Ich bemerkte das gar wohl, hütete mich aber, voreilige Fragen hierüber an den 'Mir zu richten. Es gab andere, für mich ebenso wichtige Dinge, die mich ganz in Anspruch nahmen. Daß ich damit das Studium des hochinteressanten Landes und seiner Bewohner meine, versteht sich ganz von selbst. Meine persönliche Aufgabe war, hier Land und Leute möglichst genau kennenzulernen. Ich begann, zunächst in der Stadt, hierauf in ihrer Umgebung und sodann auch im weiteren Land herumzuschweifen, wobei Halef mich begleitete.

Diese Streifereien wurden uns sehr leicht gemacht. Wir waren durch das Weihnachtsfest der ganzen Bevölkerung bekannt geworden. Die Christen hatten uns gern. Sie gaben uns Auskunft. Sie unterstützten uns in jeder Weise. Und die anderen, die uns höchstwahrscheinlich haßten, sie wagten nicht, uns dies offen zu zeigen. Sie waren gezwungen, sich auch freundlich zu uns zu stellen und uns zu Diensten zu sein, obwohl wir alles, was von ihnen kam, mit Vorsicht zu betrachten hatten.

Dadurch, daß ich die mir jetzt zur Verfügung stehende Zeit so ganz und gar für mich und meine persönlichen Aufgaben verwendete, vernachlässigte ich keineswegs die Zwecke, die uns nach der Hauptstadt von Ardistan geführt hatten. Sie waren als erfüllt zu betrachten, und zwar im vollsten Sinne des Wortes. Wir waren hierher gekommen, uns Aufklärung über die hiesigen Verhältnisse zu verschaffen, damit der Dschirbani aus dieser Kenntnis den größtmöglichen Nutzen ziehe. Wie gefährlich das für uns war, das hatten wir gar wohl gewußt, doch glücklicherweise war alles ganz anders geworden, als für uns möglich gewesen war vorauszusehen. Der 'Mir hatte uns schnell lieb gewonnen. Er fühlte sich uns zu Dank verpflichtet. Es lag ihm schon deshalb nicht viel daran, den Dschirbani als Feind betrachten zu müssen. Hierzu kamen die neuen Ereignisse im Innern seines Reiches und seiner Stadt. Er hatte dem 'Mir von Dschinnistan den Krieg erklärt und seine Kerntruppen schon in Marsch gesetzt, da machte er die zwei niederschlagenden Entdeckungen, daß er vom Throne gestoßen werden solle und daß er sich auf die Anführer dieser seiner Truppen nicht verlassen könne. Seine Lage war äußerst gefährlich. Da versprach ich ihm die Hilfe des Dschirbani gegen die Empörer. Das bewies ihm, daß der Dschirbani ein edelmütiger Gegner sei und brachte ihn auf den Gedanken, die drohenden Feindseligkeiten zwischen sich und ihm einstweilen ruhen zu lassen. Er fragte mich, ob ich ihm nicht den Gefallen tun wolle, zurückzureiten, um mit dem Dschirbani über einen Waffenstillstand zu verhandeln. Dieser Waffenstillstand lag nicht nur überhaupt in unserem eigenen Interesse, sondern er mußte uns auch darum willkommen sein, weil er dem Dschirbani nach dem langen, anstrengenden Zug durch die Wüste die willkommene Zeit gewährte, sich zu erholen und seine Truppenkörper auszubauen und innerlich zu festigen. Ich war also gewiß, daß er einwilligen werde, wenn auch erst nach einigem Weigern. Aber ich hatte keine Lust, diesen Ritt selbst zu unternehmen. Ich wollte Ardistan kennenlernen, nicht aber mich auf einer und derselben Straße immer hin und her bewegen. Darum machte ich es ihm plausibel, diese Aufgabe einem andern anzuvertrauen, und so schickte er denn einen seiner Offiziere, der durch einen von mir geschriebenen und von dem 'Mir bestätigten Brief legitimiert und dem Dschirbani empfohlen wurde.

So war die Lage der Sache, als der 'Mir heut am frühen Morgen, als ich kaum ausgeschlafen hatte, seinen Diener zu mir (Seite 218A) schickte und mich fragen ließ, ob ich bereits zu sprechen sei. Das war nichts Ungewöhnliches. Er gehörte ebensowenig zu den Langschläfern als ich, und es kam nicht selten vor, daß er ebenso zeitig wie heute eine Frage oder etwas anderes für mich hatte. Ich ließ ihm also sagen, daß ich bereits aufgestanden sei und mich ihm zur Verfügung stelle. Da beorderte er mich nicht zu sich, sondern er kam zu mir. Das war ein sicheres Zeichen, daß der Gegenstand, der seine Gedanken beschäftigte, zur Eile trieb und ihn ganz in Anspruch nahm. Als er in mein Zimmer trat, war er gestiefelt und gespornt, nicht wie zu einem kurzen Spazierritte, sondern wie zu einem weiteren Ausfluge, und sagte hastig, noch ehe er den Türvorhang hatte hinter sich fallen lassen:

"Er ist da! Er kam schon während der Nacht; hat mich aber nicht wecken lassen, trotz der großen Wichtigkeit der Sache!"

"Wer?" erkundigte ich mich.

"Der Bimbaschi," antwortete er.

Bimbaschi heißt Major. In diesem Range stand der Offizier, den er zu dem Dschirbani geschickt hatte. Das war zwar kein hoher Rang, aber er hatte grad diesen Mann gewählt, weil er ihn für treu, geschickt und umsichtig hielt.

"Er ist außerordentlich höflich aufgenommen worden und hat sehr guten Erfolg gehabt," fuhr der 'Mir fort. "Der Dschirbani ist bereit, auf den Waffenstillstand einzugehen, und hat versichert, daß er mir keine schweren, sondern sogar sehr leicht zu erfüllende Bedingungen stellen werde."

"Stellen werde?" erkundigte ich mich. "Also gestellt sind sie noch nicht? Er hat sie Dir nicht geschickt durch den Bimbaschi?"

"Nein. Er ist der Meinung gewesen, daß seine Lage und meine Lage eine außerordentlich heikle sei. Unser Bündnis habe ganz unbedingt geheim zu bleiben. Dazu gehöre, daß auch die Verhandlungen heimlich zu führen seien. Nichts dürfe man dem Papiere anvertrauen; es habe vielmehr alles nur mündlich zu geschehen; und zwar nicht etwa durch Unterhändler, sondern durch uns beide selbst, Da hat er vollständig recht; das sehe ich ein. Du doch wohl auch?"

"Ja," nickte ich. "Ich sehe Dich zur Reise gekleidet. Hängt dies hiermit zusammen?"

"Allerdings. Er ist der Ansicht, daß wir uns einander entgegenreiten und uns auf halbem Wege treffen."

"Welcher Weg ist gemeint?"

"Derselbe, der Dich hierhergeführt hat. Du kennst ihn also. Auf der Mitte dieses Weges liegt eine alte, verfallene Moschee, mit einem Brunnen zwischen den Vorhofsmauern. Du wirst sie im Vorüberreiten jedenfalls gesehen haben?"

"Wir haben sogar dort gelagert!"

"Dort soll die Zusammenkunft stattfinden. Das soll der Platz der Beratung sein. Gefällt er Dir?"

"Er ist vorzüglich geeignet. Wurde Dir dieser Wunsch des Dschirbani schriftlich oder mündlich gebracht?"

"Nur mündlich, natürlich nur mündlich. Denn, so treu und zuverlässig der Bimbaschi ist, ein Brief hätte doch verlorengehen oder auf irgendeine andere Weise in falsche Hände geraten können. Ich halte es für ganz richtig, daß der Dschirbani mit solcher Vorsicht verfährt. Er meint, daß diese Vorsicht auch verbiete, den Ritt, der uns einander entgegenführt, in auffälliger Weise zu machen. Niemand soll ahnen, wer wir sind und was wir beabsichtigen. Darum sollen unsere Trupps so klein wie möglich sein, und folglich haben wir uns kein kriegerisches, sondern ein möglichst friedliches Aussehen zu geben. Der Dschirbani wird nur vier Begleiter haben und läßt mich bitten, dies ebenso zu halten. Er schlägt mir sogar vor, wen ich mitnehmen soll. Kannst Du die Personen erraten, die er mir da nennt?"

"Nur zwei; jedenfalls Halef und ich."

"Richtig! Er will Euch unbedingt sehen. Und die beiden anderen?"

"Ich bitte, sie mir zu nennen!"

"Es sind die beiden Prinzen der Ussul."

"Das freut mich!"

"Mich auch. Ich habe sie unschuldig gequält und bin ihnen eine Entschädigung dafür schuldig. Sie kennen den Dschirbani. (Seite 218B) Sie stehen im gleichen Alter mit ihm. Ihre Mutter Taldscha ist immer seine Freundin und Beschützerin gewesen. Ich habe sie schon unterrichtet und aufgefordert, sich bereitzuhalten. Sie reiten außerordentlich gern mit und sind sehr froh darüber, ihren Jugendgenossen sehen zu dürfen."

"Das glaube ich und gönne es ihnen vom Herzen. Wann reiten wir?"

"Am liebsten möchte ich sofort aufbrechen; aber da es mehrere Tage sind, die ich abwesend sein werde, so habe ich Vorbereitungen zu treffen, die mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Doch hoffe ich, noch ehe es Mittag wird, fertig zu sein. Hältst Du es für richtig, daß wir nur fünf Personen sind?"

"Ja, der Dschirbani hat es gewünscht, und je zahlreicher wir erscheinen, desto mehr fallen wir auf."

"Also nicht einige Diener mitnehmen?"

"Wenigstens für mich und Halef nicht. Wir sind gewöhnt, uns selbst zu bedienen. Die beiden Ussul werden wohl auch der Meinung sein, daß die Anwesenheit von Bediensteten uns nur belästigen und stören, ja, es vielleicht gar unmöglich machen würde, diese Sache geheim zu halten. Was nun allerdings Dich selbst betrifft, so gebe ich freilich zu, daß - - -"

"Nichts hast Du zuzugeben, nichts!" fiel er mir schnell in die Rede. "Bin ich etwa etwas anderes als Ihr?"

"Ich denke, doch!"

Da lächelte er:

"So, so! Gut, gut! So will ich wenigstens nichts anderes scheinen. Ich reite also inkognito, unerkannt, oder wie man das sonstwie nennen mag. Also weg mit den Dienern! Wir nehmen keine mit! Aber zwei Packpferde werden wir uns gestatten, mit den nötigen Nahrungsmitteln und andern Dingen, die ich für notwendig halte. Auch Führer brauchen wir nicht. Der Weg ist mir bekannt und Dir und Halef auch. Ich hatte dem Oberst, der Euch begleitete, den Befehl gegeben, nur die einsamsten Gegenden zu wählen. Wir haben allen Grund, das zu tun und uns also auf ganz genau denselben Pfaden zu halten. Die beiden Ussul haben für dieses Mal auf ihre schweren Riesenpferde zu verzichten. Ich gebe ihnen bessere und schnellere aus meinem Stall. Wir sind also vortrefflich beritten und werden, wenn meine Berechnung mich nicht täuscht, bis morgen abend an Ort und Stelle sein. Also macht Euch fertig, und haltet Euch bereit, daß ich Euch holen lasse!"

"Betrifft die Verschwiegenheit, die wir zu beobachten haben, jedermann?"

"Ja. Oder gibt es Personen, denen auch Du zu sagen hast, daß Du Dich auf einige Tage entfernst?"

"Ja."

"Wer ist das?"

"Der Oberpriester und die beiden Sänger, Vater und Tochter."

"Das erlaube ich. Du bist es ihnen schuldig. Sie sind Deine Freunde! Wahre, ehrliche Freunde! Sie würden sich sehr um Dich sorgen, wenn Du Dich entferntest, ohne sie davon zu benachrichtigen. Sage es Ihnen! Aber ja keinem andern mehr!"

Hierauf verließ er mich, und ich machte mich mit meinem Hadschi Halef bereit zu dem beabsichtigten Ritte, der noch viel interessanter werden sollte, als wir jetzt dachten.

Er wurde noch vor Mittag angetreten, doch einzeln, nicht vereint. Erst brach der 'Mir auf, allein. Dann ritten die beiden Ussul fort, in einer andern Richtung durch die Stadt. Sie nahmen die Packpferde mit. Dann folgten wir, auf einem noch andern Wege. Draußen vor der Stadt trafen wir wieder zusammen.

Ich kann über das, was unterwegs geschah, hinweggehen, denn es war nichts Wichtiges, und will nur konstatieren, daß sich die Vorhersage des 'Mir, daß wir das Rendezvous bis zum nächsten Abend erreichen würden, als richtig erwies. Ganz selbstverständlich hatten wir unsere Hunde mit. Der 'Mir ritt einen köstlichen Schimmelhengst mit indischem Riemenzeuge. Die beiden Ussul hatten zwei starke, dunkle Wallachen, die trotz ihrer Stärke gern galoppierten und auch ziemlich ausdauernd waren.

Die Ruine der Moschee, die ich als Stelldichein bezeichnet habe, lag in einer ebenen, vollständig freien, steppenartigen Gegend, die rundum bis an den Horizont zu überschauen war. (Seite 219A) Es gab hier nicht den geringsten Grund, etwa besonders vorsichtig zu sein. Und als wir die alten, halb eingefallenen Mauern prüfend umritten, ehe wir ihr Inneres betraten, geschah dies ganz ohne eigentliche Veranlassung, sondern nur deshalb, weil Halef und ich das so gewohnt waren. So weit das Auge reichte, war kein Mensch zu sehen, und auch das Gemäuer zeigte sich dann als leer. Es gab da weder den Stapfen noch gar die Fährte eines einzigen lebenden Wesens. Der Dschirbani war also noch nicht angekommen.

Wir stiegen ab, versorgten unsere Pferde und ließen uns an dem Brunnen nieder, der bereits erwähnt worden ist. Er hatte gutes Wasser. Während wir unser Abendessen verzehrten, wurde es Nacht. Wir brannten aber kein Feuer an, denn wir waren den ganzen Tag sehr scharf geritten und darum ermüdet; wir wollten schlafen. Und das taten wir denn auch in so ausgiebiger Weise, daß keiner von uns eher erwachte, als bis wir am Morgen durch Ben Rih geweckt wurden, der plötzlich aufgesprungen war und so laut und anhaltend wieherte, daß die Absicht, uns aufmerksam zu machen, unverkennbar war. Auch Syrr stand auf, blieb aber still. Die Hunde regten die Hälse und lüpften die Ohren, sagten aber nichts.

"Sie kommen, Sihdi; sie kommen!" rief Halef, indem er sich schnell erhob.

"Laßt uns hinaus eilen, sie zu begrüßen!"

Indem er dies sagte, tat er es auch. Zugleich wieherte auch draußen ein Pferd, als Antwort auf das Wiehern unseres Ben Rih. Aber nicht nur dieses eine, sondern noch eines, ein drittes, viertes, sechstes, achtes. Das klang doch so, als ob wir es nicht mit einer Truppe von fünf Reitern, sondern mit einer größeren Schar zu tun hätten, die auf lauter Hengsten saß und uns bereits so nahe war, daß wir den Aufschlag der Hufe hörten. Sie brauste im Galopp heran. Halef schrie laut auf. Da folgten wir ihm schnell nach, hinaus vor das Gemäuer. Was sahen wir? Wohl tausend Mann, also ein ganzes Regiment regulärer Kavallerie, welche eben nach beiden Seiten abschwenkte, um die Ruine zu umzingeln.

"Was wollen die hier?" fragte der 'Mir, teils zornig, teils verwundert. "Ohne meinen Befehl! Ich werde ihnen zeigen, daß - - -"

Er brach mitten im Satz ab. Weshalb, das sahen wir wohl. Nämlich eine Abteilung des Regiments, sagen wir nach europäischem Begriff eine Eskadron, schwenkte nicht mit ab, sondern kam grad auf uns zu, an ihrer Spitze die Offiziere, und diesen voran der >Panther<, der zweite Prinz der Tschoban.

"Zu den Waffen!" rief Halef. "Wir sind verraten! Man hat uns betrogen!"

Ja, zu den Waffen! Aber zu was für welchen? Er selbst hatte keine, ich auch nicht. Wir hatten jetzt nur unsere Messer. Der Säbel und die beiden Pistolen des Scheik waren kostbar, aber weit mehr zur Zierde als zum ernstlichen Gebrauch. Die beiden Ussul hatten jeder einen Säbel und ein Gewehr; das letztere zur Jagd, nicht aber zur Verteidigung bestimmt. Was war das gegenüber tausend wohlbewaffneter Menschen, die den Mut besaßen, ihrem Kriegsherrn als Meuterer entgegenzutreten. Widerstand zu leisten wäre da Wahnsinn gewesen. Es galt vielmehr, sich zunächst scheinbar zu fügen, um später im geeigneten Augenblick zu tun, was möglich war. Ich raunte das dem 'Mir schnell zu, und er war vernünftig genug, einzusehen, daß wir jetzt nichts Besseres zu tun vermochten. Er sagte kein Wort. Er nickte mir nur zu, um mich seiner Zustimmung zu versichern; aber seine Augen glühten, seine Lippen preßten sich zusammen, und seine Hände ballten sich zu Fäusten; es kochte in ihm.

Jetzt war sie da, diese Eskadron. Der >Panther< hatte seine Leute genau instruiert. Sie sprangen von den Pferden, drängten auf uns zu und hatten augenscheinlich die Absicht, uns auseinanderzubringen. Da rief der 'Mir uns zu:

"Zusammenhalten! Die Messer heraus! Wer mich anrührt, den steche ich nieder!"

Messer hatten wir alle; wir gehorchten seinem Befehle. Da trat man von uns zurück. Ganz selbstverständlich hätten uns auch die Messer nichts genützt, wenn es Ernst geworden wäre; aber an das Leben sollte es uns denn doch nicht gehen, und so begnügte man sich damit, uns beisammenzulassen und (Seite 219B) in das Innere der Ruine zurückzudrängen, wo bei den Pferden unsere Riesenhunde standen, mit hoch erhobenen Köpfen und funkelnden Augen, bereit, uns zu verteidigen. Es war nicht geraten, den Mut dieser edlen Tiere in Aktion zu setzen. Wir riefen ihnen also zu, sich niederzulegen, und sie gehorchten ohne Zögern.

Es hatte sich fast die ganze Schwadron mit hereingedrängt. Wir waren also nicht nur draußen, sondern auch hier im Innern der Ruine so dicht und so vollständig umzingelt, daß der Gedanke, schnell auf die Pferde zu springen und zu fliehen, ein Wahnsinn gewesen wäre. Der 'Mir sah keinen von ihnen allen an. Er setzte sich am Wasser nieder, das Messer in der Faust. Sofort nahmen die beiden Prinzen der Ussul rechts und links von ihm Platz, bereit, ihn, wenn es nötig werden sollte, zu verteidigen. Ich ließ mich mit Halef ihnen gegenüber nieder. Wer meinen kleinen Hadschi kennt, der weiß, daß er nicht der Mann war, sich durch den Überfall, wenn auch eines ganzen, vollen Regiments von Kavalleristen, einschüchtern zu lassen. Er tat, als ob kein einziger von ihnen allen vorhanden sei, griff nach den noch vom gestrigen Abende her im Grase liegenden Speisevorräten und sagte:

"Geschlafen haben wir, und zwar sehr gut! Jetzt frühstücken wir; dann reiten wir weiter!"

"Wohin?" fragte der Panther.

Er war, die Offiziere hinter sich, zu uns herangetreten. Halef tat, als ob er weder ihn gesehen noch seine Frage gehört habe. Er öffnete die Pakete und zerlegte das vorhandene Fleisch, um es an uns zu verteilen. Wir nahmen es und aßen. Der 'Mir allein machte eine Ausnahme; er wies es ab. Er war innerlich so erregt, daß er es nicht fertig brachte, auch nur einen einzigen Bissen zu sich zu nehmen. Sein Gesicht war plötzlich ganz gelb geworden, schmutzig gelb. Es nahm von Augenblick zu Augenblick immer mehr und mehr jene abstoßende Häßlichkeit an, von der ich schon einmal gesprochen habe.

"Steht auf! Ich habe mit Euch zu sprechen," begann der Panther.

Wir rührten uns natürlich nicht.

"Steht auf! Ich befehle es!" wiederholte er.

Wir blieben sitzen. Da faßte er den Hadschi von hinten im Genick, um ihn emporzuzerren, und schrie ihn an:

"Hund, auf mit Dir! Ich werde - - -"

Er kam mit der beabsichtigten Drohung nur bis hierher, denn die vier Hunde waren aufgesprungen, hatten ihn gepackt und niedergerissen und fletschten ihm nun von allen Seiten die scharfen, glänzenden Zähne entgegen, so daß er einsehen mußte, daß er verloren sei, sobald er es wage, eine Bewegung der Gegenwehr zu machen. Zwei oder drei der Offiziere griffen schnell nach ihren Pistolen, um auf die Hunde zu schießen; da rief er ihnen schnell zu:

"Behüte Allah! Weg mit den Waffen, weg! Schießt nicht; sonst zerreißen sie mich!"

Da wendete sich Halef ihnen zu und sagte:

"Der Kerl ist gar nicht so dumm, wie ich dachte. Er weiß ganz genau, was er zu erwarten hat. Ihr braucht nur einen einzigen Gewehr- oder Pistolenlauf auf uns zu richten, so reißen sie ihm die Gurgel aus dem Halse, und auch mit dem Betreffenden ist es aus. Ihn kenne ich. Er ist der größte Schuft, den es auf Erden gibt. Wer aber seid denn Ihr?"

Da donnerte ihn der von ihnen, der die meisten Dressen an seinem Rocke trug, zornig an:

"Schweig! Er ist der neue 'Mir von Ardistan! Ich aber war bisher der Oberst dieses Regimentes, doch nun bin ich General!"

Da lachte Halef ihm mit seiner allergrößten Freundlichkeit in das Gesicht und antwortete:

"General bist Du jetzt, General? Also ein ebenso großer Schurke wie er? Da gehörst Du ja unbedingt an seine Seite! Hu! Hi!"

(Seite 220A) Indem Halef die Namen seiner beiden Hunde nannte, deutete er mit dem Finger erst auf den zum General beförderten Oberst und dann auf die Erde nieder, wohin er diesen haben wollte. Die Ausführung dieses Befehles erfolgte ebenso schnell wie vollständig. Im nächsten Augenblicke lag der Offizier genau neben dem >Panther<, und keiner seiner Untergebenen wagte es, ihn etwa durch einen Befreiungsversuch in noch größere Gefahr zu bringen. Halef warnte sie:

"Setzt Euch jetzt ruhig nieder und wartet, bis wir gegessen haben! Wir sind nicht gewöhnt, uns beim Frühstück stören zu lassen. Und merkt Euch das: Jede drohende Bewegung von Eurer Seite kostet sowohl dem neubackenen 'Mir als auch dem soeben ausgekrochenen General ganz unbedingt das Leben! Nach dem Essen werde ich mit ihnen reden und auch mit Euch! Doch eher nicht!"

Sie sahen einander an. So etwas war ihnen noch nicht vorgekommen! Tausend Mann gegen fünf, und dennoch eine solche Furchtlosigkeit, zumal von einem so kleinen Kerl, das hatten sie nicht für möglich gehalten! Sie berieten leise. Aber den beiden, die es betraf, war angst und bange vor den gewaltigen Gebissen, die sie so nahe vor ihren Augen hatten. Der General befahl:

"Setzt Euch und wartet!"

Er wagte bei diesen vier Worten kaum die Lippen zu bewegen. Und der >Panther<, der doch gewiß kein Feigling war, fügte kurz und ängstlich hinzu:

"Tut den Bestien nichts! Ich befehle es!"

Da knurrte einer von ihnen:

"Die hätten wir gleich erst erschießen sollen, als wir kamen. Nun aber ist's zu spät!"

Sie suchten sich eine passende Stelle, um sich niederzusetzen und das Kommende abzuwarten. Ihre Truppe tat dasselbe. Da beruhigte sich der 'Mir und hörte auf meine Vorstellungen, daß er unbedingt auch mitessen müsse, um den Anstrengungen gerecht zu werden, die uns höchst wahrscheinlich nun erwarteten. Wir nahmen uns Zeit und aßen so behaglich, als ob wir uns daheim im Schlosse von Ard befänden. Dabei besprachen wir unsere gegenwärtige Lage, um uns über sie klarzuwerden. Das taten wir natürlich mit gesenkten Stimmen, um nicht vom Panther und seinem >General< gehört zu werden.

Es verstand sich ganz von selbst, daß wir hierhergelockt worden waren, um gefangengenommen und irgendwohin geschafft zu werden, wo wir unschädlich waren. Welcher Ort das aber war, das ahnten wir nicht, glaubten aber, daß es die >Stadt der Toten< sein werde, die sich weit besser als jede andere Stelle dazu eignete. Der 'Mir äußerte sich hierüber:

"Falls der >Panther< dies beabsichtigt, können wir uns ohne alle Angst in dieses Schicksal ergeben. Ich kenne die >Stadt der Toten<. Nicht nur die offiziellen Verbannungshäuser und Gefängnisse, sondern ihre ganze, weit ausgedehnte Örtlichkeit. Ich habe sie und ihre Umgebung als Knabe in Gegenwart meiner Diener und Führer durchstöbert, denn sie ist der interessanteste Ort im ganzen Ardistan und steckt so voller Sagen, Märchen und ähnlichen Dingen, daß ich nicht eher ruhte, als bis mein Vater mir die Erlaubnis gab, sie unter sicherer Begleitung zu durchforschen. Ihr beide kennt sie ja auch, wenigstens den Teil von ihr, den ich Euch zum Aufenthalte angewiesen hatte!"

Diese letzten Worte waren an die Prinzen der Ussul gerichtet. Sie nickten bejahend, und er fuhr fort:

"Die Gefängnisse und Verbannungshäuser sind mit gewissen Geheimnissen gebaut, die es ganz unmöglich machen, einen Menschen, der sie kennt, dort festzuhalten. Es versteht sich ganz von selbst, daß es nur einen gibt, der sie am besten kennt, und der bin natürlich ich, der Herrscher. Falls sie uns dorthin schaffen, ist es weiter nichts als ein Spaß für mich, zu entkommen, sobald ich nur will. Uns hier an dieser Stelle zu (Seite 220B) wehren, ist unmöglich. Wir würden gleich beim ersten Versuch von ihnen erdrückt. Auch die Gefangennahme des >Panthers< und seines Mitverschworenen kann uns nicht retten. Der Augenblick, wo man die Hunde erschießt, würde unvermeidlich kommen, und dann sind die beiden frei; wir können sie nicht halten."

"So ist es also Deine Meinung daß wir uns ruhig darein ergeben sollen, falls sie beabsichtigen, uns nach der >Stadt der Toten< zu schaffen?" fragte ich.

"Ja", antwortete er. "Ich hoffe doch, daß wir es erfahren werden!"

"Vielleicht auch nicht!"

"Laßt mir das über!" bat Halef. "Es widerspricht ja schon überhaupt Euerer Würde, mit solchen Empörern und Banditen zu sprechen. Mir aber macht es ein Vergnügen, ihnen ihr Geheimnis zu entlocken, falls sie nicht so vernünftig sind, es uns freiwillig mitzuteilen. Seid Ihr einverstanden?"

Er hatte recht. Und da er sich schon vorhin so gut benommen hatte, so wurde ihm vom 'Mir die Erlaubnis erteilt, das Wort für uns alle zu führen. Das versetzte ihn in jene wohlbekannte Stimmung, in der er uns so sehr zu gefallen pflegte, sich selbst aber am allermeisten. Er packte, als wir fertig waren, die übriggebliebenen Speisen zusammen, steckte sie in die hierfür bestimmte, neben uns liegende Satteltasche und wendete sich dann in seinem jovialsten Tone an den >Panther<:

"Jetzt haben wir gegessen und werden weiterreiten. Du fragtest vorhin, wohin? Du warst für meine Antwort noch nicht reif. Jetzt aber, nachdem Du uns durch Deine hoheitsvolle Situation bewiesen hast, daß Du wirklich der neue 'Mir von Ardistan bist, sind wir Dir Antwort schuldig. So höre denn: Wir reiten mit Euch."

"Mit uns?" fragte der >Panther< erstaunt.

"Ja, mit Euch!"

"Wieso? Wie meinst Du das? Aber rufe Deine Hunde von uns weg! Es ist, als ob sie schon beißen wollen, wenn man nur die Lippe bewegt!"

"O nein! Die Lippe darfst Du schon bewegen, doch weiter nichts; das merke Dir! Ich bitte Dich also, Dir diese lieben, treuen Tiere noch ein Weilchen gefallen zu lassen! Dabei wiederhole ich Dir, daß wir extra zu dem Zwecke hierhergekommen sind, mit Euch noch ein Stückchen weiterzureiten."

"Wohin?"

"Wohin es Euch gefällt! Wir haben gerade Zeit! Da Du der neue 'Mir von Ardistan bist, so kann der alte 'Mir auf Ferien gehen, um sich von der Arbeit des Regierens einmal recht gründlich zu erholen. Und welcher Führung sollte er sich da lieber anvertrauen als derjenigen seines Nachfolgers, von dem alle Welt weiß, daß er sein treuester Freund und dankbarster Schüler ist. Also bitte, bestimme Du, wohin wir reiten!"

Der >Panther< schabte sich die Lippe mit den Zähnen. Der Spott traf und empörte ihn. Er wußte ebenso gut wie wir, daß wir uns zu fügen hatten, obgleich wir zunächst die Oberhand zu haben schienen. Es wurmte ihn gewaltig, daß wir uns nicht von diesem Bewußtsein niederschmettern ließen, sondern es mit Ironie zu behandeln wagten. Schon in rein äußerlicher Beziehung war ihm der Überfall nicht so geglückt, wie er gedacht hatte. Er war überzeugt gewesen, daß uns gleich der erste Augenblick in seine Hände liefern werde; statt dessen war er selbst in die unseren gefallen und mußte an Stelle der erwarteten Siegesfreude nun lachende Verachtung zu der Enttäuschung nehmen. Und hierbei war das Allerschlimmste, daß er aus Angst von den Hunden nicht aufbegehren durfte, sondern seinen Grimm hinunterschlucken mußte. Man hörte es seiner Stimme an, aus welcher Hassestiefe sie heraufstieg, als er in unterdrücktem Tone antwortete:

"Ja, ich werde Euch allerdings dorthin führen, wo es mir gefällt und wohin Euch der Dschirbani vorangegangen ist!"

Diese Mitteilung war unendlich wichtig für uns. Dennoch besaß Halef die Selbstbeherrschung, mit Gleichgültigkeit zu sagen:

(Seite 221A) "Der Dschirbani? Erfinde nichts so Blödes! Er hat im kleinsten Gliede seines kleinen Fingers mehr Verstand als Du in Deinem ganzen hohlen, leeren Körper!"

"So höre!" pfauchte der >Panther< zornig. "Er hat sich sogar noch eher und noch leichter übertölpeln lassen als Ihr! Er steckt schon seit einigen Tagen in der >Stadt der Toten

"Der ältere Prinz der Tschoban?"

"Ja!"

"Dein eigener Bruder?"

"Ja!"

Dieses zweite Ja klang fast triumphierend.

"Den hast Du auch betrogen und nach der >Stadt der Toten< gelockt?"

"Den ganz besonders! Den räudigen Hund, der mir meine vorher so treuen Tschoban abwendig machte! Ihr werdet sie beide sehen; Ihr sollt sie sehen; Ihr müßt sie sehen! Ihr müßt mit hin zu ihnen, und wenn - - -"

"Müssen?" unterbrach ihn Halef lachend. "Wir müssen? Nein, wir wollen! Wir werden Dich sogar zwingen, uns hin zu ihnen zu führen! Wir stellen Dir jetzt unsere Bedingungen. Gehst Du auf sie ein, so soll Dir nichts geschehen; weigerst Du Dich aber, so zerreißen unsere Hunde nicht nur Dich, sondern auch Deinen siegreichen >General

"Bedingungen? Ihr? Mir? Welche denn?" forschte der Tschoban.

"Ihr beide bleibt unsere Gefangenen. Sobald wir die >Stadt der Toten< erreichen, geben wir Euch frei."

"Weiter!"

"Wann brecht Ihr von hier aus?"

"Augenblicklich. Wir wollten Euch nur holen und dann sofort weiterreiten."

"Schön! Also höre! Das Regiment reitet voran, vollständig, ohne Rest. Wir wollen niemand hinter uns haben, der plötzlich auf uns schießt. Wir folgen dann in einem kleinen Abstande. Du wirst an den Händen gebunden, und Dein edler >General< wird an den Händen gebunden. Du reitest zwischen mir und meinem Effendi, dahinter zwei Hunde. Der >General< reitet zwischen den beiden Prinzen der Ussul, dahinter wieder zwei Hunde. Diese Hunde sind nicht nur auf den Fußgänger, sondern auch auf den Reiter dressiert. Sie springen auf das Pferd und töten ihn im Sattel. Denkt also ja nicht, daß es Euch gelingen könnte, uns zu entkommen!"

"Ihr uns aber auch nicht! Sobald man beim Regimente sehen würde, daß Ihr entfliehen wollt, kehrte man schnell um und ritte Euch einfach nieder!"

"Wenn Ihr das könnt, so sei es Euch gern erlaubt! Deine Drohung klingt wie Bereitwilligkeit, auf unsere Bedingung einzugehen?"

"Noch lange nicht! Wir zählen über tausend. Es wäre Verrücktheit, uns Euch gefangen zu geben!"

"Ihr habt gar nicht nötig, dies zu tun, denn Ihr seid ja schon gefangen! Übrigens kennst Du uns. Du weißt ganz genau, daß wir nicht scherzen und daß wir unbedingt unsere Drohung ausführen, wenn Du nicht tust, was wir wollen."

"Welche Drohung?"

"Höre sie: Wir geben Dir nur zehn Minuten Zeit, Dich zu entscheiden. Weisest Du unseren Vorschlag ab, so nehmen wir Euch in unsere Mitte und verlassen diesen Ort. Vorher haben sich Deine Reiter über Schußweite zurückzuziehen. Sobald auch nur ein einziger von ihnen diese Entfernung verringert, schießen wir Euch mit Euren eigenen Pistolen nieder! Überlege schnell!"

(Seite 222A) "Und wenn wir Dein Begehren erfüllen, so reitet Ihr ohne alle Weigerung mit nach der >Stadt der Toten

"Ja."

"Und gebt uns dort frei?"

"Ja."

"Sofort?"

"Sofort! Ohne jede Weigerung oder Hinterlist!"

"Geht es nicht, ohne daß wir gebunden sind und zwischen Euch reiten müssen?"

"Nein, absolut nicht."

"Wir versprechen Euch aber - - -"

"Schweig!" unterbrach ihn der Hadschi. "Ich mag kein Versprechen von Euch hören. Ihr seid Aufrührer, Verräter, Betrüger und Lügner. Kein Mensch glaubt Euch! Sagt ja oder nein; macht schnell!"

Sie sprachen eine kurze Weile leise miteinander. Dann hörten wir den >General< ein wenig lauter sagen:

"Solche waghalsige, vermessene, vor Kühnheit tolle Menschen habe ich noch nie gesehen!"

Und hierauf teilte der >Panther< uns seine Entscheidung mit:

"Wir gehen auf Euern Vorschlag ein, wenn Ihr versprecht, zu halten, was Du versprochen hast."

"Ich verspreche es im Namen aller."

"Daß Ihr keinen Fluchtversuch macht?"

"Ja."

"Uns nach unserer Ankunft sofort freigebt?"

"Ja."

"Aber unsere Gefangenen bleibt und ohne Weigern nach dem Gefängnisse reitet, welches wir für Euch bestimmen?"

"Ja", antwortete Halef, auch jetzt, nachdem er den 'Mir heimlich angeschaut und dieser ebenso heimlich genickt hatte.

"Ich verlange von jedem von Euch den Schwur, dieses Versprechen zu halten!"

"Von jedem? Einen Schwur?" fuhr da Halef zornig auf. "Was fällt Dir ein! Sag noch so ein Wort, und alles ist aus! Du wärest der Kerl, uns Schwüre abzuverlangen! Tausend Schwüre von Dir sind soviel wie Millionen Lügen; ein einziges Wort von uns aber gilt soviel wie hundert Schwüre. Ich gab mein Wort für alle; das hat Dir zu genügen, und wenn es Dir nicht paßt, so führen wir Euch jetzt fort! Die zehn Minuten sind vorüber! Wir verlassen jetzt die Ruine und reiten mit Euch nach Ard zurück. Wollen doch sehen, ob Eure tapfere Kavallerie uns zwingen wird, Euch zu erschießen!"

Er stand auf und trat zu den beiden, um ihnen ihre Waffen abzunehmen. Da fiel der >Panther< schnell ein:

"Halt, warte doch! Ich begnüge mich mit Deinem Worte!"

Der Hadschi nahm ihnen trotzdem unter aufmerksamer Assistenz der Hunde ihre Pistolen, Messer und Säbel ab, brachte sie zu uns her und sprach dann die Aufforderung aus:

"Ruft Eure Offiziere herbei, aber ja nicht näher, als nur in Hörweite! Teilt ihnen mit, was beschlossen worden ist, und gebt ihnen den Befehl, es auf das Genaueste auszuführen! Doch rührt Euch dabei ja nicht von der Stelle! Die Hunde dulden das nicht, und Eure Pistolen, die wir jetzt haben, sind, wie ich sah, geladen!"

Sie gehorchten. Ihre Offiziere durften auf fünfzehn Schritte herankommen, doch weiter nicht, und bekamen ganz genau gesagt, wie sie sich von jetzt an bis zur >Stadt der Toten< zu verhalten hatten. Sie waren außerordentlich enttäuscht. Einige murrten sogar so laut, daß man es hörte; aber die Rücksicht auf unsere beiden Gefangenen zwang sie doch, Gehorsam zu leisten. Sie entfernten sich, und die Leute der Schwadron folgten ihnen, so daß wir nun mit unseren beiden Gefangenen allein im Inneren der Ruine waren. Nur zwei von der Mannschaft kehrten zurück, um deren Pferde zu bringen, gingen aber sogleich wieder fort. Hierauf machten wir uns reisefertig, tränkten und sattelten die Pferde, fesselten dem >Panther< und seinem >General< die Hände, ließen sie ihre Pferde besteigen, banden die Zügel derselben mit den Zügeln der unserigen zusammen und schickten dann Halef, den Wackeren, hinaus, um nachzuschauen, wie es draußen stehe. Er meldete, daß unsere Forderungen genau erfüllt worden seien. Das Regiment hatte sich ein Stück von der Ruine entfernt und (Seite 222B) wartete dort, um weiter zu reiten, sobald wir erscheinen würden. Als wir hinauskamen, setzte es sich, wie vorgeschrieben, sofort in Bewegung. Wir folgten ihnen genauso langsam oder so schnell, wie sie voranritten.

Um unsere Stimmung zu bezeichnen, darf ich sagen, daß wir uns als siegreiche Besiegte fühlten. Am muntersten war Halef. Er fragte, wie er seine Sache gemacht habe, und kassierte hierauf das allerdings sehr wohlverdiente Lob mit stolzem, selbstbewußtem Lächeln ein. Es war freilich nicht zu leugnen, daß keiner von uns es hätte besser machen können als er. Von unseren Gefangenen ist nur zu berichten, daß sie sich hüteten, uns anzusehen oder gar mit uns zu sprechen. Der >Panther< wollte seine verhaltene Wut an seinem Pferde auslassen. Er stieß ihm die Sporen in die Weichen, daß es vor Schmerz stöhnte. Da aber drohte ihm Halef:

"Wozu diese Grausamkeit? Mach das nicht wieder, sonst gewöhne ich es Dir ab!"

Da hielt es der Tschoban doch für gut, sein Schweigen zu unterbrechen. Er fragte zornig:

"Was geht es Dich an? Wem gehört das Pferd?"

"Ob mir oder Dir, ist gleich! Ich dulde nicht, daß Du zur Bestie wirst, die tiefer steht als dieses arme Tier!"

"Du duldest es nicht?" klang es höhnisch zurück. "Wie willst Du es anfangen, Kleiner?"

Bekanntlich konnte nichts den Hadschi so sehr in Zorn bringen, als wenn man von seiner Kleinheit sprach. Er flammte auch jetzt sofort und drohend auf:

"Wage den Versuch, so wirst Du es gleich sehen!"

"Wirklich? Gleich? Laß also sehen!"

Er stieß seinem Pferde die Sporen in das Fleisch, daß es mit allen Vieren in die Luft ging. Wir ritten zu seiner rechten und linken Hand. Ich drängte Syrr schnell zur Seite, damit er nicht von den Hufen des mißhandelten Pferdes getroffen werde. Halef aber wich nicht zurück; er zog schnell sein Messer und stach dem >Panther< die Spitze desselben zwei-, dreimal über zolltief in den Oberschenkel.

"Du wagst, zu stechen, Hund!" brüllte dieser auf.

"Das war für das Pferd!" antwortete Halef. "Und das ist für den Hund!"

Er richtete sich in den Bügeln auf, holte aus und schlug dem Tierquäler eine so kräftige, laut schallende Ohrfeige in das Gesicht, daß der Getroffene ihn zunächst ganz fassungslos anstarrte, dann aber trotz seiner zusammengebundenen Hände sich zu ihm hinüberschnellen wollte, um sich zu rächen. Da aber faßte ich ihn am Arme, hielt ihn fest und sagte:

"Halt! Genug! Wenn Deine Sporen das Pferd nur noch einmal berühren, dann menge ich mich drein! Wer nicht als Mensch, sondern als Vieh handelt, der wird als Vieh bestraft!"

Er blitzte mich mit tückischen Augen an und wollte etwas erwidern; das schnitt ich ihm aber durch den Befehl ab:

"Fertig! Kein Wort mehr!"

Er gehorchte; aber der Gedanke, schweigen zu müssen, arbeitete derart an ihm herum, daß eine Explosion vorauszusehen war. Sein Blick hing in einem fort an dem Schenkel, der an drei Stellen blutete. Er gab sich die größte Mühe, seinen Grimm zu beherrschen, aber vergeblich; er platzte nach einige Zeit doch los:

"Ja, ich will still sein, still! Aber nur heut! Wartet nur bis morgen! Da werdet Ihr vor Angst und Entsetzen brüllen, schreien und quacken wie die Frösche, ehe sie im Schnabel des Pelikan verschwinden!"

Wir antworteten nicht. Da dachte er, wir hätten das von ihm angewendete Bild nicht verstanden. Darum fragte er:

"Habt Ihr es gehört? Der Pelikan bin ich! Die Frösche aber seid Ihr, Ihr, Ihr!"

Halef lachte lustig auf:

"Sihdi, heißt Pelikan nicht Kropfgans?" erkundigte er sich.

"Ja", antwortete ich.

"Also Kropfgänserich! Der Prinz der Tschoban ist Kropfgänserich! Er selbst behauptet es! Das genügt!"

Ich will keineswegs sagen, daß diese Ironie des kleinen Hadschi geistreich gewesen sei, o nein; aber sie war dem Bildungsstande (Seite 223A) des >Panthers< vollständig angepaßt, und Halef brachte sie in seiner ihm eigenen Weise derart vor, daß sie ihren Zweck nicht verfehlte. Der Verspottete war zum Schweigen gebracht. Er sah ein, daß es gefährlich sei, mit dem Hadschi anzubinden, ganz gleich, ob in dieser oder in einer anderen Weise.

Sein Mitverschworener, der >General<, verhielt sich sehr ruhig und gefügig. Er belästigte die beiden Ussul, zwischen denen er ritt, nicht im geringsten. Ebenso still war auch der 'Mir, der es vorzog, hinter uns der Allerletzte zu sein. Er gestand mir später, daß es ihm genauso vorgekommen sei, als ob er das, was geschah, nicht erlebe, sondern nur träume. Und ich gebe ja zu, daß die Situationen und Geschehnisse, in deren Mitte wir uns befanden, keine gewöhnlichen waren und den Irrtum zu träumen, sehr wohl vortäuschen konnten. Das Ungewöhnliche lag nicht darin, daß ein orientalischer Despot sich plötzlich und wie mit einem Schlage aller seiner Macht beraubt sah, denn das ist schon oft geschehen und wird sich wohl auch noch oft wiederholen, sondern die Nebenumstände, die sich an dieses Ereignis setzten wie die Nebensprossen eines treibenden Astes, sie waren es, welche den Eindruck des Seltsamen, des Phantastischen, des Wunderlichen und Verblüffenden hervorriefen. Das Unglaublichste war jedenfalls das Verhalten der beiden Hauptpersonen zueinander. Wenn an tausend Schriftsteller die Aufforderung ergangen wäre, die Verschwörung des >Panther< gegen den 'Mir von Ardistan in Romankapitel zu fassen, so hätte wohl kein einziger von ihnen verfehlt, dieses erste, feindliche Zusammentreffen der beiden außerordentlich explosiven Charaktere so erregt und laut wie möglich vor sich gehen zu lassen. Und nun so ganz im Gegenteil hier diese eisige, vollständig sprachlose Stille! Es hatte keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort an den anderen gerichtet! Grad die Hauptsache wurde so vollständig in Schweigen gehüllt, als ob sie gar nicht existiere! Wie sonderbar, daß die beiden Parteien sich gegenseitig in die Hände gefallen waren! Wir waren die Gefangenen des >Panthers< und seines >Generals< und sie doch ebenso auch die unserigen! Wie würde sich das lösen?

Diese letztere Frage war es, die den 'Mir ganz besonders beschäftigte, obgleich er die Überzeugung hegte, daß ihre Beantwortung nicht etwa schwer, sondern sogar sehr leicht sein werde. Er glaubte wirklich, daß wir nach unserer Ankunft in der >Stadt der Toten< um so eher wieder frei sein würden, je williger wir uns in die Gefangenschaft fügten. Also nicht unsere Befreiung machte ihm Sorge, sondern seine Bangigkeit hatte einen ganz anderen Grund, und dieser Grund hieß - Wasser!

Während wir unterwegs waren, schwieg er hierüber, weil die Gefangenen nichts hören sollten. Aber als wir dann kurz nach Mittag lagerten, um die Pferde ausruhen zu lassen, sonderte er sich mit mir und Halef von ihnen ab, um uns das, was ihn bedenklich machte, mitzuteilen.

Ich muß vorher sagen, daß wir uns jetzt nicht mehr auf bebautem Boden bewegten. Es gab nur hier und da noch ein einsames, dürftiges Feld. Auch grasige Flächen wurden immer seltener. Wir hatten die Steppe erreicht, und grad der Teil von ihr, den wir durchqueren mußten, schien der unfruchtbarste von allen anderen zu sein. Nämlich von Ard bis an die Ruine war unser Weg genau von Nord nach Süd gegangen; jetzt aber führte er ebenso genau von Ost nach West. Unser Ziel, die >Stadt der Toten<, lag im Westen, am ausgetrockneten Strome, dessen Wasser, wie die bekannte Sage erzählte, bergauf nach seinem Ursprung zurückgegangen war. Dort gab es jetzt nur noch Wüste, vollständig sterile Wüste, in der die längst ausgestorbenen und meist zerfallenen Häuser der einstigen Hauptstadt lagen. In diese Wüste ging die Steppe über, in der wir uns jetzt befanden. Sie entblößte sich, je weiter wir kamen, immer mehr und mehr von Gras und Futterpflanzen und brachte schließlich nur noch jene kleinen, niedrigen und dürren Kräuter hervor, welche reich an ätherischen Ölen sind und darum nicht von den Pferden gefressen werden. Dieser Umstand brauchte uns allerdings, was nur uns betrifft, keine Sorge zu machen, denn wir hatten uns wohl vorgesehen. Wir hatten nicht nur Proviant für uns selbst mit, sondern auch einige Futterrationen für die Pferde. Und wer da weiß, daß sogar unsere Hunde, wenn wir unterwegs waren, in ihren aufgeschnallten Sattelschläuchen (Seite 223B) Wasser bei sich zu tragen pflegten, der wird es für ganz selbstverständlich halten, daß wir diese Schläuche heut früh in der Ruine von neuem gefüllt hatten und also mit Wasser wohl versehen waren. Also nicht um uns handelte es sich, wohl aber um die über tausend Menschen und über tausend Pferde, bei denen wir uns befanden. Woher sollte in dieser Gegend das nötige Wasser für sie alle kommen?

Diese Frage trat auch an mich um so näher heran, je weiter wir auf unserem Wege kamen. Als wir sahen, daß das vor uns reitende Regiment anhielt, um eine Ruhepause zu machen, und wir also auch anhalten mußten, gab es rundum keine Quelle, keinen Tümpel, keinen einzigen Tropfen Wasser. Mensch und Tier mußte also dürsten. Wir aber öffneten unsere Schläuche, nicht nur für uns, sondern auch für die Gefangenen. Die Hunde durften trinken, und sogar auch die Pferde bekamen so viel, daß es ausreichte, sie wenigstens zu erfrischen. Da bekamen ich und Halef einen Wink vom 'Mir, zu ihm zu kommen. Er hatte sich abseits gesetzt, von den Gefangenen entfernt, um nicht gezwungen zu sein, sich überhaupt mit ihnen zu befassen. Als wir uns bei ihm niedergelassen hatten, war meine erste Frage an ihn nach Wasser für unterwegs. Er antwortete:

"Das ist es, was ich mit Dir zu besprechen habe. Nicht jetzt ist diese Deine Frage für uns dringlich, sondern erst dann, wenn wir frei sind und uns auf den Heimweg machen wollen."

"So gibt es in der >Stadt der Toten< wohl gar kein Wasser?" erkundigte ich mich.

"Keinen einzigen Tropfen!" erwiderte er.

"Aber das, was ich von Dir und andern hörte, läßt vermuten, daß Leute dort wohnen, Verbannte, Gefangene und also wohl auch Beamte, welche Aufseherdienst verrichten. Alle diese Leute müssen doch Wasser haben!"

"Das ist richtig. Sie bekommen es auch, aber nicht von dort, sondern von weit her, wo es einen kleinen Brunnen gibt, der mehrere hundert Fuß tief ist und dessen Wasser man mühsam heraufleiert, um es in eine große, extra hierfür angelegte Zisterne laufen zu lassen. Aus dieser wird es in Schläuche geschöpft und per Kamel nach der >Stadt der Toten< transportiert."

"Wie weit ist diese von dem Brunnen entfernt?"

"Die Kamele brauchen zwei volle Tage, um hinzukommen."

"Hin und zurück also vier Tage?"

"Ja."

Er sah mich dabei ganz eigenartig an, ich ihn aber auch, denn es drängte sich mir da ein Gedanke auf, der mir diesen Wassermangel in einem nicht nur häßlichen, sondern geradezu gräßlichen Licht erscheinen ließ. Man brauchte ja nur, um mißliebige Verbannte oder Gefangene verschwinden zu lassen, für einige Tage kein Wasser nach der >Stadt der Toten< zu schicken. Der Mensch verdurstet weit schneller, als er verhungert. Ich aber war still hierüber und fragte weiter:

"So hätten wir uns an diesem Brunnen mit Wasser auf wenigstens vier Tage zu versehen, um auf dem Rückwege zu ihm nicht unterwegs zu verdursten?"

"So ist es!"

"Das ist schwer, sehr schwer! Wer soll das Wasser tragen, welches wir für so lange brauchen? Und selbst wenn diese Frage wegfiele, der >Panther< würde es doch vereiteln, daß wir dem Verdursten entgehen."

"Du glaubst, er will unseren Tod?"

"Ich glaube es nicht nur, sondern ich bin überzeugt davon! Er führt uns dem offenbaren Tode entgegen."

"Oder ich ihn! Warten wir es ab! So weit ist mein Vertrauen zu ihm doch nicht gegangen, daß ich ihm die Geheimnisse der >Stadt der Toten< verraten habe! Er kennt sie nicht und wird an ihnen zugrunde gehen! Was will er jetzt? Warum winkt er nach vorn?"

Der >Panther< war nämlich aufgestanden, daß man ihn beim Regimente sehen möge, und gab mit dem Arm das Zeichen, daß jemand kommen solle. Wir erfuhren, daß er nach dem Hekim des Regiments verlange, um sich die Löcher, die Halef (Seite 224A) ihm gestochen hatte, verbinden zu lassen. Der 'Mir hatte nichts dagegen, daß dieses geschah. Nachdem man ihm seinen Wunsch erfüllt hatte, war die Ruhezeit vorüber, und der Ritt wurde fortgesetzt, ganz selbstverständlich in derselben Weise wie vorher. Dabei geschah nichts, was ich als erwähnenswert bezeichnen könnte, und da ich auch von der Gegend, durch welche wir kamen, nur das eine zu sagen habe, daß sie immer öder und trauriger wurde, so will ich kurz sein und nur erwähnen, daß man es darauf abgesehen hatte, den Brunnen, von dem zwischen uns die Rede gewesen war, noch heute zu erreichen. Der Ritt, der das erforderte, war aber ein so langer und so angestrengter, daß wir unterwegs noch einige Male rasten mußten und erst nach Mitternacht am Ziele anlangten. Von der örtlichen Beschaffenheit des letzteren konnten wir nichts sehen, denn wir standen jetzt am Ausgange des Neumondes, und es war also dunkel.

Die Pferde der Kavalleristen waren so müde, daß sie es wohl keine Stunde länger ausgehalten hätten; die unserigen aber hatten die Anstrengung vortrefflich überstanden. Der Befehl zum Lagern wurde gegeben. Man bildete einen festgeschlossenen Kreis um uns, der so eng war, daß wir uns das verbitten mußten. Der Gedanke lag nahe, daß man sich während der Nacht ganz plötzlich auf uns werfen wolle, um unsere Gefangenen zu befreien. Wir drohten ihnen, sofort weiterzureiten und sie augenblicklich zu erstechen, falls man versuche, uns daran zu verhindern. Das half. Die Soldaten zogen sich so weit von uns zurück, daß wir uns vor jeder Überrumpelung sicher fühlen konnten. Trotzdem fiel es uns aber nicht etwa ein, die gebotene Vorsicht außer acht zu lassen. Wir schliefen nicht alle zu gleicher Zeit, sondern abwechselnd, so daß immer einer von uns, der die anderen wecken konnte, wach und munter war.

Als der Tag zu grauen begann, sahen wir, daß wir uns am Fuße eines langgestreckten Hügelzuges befanden, der aus reinem, sehr hartem Felsen bestand. Dieser Felsen, welcher sich jedenfalls tief unter die Erde verlor, war die Ursache, daß sich hier trotz der allgemeinen Trockenheit eine Quelle hatte bilden können, wenn auch nur in so beträchtlicher Tiefe. Er strich von Ost nach West und hielt also alle Feuchtigkeit fest, die nur von Norden, wo die Berge lagen, heraufsickern konnte. Diesen Höhenzug abgerechnet, war die Gegend, so weit das Auge reichte, eine einzige ununterbrochene Ebene, in der es nicht die geringste Erhöhung oder Vertiefung, nicht die kleinste Bodenwelle gab. Sand, Sand, wohin man schaute; nur Sand, weiter nichts als Sand! Und zwar jene Art des Sandes, welcher sich wie fein gemahlener Kieselstein anfühlt und von den arabischen Bewohnern der Wüste als Er Raml el hijavahn bezeichnet wird.

Die von gestern her noch sehr ermüdeten Truppen schliefen, als wir einander weckten, noch immer. Hiervon ausgenommen waren die Wachen und eine Abteilung von ungefähr zwanzig Mann, welche am Brunnen und an der Zisterne beschäftigt waren. Sie leierten ununterbrochen Wasser aus der Tiefe und füllten es auf Schläuche, die zu mehreren Hunderten da aufgestapelt lagen. Unweit davon waren getrocknete Früchte, verschiedene Arten von Dauergebäck und andere Nahrungsmittel aufgestapelt. Es gab sogar auch frisches Fleisch von Tieren, welche jedenfalls erst gestern geschlachtet worden waren. Unsere Gefangennahme war also nicht plötzlich improvisiert, sondern von langer Hand her vorbereitet worden. Gewisse Spuren verrieten uns, daß sämtliche Pferde während der Nacht getränkt worden waren, nur unsere nicht. Für diese hatte unser eigenes Wasser gereicht. Nun dieses aber alle war, beschlossen wir, sie sogleich so ausgiebig wie möglich trinken zu lassen und auch die Schläuche wieder zu füllen. Jetzt ließ sich das mit Bequemlichkeit tun, und das Wasser floß noch klar und rein, während anzunehmen war, daß man es später, wenn sich alle die vielen Menschen herbeidrängten, sehr schnell verunreinigen werde.

Natürlich aber konnte es uns nicht einfallen, nach dem Brunnen zu gehen und den >Panther< und seinen >General< hier, wo wir uns befanden, liegen zu lassen. Da wären sie ja sofort frei gewesen, und doch beruhte der einzige Vorteil, den wir besaßen, nur in dem Umstande, daß sie sich in unserer Gewalt (Seite 224B) befanden. Sie mußten also mit. Aber sie weigerten sich, aufzustehen.

"Was sollen wir? Wohin wollt Ihr?" fragte der Prinz der Tschoban. "Wollt Ihr uns etwa ausreißen? Glaubt ja nicht, daß Euch das gelingt!"

"Ausreißen? Wir?" lachte Halef. "Vor wem denn? Etwa vor Dir? Welch ein Blödsinn! Wenn jemand in den Verdacht kommen kann, ausreißen zu wollen, so seid nur Ihr beide es. Denn außer Euch gibt es hier keinen einzigen Menschen, der als Gefangener zu betrachten ist! Wir wollen uns waschen; wir wollen unsere und Eure Pferde tränken, und wir wollen unsere leer gewordenen Schläuche wieder füllen."

"Das ist unnötig!"

"Wieso?"

"Es wird Wasser für Euch mitgenommen."

"Von wem?"

"Von denen, die mich und Euch begleiten."

"Also vom ganzen Regiment?"


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