" Am Ziel! " rief der Kommandierende, indem er seinen Reitern winkte, uns von drei Seiten zu umschließen; an der vierten hatten wir die Mauer.

" Ja, am Ziele! " wiederholte der > General <.

Und der > Panther < sagte, indem er tief und erleichtert Atem holte, zu uns:

" Wir sind angekommen! Nun hört der Spaß auf, und der Ernst beginnt! Sind wir nun endlich frei? "

" Ja, " nickte ich, weil der 'Mir nicht antwortete.

" Und Ihr ergebt Euch in Euer Schicksal? "

" Mit Vergnügen! "

" Das heißt, Ihr reitet durch dieses Tor in den Gefängnishof, ohne Euch zu wehren? "

" Ja. Wir haben es versprochen, also halten wir es! "

Halef band ihn und den General los. Sie erhielten ihre Waffen zurück und sprangen dann von ihren Pferden. Der > Panther < machte ein eigentümliches Gesicht. Er musterte uns, die wir nicht abstiegen, mit höhnisch lachenden Augen und sagte:

" Eigentlich wollte ich Eure Pferde und Hunde haben. Aber ich weiß, daß diese Bestien auf geheime Kunststücke gedrillt sind, und will also lieber verzichten. Behaltet sie! Und nun kommt der Abschied! "

Er trat selbst an das Tor, ergriff den daranhängenden Klöppel und klopfte. Es wurde sofort geöffnet. Man schien auf dieses Klopfen gewartet zu haben. Jedenfalls hatte man uns kommen sehen. Das Tor war, wie ich nun sah, nicht ein einfaches, sondern ein doppeltes. Es gab zwei äußere und zwei innere Türflügel. Die einen schlugen auf den freien Platz heraus, die anderen nach dem Hof hinein. Zwischen beiden lag der Raum, in dem die Gefangenen in Empfang genommen und die hierbei gebräuchlichen Formalitäten erledigt wurden. Dieser Raum war von ziemlicher Größe; er bot Platz für uns und unsere Pferde und Hunde. Der 'Mir hatte nur von der Mauer, nicht aber auch von diesem Empfangsraume gesprochen, doch war das wohl kein Grund, nun gleich schon wieder Verdacht zu hegen und Sorge zu haben. Es gab auch gar keine Zeit dazu, denn als man die beiden äußern Torflügel aufstieß, wurden zugleich auch die inneren geöffnet, und es erschien dort ein Mann, wahrscheinlich ein Beamter, der uns aufforderte, hereinzukommen. (Seite 233A) Der 'Mir tat dies sofort. Ich folgte ihm, und so kamen Halef und die beiden Prinzen der Ussul ohne Weigern hinterdrein.

" Grüßt mir den Dschirbani und meinen vortrefflichen Bruder! " hörten wir den > Panther < rufen; dann flogen sowohl die äußeren wie auch die inneren Torflügel wieder zu, und wir befanden uns in völliger Dunkelheit.

" Allah kerihm! " rief Halef. " Was ist das? Sollte das eine Falle sein? "

" Jedenfalls, " antwortete ich.

" Nein! " widersprach der 'Mir. " Der Aufseher wird sein Tor gleich wieder öffnen. Das äußere wird freilich verschlossen bleiben. "

" Wer aber hat es zugemacht? Doch nicht der > Panther

" So geschah es durch irgendeine Vorrichtung, wie es hier in der Gefängnisstadt so viele gibt! "

" Du versichertest mir aber doch, daß es in der Nummer fünf keine solche Heimlichkeiten gebe! Steigen wir ab, schnell, schnell! Und versuchen wir, zu öffnen! "

Aber noch während ich mich aus dem Sattel schwang, gab es unter uns ein heiseres Kreischen, wie wenn ungeölte Wagenräder sich drehen, und der Fußboden begann, sich zu senken. Der 'Mir schrie laut auf; Halef schrie, und die zwei Prinzen der Ussul schrien. Die vier Hunde fielen mit lautem Bellen ein. Es gab da einen Heidenlärm. Ich aber war still. Es galt, den Kopf nicht zu verlieren, sondern trotz der Größe der Überraschung vollständig kaltblütig zu bleiben. Wir sanken nicht allzu tief, vielleicht drei- bis viermal Manneshöhe. Nun hielt die Bewegung inne, doch nur für kurze Zeit. Dann senkte sich der Fußboden so tief nach der einen Seite, daß er eine schiefe Ebene bildete, auf der wir uns nicht halten konnten. Wir glitten nach dieser Seite hinunter, wir alle, Menschen, Pferde und Hunde. Wären unsere Tiere nicht so edel und folgsam gewesen, so hätte das einen schlimmen Wirrwarr ergeben; so aber kamen wir mit einigen Stößen und leichten Quetschungen davon.

" Licht machen! Schnell, schnell! " befahl der 'Mir.

" Nein, kein Licht! " antwortete ich.

" Warum nicht? "

" Abwarten! Horch! "

Das Kreischen begann von neuem. Der Fußboden hatte uns seitwärts abgeladen und bewegte sich wieder nach oben. Zugleich erschallte die Stimme des > Panthers < aus der Höhe herab:

" Das dachtet Ihr wohl nicht, Ihr Schurken? Das war das Geheimnis des Maha-Lama von Dschunubistan und meines alten, treuen Basch-Islami! "

" Schadet nichts! " antwortete Halef laut lachend. " Wir laden uns zur Hochzeit ein, wenn seine Tochter mit Dir den Thron besteigt! "

Der kleine, rabiate Kerl konnte es nicht über sich bringen, still zu sein. Er hätte lieber sonst etwas erlitten, als gehindert zu sein, dem > Panther < einen Hieb zurückzugeben. Dieser sandte eine Erwiderung herab, die wir aber nicht mehr verstehen konnten, weil der Fußboden jetzt oben angekommen war und die Öffnung sich also wieder schloß.

" Warum willst Du kein Licht? " fragte mich der 'Mir.

" Ich will welches, aber nicht sofort jetzt, " antwortete ich. " Ich nehme an, daß man uns noch lange beobachtet, und sie sollen nicht erfahren, daß wir sehr wohl imstande sind, uns soviel Licht zu machen, wie wir brauchen. Hast Du eine Ahnung, wo wir uns eigentlich befinden? "

" Nein. Ich könnte Dir zwar antworten: Natürlich befinden wir uns grad unter dem Gefängnis Nummer fünf, aber das würde doch keine kluge Antwort sein. "

" Allerdings nicht. Unsere Rettung hängt davon ab, daß wir kaltblütig bleiben und keinen einzigen Schritt weiter tun, bevor wir uns nicht ganz genau orientiert haben, wohin uns der vorige Schritt gebracht hat. Ein jeder nehme sein Pferd an sich und wir, Halef, auch unsere Hunde, damit sie alle ruhig bleiben! "

Es dauerte eine kurze Zeit, bis das geschehen war; dann fuhr ich fort:

(Seite 233B) " Zunächst die Himmelsrichtung! Nach welcher Richtung sind wir vom Fußboden herabgeglitten? "

" Nach West, " antwortete Halef. " Ich stand schon oben mit dem Gesicht nach West und habe mich seitdem nicht gedreht. "

" Das stimmt. Der freie Platz, auf welchem das Gefängnis steht, liegt über der Mündung des Nebenflüßchens, von dem wir, während wir den Berg herabritten, sprachen. Dieses Flüßchen fließt genau aus West in den Hauptstrom. Ich habe mir zweierlei sehr genau gemerkt, nämlich wo seine Mündung und wo das Gefängnis liegt. Es geht gerade unter dem Gefängnishofe hindurch. Ich bin also überzeugt, daß wir uns in dem Kanale befinden, der über seinem natürlichen Lauf künstlich gewölbt worden ist. Können wir diesem Kanale in östlicher Richtung folgen, so gelangen wir an seine Mündung, die wir sahen, und sind dann frei. Ich vermute aber, daß wir das nicht können. Man wird ihn verschüttet haben, damit kein Gefangener entfliehen könne. Was weißt Du hiervon? "

Diese Frage war an den 'Mir gerichtet.

" Nichts weiß ich, " antwortete er. " Sprich weiter, Effendi! "

Ich fuhr fort:

" Folgen wir dem Kanale in westlicher Richtung, so führt er uns jedenfalls unter der Militärstadt hin in das Festungsinnere. Kennst Du vielleicht einen Ort, an dem er dort zutage tritt? "

" Nein; ich kenne leider keinen, " erklärte der 'Mir, und zwar ziemlich kleinlaut. " Fast möchte ich mich vor Dir schämen! Ich habe mit meinen großen Kenntnissen über die > Stadt der Toten < geprahlt und war auch wirklich überzeugt, sie zu besitzen, und kaum sind wir angekommen und haben noch gar nicht festen Fuß gefaßt, so stellt sich schon heraus, daß meine Unwissenheit größer ist als mein Wissen! "

" Das schadet nichts! " tröstete Halef. " Auch die Unwissenheit ist eine ganz hübsche Sache. Sie nützt dem Menschen zuweilen mehr als alles Wissen. Nur ein bißchen Glauben muß dabei sein, ein bißchen Glauben an Allah und seine Scharen, die er uns sendet, wenn Rettung nötig ist. Wie oft, wenn ich gemeint habe, recht klug gewesen zu sein, habe ich mich tief in das Unheil hineingeritten! Und wenn meine Unwissenheit mir riesengroß vor Augen stand und ich darum zu Allah um Hilfe betete, da habe ich kaum > Amen < gesagt gehabt, so war ich schon gerettet! Also, daß Du unwissend bist, das schadet nichts, denn ich bin es auch. Ich und mein Effendi haben uns noch in viel, viel schlimmeren Lagen befunden, als unsere heutige ist, und doch sind wir stets glücklich entkommen. Wir werden uns auch hier zu helfen wissen, und wie wir das anzufangen haben, das wird uns jetzt mein Sihdi sagen; paß auf! "

" Warum willst denn Du es nicht sagen? " fragte ich ihn, wie ich gestehe, ein wenig ironisch.

" Weil ich es nicht weiß! " antwortete er.

" So! Aber ich? Ich soll und muß es wissen? "

" Allerdings! "

" Warum? "

" Es ist Deine Pflicht! Du hast mich einmal so daran gewöhnt, daß Du nachdenkst, ich aber führe es aus. Alle großen und berühmten Heldentaten, die man von uns erzählt, sind in Deinem Gehirn entsprungen. Von da sprangen sie dann zu mir herüber, in meine Arme und Beine. Da sind sie zur Tat geworden und hinaus in alle Welt gegangen. So soll es auch jetzt sein. Denke nur nach, Sihdi! Was Du Dir ersinnst, das machen wir! "

" Könnte es denn nicht zur Abwechslung auch einmal so sein, daß Ihr nachdenkt und ich führe es dann aus? "

" Nein; das geht nicht. Wir sind vier Personen, und Du bist nur eine. Du kannst unmöglich das alles ausführen, was wir ersinnen würden. Es mag also bleiben, wie es stets gewesen ist. "

Diese Drolligkeit des kleinen Hadschi kam mir ganz recht. Die Unbesorgtheit, mit der er unsere Lage betrachtete, mußte auch den anderen jede Bangigkeit nehmen. Ich ging auf seine Ansicht ein, indem ich beistimmte:

" Nun gut! Ich will versuchen, Deine Wünsche zu erfüllen. Wir werden zunächst nachschauen, ob der Kanal, in dem wir uns befinden, nach Osten hin passierbar ist. Wäre dies der (Seite 234A) Fall, so gelangten wir, wie ich schon gesagt habe, durch seine Mündung, die wir kennen, in den Hauptstrom und wären dann sofort frei. Doch nehme ich an, daß es einen Ausgang nach dieser Seite hin nicht mehr gibt. Der > Panther < hat die Örtlichkeit jedenfalls sehr genau untersucht, ehe er uns hier herunterexpedierte. So bleibt uns denn nichts anderes übrig, als uns nach West zu wenden. "

" Beginnen wir also! Machen wir Licht! " meinte der 'Mir ungeduldig.

" Nein, noch nicht. Wir warten noch. Ich vermute, daß man oben lauscht. Man soll nicht sehen, daß wir Licht besitzen, daß wir die Sache kalt überlegen und nicht überstürzen, daß wir also keineswegs so verzweifelt sind, wie die da oben sehr wahrscheinlich denken. "

Er mußte sich fügen, wenn er es auch ungern tat. Wir warteten wohl eine ganze Stunde, und es stellte sich heraus, daß ich recht gehabt hatte. Es geschah während dieser Zeit zweimal, daß der bewegliche Boden da oben so weit heruntergelassen wurde, daß es möglich war, an den Kanten herabzusehen. Auch hörten wir Stimmen. Sie klangen aber so unterdrückt, daß wir die Worte nicht verstehen konnten. Grad absolut nötig war dieses unser Warten wohl nicht, aber ich wollte unsere Feinde in Sicherheit wiegen. Je fester sie überzeugt waren, daß eine Flucht für uns gar nicht möglich sei, um so weniger gaben sie auf uns acht. Als aber eine Stunde vorübergegangen war, ohne daß sie sich zum dritten Male regten, öffnete ich mein Paket, und wir machten Licht.

Da zeigte es sich denn sofort, daß ein Entkommen nach der Ostseite hin als unmöglich erschien. Der Kanal war nach dieser Seite hin nicht nur zugeschüttet, sondern sogar mit so großen und so schweren Felsenstücken versetzt, daß alle unsere Kräfte nicht ausreichten, auch nur ein einziges loszubekommen und zu bewegen. Es blieb uns also nichts anderes übrig, als uns nach der Westseite zu wenden.

Die war offen. Der Kanal glich keineswegs einem engen, niedrigen Bergwerksstollen. Er war fast zwei Männer hoch und so breit, daß über ein Dutzend Personen nebeneinandergehen konnten, ohne sich zu berühren. Infolge dieser Breite gab es in der Mitte eine fortlaufende Pfeilerreihe, von welcher die Decke mitgetragen wurde. Der Boden war vollständig eben und glatt. Man hatte Sorgfalt auf ihn verwendet. Er glich einer glatt geschlagenen Lehmtenne. Es gab eine leidlich gute Luft und nicht die geringste Spur von Feuchtigkeit.

" Das sieht nicht aus wie ein Wasserkanal, wie der Ablauf eines Flusses! " sagte der 'Mir.

" Du kennst ihn also nicht? " fragte ich ihn.

" Nein. Ich weiß nur, was ich Dir schon gesagt habe, nämlich, daß sich das Nebenflüßchen an der Stelle, die ich Dir zeigte, in den Hauptstrom ergossen hat, und daß man den Lauf desselben mit einem Gewölbe überbaute. Den Gedanken, in diesen Kanal einzudringen, habe ich nie gehabt. Wie lang mag er wohl sein? "

" Das werden wir erfahren. Wir zählen die Schritte. Das dürfen wir überhaupt nicht unterlassen, wenn wir uns später orientieren wollen. "

Nicht ein jeder bekam ein Licht. Wir mußten sparen. Es wurden nur zwei Kaffeelämpchen mit Sesamöl gefüllt und angebrannt; dann machten wir uns auf den Weg. Wir gingen natürlich langsam, sehr langsam, denn die kleinen Flämmchen waren so unzureichend, daß man nicht drei Schritte weit zu sehen vermochte. Wir konnten an jedem Augenblick an eine Unterbrechung des Kanals, an ein Loch, einen Abgrund, eine heimtückische Falle oder an irgend sonst etwas geraten, was uns verderblich sein sollte. Aber es kam nichts Derartiges. Wir gingen hundert Schritte, fünfhundert, tausend Schritte. - - -

" Das wird langweilig! " zürnte Halef.

" Denkst Du, daß man uns zur Kurzweile hier eingesperrt hat? " fragte ich ihn.

" Nein, das nicht. Aber wenn das so fort geht, setze ich mich her und schlafe ein! "

Als wir sechshundert Schritte gezählt hatten, nahm ich an, daß der Kilometer voll sei. Aber wir legten einen zweiten Kilometer zurück, ohne daß wir an das Ende kamen. Wir führten (Seite 234B) die Pferde am Zügel. Auch die Hunde hatten sich hinter uns gehalten, still und ohne Aufregung. Nun aber wurden sie unruhig. Sie drängten sich vor. Sie wollten uns voran; wir mußten sie an die Leine nehmen; aber sie ließen sich das nur widerwillig gefallen. Uucht blieb plötzlich stehen, um eine Stelle des Bodens zu untersuchen. Dann hob sie die Nase, sog die Luft mit lang ausgestrecktem Halse ein und riß sich dann los. Ein lautes Freudengeheul ausstoßend, verschwand sie in dem uns entgegengähnenden Dunkel, Aacht, Hu und Hi sofort hinter ihr her. Wir konnten sie nicht halten. Ihre Stimmen erregten in dem langen, die Schallwellen tausendfach zurückwerfenden Kanale einen Lärm, als ob eine Legion von Teufeln brülle und heule.

" Der Dschirbani? " fragte der 'Mir.

" Wahrscheinlich! " antwortete Halef. " Unser Dschirbani und der Prinz der Tschoban! Beeilen wir uns! "

Die Hundestimmen verklangen; dann hörten wir menschliche. Aber es war kein einziges Wort zu verstehen. Der Widerhall verstärkte und verwirrte die Töne ins Ungeheuerliche. Ganz selbstverständlich war es nun mit unserer bisherigen Langsamkeit zu Ende. Wir eilten vorwärts, so schnell wir konnten. Und die beiden kamen uns ebenso schnell entgegen. Ja, sie waren es; der Dschirbani und Sadik, der wahrhaft erstgeborne Prinz der Tschoban!

Ich unterlasse es, das Wiedersehen zu beschreiben. Sie waren ganz auf dieselbe Art, wie wir in die Falle gelockt worden. Sie waren überzeugt gewesen, mit dem Herrscher von Ardistan verhandeln zu sollen. Aber sie hatten nicht so viel Glück gehabt wie wir. Man hatte sie überwältigt, entwaffnet und gefesselt und ihnen nur die Füße wieder freigegeben, als sie am Gefängnis Nummer fünf angekommen und, grad so wie wir, ganz unvermutet in die Tiefe hinabgelassen worden waren. Dann unten hatten sie einander die Hände selbst befreit. Sie waren nun schon zwei volle Tage unten, ohne Essen und ohne Wasser. Besonders ihr Durst war groß, weil man ihnen auch schon während des Transportes nichts zu trinken gegeben hatte. Wir wollten ihnen gleich jetzt, hier an Ort und Stelle, Wasser verabreichen; sie aber sagten uns, daß es bequemer sei, mit ihnen erst an das Ende des Kanals zu kommen, wo der Raum größer sei und es auch Sitze gebe. Wir gingen auf diesen Vorschlag ein.

Sie hatten vor zwei Tagen keinen andern Weg gefunden als den, den wir auch kamen, und sich mit den Händen vorsichtig weiter getastet, bis sie bemerkten, daß der Kanal zu Ende sei. Er wurde durch riesige Felsquader verschlossen, die so künstlich zubehauen waren, daß man sie für natürliche hielt. Die feinen, wohlausgepaßten Spalten, in denen sie sich aneinander fügten, schienen natürliche Risse und Sprünge zu sein. Der Gang erweiterte sich da, wo er aufhörte, zu einem großen, viereckigen Raume, der einem saalähnlichen, geräumigen Zimmer glich und längs der Wände hin mit steinernen Sitzen versehen war. Da ließen wir uns nieder.

Hier, an diesem unterirdischen, nur von einigem leisen Dämmerscheine erhellten Raume sahen sich der 'Mir und der Dschirbani zum ersten Male. Zunächst bekam der letztere und sein Gefährte zu trinken. Inzwischen brannte ich einige der mitgebrachten Kerzen an, um wenigstens für kurze Zeit so viel Licht zu machen, daß wir einander deutlich sehen konnten. Da reichte der 'Mir dem Dschirbani die Hand, und dieser hielt sie fest. Sie sahen einander an, ohne zu sprechen, ohne sich auch nur zu grüßen. Dann setzte sich der 'Mir auf eine der Bänke und wendete sich an mich:

" Hier ist nicht der Ort zu Begrüßungen zwischen Fürsten und Heerführern. Daß wir uns sprechen und miteinander verhandeln wollten, war eine Lüge des > Panther <. Aber diese Lüge wird zur Wahrheit werden. So verwandelt die Hand der Vorsehung das Böse in Gutes. Aber hier soll dies nicht geschehen. Hier sind wir nicht einmal Herren unseres eigenen Schicksals; wie könnten wir uns erdreisten, fremde Geschicke leiten und lenken zu wollen! Hier sind wir Menschen, hilfsbedürftige Menschen, die sich in großer Not und Sorge befinden. Sobald diese vorüber ist, werden wir wieder sein, was wir waren. Jetzt aber richte ich an Dich, Effendi, die Frage, was Du über unsere jetzige Lage denkst. Ist sie aussichtslos oder nicht? "

(Seite 235A) Da antwortete ich schnell und bestimmt:

" Ich brauche sie gar nicht erst zu prüfen, um Dir sagen zu können, daß von Aussichtslosigkeit gar keine Rede ist. "

" Ich danke Dir! Das beruhigt mich. Aber wenn sich nun auch hier kein Ausgang findet? "

" So kehren wir dorthin zurück, woher wir gekommen sind. Daß der Fußboden des Empfangsraumes beweglich ist, war uns bisher nachteilig. Ich habe zwar keinen Grund, anzunehmen, daß es uns nicht auch zum Vorteil werden könne. Wenn der Boden auf- und niedersteigt, so geschieht dies nur durch Anwendung von Hemmungen und Gewichten. Befänden sich diese Gewichte über der Erde, so hätten wir auf Hoffnung zu verzichten. Es gab aber da oben, am Tore und an der Mauer, nicht den geringsten Platz für sie. Sie sind also nur unter der Erde zu suchen, und ich bin überzeugt, daß wir sie finden werden. Ist das geschehen, so ist es keinem > Panther < möglich, uns länger zu halten, als wir uns halten lassen wollen. "

" Das klingt ja hoffnungsvoll! Wer hätte das gedacht! Ich verließ mich auf meine Kenntnis der hiesigen Örtlichkeiten und muß mich nun ganz auf Dich verlassen! Willst Du noch mehr sagen? "

" Ja. Es ist nämlich noch gar nicht erwiesen, daß wir hier umzukehren haben. Dieser Raum ist künstlich hergestellt worden. Man baut sich aber kein Zimmer und keine Stube, zu der man, um sich dort niedersetzen zu können, fast viertausend Schritte unter der Erde zu laufen hat. Ich bin vielmehr überzeugt, daß es hier eine Türe gibt, die in das Freie führt. "

" Ich sehe keine! "

" Ich auch nicht. Aber suchen wir. Eine hölzerne Türe gibt es freilich nicht. Ist eine da, so ist sie von Stein, so besteht sie aus einem dieser großen Felsenstücke, die so genau zusammenpassen, als ob die Fugen nicht künstliche, sondern ganz natürliche seien. Eine solche Steintüre wäre aber viel zu schwer und ungefügig, als daß sie in Angeln gehen könnte. Es ist vielmehr anzunehmen, daß sie auf Rädern läuft. Ist dies der Fall, so hinterläßt das auf dem Boden Spuren, die sich nicht verbergen lassen. "

" So meinst Du, daß wir nur den Fußboden zu untersuchen brauchen, um zu sehen, ob es eine Türe gibt oder nicht? "

" Allerdings! "

" Gut, schauen wir nach! "

Die Lämpchen und Lichter wurden zu Boden gesenkt, und kaum war das geschehen, so rief Halef:

" Sihdi, ich hab's, ich hab's! "

" Was? " fragte ich. " So schnell? "

" Ja, so schnell, sofort! Ein Gleis -- - - und noch eins, also zwei! Kommt her! "

Es war, wie er sagte. Der Boden wurde von einer sehr harten, schweren Steinplatte gebildet, in welche zwei Vertiefungslinien (Seite 235B) eingehauen waren, die gar nichts anderes sein konnten, als eben nur Gleise. Diese Platte lag nicht genau wagrecht, sondern schief; sie hob sich nach der Mauer zu und senkte sich nach der andern Seite hin; sie hatte also Fall. Sie stieß an eine zweite Platte von demselben harten Stein, auf welcher sich die beiden Gleise fortsetzten; auch diese lag nicht wagerecht; sie ging wieder bergan. Man sah ganz deutlich, daß die Last, die auf diesen beiden Steinen zu rollen hatte, sich erst abwärts und dann wieder aufwärts bewegte. Sie wurde also durch ihre eigene Schwere in das Rollen gebracht und auch wieder angehalten.

Also die Gleise, die Schienen waren da! Nun frage es sich, welcher Stein die Türe bildete. Natürlich der, unter dem die Gleise entsprangen. Wir untersuchten ihn. Er stand fest. Er wich und wankte nicht. Er wurde also in irgendeiner Weise festgehalten. Gelang es, diese Hemmung zu entfernen, so bewegte er sich jedenfalls. Wir gingen also an die genaue Untersuchung seiner nächsten Umgebung. Da fielen uns sehr bald zwei kleine Stellen auf, die anders gefärbt waren als die Felsen selbst. Sie lagen nicht ganz in Brusthöhe über der Erde, und zwar rechts und links von dem Türenstein an den anstoßenden Kanten der beiden Nachbarsteine. Ich versuchte, sie mit dem Fingernagel wegzukratzen. Sie bröckelten ab. Nun nahm ich das Messer; da ging es schneller. Es wurden zwei schmale Löcher oder Spalte sichtbar, ganz genau den Öffnungen gleichend, in welche man bei Automaten die Zehn- und Fünfpfennige steckt. Man hatte sie verstopft, mit von der Erde aufgehobenem, naß gemachtem Staub, damit niemand sie bemerken möge. Das war genau dieselbe Art, in der man auch die Spalten und Risse am > Wasserengel <, der in der Nähe des Engpasses Chatar stand, unsichtbar gemacht hatte. Das fiel mir auf.

" Ein Loch, ein Loch, ein Schlüsselloch! " sagte Halef. " Nicht wahr, Sihdi? "

" Es scheint so, " stimmte ich bei.

" Und drüben auf der andern Seite wohl auch? "

" Wollen sehen! "

Als ich auch dort den Staub entfernt hatte, kam eine ganz gleiche Öffnung zum Vorschein.

" Sonderbar, höchst sonderbar! " wunderte sich der 'Mir. " Aber nun der Schlüssel! Wo mag der sein? Vielleicht liegt er hier irgendwo versteckt! "

" Das glaube ich nicht, " antwortete ich. " Einen so wichtigen Gegenstand versteckt man nicht grad da, wo der Wunsch, ihn zu besitzen, am lebhaftesten ist. Doch, warte! "

Es fiel mir nämlich grad in diesem Augenblicke jenes Schlüsselmesser des Maha-Lama von Dschunubistan ein, welches ich am andern Tage an der Stelle fand, an welcher er mit dem (Seite 236A) > obersten Minister < gelagert hatte. Ich hatte es mir gut aufgehoben. Es steckte in dem sichersten Winkel meiner Satteltasche. Ich holte es jetzt aus ihm hervor und bog die Klinge in die damals von mir beschriebene Lage. Dann steckte ich die Spitze in das Schlüsselloch und drehte. Es ging! Ich hätte laut aufjubeln mögen! Denn ich ahnte, daß von der Brauchbarkeit dieses Messers auch noch andere, sehr wichtige Dinge abhängen würden.

" Er kann öffnen, er kann öffnen! " rief der 'Mir ganz verwundert.

" Oh, mein Effendi kann alles, und ich nachher auch! " antwortete Halef in sehr stolzem Tone.

" Ich habe gesagt, daß er sich auf mich verlassen könne, und nun muß ich mich auf ihn verlassen! Bitte, Effendi, schließ auch die andere Öffnung auf. "

" Wenn Du weggegangen bist, eher nicht! "

Er stand nämlich grad vor dem Steine, der sich bewegen sollte. Darum fügte ich hinzu:

" Weil die schwere Türe Dich, sobald sie aufgeht, niederwerfen und zermalmen würde. "

Da trat er schnell zur Seite. Ich steckte die Messerspitze nun auch in die andere Öffnung, und sie bewährte sich ebenso wie drüben. Kaum hatte ich sie herumgedreht, so bewegte sich der Stein. Er verließ infolge seines eigenen Druckes seinen bisherigen Platz, trat aus der Mauer heraus, rollte über die erste Platte abwärts, auf der zweiten aufwärts und blieb dann stehen. Trotz seines Gewichtes von vielen Zentnern brauchte man ihm nur einen kleinen Rückstoß zu geben, so kehrte er von der zweiten über die erste Platte auf seinen Platz in die Mauer zurück. Eine kühle, reine Luft drang zu uns herein. Die Pferde atmeten sie in lauten Zügen ein.

" Gerettet! " rief der 'Mir.

" Oho! " zweifelte Halef.

" Nicht so laut! " warnte ich. " Und schnell die Lichter aus! Wir wissen ja nicht, wohin wir kommen! Unsere Rettung ist noch keineswegs beendet; ich meine vielmehr, daß die Gefahr erst jetzt beginnt. Treten wir vorsichtig hinaus! Und vor allen Dingen still, ganz still! "

Es war draußen fast so dunkel wie im Innern des Kanals. Erst nach einiger Zeit, als die Augen sich eingewöhnt hatten, sahen wir, daß wir uns auf einer Art Veranda, Laube, Perron oder Kolonnade befanden, die tief in den Felsen gehauen war, so daß vorn nur noch die mächtigen Säulen standen, auf denen der Oberfelsen ruhte. Das Gestein über uns verhinderte, daß wir den Himmel sahen. Aber als wir nach vorn gingen, konnten wir den Blick zu den Sternen erheben, die über uns leuchteten. Eine klare, deutliche Umschau war freilich nicht möglich. Jeder Umriß zerfloß und verschwamm. Der 'Mir hatte ein ganz anderes Leben geführt als Halef und ich. Seine Sinne waren ungeschärft geblieben. Er behauptete, gar nichts zu sehen, als nur die Sterne. Wir aber bemerkten trotz aller Undeutlichkeit sehr wohl, daß wir uns in einer außerordentlich schroffen Bodenvertiefung befanden, in deren Mitte eine Tafel mit einem hohen, beflügelten Gegenstande zu stehen schien, vielleicht eine Figur.

" Hast Du jetzt nun eine Ahnung, wo wir uns befinden? " fragte ich den 'Mir.

" Nein, " antwortete er.

" Wir stehen in einem ungeheuren kreis- oder länglichrunden Kessel, dessen Wände senkrecht aufzusteigen scheinen. "

" Den gibt es nicht, " behauptete er.

" O doch! Es muß ihn geben, denn ich sehe ihn ja! In der Mitte dieses Kessels gibt es etwas wie eine Insel, und auf ihr eine Figur. "

" Figur? Was für eine Figur? " frage er schnell.

" Wahrscheinlich ein Engel, denn ich sehe Flügel! "

Da schrie er laut auf:

" Allah behüte uns vor - - - "

Ich unterbrach seine Worte, indem ich ihn beim Arm ergriff und ihn warnte:

" Nicht so laut, nicht so laut! Wir müssen vorsichtig sein! "

Da wiederholte und vervollständigte er seine Interjektion in leiserem Tone:

(Seite 236B) " Allah behüte uns vor dem neunmal geschwänzten und zehnmal gesteinigten Teufel! Es scheint, wir befinden uns am schauderhaftesten und unheilvollsten Orte, den es auf Erden gibt! "

" An welchem? "

" Am Maha-Lama-See! "

" Maha-Lama-See? Habe nie etwas von diesem See gehört! "

" Weil Du ein Fremder bist, von so weit her! Gar von Europa! In Asien aber ist er berüchtigt und gemieden, so weit es Menschen gibt! "

" Warum? "

" Weil hier Grausamkeiten, Gotteslästerungen, Sünden und Verbrechen geschehen sind, die nicht nur einmal, sondern tausendmal von der Erde zum Himmel hinauf- und vom Himmel wieder zur Erde herunterschreien. "

" Von wem? "

" Von den Lama-Priestern. "

" An wem? "

" An allen, die es wagten, ihnen zu widerstreben. Sie waren eigentlich nicht Lama-, sondern Teufelspriester. Man erzählt sich von ihnen Dinge, die man eigentlich für menschenunmöglich halten sollte. "

" So erzähle! Wir befinden uns, wie es scheint, am ganz richtigen Platze für derartige Erzählungen. Komm, setze Dich! Hier stehen Bänke, grad wie im letzten Raume des Kanales. "

Ich zog ihn nach einer dieser langen Steinbänke hin. Er folgte mir nicht gern.

" Man darf nicht davon sprechen! " sagte er.

" Warum nicht? "

" Weil es gefährlich ist, zumal wenn das Wunder wirklich geschehen wäre, daß wir uns hier am Maha-Lama-See befänden. Es heißt: Wehe dem, der es wagt, die Stätte des einstigen Sees zu betreten oder auch nur von oben herunterzuschauen! Man kann ja auch gar nicht zu ihm gelangen. Es fällt auch gar keinem Menschen ein, nach ihm zu suchen, weil man überzeugt ist, daß dies nur Verderben bringen würde. Man spricht nicht von ihm, ja, man denkt auch nicht an ihn. Darum sagte ich soeben, daß es eine solche Stelle gar nicht gebe. Und darum ist es für mich noch keineswegs erwiesen, daß wir uns am Maha-Lama-See befinden. "

" Das ist interessant, hoch interessant! Was für eine Bewandtnis hat es mit diesem See? "

" Es ist eine Sage, an die man aber glaubt! "

" Auch Du glaubst ihr? "

" Warum sollte ich nicht? Es ist auf Erden vieles wahr, was man für ein Märchen hält! "

" Ich drücke diesen Deinen Gedanken anders aus: Es liegt in den meisten Märchen und Sagen ein Wahrheitskern oder ein Wink versteckt, nach dem man suchen soll, um ihn befolgen zu können. Wahrscheinlich ist das auch hier der Fall. Wir bitten Dich, zu erzählen! "

Er zögerte eine Weile. Er hatte anerzogene, gewohnte Scheu zu bekämpfen, dann aber begann er:

" Das war zur Zeit, als der Nebenfluß noch nicht zugebaut, sondern offen war. Damals gab es einen Maha-Lama, welcher der berühmteste von allen war, die es bisher gegeben hatte. Sein Volk liebte ihn, aber der Teufel haßte ihn. Er war hundert Jahre alt geworden und ging an seinem Geburtstage am Ufer des Flüßchens spazieren. Indem er dies tat, dachte er: " Könnte ich doch noch hundert Jahre leben; wie glücklich wollte ich meine Untertanen machen! " Da stand der Teufel vor ihm und sprach: " Du kannst, wenn Du willst! " Er hob die Hand. Da gab es einen entsetzlichen Krach, daß die ganze Erde bebte. Sie tat sich vor dem Maha-Lama auseinander. Es entstand ein tiefer, weiter Krater, in dem das Flüßchen sofort verschwand, und rund um seinen Rand stiegen steile, schroffe Felsenmauern auf, die ihn rund umschlossen. Kein Menschenfuß konnte über sie hinweg. Der Maha-Lama war sehr erschrocken; der Teufel aber sprach: " Beruhige Dich; es geschieht Dir nichts. Ich bin gekommen, Dir Deinen Wunsch zu erfüllen, nicht aber, Dich zu vernichten. Du sollst genau noch hundert Jahre leben, und Dein Volk soll noch glücklicher sein als jetzt. Dafür verlange ich nur eins von Dir. " Der Maha-Lama fragte, was das sei. Der Teufel antwortete: " Das (Seite 237A) Wasser des Flüßchens, welches jetzt in diesem Krater zu verschwinden scheint, wird in ihm emporsteigen, so daß ein See entsteht. In diesem See ersäufst Du alle Menschen, die Dich beleidigen und kränken. Weiter verlange ich nichts von Dir. " Da lachte der Maha-Lama und sprach: " Darauf kann ich eingehen, denn es gibt keinen einzigen, der mich beleidigt oder kränkt; sie lieben mich alle. Werde ich trotzdem noch hundert Jahre leben, wenn ich auf Dein Verlangen eingehe? " " Ja, sogar noch länger als hundert Jahre. Du wirst leben, bis Du so viel Menschen in den See geworfen hast, daß er austrocknet und wieder verschwindet. Beleidigt Dich keiner, so hast Du keinen zu ersäufen. Beleidigt Dich aber einer und Du ersäufst ihn nicht, so stirbst Du augenblicklich, und Deine Seele ist mein für alle Ewigkeit. " In seinem Wunsche, noch hundert Jahre älter zu werden, unterschrieb der Maha-Lama diesen Pakt mit seinem Blute. Er war überzeugt, keinen einzigen Menschen opfern zu müssen, weil sie alle ihn bisher liebten. Aber als man die plötzlich emporgestiegene, unübersteigbare Felsenmauer sah und daß hinter ihr der Fluß verschwunden war, der so viele Leute ernährte, gab es doch einen, der die Schuld auf den Maha-Lama warf, der sich, als es geschah, an der Unglücksstelle befunden hatte. Dieser wollte ihm verzeihen; er war dies ja so gewöhnt. Da aber erschien ihm der Teufel, zeigte ihm den verborgenen Weg zum See, den nur er, doch kein anderer, finden konnte, und gab ihm nur einen einzigen Tag Zeit, entweder diesen Mann zu ersäufen, oder selbst zu sterben und seine Seele zu verlieren. Da gehorchte der Maha-Lama. Der Mann verschwand heimlich und wurde nicht wieder gesehen. Das erregte Verdacht gegen den Maha-Lama. Man gab diesem Verdachte Worte, doch wer dies tat, verließ sein Haus und kehrte nicht wieder zurück. Dadurch steigerte sich der Verdacht zur Gewißheit. Die Anhänger verwandelten sich in Gegner, die Freunde in Feinde, und endlich wurde er ebenso allgemein gefürchtet und gehaßt, wie man ihn früher achtete und liebte. Das Wasser hatte schon längst den See gefüllt und sich einen Durchbruch nach seiner früheren Mündung gebohrt, und es mehrten sich die Unglücklichen, die, an schwere Steine gebunden, in die Tiefe gesenkt wurden. Der erst fast grundlose Krater füllte sich. Der See wurde immer seichter und seichter. Und noch waren die hundert Jahre lange nicht vorüber, so war kein Platz mehr für die Leichen vorhanden. Sie wurden von dem Flüßchen aus dem nun völlig angefüllten See heraus an die Öffentlichkeit geschwemmt, und dadurch kam der vieltausendfache Mord an den Tag. Der Maha-Lama war zum Wüterich, zum Heuchler, Lästerer und Verbrecher geworden, und das Volk trat zusammen, um ihn zu züchtigen. Der Teufel aber kam zuvor und holte ihn, weil dies eine Beleidigung für ihn war, die er nicht bestrafte. Die durch Teufelskraft aus der Erde emporgestiegenen Felsenmauern waren gemieden und gehaßt gleich vom ersten Tage an; aber als man erfuhr, was sich hinter ihnen ereignet hatte, waren sie es doppelt. Und als nun später gar das Nebenflüßchen mit dem großen Strome verschwand und über die ganze Stadt und ihre Umgegend der Tod und die Wüste kam, da erzählte man sich, daß in jeder Nacht, sobald es dunkel geworden ist, der Geist des Maha-Lama am Ufer seines ausgestorbenen Sees erscheine, um auf einen Helfer zu warten, der ihn von seinen Höllenqualen erlöst. "

Nun schwieg der 'Mir. Er war mit seiner Erzählung zu Ende. Auch wir schwiegen. Der Eindruck dessen, was wir gehört hatten, war kein gewöhnlicher. Jedenfalls nicht nur durch die Erzählung an sich, sondern ebenso auch durch den Ort, an dem wir uns befanden.

(Seite 238A) Erst nach einer längeren Pause fügte er hinzu:

"Das war die alte Sage von dem Maha-Lama-See. Was meinst Du, Effendi, ist sie eine Lüge oder eine Wahrheit?"

"Wahrscheinlich beides, nämlich eine in Lügen eingekleidete Wahrheit. Solange es dunkel ist, läßt sich gar nichts sagen; aber dieses Rätsel wird wohl auch nicht anders zu lösen sein als alle die andern Lebensprobleme, die im Gewand der Sage und des Märchens erscheinen, weil sie sonst unfaßbar bleiben würden. Wenn die Figur, die da drüben vor uns steht, wirklich ein Engel ist, so bist Du vielleicht der Mann, der gekommen ist, den Maha-Lama von seinen Höllenqualen zu erlösen."

"Ich?" fragte er erstaunt.

"Ja, Du!" antwortete ich.

"Ich weiß nicht, was Du meinst! Ich begreife Dich nicht!"

"Das ist jetzt auch nicht nötig. Du hast nicht zu hören, sondern zu sehen, was ich meine; das kannst Du aber erst dann, wenn es hell geworden ist."

"So fürchtest Du Dich also nicht vor dem Maha-Lama-See, wenn er es wirklich ist?"

"Fürchten? Ich freue mich auf ihn!"

"Und die Geister und Gespenster, von denen man erzählt?"

"Die existieren für mich nicht. Ich bin weder Spiritist noch Okkultist, weder Gespenster- noch Dämonenseher. Im Gegenteil! So oft ich da, wo man von >Geistern< und dergleichen zu mir sprach, der Sache mit offenem Auge auf den Grund gegangen bin, habe ich stets und ohne jede Ausnahme erkannt, daß das, was man für überirdisch erklärte, genau ebenso irdisch und so alltäglich war wie alle andern irdischen und alltäglichen Dinge. Ich bin überzeugt, daß es sich auch hier um sehr materielle Sachen handeln wird. Wie liegt denn eigentlich dieser See im Verhältnisse zu den andern Teilen der Stadt?"

"Die Festungsstadt hast Du gesehen. Auch die hohen, starken Mauern der Zitadelle?"

"Ja."

"Aber den westlichen Teil der Zitadelle hast Du nicht gesehen. Dieser ist nämlich nicht durch eine Mauer eingefaßt, sondern er lehnt sich unmittelbar an den Felsenring, der den Maha-Lama-See umgibt. Dieser Ring ist der beste und natürlichste Schutz, wie ihn die Kunst des größten Festungsbaumeisters niemals geben könnte. Viel weiter draußen liegt dann der westliche Höhenzug, der das äußere Gebiet der Stadt begrenzt. Wenn man dort den höchsten Punkt besteigt, ist es möglich, einen Blick in das Innere des Seekraters zu werfen. Dieser Blick fällt allerdings nur durch eine schmale Lücke und dringt nicht bis auf den Grund hinab. Aber man kann den Kopf und den oberen Teil des Engels sehen."

"In den Krater eingedrungen ist also wirklich noch niemand?"

"Noch kein Mensch, soviel ich weiß. Es hat sich freilich herausgestellt, daß ich von der >Stadt der Toten< nicht soviel weiß, wie ich dachte. Es ist also vielleicht nicht ausgeschlossen, daß es Leute gegeben hat oder gar heute noch gibt, die dagewesen (Seite 238B) sind. Doch glaube ich dieses nicht, sondern nur das Gegenteil."

"Wäre jemand hier gewesen, so würden wir wahrscheinlich Spuren finden, wenigstens wenn es in letzter Zeit geschehen wäre. Doch auch da müssen wir warten, bis es Tag geworden ist. Wir wollen erst essen, dann schlafen."

"Schlafen?" fragte der 'Mir. "Bei einer derartigen Aufregung."

"Du hast nicht den geringsten Grund mehr, aufgeregt zu sein. Halef mag auspacken. Wir haben noch nicht zu Abend gespeist, und auch die Pferde und Hunde müssen gefüttert und getränkt werden, doch so, daß noch für morgen sowohl Wasser als auch Futter übrigbleibt. Ich hoffe zwar, daß wir hier alles finden, was wir brauchen, doch - - -"

"Alles?" unterbrach mich der kleine Hadschi. "Sogar auch Wasser?"

"Ja, sogar auch Wasser!" fuhr ich fort. "Aber die Vorsicht gebietet uns, für den Fall der Not doch noch etwas aufzuheben."

Während Halef mit Hilfe der beiden Ussul unsere Speisen auspackte und vor allen Dingen zunächst den Pferden und Hunden Futter gab, verfügte ich mich nach der Öffnung, durch welche wir gekommen waren, um sie nun auch von der Seite aus, an der wir uns jetzt befanden, zu untersuchen. Ich wollte sie nämlich sehr gern verschließen, um von dem Kanale aus gegen Überraschungen gesichert zu sein. Zwar verbot mir die Vorsicht, wieder Licht zu machen, aber da ich nun einmal das Geheimnis des Verschlusses kannte, hatte ich jetzt wahrscheinlich die Augen nicht mehr nötig, sondern es genügte der Tastsinn, zu finden, was ich suchte. Die Türe mußte doch nicht nur von innen, sondern auch hier von außen verschlossen werden können. Folglich stand zu erwarten, daß es auch von außen Schlüssellöcher gab. Ich nahm an, daß sie sich in gleicher Höhe und an ganz entsprechender Stelle befinden würden. Kaum hatte ich hingefühlt, so wurde die Vermutung bestätigt. Meine Fingerspitzen erkannten sofort die beiden, rechts und links von der Türöffnung liegenden Stellen, um die es sich handelte. Ich befreite sie mit Hilfe meines Messers von dem Staube, mit dem man auch diese Öffnungen verschlossen hatte, und probierte dann, ob der Schlüssel passen werde. Er tat es. Es war da eine Feder angebracht, die vor- oder zurücksprang, je nachdem man drehte, und das konnte man in gleicher Weise von außen wie auch von innen tun. Nun war es gar nicht schwer, die Türe zu verschließen. Ich brauchte mich nur nicht von dem schweren Steine erwischen und niederwerfen zu lassen. Er stand jetzt im Innern. Von seiner Stelle stoßen durfte ich ihn nicht, sondern ich mußte ihn ziehen, denn ich wollte doch wieder hinaus, nicht drin in dem Kanale bleiben. Ich nahm an, daß dies eine ziemlich bedeutende Kraftanstrengung erfordern werde, weil es keinen Henkel, keinen Griff oder etwas Derartiges gab, woran ich hätte fassen können; aber die Platte, auf welcher der Stein jetzt ruhte, war in der Neigung nach außen, die sie hatte, so scharf berechnet, daß ich die Hand kaum an den Koloß gelegt hatte, so bewegte er sich auch schon. Ich mußte nur schleunigst zurückspringen, um nicht niedergerissen zu werden. Als er seine (Seite 239A) Stelle erreicht hatte, stand er still, und ich hörte, wie die Feder in ihre Vertiefung schnappte.

Der 'Mir war nicht bei den andern geblieben, sondern mit mir zur Türe gekommen. Er erklärte mir, daß er nicht essen könne. Er habe weder Hunger noch auch nur die allergeringste Spur von Appetit. Ich legte ihm jetzt den Finger an den Puls. Wirklich! Der Mann hatte Fieber!

"Bist Du krank?" fragte ich.

"Nein," antwortete er.

"Also nur aufgeregt?"

"Ja, aber sehr! Ich fühle an meinen Schläfen das laute Klopfen des Pulses!"

"Wozu? Hier, fühle den meinigen!"

"Ja Du, Effendi, Du! Du bist fremd; Dich geht die Sache nichts an! Mich aber packt sie von innen und von außen! Sag, müssen wir hier stehenbleiben?"

"Warum diese Frage?"

"Weil es mich nicht leidet und nicht duldet! Ich kann nicht mehr stillsitzen, nicht mehr stillstehen! Ich muß laufen, muß mich bewegen! Ich weiß nicht, was das ist. Ich war noch nie so unruhig, so ergriffen!"

"So komm! Ich glaube, wir können es wagen. Gehen wir ein Stück von diesen Säulen und ihrem Felsendach hinweg, hinaus ins Freie, unter die Sterne!"

"Ja, ja, Effendi, hinaus! Ins Freie! Unter die Sterne! Wie fürchterlich das war, da drin im Kanale, in der stehenden, stockenden Luft, in der toten, leblosen Finsternis! Ich sagte nichts, aber mir wurde da angst, himmelangst! Also komm!"

Ich nahm seinen Arm unter den meinen. Wir verließen die Kolonnade und schritten langsam in die Nacht hinaus. Doch nicht wir allein. Meine beiden Hunde ließen ihr Futter liegen und kamen hinterdrein. Die treuen Tiere hielten es für ihre Pflicht, mich in dieser Finsternis nicht ohne ihren Schutz zu lassen. Wir gingen eine Weile, ohne zu sprechen. Er wußte nicht, ob er mir das, was ihn so tief bewegte, sagen dürfe, und ich aber wartete, daß er beginnen werde, weil ich durch eigenes Reden sehr wahrscheinlich seine ganze Mitteilung zurückgeschreckt und unmöglich gemacht hätte. So gingen wir weiter und weiter. Es war nicht das ganze Firmament, welches wir über uns sahen, denn die hochragenden Felsenmauern beschränkten unsern Horizont, aber es waren doch Sterne, die da funkelten, und grad jetzt trat das neugeborene erste Viertel des Mondes als schmaler, dünner Bogen hinter der höchsten, steilsten Felsenkante hervor und goß ein geheimnisvolles Hellerwerden über uns und alles aus, was um uns ragte. Da sahen wir, daß es allerdings ein Engel war, der genau auf der Mitte des weiten, öden Platzes stand, an dessen Rand wir uns jetzt befanden. Wir lenkten unwillkürlich unsere Schritte auf ihn zu.

"Ja, wir sind am Maha-Lama-See," sagte der 'Mir jetzt. "Es ist kein Zweifel möglich. Das ist der Engel, dessen Kopf ich so oft gesehen habe, wenn ich auf der westlichen Höhe stand und mit knabenhaftem Grauen nach hier herüberblickte. Wollen wir umkehren?"

"Warum? Fürchtest Du Dich?"

"Fast! Ja! Und doch zieht es mich hin, als müsse ich dort etwas finden, als hätte ich mich schon längst, mir aber unbewußt, nach ihm gesehnt! Effendi, lache nicht! Ich rede nicht dumm; ich rede nicht irr; ich sage Dir nur, was ich fühle!"

"Wer könnte da lachen! Der Augenblick, an dem die Seele des Menschen zu sprechen beginnt, ist stets ein ernster, großer, heiliger. Höre auf das, was sie Dir sagt! Unterbrich sie nicht! Sprich erst dann wieder mit mir, wenn sie schweigt!"

So war er nun also wieder still. Der große, weite, vollständig ebene Platz, über den wir jetzt nach seiner Mitte schritten, war also früher See gewesen, der Maha-Lama-See! Wenn wir uns umkehrten, sahen wir die Kolonnade, die wir verlassen hatten, als den uns nächsten Punkt ziemlich deutlich vor uns liegen. Sie wurde um so undeutlicher, je weiter sie sich entfernte. Sie schien um den ganzen Platz, um den ganzen früheren See zu gehen. Dagegen wurde der Engel um so deutlicher, je näher wir ihm kamen. Er stieg zusehends höher und schärfer vor uns auf. Er war gewiß doppelt so hoch wie (Seite 239B) der Engel, den wir kurz vor dem Engpasse Chatar entdeckt hatten, doch war seine Figur ganz und genau dieselbe. Es schien, als ob der hiesige das Original des dortigen und dieser nur eine Verkleinerung von ihm sei. Wie nun, wenn ich das Richtige vermutete! Wenn er Wasser enthielt!

Da blieb Uucht plötzlich stehen, hob den Kopf, dann auch das eine Vorderbein, machte den Hals so lang wie möglich und ließ die Nüstern spielen. Ihr Schwanz hing. Bald aber hob er sich, wackelte ein wenig, dann immer mehr und wedelte schließlich in der mir bekannten, eifrigen und zuversichtlichen Weise hin und her. Aacht tat dasselbe. Nun war ich beruhigt, vollständig beruhigt über alles, was hier noch geschehen und uns begegnen konnte. Meine Hunde hatten die erste Spur der Feuchtigkeit entdeckt. Es gab Wasser hier. Der Engel war ein Brunnenengel, ganz ebenso wie der andere, von mir bereits erwähnte! Ich säumte natürlich nicht, aus dieser Tatsache die selbstverständlichen, logischen Schlüsse zu ziehen. Die Sage des 'Mir war gezwungen, ihre Maske abzuwerfen und ihre wahre Gestalt zu zeigen. Man hatte in ihr die Wahrheit nicht etwa nur umkleidet, sondern geradezu zur Lüge gemacht.

Indem wir weiter gingen, wurden die Bewegungen der Hunde lebhafter. Ich verbot ihnen, Laut zu geben. Da schauten sie verwundert zwischen mir und dem Engel hin und her. Sie nahmen an, daß sie von mir nicht verstanden worden seien. Darum liebkoste ich sie und sagte ihnen ein anerkennendes Wort. Da waren sie sofort beruhigt.

"Was ist das mit Deinen Hunden?" fragte der 'Mir. "Was wollen sie?"

"Sie sagten mir etwas, was Du auch bald erfahren wirst."

"Etwas Böses vielleicht?"

"Nein, sondern etwas Gutes. Ich hoffe, daß wir überhaupt hier nur noch Gutes erleben werden! Weißt Du vielleicht, was der Maha-Lama seinen Opfern zu essen und zu trinken gegeben hat, ehe sie in den See geworfen wurden?"

"Natürlich nichts!"

"Woher weißt Du das?"

"Es ist doch wohl nicht schwer, sich das zu denken! Man gibt doch Leuten, die gefangengenommen und dann sofort in das Wasser geworfen werden, nicht noch vorher zu essen und zu trinken!"

"Bist Du überzeugt, daß sie alle sofort getötet worden sind? Daß der Maha-Lama gar keine Ausnahmen gemacht habe? Schau diese Säulen, diese Kolonnaden an! Sie auszugraben, auszuhöhlen und auszuhauen ist ein Gigantenwerk, welches doch wohl nicht von Leichen oder gar von Geistern und Gespenstern, sondern von lebenden, gesunden, kräftigen und ausdauernden Menschen ausgeführt worden sein kann! Und das sind nicht nur fünf oder zehn oder zwanzig, sondern Hunderte und aber Hunderte von Arbeitern gewesen, die gute und reichliche Nahrung bekamen. Und noch viel nötiger war das Wasser, nämlich das Wasser für die Arbeit und das Wasser als Trank für die Menschen. Aber wo nahm man das wohl her?"

"Natürlich aus dem See!"

"Der mit Leichen ausgefüllt wurde?"

Diese Frage machte ihn verlegen. Er sann ein Weilchen nach und gestand dann ein:

"Hierauf, Effendi, kann ich Dir keine Antwort geben. Man weiß nur, daß der Maha-Lama niemals auch nur einen einzigen Tropfen Wasser aus den Brunnen der Stadt nach dem See hat schaffen lassen."

"Weiß man das genau?"

"So genau, daß dies grad einer der Hauptgründe war, zu schließen, daß er seine Opfer nicht leben lasse, sondern augenblicklich töte."

"Wenn er für die Arbeiter, die hier beschäftigt worden sind, wirklich kein Trinkwasser aus der Stadt bezog, so muß er hier an Ort und Stelle einen Brunnen gehabt haben, und zwar einen großen, sehr großen und unversiegbaren, der imstande war, wenigstens so viel, wahrscheinlich aber noch viel mehr zu liefern, als man brauchte."

"Meinst Du wirklich?"

"Ja, das meine ich allerdings! Und wo ist er gewesen, dieser Brunnen? Wo steht er noch?"

(Seite 240A) "Wer kann das wissen?"

"Du etwa nicht?"

"Nein, ich nicht, ganz gewiß nicht!"

"So komm! Ich werde ihn Dir zeigen!"

"Wer? Du?"

"Ja, ich!"

"Der Fremde? Der Europäer? Der hier vollständig Unbekannte?"

"Ja, der! Komm!"

Wir waren jetzt beim Engel angelangt. Ich nahm den 'Mir wieder, wie vorher, am Arme und führte ihn nach dem Unterbau. Dieser war ein anderer als bei dem Engel in der Nähe der Landenge El Chatar. Dort bestand er aus natürlichem Fels, hier aber aus künstlich aufgemauerten Stufen, welche direkt bis zu den beiden Füßen des Engels führten. Hier hatten täglich zahllose Arbeiter schöpfen müssen; da war es notwendig gewesen, den Zugang bequemer zu machen als dort, mitten in der Wüste. Die Stufen waren nicht hoch, sondern so niedrig wie ganz gewöhnliche Stufen; das heißt also, ungefähr sechzehn bis achtzehn Zentimeter. Es machte also gar keine Mühe, hinaufzusteigen. Indem wir dieses taten, kam mir der Gedanke, daß ich denn doch bis zum Anbruche des Tages hätte warten sollen, also bis es hell geworden war; denn da hätte ich die Falltüre und die Treppe sehr wahrscheinlich viel leichter gefunden als jetzt. Und wenn ich den 'Mir schon jetzt überraschte, hatte es den Anschein, als ob ich seiner Unwissenheit gegenüber prahlen wolle. Dies aber war wirklich, wirklich nicht der Fall. Ich tat es nur darum gleich jetzt, um seine Stimmung zu benutzen, die grad jetzt eine derartige war, daß die Wirkung doppelt größer als später sein mußte.

Ich nahm an, daß dieser Engel in seinem Innern ganz dieselbe Einrichtung haben werde wie der andere, den ich bereits kannte. Es zeigte sich zu meiner großen Befriedigung, daß ich mich auch da nicht geirrt hatte. Als wir oben angekommen waren, suchte ich gar nicht erst nach Spuren von Lücken, Rissen und Spalten, die jetzt, bei dem spärlichen Mondschein, wohl auch nicht leicht zu entdecken gewesen wären, sondern ich ging gleich und direkt zu der betreffenden Falte des Gewandes hin und versuchte, ob diese Stelle beweglich sei oder nicht. Das Ergebnis wollte sich nicht gleich einstellen. Die Achse weigerte sich, nach so langer Zeit gleich wieder zu funktionieren. Aber als ich einen kräftigeren Druck anwendete, gehorchte sie doch. Der Teil des Gewandes, auf den ich drückte, schob sich in das Innere der Figur hinein, und dadurch wurde die Falltüre, welche die Treppe verschloß, empor gehoben.

"Was ist das?" fragte der 'Mir erstaunt. "Der Engel ist doch hohl!"

"Wie Du siehst!" antwortete ich.

"Ein Loch ist da! Kann man da hinab?"

"Ja, man kann!"

"Wohin?"

"Zum Brunnen, den ich Dir zeigen will."

"Zum Brunnen - - -? Zum Brunnen?"

(Seite 240B) "Ja, allerdings zum Brunnen! Komm, steig mir nach! Du brauchst keine Sorge zu haben. Taste Dich nur! Legst Du die Hände zur Rechten und zur Linken fest an, so kannst Du nicht fallen."

In derselben Weise, wie ich es sagte, stieg ich ihm vorsichtig voran, dabei immer an den Engel der Landenge Chatar denkend. Auch hier führten die Stufen von rechts nach links. Sie waren fest und sehr gut erhalten. Ich prüfte eine jede sehr gewissenhaft mit dem vorausgestreckten Fuße. Auch hier waren es genau zwanzig, und auch die Luft war genauso kühl und genauso gar nicht feucht. Die Frage, ob es aber auch wirklich Wasser in diesem Brunnen gebe, stellte ich mir gar nicht erst, denn hatte der andere welches gehabt, so mußte dieser auch welches haben. Für mich verstand es sich nämlich von selbst, daß beide ganz genau auf einer und derselben leitenden Schicht erbaut worden waren.

Als ich den Fußboden des oberen Stockes erreicht hatte, wendete ich mich sofort nach rechts, um zu tasten, ob wir hier wohl in eben derselben Weise und an eben derselben Stelle Licht finden würden wie dort. Richtig! Ich fühlte einen großen, hohlen, steinernen Würfel, auf dem als Decke eine dünne, leichte Steinplatte lag, die sich verschieben ließ. Ich schob sie zur Seite, griff in die dadurch entstandene Öffnung und - - was hatte ich in der Hand? Eine lange Rolle aus starkem Leder, die oben und unten zugebunden war, um ihren Inhalt vor Feuchtigkeit zu schützen. Dieser Inhalt bestand aus einer sehr gut erhaltenen, aus ungereinigtem Wachs hergestellten Kerze, deren Docht ich sofort in Brand steckte. Der 'Mir befand sich noch auf der Mitte der Treppe. Er, der asiatische, hohe Aristokrat, war solche Klettereien nicht gewöhnt, zumal im Dunkeln. Er kam also nur langsam vorwärts.

"Licht hast Du, auch Licht?" fragte er. "Allah sei Dank! Ich komme gleich!"

Ich zündete noch eine zweite an, die ich ihm, als er bei mir anlangte, hinreichte.

"Ich auch eine? Eine solche - - solche Kerze!" Dabei betrachtete er sie erstaunt. "Wo hast Du die denn her?"

"Hier aus der steinernen Kiste. Da sind noch viele drin! Und noch andere, sehr brauchbare Dinge dazu! Alles extra für uns aufgehoben!"

"Für uns?"

"Ja, für uns! Für wen denn sonst? Es ist doch weiter niemand da!"

"Was bist Du für ein Mensch! Ein Tausendkünstler, ein Hexenmeister, ein Zauberer!"

"Fällt mir nicht ein, ganz und gar nicht ein! Ich bin ein ganz gewöhnlicher Mensch, nicht besser und nicht schlechter, nicht klüger und nicht dümmer als tausend andere!"

"Aber Du weißt doch alles, alles!"

"Auch das fällt mir nicht ein! Ich bin keineswegs allwissend. Es geht mir auch hier nicht besser und nicht schlechter als jedem andern Menschen: Ich kann nur das wissen, was ich von andern weiß oder was ich gehört und gesehen habe. Ich bin nämlich mit meinem vortrefflichen Hadschi Halef Omar in ganz genau einem solchen Wasserengel, wie dieser hier ist, (Seite 241A) gewesen. Den haben wir von oben bis unten durchsucht. Dieser hier ist zwar wohl noch einmal so groß, aber ganz ebenso gebaut und auch im Innern ganz ebenso ausgestattet. Da ist es also kein Verdienst, hier mehr zu wissen als Du, der Du noch nie einen solchen Engel gesehen und durchstöbert hast. Sieh hier die beweglichen Räder mit den Leitriemen, den Schöpfkrügen und dem Steintroge, in den das Wasser fällt. Es wird von Etage zu Etage gehoben - - -"


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