"Ein Wunder, ein Wunder, ein Wunder!" unterbrach er mich. "Wer hat das gebaut?"

"Der 'Mir von Dschinnistan."

"Unmöglich!"

"Warum unmöglich?"

"Hier, mitten in meinem Lande! In der früheren Hauptstadt und Residenz von Ardistan!"

"Wäre das etwas so Unbegreifliches?"

"Gewiß! Und nicht nur mitten im Lande und mitten in der Residenz, sondern sogar mitten im Maha-Lama-See, der sogar mir und allen meinen Vorgängern ein Geheimnis gewesen ist, welches kein einziger von ihnen allen ergründet hat!"

"So ist es eben sein Geheimnis gewesen, das Geheimnis des 'Mir von Dschinnistan, der mitten unter Euch wohnt, ohne daß Ihr es wißt, mitten unter Euch waltet, ohne daß Ihr es ihm erlaubt und Euch alle von innen und von außen kennt, ohne daß Ihr ihn jemals gesehen habt!"

"Du scherzest, Effendi!"

"O nein! Es ist mein voller, heiliger Ernst!"

"So begreife ich Dich nicht! Diesmal wirklich nicht! Bedenke doch, daß gerade nach Deiner Ansicht weiter kein anderer diesen Brunnen gebaut haben kann, als nur allein der Maha-Lama, von dem ich Euch erzählte."

"Das meine ich freilich auch. Aber die Anregung und alles Weitere hat er vom 'Mir von Dschinnistan empfangen."

"Wie willst Du das beweisen?"

"Schau da hinauf!"

Indem ich dies sagte, stieg ich auf den Rand der Steinkiste, aus der ich die Wachskerzen genommen hatte, und leuchtete hoch empor, wo über der Treppe das Zeichen des 'Mir von Dschinnistan eingegraben war und gleich darunter im alten Brahmavartadialekt das Wort >Erbaut< gelesen werden konnte.

"Sein Zeichen, sein Zeichen!" rief der 'Mir. "Das muß ich sehen, ich, ich! Das hat man gewagt, gewagt! Das müßte ich bestrafen können, bestrafen!"

"Warum bestrafen?" fragte ich sehr ruhig. "Hat dieser Brunnen Dir geschadet?"

"Nein! Aber eine Beleidigung ist er für mich, eine Beleidigung, die ich mir nicht gefallen - - -"

Er hielt mitten in seinem zornigen Satze inne, denn ich war schnell von der Kiste herabgesprungen und ganz nahe an ihn herangetreten, hob die Kerze zu ihm in die Höhe und sah ihm mit einem jener Blicke in das Gesicht, die man nicht >machen< und nicht >mimen< kann, weil sie unmittelbar aus dem Innern der Seele blitzen. Da wagte er es nicht, weiterzusprechen. Er schlug die Augen nieder und war still. Fast leise, aber sehr deutlich fragte ich:

"Der 'Mir von Dschinnistan, den Du befeindest, gab dieser Deiner armen Totenstadt den rettenden Brunnen, an dem sie sich wieder lebendig trinken kann, wenn Du, ihr Herr, nur willst. Wahrscheinlich werden wir sehen, daß er ihr noch mehr, weit mehr gegeben hat, als dieses Wasser nur. Nun sag, was gabst denn Du? Was tatest Du, um diesen Tod in Leben zu verwandeln? Diese einst so herrliche Stadt, welche heut eine der schönsten und berühmtesten des ganzen Morgenlandes sein würde, wenn Deine Ahnen dessen würdig gewesen wären, ging an der Grausamkeit und Unmenschlichkeit ihrer eigenen Herrscher zugrunde. Als Du noch Kind warst, betrachtetest Du ihre Leiche nur als Schreckgespenst zum Gruseln und zum Grauseln; höher brachte man Deine Gedanken nicht. Und als Du Mann und Herrscher geworden warst, da diente Dir dieses wunderbare Tal, welches laut zu Dir, dem Gebieter, um Gnade und Erbarmen, um Liebe und Erlösung schreit, nur als unerbittlicher Abgrund des Hasses, der Vergeltung, der Rache! Aus Deinem Auge fiel kein einziger warmer Blick auf sie, die Verschmachtete! (Seite 241B) Und nun Du hörst, daß der, den Du nicht ausstehen kannst, weil er ein Herz für jedes Leid, für jedes Unglück hat, gekommen ist, ihr wohlzutun, sie zu retten und zu erlösen, da brausest Du auf und behauptest, er habe Dich beleidigt, und das dürfest Du Dir nicht gefallen lassen! Wie klein bist Du, o 'Mir, wie klein! Und wie schädlich bist Du, wie schädlich! Für die ganze Menschheit! Für Dein Volk! Und für Dich selbst!"

"Effendi, Du wirst grob!"

Er sage das mehr im Tone des Vorwurfes als des Zornes. Er fühlte sich also doch nicht nur getroffen, sondern zugleich auch derart niedergedrückt, daß er es nicht mehr fertig brachte, sich in die Brust zu werfen. Ich aber ließ mich nicht hierdurch rühren, sondern fuhr in genau demselben Tone fort:

"Und bedenke, was Du wagst mit diesem Deinem Stolze, der wenigstens hier am ganz unrechten Platze ist! Du bist gefangen! Du sollst sterben, sollst verschmachten! In diese Lage hat Dich wieder nur Dein großes Selbstvertrauen gebracht! Du verließest Dich auf Deine Ortskenntnisse, die sich nun als völlig unzureichend erweisen! Ein Mann wie Du, ein Herrscher, hat sich sehr zu hüten, zu solchem Unvermögen, sich selbst zu helfen, herabzusteigen! Wenn man die Achtung verliert, kehrt sie nie so schnell zurück, wie sie gegangen ist. Für Halef und mich bist Du jetzt nur ein hilfloses Kind, weiter nichts! Du befindest Dich nicht nur mitten im Reiche des Todes, sondern zudem auch noch mitten unter lebenden Feinden; denn daß Deine jetzigen Genossen nicht Deine Freunde, sondern Deine Feinde sind, das sagst Du Dir doch selbst!"

"Ich? Es mir selbst sagen? Ihr, meine Feinde? Es ist mir gar nicht eingefallen, mir das zu sagen! Ich halte Euch ganz im Gegenteil für meine Freunde, und zwar für echte, wahre, edle Freunde! Ihr werdet mich nicht verlassen!"

"Nein, das werden wir allerdings nicht! Aber bedenke, daß der Dschirbani mit seinem Heere an der Grenze Deines Landes steht, und wir, Halef und ich, sind seine Kampfgenossen! Bedenke, daß der Prinz der Tschoban nicht nur seines Volkes, sondern auch seines Bruders wegen, den Du zu dem gemacht hast, der er ist, sich nur zu Deinen Feinden, nicht aber zu Deinen Freunden zählen darf! Und bedenke endlich, daß auch die beiden Prinzen der Ussul gar keinen Grund haben, sich etwa für Dich aufzuopfern! Man weiß in ihrer Heimat sehr genau, daß Du sie nur als Geiseln betrachtest, sie einsperren lässest, sobald es Dir beliebt, und ihre Truppen bestrafst und verbannst, demütigest und erniedrigest, so oft es Dir gefällt, sie mögen es verdienen oder nicht. Diese beiden ehrlichen, aufrichtigen Menschen sind erst kürzlich wieder in der >Stadt der Toten< eingekerkert gewesen. Warum? Was hatten sie verbrochen?"

"Ich gab sie doch wieder frei!" warf er schnell ein.

"Das ändert nur die Folgen, nicht aber die Tat selbst! Sie wußten, daß ihr Leben an einem dünnen Haar, an einem einzigen Wort aus Deinem Munde hing. Nun bist Du selbst hier! Gefangen, hilflos, dem Tode geweiht! Wie groß und wie glühend denkst Du Dir wohl die Begeisterung, mit der sie nun bereit sein werden, sich an Deiner Rettung zu beteiligen, sich für Dich aufzuopfern? Glaubst Du, daß sie Dich lieben, oder glaubst Du, daß sie Dich fürchten und hassen?"

Er gab keine Antwort; er war still.

"Du schweigst! Also mitten unter Feinden; es ist nicht wegzuleugnen! Und da kehrst Du den hohen Ton des Herrschers heraus, der nur zu winken braucht, so verlieren wir alle die Köpfe! Und da fühlst Du, der sich nicht einmal selbst und noch viel weniger uns zu retten vermag, Dich durch das Wasser beleidigt, dem Du und wir unsere Rettung allein zu verdanken haben werden! Du wirst dem 'Mir von Dschinnistan Dein und unser Leben schuldig sein, und ich erwarte von Dir, daß Du wenigstens in unserer Gegenwart mit der Achtung und Ruhe von ihm redest, die einem jeden geziemt, der von ihm spricht! Jetzt komm; wir steigen weiter hinab!"

Er folgte mir, ohne auch jetzt ein Wort zu sagen. Ich hatte in voller Absicht in dieser Weise zu ihm gesprochen, und ich hoffte, daß die Örtlichkeit, in der wir uns befanden, den Eindruck meiner Worte vertiefen werde. Ich machte ihn besonders (Seite 242A) auf die über den Treppenöffnungen stehenden Worte aufmerksam, welche zusammen den Satz >Erbaut zum Sieg im Kampfe für den Frieden< ergaben. Als wir unten ankamen, standen wir vor einem förmlichen See des reinsten, trinkbaren Wassers, so mächtig groß war das Gewölbe, in dem es sich sammelte. Er schöpfte mit der Hand und kostete. Dann sagte er:

"Bleib hier!"

Zwischen Mauer und Wasser führte ein steinerner Gang rundum, denn das sich auf einen kolossalen Mittelpfeiler stützende Gewölbe war kreisförmig, und so bildete auch die Randlinie des Wassers einen Kreis. Der 'Mir entfernte sich. Er ging langsam an dieser Kreislinie hin, deren Durchmesser so groß war, daß die kleine Kerzenflamme schon nach kurzer Zeit im dichten Dunkel verschwand. Nur noch die Schritte waren zu hören. Man vernahm ganz deutlich, daß ihr Schall an der Kuppel hinauflief und drüben aber nicht herunterkonnte. Darum sammelten sich die Schallwellen aller dieser Schritte da oben zu einem Getöse, welches jedenfalls wie Donner rollte, bei mir hier unten aber nur wie das geheimnisvolle Flüstern einiger halbwelker Blätter klang. Dann hörte auch dieses Lispeln auf. Der 'Mir stand still.

Es war eine eigenartige Situation, die gar nicht zu beschreiben ist. Nach einiger Zeit flüsterte es wieder, aber nur kurz. Der 'Mir hatte eine Bewegung gemacht, wahrscheinlich sich niedergesetzt. Und nun kam eine lange, lange Pause, wohl eine halbe Stunde lang, in der sich gar nichts regte. Dann gab es so eigentümlich zischende, leicht schnaubende Töne. Weinte er vielleicht? Und gar nicht lange darauf gab es jenseits des Wassers ein lautes, ja überlautes Brausen, welches durch drei kurze Pausen in vier einzelne, zornige Stöße geschieden wurde. Wahrscheinlich hatte der 'Mir, ohne daran zu denken, daß ich es hören könne, in seiner inneren Aufregung einige Ausrufungen getan, die aber nicht als abgesetzte Worte, sondern als verworrener Schall zur Höhe gingen, so daß ich sie nicht verstehen konnte. Dort oben aber, wo sich alles Verworrene zusammenfand, um sich wieder aufzulösen, wurden die einzelnen Laute und Worte infolge des Schallgesetzes wieder ordnungsgemäß vereinigt, und kamen zu mir so leise, so vertraulich und doch so deutlich nieder, wie wenn eine teure Person, die wir lieben, ihre Lippen unserm Ohre nähert, um uns etwas Willkommenes mitzuteilen. Es raunte mir zu: "Er hat recht - - -! Und ich will - - -! Ich will- - -! Ich will - - -!"

Das war es, was sich aus seiner Seele herausgerungen hatte, diese Erkenntnis und dieser Entschluß. Diese Worte waren seinem Herzen unwillkürlich und unbewacht entstiegen, und nun dachte er wohl gar nicht daran, ob ich sie gehört und verstanden habe oder nicht. Hierauf kehrte er zurück, aber von der andern Seite. Er war rund um das Bassin gegangen. Er ging, die Kerze in der Hand, an mir vorüber, ohne ein Wort zu sagen, und stieg die Treppe hinauf. Wie sehr mit sich beschäftigt mußte er sein! Ich folgte ihm, ohne ihm wegen dieser Achtlosigkeit zu zürnen! In dem oberen Raume angekommen, blieb er auch nicht stehen, sondern er blies seine Kerze aus, legte sie dahin, woher ich sie genommen hatte, und stieg vollends empor. Ich tat dasselbe, doch weniger hastig als er.

Als ich aus dem Treppenloche in das Freie trat, begrüßten mich meine Hunde, die hier zurückgeblieben waren. Sie hatten Angst um mich gehabt und stiegen nun mit den Vorderpfoten an mir empor, um sich zärtlich an mich zu drücken. Der 'Mir war schon die Freistufen hinuntergestiegen. Er stand auf der untersten und wartete auf mich. Er hatte seit meiner Strafrede nur erst zwei Worte gesprochen; nun aber, als ich zu ihm hinunterkam, fragte er:

"Effendi, was bist Du für ein Mensch! Was Du durchsetzen willst, das setzest Du durch, es maß andern wehetun oder nicht!"

"War es gut, oder war es schlecht?"

"Es war gut!"

"So gewöhne Dir das ebenso an, wie ich es mir angewöhnt habe! Man soll das Gute stets durchsetzen, mag es wehetun oder nicht. Nur der Böse räsonniert über den heilsamen Schmerz, den es verursacht."

"Schmerz war es, ja Schmerz! Und zwar kein geringer! Ich dachte, als ich da unten am Wasser stand, ich müsse hineinspringen (Seite 242B) und mich ersäufen. Da aber dachte ich auch an meine Mutter, an die Einzige, die mich liebte. Es war, als ob sie bei mir stehe und mir Deine schweren Worte tragen helfe. Da erkannte ich, daß Du recht gehabt hast in allem, was ich von Dir sah und hörte. Und ich bekannte es, um mich nicht länger selbst zu betrügen. Ich rief es laut über das Wasser hinaus, so daß es war, als ob alles zusammenstürzen wolle. Du mußt den Lärm, den das machte, gehört haben. Zu verstehen aber war kein Wort. Du gehst jetzt zu den Gefährten?"

"Ja."

"Ich bleibe hier und warte. Ich bitte Dich, dem Dschirbani und dem Prinzen der Tschoban zu sagen, daß ich gerne mit ihnen sprechen möchte, und zwar jetzt, hier, an dieser Stelle. Willst Du das tun?"

"Sehr gerne! Gott segne Dich! Und nicht nur Dich, sondern auch alles, was Du mit ihnen redest!"

Ich ging mit meinen Hunden. Er blieb allein. Aber noch war ich keine zwanzig Schritte gegangen, so hörte ich seine Stimme hinter mir:

"Effendi!"

"Was?" fragte ich, indem ich stehen blieb.

"Ich habe gelesen, was Du mir zeigtest: >Erbaut zum Sieg für den Frieden!< Und ich habe es nicht nur gelesen, sondern es mir auch überlegt, da unten, am Wasser! Niemand kann geben, was er nicht hat. Ich kann meinem Volke keinen Frieden geben, wenn ich ihn nicht selbst besitze, in meinem eigenen Innern. Ist das richtig?"

"Ja. Darum hat Dich der 'Mir von Dschinnistan mit diesem Brunnen im Innern des Landes in Deinem eigenen Innern gepackt; überlege Dir auch das!"

"Das werde ich! Ich wollte Dir jetzt nur sagen, daß Du unbesorgt sein kannst. Dein Stachel wirkt, und Deine Hiebe sitzen! Nun geh!"

"Ich danke Dir!"

"Nein, sondern ich Dir!"

Als ich bei den Gefährten ankam, waren sie soeben mit dem Essen fertig. Ich machte mich sogleich daran, dies nachzuholen und teilte dem Dschirbani und dem Prinzen der Tschoban mit, was der 'Mir von ihnen wünschte. Sie waren beide sofort bereit, seinem Verlangen nachzukommen.

"Das wird eine wichtige, sehr wichtige Unterredung!" sagte der Dschirbani. "Es hängt viel, sehr viel von ihr ab, wahrscheinlich der ganze Frieden! Und Du, Effendi, hast mir noch nicht erzählt, was Du erlebtest, seit Du mich verließest. Es wäre wohl besser, wenn ich vor dieser Unterredung mit dem 'Mir recht ausführlich mit Dir hätte sprechen können."

"Hast Du wirklich noch nichts erfahren?" fragte ich lächelnd. "Sollte Halef so ganz und gar geschwiegen haben? Das wäre das erstemal in seinem Leben!"

"Nein, Sihdi, ich habe nicht geschwiegen," fiel der kleine Hadschi schnell ein. "Ich habe rasch alles erzählt, alles, alles! Die Zeit bis zu Deiner Wiederkehr war kurz; darum habe ich mich beeilt, sehr beeilt. Nun wissen sie aber auch alles, und Du hast es also nicht nötig, wieder von vorn anzufangen und unsere Abenteuer noch einmal zu durchlaufen. Und sollte ich ja etwas vergessen und unbenützt liegen gelassen haben, so kehre ich schon ganz von selbst zurück, um es aufzuheben und sorgfältig nachzuholen. Darauf gebe ich Dir mein Wort!"

"Dein Wort ist nicht nötig, lieber Halef," lachte ich. "Ich bin von der Wahrheit dessen, was Du mir sagst, vollständig überzeugt, auch ohne daß Du mir eine besondere Versicherung gibst."

"Ja, so bin ich, so! Glaubhaft in höchstem Grade! Ich danke Dir, Sihdi, für dieses Leumundszeugnis aus Deinem Munde. Es tut meinem Herzen wohl!"

Bei alledem verstand es sich ganz von selbst, daß ich, wenn ich der Erzähler gewesen wäre, den Ereignissen und Personen wohl andere Seiten abgewonnen hätte als Halef; aber die Zeit war zu kurz dazu, den Dschirbani vor seinem jetzigen Gange zum 'Mir von allem zu unterrichten. Und übrigens soll der Mensch ja nicht etwa denken, daß er bei der Leitung seiner Lebensereignisse vollständig unentbehrlich sei. Es waltet über uns eine Hand, die um so sicherer alles zum guten Ende führt, je weniger wir sie stören.

(Seite 243A) Als der Dschirbani und der Prinz uns verlassen hatten und mein Abendbrot verzehrt war, öffnete ich alle unsere Schläuche und gab den Pferden und Hunden das noch vorhandene Wasser. Das, was sie bekommen hatten, war nicht genug gewesen, weil wir geglaubt hatten, sparen zu müssen. Nun aber war diese Sparsamkeit nicht mehr nötig. Halef erinnerte mich natürlich sogleich daran, daß das Wasser doch für morgen aufgehoben werden müsse.

"Oder gibt es hier etwa Wasser?" fragte er.

"Ja," antwortete ich.

"Wo? Natürlich dort im Engel?"

"Allerdings."

"Waret Ihr etwa drin?"

"Ja."

"Wie sieht er aus? Wie ist er eingerichtet?"

"Ganz genau so, wie der Engel an der Landstraße von Chatar. Aber Wasser hat er noch mehr, viel mehr."

"Hamdulillah! Dann haben wir gewonnen, gewonnen, gewonnen! Ich werde gleich fortgehen, um diesen unsern beiden Gefährten die äußere Gestalt und das innere Räderwerk des Engels zu zeigen!"

Er erhob sich schnell von seinem Platze und forderte die beiden Prinzen der Ussul auf, ihm zu folgen. Sie waren stille, herzensgute Menschen, die sich am glücklichsten fühlten, wenn sie unbeachtet blieben. Sie sprachen nur, wenn sie gefragt wurden. Noch keiner von ihnen hatte aus eigenem Antriebe auch nur ein einziges Mal das Wort an mich gerichtet. Ihr Verhältnis zu Halef schien freilich kein ganz so schweigsames zu sein; dafür hatte er in seiner Weise gesorgt. Jetzt, als sie ihm nach dem Engel folgen sollten, sahen sie mich fragend an, ob ich es ihnen wohl erlaube. Ich schüttelte den Kopf:

"Ich bitte Dich, zu bleiben, Halef. Du kannst jetzt nicht hin."

"Warum nicht?"

"Weil der 'Mir dort mit dem Dschirbani und seinem Gefährten spricht."

"Wir stören sie nicht. Wir gehen still an ihnen vorüber."

"Schon Euch nur zu sehen, würde eine Störung sein, würde die Rede des 'Mir auf die innere Einrichtung des Engels lenken und ihn also von der Hauptrichtung, in welcher seine Gedanken zu bleiben haben, abbringen."

"Hauptrichtung? Gedanken? Abbringen! Sihdi, ich verstehe Dich nicht ganz! Wenn ich einmal einen Gedanken habe, und dieser hat eine Hauptrichtung, so möchte ich den Menschen sehen, der es fertig bringen könnte, mich von meinem Gedanken oder meinen Gedanken von mir oder ihn und mich, also uns alle beide, von der Hauptrichtung abzubringen. Aber ich bin nun einmal Dein wahrer Freund und Beschützer und werde also auch diesesmal tun, was Du wünschest. Bleiben wir also hier. Ich lasse Dich nicht allein, Effendi!"

"Ich danke Dir, Halef, für diesen Deinen Schutz! Sobald es Tag geworden ist, gibt es viel zu tun. Wir wissen nicht, was auf uns wartet. Laßt uns Kräfte sammeln, indem wir schlafen!"

Ich ging zu Syrr, der sich auf meinen Wink niederlegte, um mir als Schlafgefährte und Kopfkissen zu dienen. Ich streichelte ihn liebkosend und schlief dabei ein, er wahrscheinlich auch. Als ich aufwachte, war nicht nur die Nacht, sondern auch das Morgengrauen schon vorüber, und der helle Tag kam zu der Stätte des einstigen Maha-Lama-Sees hereingestiegen. Halef schlief noch, die beiden Ussul ebenso. Der 'Mir fehlte. Der Dschirbani und der Prinz der Tschoban saßen beisammen und sprachen leise miteinander. Ich stand auf, ging hin und setzte mich bei ihnen nieder, nachdem ich aber vorher einen forschenden Rundblick auf den Ort gerichtet hatte, an dem wir uns befanden.

Ich kann sagen, daß mich ein tiefes Staunen ergriff, ein ganz eigenartiges heiliges oder vielmehr nur halb heiliges Grauen, denn unter der feierlichen Einsamkeit und Stille, in der das alles lag, lauschte grinsend der Gedanke hervor, daß in der Tiefe der heutigen Gegenwart, also in der Vergangenheit, der unheimliche, fürchterliche Bodensatz verborgen liege, aus dem die jetzige, tief ergreifende Lautlosigkeit sich losgerungen hatte. Diese Stille kam mir nicht wie die Stille des Todes, sondern wie die Stille nach überstandenen Qualen, Martern und Leiden vor.

(Seite 244A) Der Platz des einstigen Sees war so groß, daß wir ihn grad noch überschauen konnten, aber die Perspektive verkleinerte uns die uns gegenüberliegende Seite derart, daß alles, was in unserer Nähe hundertundfünfzig oder zweihundert Fuß hoch war, dort nur zwei bis drei Meter hoch zu sein schien. Die Oberfläche der früheren, nun ausgefüllten Tiefe bildete eine Fläche von der absoluten Ebenheit einer Tischplatte. Nicht die geringste Erhöhung war zu sehen, natürlich den Engel abgerechnet, der grad im Mittelpunkte stand. Um so höher und steiler aber stiegen die Felswände auf, die, ohne auch nur die kleinste, schmalste Lücke zu lassen, rundum emporragten wie Riesenmauern eines aus dem grauesten Altertume übrig gebliebenen Kolossalzirkus, dem nur die quadernen Sitze fehlten, nicht aber die Raumausdehnungen für die blutigen Metzeleien zwischen Mensch und Tier, um das Menschentier und den Tiermenschen zu belustigen. Es erschien mir unmöglich, daß diese Felsenwände ihre absolute Ähnlichkeit mit einer Mauer nur allein von der Natur erhalten hatten. Es gab nicht den kleinsten Vorsprung, nicht die geringste Abweichung von der senkrechten Fläche. Ganz unbedingt hatten hier Menschenhände nachgeholfen. Aber wie viele, viele Tausende mußten das gewesen sein! Und wie man hier im Innern bemüht gewesen war, ein Emporkommen an dem Felsen zu verhindern, so sahen wir später, daß man auch auf der Außenseite jede Stelle abgetragen und ungangbar gemacht hatte, an der es vielleicht möglich gewesen wäre, von außen her über die hochgezackten, scharfen Felsenzinnen hinüber nach dem See zu steigen.

Daß und wie und wie lange hier Menschenhände gewaltet, geschafft und gearbeitet hatten, zeigte mir gleich schon der erste Blick, den ich rund um die Einfassung der Ebene sandte. Die Arbeit war eine doppelte gewesen; sie hatte sich teils auf das Felsenäußere, teils auf das Felseninnere erstreckt. Das Äußere war, wie bereits gesagt, zur glatten, senkrechten Mauer gehauen worden. Wo es Lücken gegeben hatte, waren sie ausgefüllt worden, und zwar in so vortrefflicher Weise, daß ein sehr scharfes Auge dazu gehörte, den Unterschied zwischen Natur- und Menschenwerk zu entdecken. Sodann hatte man einen sehr hohen und sehr tiefen verdeckten Gang ausgehauen, der unten zur ebenen Erde rund um den ganzen Seeplatz lief. Eine mehr als erstaunliche Leistung! Jedenfalls das Werk mehrerer Jahrhunderte! Von zwanzig zu zwanzig Schritten hatte man gewaltige Massivpfeiler stehen lassen, welche oben in wohl abgemessenen Bogen nach beiden Seiten und nach innen griffen, um die auf ihnen ruhende Felsenlast zu tragen. Hierdurch war das Wunderwerk der Kolonnade entstanden, die sich, äußerlich betrachtet, wie eine ununterbrochene Säulenkette um den gigantischen Fuß der Felsenrunde legte. Sie war so breit, daß zwölf Mann, ohne einander zu berühren, nebeneinander hergehen konnten, und zwei gewöhnliche Stockwerke hoch. Hieraus folgt, daß die Innenwand der Kolonnade ungefähr zehn Meter von der Hauptwand des Felsens eingerückt war. Man sah nicht die geringste Spur einer Türe. Und doch mußten Türen vorhanden sein, denn es gab Fenster, wenn auch nicht in der Form, die man mit dem Worte Fenster bezeichnet. Das führt mich auf die zweite Art der riesigen Arbeit, nämlich auf die, welche sich nicht auf das Felsenäußere, sondern auf das Felsen innere bezog.

Ich hatte nämlich Grund, anzunehmen, daß diese gewaltige Felsenrunde ein >Inneres< besaß, daß sie nicht kompakt, sondern hohl war, daß man sie ausgehauen und mit dem hierdurch gewonnenen Material den See nach und nach ausgefüllt hatte. Es gab in diesem Felsen Räume, viele und zum Teil sehr große und sehr hohe, vielleicht auch sehr tiefe Räume. Das schloß ich aus den vielen Öffnungen, die ich als >Fenster< bezeichnet habe. Ich erinnere an die langen, schmalen, viereckig senkrechten Luft- und Lichtöffnungen, welche man besonders auf dem Lande in den Wänden von Scheunen, Heuböden und sonstigen Vorratshäusern findet. Sie sind mehr schießscharten- (Seite 244B) als fensterähnlich. Solche Scharten gab es hier unzählige, und zwar außerordentlich regelmäßig verteilt. Es waren zwischen je zwei Säulen oder Pfeilern vier Stück angebracht, nämlich zwei Paare. Das eine Paar befand sich in der eingerückten Wand der Kolonnade, und zwar da, wo die Deckenwölbung begann, das andere Paar aber hoch in der Haupt- und Außenwand, wohl zwanzig Fuß hoch über dem vorigen. Diese Scharten waren ungefähr zwei Fuß breit und fünf Fuß hoch. Man sah von außen, daß sie nach innen nicht eben, sondern abwärts verliefen, daß sie sich also nach innen senkten. Dadurch wurde dem Licht ein ungehinderter Zutritt gestattet, als wenn diese Öffnungen wagerecht angebracht gewesen wären. Außerdem gab es zwischen je zwei Säulen im Hoch- und Mittelpunkte der gewölbten Decke ein Luftloch von der Größe, daß man eine geballte Männerhand hineinstecken konnte. Bei entsprechender Innenverbindung ermöglichte das eine Luftzirkulation, die jedenfalls genügte, einen nicht ganz unbedeutenden Raum von Stick- und sonstwie verdorbener Luft freizuhalten. Aus diesen und noch anderen Gründen vermutete ich, daß es hier viele und bedeutende Innenräume gebe, obgleich keine einzige Türe zu sehen war. Ich hegte aber die Überzeugung, daß wir ganz gewiß eine, dann mehrere und endlich gar noch viele entdecken würden, sobald wir uns nur erst die Aufgabe stellten, nachzuforschen. Jetzt war hierzu noch keine Zeit. Ich habe bis jetzt nur beschrieben, was ich gleich bei und mit dem ersten Rundblick bemerkte. Dem war dann später nachzuforschen. Jetzt aber hatte ich mit dem Dschirbani und seinem Gefährten zu reden, um zu hören, ob irgend etwas mit dem 'Mir besprochen worden war, was ich zu erfahren hatte.

"Shahib, soeben war von Dir die Rede," sagte der Dschirbani, der mich bekanntlich am liebsten >Shahib< nannte. "Es war eine große, schöne, fast möchte ich sagen, erhabene Nacht!"

"Ist etwas Wichtiges geschehen?" fragte ich.

"Nein, nichts eigentlich Wichtiges. Und aber doch! Etwas unendlich Wichtiges, für Ardistan wichtig im allerhöchsten Grade!"

"Darf ich es erfahren?"

"Du weißt es schon!"

Er lächelte mich bei diesen Worten an.

"Ah! Du meinst die Wandlung, die sich gegenwärtig im Innern des 'Mir vollzieht?"

"Ja, die meine ich. Er hat uns alles, alles erzählt, und das hat ganz anders geklungen, als wie Dein Halef erzählte. Was bist Du für ein kühner, verwegener, wagemutiger Mann!"

"Nur überlegend und berechnend, weiter nichts! Und wenn die Überlegung mich einmal zu einem guten Entschluß geführt hat, so lasse ich ihn nicht liegen, sondern bringe ihn zu Ende, selbst wenn ich dadurch in die Gefahr komme, für grob und rücksichtslos gehalten zu werden."

"In dieser Gefahr hast Du Dich in letzter Zeit allerdings wiederholt befunden, sehr, sehr!"

"Er hat sich beklagt?"

"O nein! Mit keinem Worte! Er lobte nur, und zwar aufrichtig, wie ich glaube behaupten zu können. Das muß ich Dir sagen, damit Du über die Frage, was und wie er über Dich denkt und spricht, beruhigt bist. Er hat sich überhaupt über niemand beklagt, auch nicht über seine Gegner und nicht über die Aufrührer. Und ebensowenig hat er sich über sich selbst beklagt. Von Selbstanklagen, Bekenntnissen und Geständnissen hat es keine Spur gegeben. Wir haben über den Glauben gesprochen, über die Religionen der Erde, über den Wert der Wissenschaften, über die Kunst der Fürsten, ihre Völker glücklich zu machen, über die Verpflichtungen des Menschen seinen Nebenmenschen gegenüber und über alle möglichen anderen Fragen, welche Du als >Menschheitsfragen< zu bezeichnen pflegst. Man hörte ihm das heiße, aufrichtige Verlangen an, sich zu orientieren, über diese Fragen, über uns, über sich selbst. Er kommt mir vor, wie die erste gute, nützliche Frucht eines bisher unnützen, vielleicht sogar giftigen Baumes. Eure Anwesenheit in Ard ist (Seite 245A) von vortrefflicher Wirkung gewesen. Besonders tief hat ihn die Weihnachtsfeier gepackt. Ich glaube, er ist auf dem besten Wege, ein Christ, und zwar ein sehr ernster, zu werden. Er hat bisher das Abendland verachtet und gehaßt; nun aber beginnt er schon, es zu schätzen und lieb zu gewinnen. Es hat ihm imponiert."

Als der Dschirbani hier eine Pause machte, fiel der Erstgeborene der Tschoban ein:

"Denke Dir diese Örtlichkeit! Diesen scharfen Ausschnitt des Sternenhimmels mit der geheimnisvollen, werdenden Mondessichel über dem noch nie gesehenen Maha-Lama-See! Denke Dir die Gedanken, Ahnungen und Gefühle, die das erweckt! Und denke Dir dazu uns drei Männer, ein jeder anders, ein jeder eigengeartet, ein jeder von der Vorsehung auf einen nicht gewöhnlichen Platz gestellt! Diese drei Männer sind zum ersten Male beisammen, dem Tode geweiht, doch keineswegs verzagend! Sie hoffen, von einem Europäer gerettet zu werden, den sie ehren, den sie lieben, dem sie vertrauen, denn er ist nicht zu ihnen gekommen, um sie auszubeuten, sondern aus wahrer, wirklicher Menschenliebe, die von Mohammed nur befohlen, von Christus aber wirklich geoffenbart und als Herrscherin eingesetzt worden ist! Und denke Dir hierzu die Heiligkeit, Wichtigkeit und Größe der Fragen, die besprochen worden sind, so wirst Du es glauben, daß die Stunden dieser jetzt vergangenen Nacht wirklich erhabene gewesen sind. Es wurde nur im allgemeinen gesprochen; es wurde nichts Spezielles berührt. In Sonderheit vermied es ein jeder von uns, die zwischen uns brennenden Angelegenheiten und Verhältnisse auch nur von weitem zu erwähnen. Das soll jedenfalls erst noch geschehen. Und doch habe ich das Gefühl, als ob während unseres Gespräches dort am Wasserengel das nächstkünftige Geschick der hiesigen Völkerschaften entschieden worden sei, und zwar in günstigem, in glücklichem, in friedlichem Sinne!"

"Ich glaube es, obgleich mir nicht vergönnt war, der vierte bei Euch zu sein. Wo ist der 'Mir jetzt? Kam er nicht mit hierher?"

"Als der Morgen graute und wir uns trennten, sagte er, daß es für ihn unmöglich sei, nun noch zu schlafen. Er werde einen Rundgang um den See machen und sich dann hier einstellen."

"Wie unvorsichtig von ihm! Es ist zwar nicht wahrscheinlich, aber doch immerhin möglich, daß wir uns nicht allein an diesem Orte befinden. Wie leicht kann er in eine Gefahr geraten, aus der er sich nicht selbst zu befreien vermag! Ein 'Mir ist kein gewöhnlicher Mann. Er hat Rücksicht auf den Wert zu nehmen, den seine Person nicht nur für ihn selbst, sondern auch für andere hat! Doch glaube ich, ihn zu sehen. Da draußen kommt jemand."

Es gab, allerdings weit draußen, unter den Säulen einen Punkt, der sich auf uns zu bewegte. Als er näher kam, sahen wir, daß es ein Mensch war, in dem wir dann den 'Mir erkannten. Er hatte heut ein ganz eigentümliches Gesicht. Es sah aus wie das Gesicht eines Hungernden, eines Fakirs, eines Büßers. Seine Augen glühten. Seine Wangen waren eingefallen. Seine Stimme hatte jenen halb heiseren Klang, den man als >belegt< bezeichnet. Er hatte Fieber; das sah ich ihm an, obgleich er sich Mühe gab, es zu verbergen. Wir standen, als er uns erreicht hatte, auf und begrüßten ihn. Er gab mir die Hand und sagte:

"Eine Nacht wie die vergangene gab es für mich noch nie. Und der Morgen ist noch rätselhafter und geheimnisvoller als sie. Gebt mir zu trinken! Ich habe Durst."

"Das Wasser ist alle; wir müssen zum Engel," antwortete ich. "Auch mußt Du essen."

"Ich kann nicht!"

"Du mußt! Wir alle müssen! Du bist verpflichtet dazu!"

Er drohte mir mit dem Finger und antwortete, indem ein mattes Lächeln über sein Gesicht flog:

"Du scheinst der 'Mir von Ardistan zu sein, nicht aber mehr ich!"

"Ich meine es gut mit Dir. Du aber kannst tun, was Dir gefällt, auch krank werden, grad dann, wenn es nötig ist, möglichst stark, gesund und rüstig zu sein. Es geht um Deine Herrschaft, sogar beim Essen und Trinken!"

(Seite 245B) "Gut! Ich esse!"

"So reiten wir zunächst nach dem Engel, um Wasser zu schöpfen. Du hast einen Rundgang gemacht. Wohl nur teilweise?"

"Nein sondern vollständig."

"Was fandest Du?"

"Nichts, was als Fund zu bezeichnen wäre. Der Platz ist öde und leer und ohne die geringste Spur von pflanzlichem oder tierischem Leben. Aber betroffen bin ich, im höchsten Grade betroffen über die Bauten, die ich hier sehe! Konnte man so etwas ahnen? Konnte man so etwas für möglich halten? Auch Du wirst erstaunt sein, Effendi, aber nicht über diese Felsenwerke und Säulen, denn Du hast oft noch größeres gesehen, sondern über etwas ganz anderes, nämlich über mich und meine Unwissenheit."

"Wieso?"

"Ich bin der Fürst dieses Landes und habe doch von diesen Riesenbauwerken nichts gewußt. Wird man Dir das glauben, wenn Du es in Deiner Heimat erzählst? Wird man es nicht lächerlich finden? Wird man Dich nicht für einen Lügner halten?"

"Nein. Man wird Eure Entwicklung, Eure Geschichte, Eure Verhältnisse in Betracht ziehen. Man wird erwägen, daß es in lamaistischen Ländern stets zweierlei Herrscher gab, einen weltlichen und einen geistlichen, und daß beide ihre besonderen Interessen immer derart verfolgten, daß jeder von ihnen so wenig wie möglich von dem, was der andere tat, erfuhr. Und die Hauptsache: Die Wüste ist über Euch hergefallen und hat den besten und schönsten Teil Deines Landes verschlungen, nicht nur die räumliche, die geographische Wüste, sondern auch die geschichtliche, die zeitliche; Euch fehlt die Geschichte. Ihr habt nur noch Sagen. Örtlichkeiten und Bauwerke, die vor Jahrtausenden von dieser geographischen und geschichtlichen Wüste verschlungen wurden, sind so vollständig in Vergessenheit geraten, daß man sich ihrer nicht mehr erinnert. Und die Teufelssage, die Du mir erzähltest, hat das übrige getan, den letzten Rest des Gedächtnisses auszuwischen. Als es nach langen, grausamen Kämpfen Deinen Vorfahren gelungen war, die Maha-Lamas in kraftlose Schatten zu verwandeln, waren sie bemüht, nun auch noch das geschichtliche Bewußtsein ihrer Taten auszustreichen. Der Teufel, der den Maha-Lama betrog, wurde erfunden. Wer aber in Wahrheit die Betrüger und die Betrogenen waren, das werden wir wahrscheinlich heut noch sehen. Ich vermute sehr, daß das Volk es war, welches betrogen worden ist, und zwar um eine Segnung sondergleichen, die dem alten Ard das Leben erhalten hätte, selbst als der Fluß, wie die Sage erzählt, nach seinem Ursprung zurückgegangen war. Die alten Maha-Lamas waren Befreundete des 'Mir von Dschinnistan, der nicht wollte, daß Ardistan, sein Nachbarstaat, nach und nach zur Wüste werde. Kennst Du den Namen des Maha-Lama, der nach der Sage jenen Pakt mit dem Teufel schloß?"

"Ja. Er hieß Abu Schalem."

"Also Vater des Friedens! Dieser Name bestätigt meine Vermutung. Die weltlichen Herrscher sind stets für den Krieg, die geistlichen für den Frieden gewesen. Auch Du bist für den Krieg. Der 'Mir von Dschinnistan ist für den Frieden. Du hast den Krieg mit Gewalt herbeigeführt. Es soll mich nicht wundern, wenn ich nach meiner Heimkehr höre, daß Dein einst so schönes Land vollends zur Wüste geworden ist! Jetzt komm; wir wollen reiten!"

Ich hatte, während wir dies miteinander sprachen, mein Pferd und er das seinige gesattelt. Nun stiegen wir auf und ritten nach dem Engel. Die anderen folgten. Der Dschirbani und der Prinz der Tschoban, denen man ihre Pferde genommen hatte, bekamen für einstweilen unsere Packpferde; so war für alle gesorgt. Der 'Mir sprach jetzt, indem er neben mir her ritt, nicht weiter. Ich will aufrichtig gestehen, daß ich mir selbst jetzt häßlich vorkam. Ich bin stets bemüht, allen, mit denen ich verkehre, nur Freundlichkeit und Liebe zu geben, und hier wurde ich durch die Verhältnisse gezwungen, streng objektiv, zuweilen sogar rücksichtslos, vielleicht auch schroff zu sein. Das tat mir leid; das tat mir sogar wehe; aber ich konnte nicht anders; ich hatte meine Pflicht zu tun. Und diese bestand (Seite 246A) darin, diesem Mann ganz unerbittlich wissen zu lassen, daß er bisher weder als Fürst noch als Mensch daran gedacht hatte, seine eigentlichen, ihm von Gott gestellten Aufgaben zu erfüllen. Falls ich mir hierdurch sein bisheriges Wohlwollen verscherzte, war er es gar nicht wert, daß man sich um sein Wohlwollen überhaupt bekümmerte.

Als wir die andern, die den Engel noch nicht kannten, in sein Inneres führten und ich ihnen seine Bedeutung zu erklären versuchte, begannen sie zu ahnen, daß es mit dem Maha-Lama-See denn doch wohl eine andere Bewandtnis habe, als die alte Sage, die aber keine Sage, sondern eine glatte Lüge war, der Nachwelt weismachen sollte. Das Räderwerk wurde geölt und, was aus Holz oder Leder bestand, mit Wasser angefeuchtet. Als das geschehen war, funktionierte die Schöpfmaschine fast tadellos, und es dauerte gar nicht lange, so waren alle Tröge, Eimer und Schläuche gefüllt und unsere Pferde und Hunde mit so viel frischem Wasser getränkt, wie sie nur haben wollten. Hierauf wurde gefrühstückt, und dann konnten wir daran gehen, uns das Innere des Riesen Bauwerkes zu erschließen.

Zunächst war es nötig, einen Überblick zu gewinnen. Zu diesem Zwecke unternahmen wir vorerst einen langsamen Ritt um die ganze, riesige Runde. Es war während desselben kein Grashalm, kein kleinster Käfer, keine Mücke zu sehen. Und ebenso fehlte jede Spur davon, daß seit längerer Zeit irgend ein Mensch hier gewesen sei oder sich vielleicht gar noch hier befinde. Ich gewann die Überzeugung, daß wir seit vielleicht schon Jahrhunderten die ersten waren, denen der Zutritt hier gelang. Denn, als wir diesen Ritt beendet hatten und wieder von den Pferden stiegen, stand es in mir fest, daß auch der >Panther< und sein alter Basch Islami von diesem Orte nichts wußten. Sie kannten nur den zugewölbten Kanal. Wir hatten an dem Ende desselben, da, wo er sich zu einem größern Raum erweiterte, verschmachten und sterben sollen. Daß es da eine verborgene Rolltüre gab, die ins Freie führte, war ihnen unbekannt. Darum konnten wir uns hier am einstigen See ganz ungeniert bewegen, ohne befürchten zu müssen, von irgend jemand gestört zu werden.

Die Hauptsache war nun, die vorhandenen Türen zu finden. Wenn die Mechanik des Verschlusses hier dieselbe war wie an dem Steine, der den Kanal verschloß, so mußten wir vor allen Dingen nach den Schlüssellöchern suchen, und dann war die Frage, ob mein Messerschlüssel in alle passen werde. Die Fensterpaare, die es zwischen je zwei Säulen gab, waren alle in der Mitte der betreffenden Wandfläche angebracht, und zwar da oben, wo die Deckenwölbung begann. Das habe ich bereits gesagt. Der einfache Menschenverstand führte zu der Vermutung, daß sich da wohl auch die Türe befinden werde, also gerade unter dem Fenster. Wir schauten nach. Richtig! Wir fanden die Risse und Spalten, und wir fanden auch die mit nassem Staub verklebten Schlüssellöcher. Dieser Staub war natürlich nicht mehr feucht; er war trocken und hart, aber es bedurfte nur einer ganz geringen Anstrengung, ihn zu entfernen. Als dies geschehen war, stellte es sich leider heraus, daß mein Schlüssel nicht paßte; er war zu klein. Wir versuchten es bei einer anderen Stelle. Wir fanden auch hier die Türe und die Schlüssellöcher; aber mein Schlüssel paßte wieder nicht; er war zu groß. Da wurden meine Gefährten ungeduldig. Sie gingen von Säule zu Säule, entdeckten Türe auf Türe, befreiten Loch auf Loch vom verhärteten Staube und kamen doch nicht weiter, als ich, der ich mich niedergesetzt hatte, um still zu überlegen. Mein Schlüssel war eben bald zu groß, bald zu klein; er paßte in keines der Löcher. Mein kleiner Halef fühlte sich tief unglücklich über diesen Mißerfolg. Und außerdem war er wütend über mich.

"Wie kann man sich nur so hersetzen und die Hände in den Schoß legen wie Du, Effendi!" rief er mir zu. "Siehst Du denn nicht, wie wir uns alle plagen?"

"Habe ich Dir befohlen, Dich zu plagen?" fragte ich ihn.

"Nein," antwortete er.

"So mach Deine Vorwürfe Dir, aber nicht mir!"

"Aber es muß doch etwas geschehen! Man muß doch etwas tun: Wir arbeiten! Du aber tust nichts, gar nichts!"

"Oho!" lachte ich. "Ich überlege!"

(Seite 246B) Da stemmte er seine beiden Hände in die Seiten und sprach:

"So! Du überlegst! Und machst dazu ein so dummes Gesicht, daß es mir angst und bange um Dich wird! Siehst Du denn nicht ein, daß es zu gar nichts führen kann, mit einem derartigen Gesicht zu überlegen? Wenn das Nachdenken eines Menschen einen Erfolg haben soll, so darf er dazu nicht das Gesicht eines Schafes oder eines Wasserfrosches machen! Ich habe Dir zwar gesagt, daß das Überlegen Deine und dann die Ausführung meine Sache ist, aber wenn Du beim Überlegen nicht wenigstens ein ebenso pfiffiges Gesicht machst wie ich bei der Ausführung, so ist es am besten, wir vertauschen unsere Rollen, nämlich ich überlege und Du führst aus!"

"Gut! Schön! Einverstanden, lieber Halef! Setze Dich! Setze Dich sofort hierher! Auf die Stelle, wo ich gesessen habe! Und überlege Du einmal! Du wirst es schneller und besser fertig bringen als ich! Und wenn Du fertig bist und es gefunden hast, dann komme ich wieder und führe es aus!"

Ich nahm ihn an beiden Armen und drückte ihn auf dieselbe Stelle nieder, an der ich soeben gesessen hatte.

"Aber, Effendi, so ist es doch nicht gemeint!" rief er aus. "Ich wollte doch nur sagen, daß - - -"

"Still!" unterbrach ich ihn. "Still! Nicht auf das, was Du sagen wolltest, kommt es hier an, sondern auf das, was Du gesagt hast! Und Du hast gesagt, daß Du mit mir die Rolle vertauschen wollest. Du wollest überlegen, und ich solle dann ausführen, was Du gefunden und beschlossen hast! So hast Du gesagt, und so mag es geschehen!"

"Aber, Sihdi, Du weißt doch, daß ich gerade im Überlegen keineswegs so geübt bin, wie in andern Dingen, und daß ich - -"

"Still," fiel ich ihm abermals in die Rede; "sei still! Daß Du im Überlegen nicht bewandert bist, das sieht man Dir ja sofort an; aber Du wirst Dich sehr schnell in meine Rolle finden. Wenn wir einen Spiegel hätten, könnte ich Dir zeigen, wie rasch und vollständig Du Dich schon in das Schaf- und Wasserfroschgesicht gefunden hast. Es wird sogar Leute geben, welche behaupten, daß Du mich hierin schon weit übertriffst. So bin ich überzeugt, daß Du mich auch in Beziehung auf das Nachdenken sehr bald überholen wirst. In einer halben Stunde wirst Du fertig sein. Da komme ich wieder. Bis dahin, lebe wohl!"

Ich ging zu meinem Pferde und stieg auf.

"So willst Du mich verlassen, Sihdi?" fragte der so unerwartet beim Wort Genommene. "Hast Du Dir auch die Folgen überlegt?"

"Nein, denn das Überlegen ist ja nun nicht mehr meine, sondern Deine Sache! Also, lebe wohl!"

Ich ritt fort.

"Allah, Wallah, Tallah! Er verläßt mich wirklich! Er hat kein Herz für mich und meine Qual! Er hält mich an dem Worte fest, welches doch gar nicht fest gewesen ist, sondern sofort zerrissen wird, sobald man daran zerrt! Er will sich rächen! Sich rächen für das Schaf und für den Wasserfrosch! Er ist nicht groß, nicht edel und erhaben! Und wenn er wiederkommt, so wird er mich - - -"

Mehr hörte ich nicht, denn ich hatte mich nun schon so weit von ihm entfernt, daß seine Stimme nicht mehr zu mir dringen konnte. Schon bald aber hörte ich eine andere, welche hinter mir erscholl. Als ich mich umschaute, sah ich den 'Mir, der mir auf seinem köstlichen Schimmelhengst nachgeritten kam und mir zurief, langsamer zu reiten, damit er mich einholen könne. Ich hielt an. Als er mich erreichte, sagte er:

"Das ist wieder einmal eine gute Lehre, die Du dem Scheik der Haddedihn erteilst. Ob sie ihm wohl Nutzen bringen wird?"

"Ich hoffe es, obgleich es in erster Linie ganz und gar nicht meine Absicht war, gute Lehren zu erteilen."

"Was sonst?"

"Ich wollte nur frei sein, weiter nichts. Ich wollte fort, weiter nichts. Heraus aus allen diesen Fragen, die man an mich richtet! Man verlangt von mir, daß ich nachdenken, daß ich die Lösung dieser Rätsel finden soll, und man läßt mir doch nicht die nötige Zeit und Sammlung dazu. Die Gedanken (Seite 247A) kommen nicht in der Weise und in der Masse wie die Mücken aus der Pfütze. Man muß die Dinge auf sich wirken lassen, sonst kann man sie nicht durchschauen und ergründen. So auch hier! Ich kann nur dann auf die Besonderheiten und Heimlichkeiten, die wir entdecken wollen, kommen, wenn es mir möglich ist, mich in die Zeit und in die Menschen, um die es sich bei der Entstehung dieses Riesenbaues handelte, hineinzudenken und hineinzufühlen. Ganz selbstverständlich aber kann ich das nicht, wenn jemand, wie Halef, immerfort auf mich spricht."

Das war deutlich! Leider aber wurde der Wunsch, der in diesen meinen Worten lag, vom 'Mir nicht verstanden, oder er beachtete ihn einfach nicht. Der Gedanke, daß ich auch ihn, den Herrscher, damit meinen könne, war ihm eine Unmöglichkeit. Er blieb bei mir und ritt mit mir weiter.

"Willst Du noch einmal rundherum, Effendi?" fragte er.

"Ja," antwortete ich. "Während unserer ersten Runde sprach man immerfort auf mich ein. Ich kam zu keiner genauen Betrachtung, weder mit dem äußerlichen noch mit dem innerlichen Auge. Das habe ich jetzt nachzuholen."

"So bin ich neugierig, ob Du jetzt nun findest, was Du vorhin nicht gefunden hast. Es wäre ja mehr als bedauerlich, wenn wir uns hier mitten unter den wichtigsten Geheimnissen befänden, ohne ein einziges von ihnen zu enthüllen. Du sprichst nicht nur vom äußerlichen, sondern auch vom innerlichen Auge. Was Du hier in diesem Falle damit meinst, das verstehe ich nicht ganz, sondern nur halb; aber ich nehme an, daß Dir Dein Suchen leichter würde, wenn Dir die Verhältnisse, unter denen diese Riesenwerke entstanden, bekannter wären, als sie es Dir sind. Ich glaube, zu dieser besseren Bekanntschaft einige Beiträge liefern zu können. Ich habe Dir nämlich ein Geständnis zu machen, ein Geständnis, welches sich auf die unversöhnliche Feindschaft zwischen meinen Vorfahren und den alten Maha-Lamas bezieht. Die weltlichen Herrscher, also meine Ahnen, sind aus diesen erbitterten Kämpfen stets als Sieger hervorgegangen, und mehrere geistliche Herrscher haben das mit dem Leben bezahlen müssen. Ich bin heut früh, als ich beim Tagesgrauen an diesen Säulen vorüberschritt, mit mir zu Rate gegangen, ob ich Dir davon erzählen soll oder nicht. Du bist mein Gewissen geworden. Du kannst mein Herz beschweren und kannst es wieder entlasten. Will ich meine Fehler erkennen, so frage ich Dich, denn Du bist wahr und gerecht; Du verschweigst mir keinen einzigen, und Du bist bei aller Strenge doch mild, denn Du lässest mich stets den guten Zweck und das heilsame Ziel dieser Strenge erkennen. Und will ich die Fehler meiner Vorfahren ermessen, so habe ich Dir alles zu beichten, was ich von ihnen weiß. Du wirst mir sagen, ob es auch für das, was sie taten, einen guten Zweck und ein heilsames Ende gibt oder nicht."

Da antwortete ich:

"Dieser Zweck liegt tiefer, als unsere sterblichen Augen reichen, und dieses Ende ist nur in Deine eigene Hand gelegt."

"In die meinige?"

"Ja, denn Du bist der Träger Deines Stammes. Auf Dir lastet alles Verborgene, was Deine Ahnen zu Berge häuften, das Gute und auch das Böse. Wir Christen wissen, daß Gott alles herrlich hinausführt. Die Torheit der Menschen kann die Ausführung seines Ratschlusses höchstens erschweren und verzögern, nicht aber verhindern. Und ein einziger Fürst, der zur Einsicht kommt, ist imstande, die Irrungen einer ganzen Ahnenreihe zum guten Schlusse zu leiten und dadurch den Fluch des Weltgerichtes in Verzeihung und Segen zu verwandeln."

"Oh, könnte ich das!" rief er aus, die Hände zusammenschlagend, wie man zu tun pflegt, wenn man seinem Wunsche einen recht, recht herzlichen Nachdruck geben will.

"Du kannst, wenn Du willst! Nur wollen, wollen, wollen!"

Da richtete er sich hoch im Sattel auf, hob die Hand wie zum Schwure empor und beteuerte:

"Ich will; ich will! Effendi, ich werde Dir erzählen; ich werde Dir beichten. Du sollst alle Sünden, die an dem Volke von Ardistan begangen worden sind, erfahren, soweit ich sie selbst kenne. Und zwar sofort! Ich bin Dir deshalb nachgeritten. Es muß von meinem Herzen herunter. Ich erfuhr das alles von meiner Mutter. Sie war die einzige. die mich liebte, (Seite 247B) und sie war auch die einzige, die mich über die Taten der Herrscher von Ardistan niemals belog. Aber ich war noch jung und sie starb; ich vergaß. Doch nun öffnen sich die Tiefen meines Innern, und die Warnungen und Schilderungen der geliebten Toten beginnen wieder wach und lebendig zu werden. Du mußt das alles hören. Ich beginne mit - - -"

"Nein, nein!" unterbrach ich ihn da schnell. "Nicht jetzt, nicht jetzt!"

"Warum nicht? Es drängt mich; es will heraus! Ich bin Dir ja nur deshalb nachgeritten, um mit Dir allein zu sein und Dir ungestört erzählen und berichten zu können!"

Da hielt ich mein Pferd an, so daß er auch das seine parieren mußte, und sah ihm mit lachenden Augen in das erregte Gesicht, indem ich ihn fragte:

"Du reitest also hier an meiner Seite, um mir zu erzählen?"

"Ja. Ich will beichten! In meinem Namen und auch im Namen derer, die meine Vorgänger gewesen sind!"

"Und Du wünschest, daß ich dieser Deiner Beichte meine volle Aufmerksamkeit schenke?"

"Ja freilich!"

"Und ich aber reite an Deiner Seite, warum?"

"Um - - - um - - - um die Schlüssel zu den vielen Türen, die es hier gibt, zu finden," antwortete er zögernd, indem ihm doch nun endlich die Erkenntnis zu kommen schien, daß ich nicht gerade begeistert davon war, daß er mich begleitete.

"Und Du wünschest, daß ich diese Schlüssel alle finde?"

"Sogar sehr!"

"Da muß ich aber ganz selbstverständlich alle meine Gedanken zusammennehmen und darf mich nicht mit andern Dingen beschäftigen. Nun wähle! Entweder Du oder die Schlüssel!"

"Nicht beides zugleich?"

"Unmöglich! Ein jedes fordert für sich den ganzen Kopf!"

"So trete ich natürlich zurück. Erzählen kann ich auch später. Die Hauptsache ist vor allen Dingen, daß wir die Türen aufbekommen. Aber bei Dir bleiben darf ich doch?"

"Wenn Du nicht sprichst!"

"Ich schweige!"

"So komm!"

Wir ritten weiter. Der gute Mann ahnte wirklich nicht, daß mich schon bloß seine Anwesenheit stören mußte, auch wenn er schwieg. Je weiter wir kamen, ohne daß ich irgend etwas bemerkte, was ich mir als Wink dienen lassen konnte, um so größer wurde meine Befürchtung, daß auch dieses Mal alle Mühe vergeblich sein werde. Und das störte mein inneres Gleichgewicht und raubte mir die Empfänglichkeit für die Eindrücke, die zu mir sprechen sollten. Glücklicherweise waren die Felsen einsichtsvoller als der 'Mir. Sie zogen mich von ihm ab. Sie begannen zu sprechen, heimlich, leise, nicht in Worten, sondern zunächst nur in Ziffern und Zahlen. Eine der Säulen war geborsten, nicht ganz, sondern der Riß, der entstanden war, klaffte nur auf der einen Seite, von links oben nach rechts unten. Er war nicht tief. Unter andern Umständen wäre mein Auge hierüber hinweggeglitten, ohne es zu beachten; hier aber war eine solche unbedeutende Spalte im Felsen doch wenigstens einmal eine Unterbrechung der ewigen steinernen Ausdruckslosigkeit. Ich hielt an der Säule an, um einen Blick in den Riß zu tun. Das geschah ganz unwillkürlich, ohne besondere Absicht. Es war auch gar nichts drin, nicht einmal Staub. Und doch sah ich etwas, und zwar etwas höchst Wichtiges. Nicht in der Spalte selbst, sondern neben ihr. Es gab da zwei Vertiefungen im Stein, die eine über der andern. Sie waren gar nicht augenfällig, sondern so klein, daß das Auge sehr leicht darüber hinweggehen konnte, ohne sie zu bemerken. Man konnte sie überhaupt nur aus der nächsten Nähe sehen. Sie schienen mit einem sehr scharfen, kleinen Griffel eingeritzt zu sein und bildeten Figuren, die irgend etwas Bestimmtes zu bedeuten haben mußten. Ich sprang vom Pferde, um die Lage dieser zwei Figuren genau zu bestimmen. Sie saßen, nach mir betrachtet, gerade in Augenhöhe in der Säule. Die eine schien ein Buchstabe zu sein, und zwar ein arabisches Dschim; die andere aber war ganz gewiß das chinesische Zeichen für Örh. Ich ging nach der nächsten Säule. Da gab es wieder zwei Zeichen, genau in derselben (Seite 248A) Höhe. Das eine war der arabische Buchstabe Dal und das andere ein chinesisches Tschhi. Auf der dritten Säule sah ich ein arabisches Be und ein chinesisches Liu. Was sollte das? Was hatte das zu bedeuten? Die angegebenen Zeichen haben nicht nur Buchstaben- und Wort-, sondern zugleich auch Zahlenwert. Als was waren sie hier zu nehmen? Als Buchstaben und Worte? Oder als Zahlen? Ich entschloß mich für das letztere. Im Arabischen bedeutet der Buchstabe Dschim eine 5, der Buchstabe Dal eine 4 und der Buchstabe Be eine 2. Das chinesische Örh ist, in unseren Zahlen ausgedrückt, eine 2, das Tschhi eine 7 und das Liu eine 6. Das ergab also an den drei Säulen, die ich bis jetzt betrachtet hatte, folgende Zahlenzusammenstellung:

Arabisch: Chinesisch:

Erste Säule: 5 2

Zweite Säule: 4 7

Dritte Säule: 2 6

Was diese Zahlen oder Ziffern zu bedeuten hatten, damit quälte ich mich jetzt noch nicht ab. Es mußte mir jetzt zunächst nur darauf ankommen, zu erfahren, ob allen Säulen in der ganzen Runde ein solches zweifaches Zeichen eingegraben sei oder nicht. Der 'Mir war ganz selbstverständlich auch abgestiegen und ließ sich zeigen, was ich gefunden hatte.

"Glaubst Du etwa, daß diese Zeichen sich auf die Schlüssel beziehen?" fragte er.

"Ja, ich glaube es," antwortete ich. "Bedenke die Menge der Räume, die es hier wahrscheinlich gibt! Sie müssen numeriert sein. Die Schlüssel also auch!"

"Aber warum nicht nur arabische Zahlen, sondern auch chinesische? Die kennt man hier in Ardistan doch nicht!"

"Eben deshalb, weil man sie nicht kennt! Das Verständnis für diese Ziffern war nicht für jedermann, sondern nur für gewisse Beamte."

"Aber warum wählte man neben den arabischen Nummern grad die chinesischen, keine anderen?"

"Weil das Chinesische fast einem jeden gebildeten Lamaisten geläufig ist. Doch das sind Fragen, auf die wir unsere kostbare Zeit nicht verschwenden dürfen. Wir haben jetzt alle Säulen zu untersuchen, ob jede einzelne ihre beiden Nummern hat. Das übrige wird sich dann finden. Beeilen wir uns!"

Das ging nicht so schnell, wie man hätte meinen sollen, denn es traten hier und da Nebenumstände ein, die unsern Rundritt verzögerten. Er dauerte zwei volle Stunden, und das Ergebnis war, daß es nur zwei Säulen gab, die nicht numeriert waren, und die lagen einander gerade gegenüber, die eine genau in der Mitte der Süd- und die andere genau in der Mitte der Nordseite der Gebäuderundung. Mit diesen beiden Säulen mußte es also eine besondere Bewandtnis haben. Übrigens kam es sehr häufig vor, daß mehrere aufeinanderfolgende Säulen genau dieselben Nummern hatten. Da war anzunehmen, daß sie auch zu einem und demselben Raume gehörten und daß dieser also größer sei als die gewöhnlichen, die nur den zwischen zwei Säulen liegenden Raum einnahmen.


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