8. Kapitel.

Gegenzüge.

Am Abende dieses Tages ging es am Maha-Lama-See ganz anders her, als in der früher und auch noch jüngst verflossenen Zeit. Der Herr von Ardistan hatte seine Residenz in der >Stadt der Toten< aufgeschlagen, und diese Stadt sah nun ganz plötzlich so lebendig aus, als ob der Tod für immer aus ihrem Bereich verschwunden sei. Die Herrscherin war mit ihren Kindern in einer Weise untergebracht, die ihrem Rang entsprach. Der 'Mir und wir andern ebenso. Denn wir sahen uns infolge der Anwesenheit der Truppen verpflichtet, auf die bescheidenen Ansprüche von Flüchtlingen zu verzichten, und auch äußerlich zu zeigen, daß wir innerlich vollständig ungebrochen waren und kein Recht, welches wir irgendwo und irgendwie besaßen, aufgegeben hatten.

Die höheren Ussul und Tschoban wohnten bei uns am See; folglich waren da auch ihre Pferde untergebracht. Alles, was in europäischen Verhältnissen als Hauptquartier, Generalstab, Verproviantierungsamt und mit ähnlichen Ausdrücken zu bezeichnen gewesen wäre, hatte hierher verlegt werden müssen. Das gab nun ein lautes Fragen und Antworten, Kommen und Gehen, welches keinen Augenblick zur Ruhe kam. Die Vorratskammern standen geöffnet, und während die Anhänger des >Panther< überzeugt waren, daß wir alle dem Tode des Verhungerns und Verschmachtens geweiht seien, gab es bei uns Nahrung in Hülle und Fülle und so viel Wasser, wie wir nur immer brauchten.

Die Truppen waren in der Zitadelle und, da diese nicht ausreichte, in der obern Militärstadt untergebracht. Die Pferde all dieser Leute wurden am Flusse getränkt, dessen Wasser zu unserer Freude nicht etwa fiel, sondern immer höher und höher stieg. Nach Ard und der Wüste hin waren Posten gestellt, welche sich nicht sehen lassen durften und jede etwaige Annäherung zu melden hatten. Diese Posten wurden regelmäBig abgelöst. Wie das so schnell hatte kommen können, und wie so ohne alle Aufregung es angeordnet und ausgeführt worden war, darüber schien sich niemand eine Frage vorzulegen; für den aber, der offene Augen hatte, konnte kein Zweifel darüber obwalten, daß der bescheidene, stille, zurückhaltende Schech el Beled von El Hadd es war, welcher dafür sorgte, daß, um mich eines gewöhnlichen Ausdruckes zu bedienen, die anfängliche Unordnung sehr bald überwunden war und dann alles schnappte und klappte. Das merkte ich selbstverständlich nicht gleich am ersten Abend, sondern später. Als ich dann aber erst einmal entdeckt hatte, wie still ordnend er alle äußeren Dinge überwachte, verfolgte ich seinen Einfluß auch tiefer und kam auch da sehr bald zu der Überzeugung, daß er uns an Intelligenz gewiß alle weit überragte und an den Geschehnissen sehr wahrscheinlich größeren Anteil hatte, als er uns merken ließ.

(Seite 276B) Es hatte einen sehr tiefen Eindruck auf den 'Mir gemacht, daß alle durch die weißbeschriebenen schwarzen Zettel bestimmten Beisitzer der >Dschemmah der Lebenden< eingetroffen waren, obgleich man das nur schwer für möglich hatte halten können. Er hatte sie zusammenberufen und ihnen mitgeteilt, um was es sich handelte. Sie waren dann mit uns in die beiden Dschemmah-Säle gegangen, um die Situation kennen zu lernen. Ihr Verhalten und ihre ganze nachherige Stimmung waren dieser Situation entsprechend, ernst, still, ergriffen. Abd el Fadl, Merhameh und der Schech el Beled sagten gar nichts. Der Scheik der Tschoban sprach dafür um so mehr. Er wollte alles Mögliche wissen, um seiner Pflicht, die ihm sehr am Herzen lag, Genüge leisten zu können. Dabei hatte er wohl keinen Begriff von der eigentlichen, großen Bedeutung der heutigen Mitternacht. Für ihn handelte es sich gewiß nur um ein abergläubisches Schamanenspiel mit den Leichen der Verstorbenen. Aber das sagte er nicht, ebensowenig wie auch alle die andern nichts über ihre persönliche, innerliche Meinung verlauten ließen. Doch, mochte ein jeder denken, was und wie er wollte, in dem einen stimmten sie gewiß alle überein, nämlich, daß es sich um das Wohl oder Wehe des 'Mir und seines ganzen Geschlechtes handele, und die Erwartung, was er tun werde, war so gespannt, daß beim Abendessen keiner von ihnen zulangte und nur diejenigen etwas genossen, die an der Dschemmah nicht beteiligt waren.

Es war der Befehl erteilt worden, daß genau eine Stunde vor Mitternacht sich jedermann zur Ruhe gelegt haben müsse. Die Stunden wurden nämlich angesagt, um der Tschoban willen, die fast alle Mohammedaner waren und ihre regelmäßigen Gebete nicht versäumen durften. Es waren dazu Gebetsbretter vorhanden, die allstündlich angeschlagen wurden.

Ich gestehe aufrichtig, daß auch ich mich in ganz ungewöhnlicher Spannung befand. Die Gründe hierzu brauche ich wohl nicht aufzuführen; sie ergeben sich aus den Verhältnissen und Ereignissen ganz von selbst. Als nach europäischer Zeiteinteilung elf Uhr geschlagen wurde, herrschte rundumher die tiefste Ruhe. Eine halbe Stunde später ging ich mit dem 'Mir nach der Türe des Vorzimmers, aus dem man in die >Dschemmah der Toten< kam. Er war nicht unruhig, sondern still und gefaßt. Die andern hatten sich schon eingestellt und warteten auf uns. Ich öffnete. Wir traten ein und zündeten einige Kerzen an, um uns in den großen Saal der >Dschemmah der Toten< zu leuchten. Dort steckten wir die Lichter sämtlicher Kandelaber an und taten dasselbe dann auch draußen in der >Dschemmah der Lebenden<. Da lagen noch alle Zettel, so daß ein jeder wußte, wo er seinen Platz zu suchen hatte. Die Sitze waren alle leer. Wir gingen in die >Dschemmah der Toten< zurück, wo Abu Schalem und die beiden nächsten Ahnen des 'Mir saßen, die an unserer Versammlung mit teilzunehmen hatten. Wir alle waren im höchsten Grade wißbegierig, von wem und auf welche Weise sich der Transport dieser drei Leichen ermöglichen lassen werde. Da wurden draußen die Gebetsbretter erst sechsmal und dann zwölfmal angeschlagen, und die halb singende Stimme des Muezzin ertönte:

"Es ist Mitternacht! Die sechste und die zwölfte Stunde für alle Sterblichen. Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen. Der Mensch sei gerecht; Gott aber ist barmherzig!"

Sobald diese Stimme verklungen war, konnte Halef, der Lebhafteste und Ungeduldigste von uns allen, sich nicht mehr halten. Er holte tief, tief Atem und sagte:

"Jetzt muß es sich zeigen! Jetzt muß es sich lösen, das große Rätsel des Lebens! Jetzt müßten eigentlich die Toten lebendig werden, wenigstens drei von ihnen, um mit uns - - -"

Er wurde unterbrochen. Es geschah etwas vollständig Unerwartetes, etwas geradezu Wunderbares. Nämlich in diesem Augenblicke stand Abu Schalem, der berühmteste, gerechteste und gütigste aller Maha-Lamas, von seinem Sitze auf, öffnete die Lippen und sprach:

"Sie werden lebendig! Finsternis auf Erden; Licht über den Sternen! Ich gehe euch voran. Kommt alle; kommt mit mir!"

Er nahm das große Schuldbuch vom Tisch und kam mit ihm langsam und feierlich die Stufen herabgestiegen. Sein langgeflochtenes, silbernes Haar bewegte sich, wie er die Füße (Seite 277A) bewegte. Sein Bart, dessen Ende unter dem Tisch verborgen gewesen war, wallte bis auf die Knie herab. Seine großen, weit geöffneten Augen waren auf uns gerichtet und schienen uns mit ihrem Blicke durchdringen zu wollen. So ging er mitten zwischen den anderen Maha-Lamas hindurch, die unbeweglich sitzen blieben. So schritt er auch durch die ganze Zahl der angeschuldigten Herrscher von Ardistan. Vor den beiden letzten, dem Vater und dem Großvater des jetzigen 'Mir, blieb er stehen, hob die Hand und forderte sie auf:

"Ihr kommt mit eurem Sohne!"

"Wir kommen!" antwortete der Großvater und stand auf.

"Wir kommen!" antwortete auch der Vater und stand auf.

Sie nahmen den 'Mir zwischen sich und folgten dem voranschreitenden Vorsitzenden nach dem Saal der lebenden Dschemmah. Dort stieg Abu Schalem nach seinem hohen Stuhl empor, legte das Schuldbuch auf den Tisch vor sich hin und setzte sich. Der 'Mir war seinen Voreltern wie im Traume gehorsam gewesen! Er hatte sich von ihnen nach den drei Plätzen der Angeklagten führen lassen und setzte sich zwischen ihnen in einer Weise nieder, als ob er geistig vollständig abwesend sei. Und wir andern? Wir Richter? Ich kann nur von mir sprechen und da muß ich gestehen, daß ich mich ganz und gar nicht als Richter fühlte, sondern als ein Mensch, der in Beziehung auf die gegenwärtige Situation und auf seine heutige Aufgabe überhaupt nicht wußte, woran er war. Ich glaube fast, ich wäre in meiner Verblüffung draußen stehengeblieben, wenn Merhameh nicht meinen Arm gefaßt und mir zugeflüstert hätte:

"Willst Du Dich vergessen, Effendi? Komm, und sammle Dich!"

Sie begleitete mich aus dem einen Saale in den andern und ließ mich nicht eher los, als bis ich vor dem Platze stand, auf welchem die Karte mit meinem Namen lag. Dann begab sie sich zu ihrem Vater. Ich glaube nicht, daß irgend einer von uns innerlich klarer gewesen ist, als ich es war. Ich hatte zunächst nur den einen Gedanken, daß ich ganz unbedingt erfahren müsse, was es mit dieser Rückkehr dreier längst Verstorbenen zum Leben für eine Bewandtnis habe. Es kostete mich die größte Anstrengung, diesen Gedanken so gänzlich beiseite zu schieben, daß ich fähig wurde, zunächst doch wenigstens den Anforderungen des Augenblickes gerecht zu werden. Ich nahm mich also zusammen und redete mir ein, den Vorsitzenden als einen Mann betrachten zu müssen, mit dessen gegenwärtigem Vorsitz, nicht aber mit dessen längst vergangenem Vorleben ich mich hier zu beschäftigen habe.

Er saß jetzt ganz genau wieder so da, wie er drüben im andern Saale gesessen hatte, vollständig unbeweglich und die Augen unverrückt auf die drei Angeklagten gerichtet. Aber als anzunehmen war, daß die Aufregung, in der wir uns alle befunden hatten, einer wenigstens etwas ruhigen Stimmung gewichen sei, richtete er seinen Blick der Reihe nach auf uns, gab mit der Hand eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit und sprach:

"Die Dschemmah der Lebenden ist eröffnet! Sie übe Gerechtigkeit; die Gnade sendet uns Gott!"

Hier machte er eine Pause und fuhr dann fort:

"Angeklagt ist Schedid el Ghalabi, der jetzige 'Mir von Ardistan. Mitangeklagt sind seine beiden Vorväter, mit ihm die drei letzten Herrscher des Reiches Ardistan. Verteidiger ist Abd el Fadl, Fürst von Halihm. Verteidigerin ist Merhameh, Prinzessin von Halihm. So oft ein 'Mir von Ardistan in diesem Raume Angeklagter war, hat stets ein Abd el Fadl von Halihm und eine Merhameh von Halihm sich seiner angenommen. So auch heut!"

Und wieder machte er eine Pause, sah uns der Reihe nach, so wie wir saßen, prüfend an und sprach dann weiter:

"Und so oft über einen 'Mir von Ardistan hier ein Gericht versammelt war, hatte sich einer der Richter zu melden, um sich bereit zu erklären, die Anklage zu übernehmen. So frage ich auch heut: Wer von euch will Ankläger sein?"

Es erfolgte keine Antwort. Wir schwiegen alle.

"Ich frage zum zweiten Male," erklang es aus dem Munde Abu Schalems.

Da stand der Dschirbani auf und sagte:

(Seite 277B) "Es wird sich keiner von uns bereit erklären, die Anklage zu erheben. Auch wir sind Sünder, Nur wer ohne Sünde ist, der klage an!"

Hierauf setzte er sich wieder nieder. Da ging es über das Gesicht des Vorsitzenden wie ein lieber, klarer, warmer Sonnenschein, doch war der Ton seiner Stimme sehr ernst, indem er sagte:

"Wenn sich kein Ankläger findet, löst sich die Dschemmah auf, und unser Schicksal bleibt auch ferner unentschieden. Nur dreimal darf ich fragen. So frage ich also zum dritten und letzten Male: Wer von euch will Ankläger sein?"

Da stand einer auf, aber keiner von uns, sondern es war der 'Mir, er selbst. Er sprach:

"Ich kann nicht dulden, daß mein und Euer Schicksal unentschieden bleibe. Es ist ein Ankläger da, der strengste, den es gibt!"

"Wer?" fragte Abu Schalem.

"Ich, Schedid el Ghalabi, 'Mir von Ardistan! Ich hoffe, nicht zurückgewiesen zu werden, obgleich ich keiner der geladenen Richter bin. Niemand kennt meine Sünden so gut und so genau wie ich selbst!"

Ein zweiter, fast noch wärmerer Sonnenstrahl ging über das Gesicht des Vorsitzenden. Er antwortete:

"Die Selbstanklage ist Menschheitsideal. Noch keiner von allen, die hier an Deiner Stelle saßen, hat das begreifen können. Du bist der Erste. Ich weise Dich nicht zurück, sondern ich danke Dir. Wessen klagst Du Dich und Deine Vorfahren an?"

"Aller Sünden, die dort in Deinem Buche stehen! Aller! Keine ausgenommen!"

"Und forderst Strafe?"

"Ja."

"Welche?"

"Genau die, welche von dieser unserer Dschemmah hier ausgesprochen wird."

Er setzte sich. Da sprach Abu Schalem:

"Die Anklage ist erhoben. So hört, was hier im Buche steht, vom Anfang bis zum Ende! Ich lese vor."

Er schlug das Schuldbuch auf. Da erhob der 'Mir sich schnell wieder von seinem Sitze und protestierte:

"Das ist nicht nötig! Ich spreche jetzt nicht mehr als Ankläger, sondern als Angeklagter. Ich gestehe alles ein, jede Seite, jede Zeile, jedes Wort!"

"Dieses Geständnis reicht nur für Dich, nicht für die andern. Du bist nicht der einzige Angeklagte."

"Wohl bin ich der einzige! Denn ich erkläre hiermit, daß ich die Sünden meines ganzen Stammes auf mich nehme, auf mich allein!"

Da stützte Abu Schalem seine beiden Hände auf den Tisch, stand langsam, langsam auf, ich möchte fast sagen, Zoll um Zoll, schob den Oberkörper weit vor und fragte:

"Weißt Du, was Du da sprichst und tust?"

"Ich weiß es!" versicherte der 'Mir.

"So wiederhole es! Du hast dieses große, schwere, folgenreiche Wort dreimal auszusprechen."

"Ich erkläre zum zweiten und zum dritten Male, daß ich die Sünden meiner Väter auf mich nehme. Sie seien frei. Ich bin allein der Schuldige!"

"Nicht nur die Sünden, sondern auch die Strafen?"

"Auch die Strafen!"

Da ließ die Spannung im Gesicht und in der Haltung des Vorsitzenden nach. Sein Körper richtete sich wieder gerade auf. Seine Augen leuchteten, und seine Züge glänzten, als ob sie nun direkt im Sonnenschein lägen. Er rief aus:

"Das ist eine Dschemmah, wie es noch nie eine gab! Ich frage Dich noch einmal: Hast Du Dir wohlüberlegt, was Du sagst? Bedenke nur allein die Kriege, das Blutvergießen, der ununterbrochene Menschenmord! Nur hierfür allein gehört viel tausend-, tausendmal die Todesstrafe! Bleibst Du dennoch bei Deinem Worte?"

"Ich bleibe dabei!"

"So bist Du allerdings der einzige Angeklagte. Die andern können gehen!"

Da erhoben Vater und Großvater sich von ihren Sitzen und gingen hinaus, ganz sonder Eile, Schritt um Schritt, ohne (Seite 278A) ein Wort zu sagen. Der 'Mir aber selbst blieb stehen, obgleich Abu Schalem sich wieder niedersetzte und dann in frohbewegtem Tone fortfuhr:

"So oft gegen einen 'Mir von Ardistan an diesem Orte verhandelt wurde, mußte man ihn dreimal fragen, ob er die Sünden seiner Väter auf sich nehmen wolle, doch keiner von ihnen allen besaß den Glauben, die Liebe und den Mut, seine Vorfahren zu entlasten. Schedid el Ghalabi aber, der jetzige 'Mir, hat nicht gewartet, bis diese Frage ausgesprochen wurde, sondern er ist ihr zuvorgekommen wie ein Mann, ja wie ein Held, der Schweres tragen und noch Schwereres vollbringen kann. Darum soll er auch als Mann und Held behandelt werden, dem wir, seine Richter, Vertrauen schenken. Ich habe ihn zu fragen: Bereust Du, was von all den Deinen, die vor Dir waren, gegen Gott und Menschen geschehen ist?"

"Ich bereue es!"

Indem der 'Mir diese Versicherung gab, war ihm anzusehen und auch anzuhören, daß es ihm mit ihr im höchsten Grade ernst war. Abu Schalem fragte weiter:

"Und bist Du bereit, es durch all die Deinen, die nach Dir kommen, vor Gott und den Menschen zu sühnen?"

"Ich bin bereit!" beteuerte der Gefragte.

"Versprichst Du Dir selbst und uns, vor allen Dingen und von heute an in der Weise für den Frieden aller Deiner Länder und Völker zu wirken, wie Deine Ahnen nur immer gegen ihn handelten?"

"Ich verspreche es!"

Da stand der berühmteste, der gerechteste und der gütigste aller Maha-Lamas mit einem schnellen, energischen Rucke wieder auf, erhob die Hand, als ob er segnen wolle, und rief:

"So entlaste ich Dich hiermit von aller Schuld und Strafe, die Du auf Dich genommen hast. Ich lege diese ganze Last in die Hand des höchsten Richters. Sie falle auf denjenigen von allen, die nach Dir kommen, der gegen das Versprechen handelt, (Seite 278B) welches Du uns hier und heut gegeben hast! Seid Ihr einverstanden, Ihr Richter, die Ihr Euch doch auch als >Sünder< bezeichnen ließet?"

Diese Frage galt uns, die wir sofort von unseren Sitzen aufsprangen, um unsere Zustimmung auszudrücken.

"Einverstanden, einverstanden, einverstanden!" rief es aus unser aller Mund. Darauf wendete sich Abu Schalem an Abd el Fadl und Merhameh:

"Hat die Güte oder die Barmherzigkeit noch etwas zu fragen, zu erwähnen oder hinzuzufügen?"

"Nein, nein!" antworteten sie.

"So ist mein Urteil anerkannt, bestätigt und zum Urteil der Dschemmah erhoben! Dieses Schuldbuch sei Dein! Nimm es hin, doch vernichte es nicht, sondern hebe es Dir und den Deinen heilig auf, damit ein jeder von ihnen wisse, welch eine ungeheure Last er auf sich nimmt, sobald er gegen Dich und Dein Versprechen und also gegen Gott und seine Menschheit handelt! Die Mitternacht ist vorüber! Licht nicht nur über den Sternen, sondern Licht auch hier auf Erden! Nicht nur Gott allein ist barmherzig, sondern auch der Mensch hat es zu sein! Die Dschemmah löst sich auf. Ich grüße Euch!"

Er nahm das Buch und stieg von seiner Erhöhung herab, ging zwischen uns hindurch bis hin zum 'Mir, gab es ihm und schritt dann weiter langsam, feierlich und ohne sich nach uns umzusehen. Wir blieben nicht länger als wohl eine Minute stehen, um uns zu sammeln; dann folgten wir ihm, hinaus in den Saal der >Dschemmah der Toten<. Dort war es dunkel; die Lichter brannten nicht mehr. Aber von daher, wo es nach dem hochstehenden Sessel Abu Schalems ging, erklang seine Stimme:

"Ihr, die Ihr nicht ohne Kerzen sehen könnt, brennt sie Euch an!"

Wir taten es, doch reichten einige allein nicht aus, und erst als viele brannten, drang ihr Licht bis zu ihm hinauf. (Seite 279A) Bei ihrem flackernden Scheine sah es ganz so aus, als ob er sich erst noch bewege, dann aber saß er still, so still und unbeweglich, wie er stets gesessen hatte. Wir andern hätten wohl gern eine nähere Untersuchung seines Körpers veranstaltet, doch hielt uns eine leicht begreifliche Scheu davon zurück. Aber der 'Mir, um den es sich hier in allem handelte und der zu so einem Schritte gewiß berechtigter war als wir, betastete seinen Vater und seinen Großvater, die genau wie vorher auf ihren Plätzen saßen, sehr sorgfältig, versuchte ihre Hände und Arme zu bewegen, und sagte dann:

"Sie sind tot, vollständig tot, auch wieder kühl, fast kalt! Aber als sie neben mir saßen, fühlte ich ganz deutlich ihre Wärme!"

Hierauf stieg er zu Abu Schalem empor, um dasselbe auch bei ihm zu tun. Es führte auch zu demselben Resultate.

"Auch tot! Ganz ohne jede Spur von Leben!" berichtete er. "So, wie er jetzt dasitzt, kann er es unmöglich sein, der die Dschemmah geleitet und so wohlüberlegte, tiefsinnige Worte gesprochen hat. Das ist ganz unmöglich!"

"Und doch ist er es gewesen !" behauptete der Scheik der Tschoban "Ich sah es ganz deutlich, wie er dort, wo Du jetzt (Seite 279B) bei ihm stehst, hinaufkam und sich langsam niedersetzte. Er ist lebendig gewesen und nun wieder tot! Ich weiß es genau. Ich kann es bezeugen!"

In diesem Augenblick wurde draußen die Stunde angeschlagen, und der Muezzin rief mit halb singender Stimme:

"Nach Mitternacht! Die siebente und die erste Stunde für alle Sterblichen. Qual auf der Erde; Seligkeit nur im Himmel. Der Mensch sucht Trost bei der Hoffnung; aber erfüllen kann nur Gott allein!"

Da stieg der 'Mir wieder von der Erhöhung herab und griff nach dem einstweilen weggelegten Schuldbuche, um es mitzunehmen. Wir löschten die Lichter aus und entfernten uns. Es war zwischen unserm Kommen und Gehen genau eine Stunde verstrichen. Wir alle waren still. Keiner sagte ein Wort. Kaum, daß wir uns >Gute Nacht< wünschten, als wir auseinandergingen. Und als wir in die geräumige und wohlausgestattete Stube kamen, in der ich mit Halef wohnte, bat mich dieser, ohne daß ich ihm Veranlassung dazu gegeben hatte:

"Schweig, Sihdi, schweig! Rede nicht! Es klingt etwas in mir. Das ist kein Lied, sondern eine Predigt, die darf ich mir (Seite 280A) nicht unterbrechen, nicht stören lassen. Es ist wahr: Mitternacht ist vorüber, wirklich vorüber! Ja, es wird Tag, es wird Tag!"

Ich legte mich nieder, ohne ihm zu antworten. Auch in mir erklangen Stimmen. Ich hörte sie noch lange, lange, und lauschte ihnen, bis der Schlaf sie mir oder, vielleicht richtiger, mich ihnen entzog.

(Seite 281A) Am andern Morgen wurde ich mit Halef eingeladen, das Frühstück bei dem 'Mir und seiner Familie einzunehmen. Auch der Dschirbani war geladen. Er kam. Sodann, als diese Frühmahlzeit vorüber war, stellte sich der Schech el Beled von El Hadd ein, der uns bat, ihn auf die Spitze des Tempels zu begleiten; er habe uns etwas sehr Wichtiges zu zeigen. Wir fragten ihn, was es sei, wurden aber von ihm ersucht, die Auskunft, welche wir wünschten, uns mit den Augen zu holen; eine Überraschung wie die, welche uns bevorstehe, kündige man nicht durch vorauseilende Worte an. So begaben wir uns also mit ihm nach dem Dome und stiegen den Spiralenweg im Innern desselben hinauf. Als wir den Türstein aus der Öffnung stießen, um auf die freie Platte hinauszutreten, flutete uns ein warmes, goldenes Morgenlicht entgegen, und die > Stadt der Toten < lag in einem lebendig wogenden und lebendig atmenden Glanze zu unseren Füßen, als ob ihr von dem Herrn über Leben und Sterben, der alle Sonnen und alle Strahlen lenkt, erlaubt worden sei, heut Auferstehung zu feiern.

Der Schech el Beled hatte, wie jetzt immer, sein Gesicht mit dem Schleier verhüllt. Wir sahen es nicht; wir hörten nur seine Stimme. Er deutete zunächst nach dem Fluß hinab, den man von hier oben aus sehen konnte, und sagte:

" Seht zunächst, daß das Wasser kommt! Der Strom kehrt zurück. Es naht vielleicht die uns verheißene Zeit, in welcher der Herrgott wieder nach Ardistan kommt, um mit eigenem Munde das Heil zu verkünden. Das Wasser beginnt schon zusammenhängend zu fließen. "

Wir sahen zu unserer Freude, daß dies richtig war. Die vereinzelten Tümpel hatten Zusammenhang gefunden. Sie flossen ineinander über und bildeten einen zusammenhängenden Wasserlauf von der Breite eines ansehnlichen Baches, der wie ein vielgewundenes, schimmerndes Band dem Laufe des trockenen Strombettes folgte.

Dann deutete der Schech mit der Hand nach Nordwest und fragte:

" Und wer kommt dort? "

Indem wir unsere Blicke nach dieser Richtung wendeten, sahen wir einen zweiten Bach, der noch heller schimmerte, fast wie von goldenen Blitzen durchzucktes Silber, und sich auch in zahlreichen Windungen bewegte, aber von den jäh abfallenden Felsenhöhen in das tiefe Tal herab. Es konnte also kein Wasser sein, denn das hätte wohl stürmische Kaskaden, nicht aber so ruhige Windungen gebildet, und es wäre kontinuierlich geflossen, während wir aber sahen, daß dieses bewegliche, glänzende Band zuweilen unterbrochen wurde und dunkle Lücken bekam.

" Das sind Menschen! " sagte Halef.

" Und zwar Reiter! " fügte der Dschirbani hinzu. " Sie kommen in Trupps, in einzelnen Abteilungen, die in regelmäßiger (Seite 281B) Marschordnung aufeinander folgen. Aber lauter Schimmel! Kein einziges dunkles Pferd ist dabei! "

" Ja, lauter Schimmel, " bestätigte Halef. " Auch die Reiter sind weiß, ganz weiß, jedoch mit funkelnden Helmen, wie es scheint. "

" Und mit Lanzen bewaffnet, an deren Spitze sich die Morgensonne bricht. "

" Man hat mir gesagt, daß die Heerscharen des 'Mir von Dschinnistan so blütenweiße Pferde und so helle Mäntel haben. Ob das wohl so ist? "

Da erklärte der Schech el Beled:

" Die Ihr da kommen seht, sind die Lanzenreiter von El Hadd. "

" Also die Deinigen? " fragte der 'Mir, indem er sich schnell zu ihm herumdrehte.

" Ja, " antwortete der Schech.

" Und wie kommen die nach Ardistan, nach der > Stadt der Toten <, von der doch ein jeder weiß, daß da kein einzelner Mensch genug Wasser für sich findet, viel weniger ein ganzes Heer? "

" Es geschieht auf meinen Befehl. Ich wußte, daß das Wasser kommen werde. "

" Auf Deinen Befehl? Ich denke, hier habe nur ich zu befehlen! " Das klang in etwas scharfem Tone. " Dürfen Deine Truppen die Grenze von Ardistan ohne meine Erlaubnis überschreiten? "

" Ich hoffe es, denn es geschah zu Deinem Heile, " antwortete der Schech el Beled ruhig.

" Zu meinem Heile? Wieso? "

" Ich hörte von der Empörung gegen Dich. Ja, man forderte mich sogar auf, mich den Verschwörern anzuschließen. Da reiste ich nach Ardistan zu Dir und befahl meinen Truppen, mir, wenn ich keinen Gegenbefehl erteile, an einem bestimmten Tage zu folgen. Da sind sie nun. Ich stelle sie Dir zur Verfügung gegen den > Panther < und alle, die von Dir abgefallen sind. Brauchst Du sie nicht, so bedarf es nur eines Winkes und sie kehren sofort wieder um. "

Das klang so einfach, so bescheiden, so ehrlich! Der 'Mir sah ein, daß seine Aufwallung unter den gegenwärtigen Verhältnissen nicht nur eine unberechtigte, sondern sogar eine lächerliche gewesen war. Er antwortete in einem ganz andern, sogleich herzlichen Tone:

" O nein! Umkehren sollen sie nicht! Sie sind mir sehr, sehr willkommen. Gegen alles Erwarten ist ja nun Wasser genug für sie vorhanden, und zu essen finden sie auch, so viel sie nur immer brauchen; es wird ihnen gern gegeben.! "

Diese letztere Versicherung klang etwas eigen. Der Schech el Beled brauchte das Lächeln, welches ganz gewiß dabei seine Lippen umspielte, nicht zu unterdrücken, weil der Schleier es verbarg. Indem ich dieses dachte, sah ich ihn an, nur für einen ganz kurzen Augenblick; aber als ich dann wieder nach der (Seite 282A) Richtung schaute, in welcher sich die Lanzenreiter befunden hatten, waren sie verschwunden, man sah sie nicht mehr.

" Sie sind weg! So plötzlich! Wohin? " fragte der Dschirbani. " Können sich so viele Menschen so schnell verstecken? Eine so lange Linie von Reitern? Das ist doch unmöglich! "

" Sie sind noch genau da, wo sie waren, " antwortete der Schech; " aber sie haben sich unsichtbar gemacht. "

" Wodurch? "

" Durch ihre weiten Mäntel, die zwar außen hell, innen aber dunkel sind. "

" Hatten sie einen Grund dazu? "

" Jedenfalls. Wahrscheinlich haben sie etwas gesehen, was ihnen verdächtig vorkommt. "

" Was mag das sein? Uns und unsere Truppen in der > Stadt der Toten < zu entdecken, ist ihnen noch nicht möglich, denn der Blick nach der Stadt wird ihnen durch den dazwischenliegenden Höhenzug verwehrt. Das, was sie zur Vorsicht mahnt, muß sich also außerhalb der Stadt befinden, und zwar in der Richtung, nach welcher sie während ihres Rittes schauten. "

" Also Ost, " sagte Halef. " Sollte jemand von der Hauptstadt und vom Brunnen her unterwegs sein? Der würde auch von unserm Posten bemerkt, welche, fünfzig Mann stark, da oben auf der Höhe liegen, von der wir bei unserer Ankunft herabgeritten sind. Ich denke - - - Maschallah! Da, schau, Sihdi. Habe ich nicht recht? Da kommt einer von ihnen! Und zwar trotz des steilen Weges im schnellsten Gang! Also unsere Posten haben dasselbe bemerkt, was die Lanzenreiter gesehen haben! Sie schicken uns diesen Boten, es uns zu melden. Er hat Eile. Man muß ihm also entgegenreiten, denn es scheint keine Zeit zu verlieren zu sein. "

Wir andern waren derselben Ansicht. Ehe der Bote von da drüben herüberkam und uns erfragte, konnte über eine halbe Stunde vergehen. Darum stieg ich, weil wir die beiden schnellsten Pferde hatten, mit Halef rasch von unserm hohen Aussichtspunkte hinunter, und schon nach drei oder vier Minuten ritten wir zum hintern Ausgang hinaus, durch den Militärstadtteil, über die Brücke und dann durch den jenseitigen Teil der einstigen Residenz, bis wir auf den Mann trafen, der uns entgegenkam. Er meldete uns, daß von Osten, also aus der Richtung der Hauptstadt Ard, sich ein Reitertrupp auf Pferden und Kamelen der > Stadt der Toten < nähere. Wie viel Personen es seien, könne er nicht berichten. Er habe nicht warten können, bis man das zu unterscheiden vermochte, weil augenblickliche Benachrichtigung befohlen worden sei. Ich beorderte ihn, weiterzureiten und die Meldung auch dem 'Mir zu machen, sagte ihm, wo dieser zu finden sei, und setzte dann mit Halef unsern bisherigen Weg in derselben Richtung fort.

Als wir oben auf der Höhe ankamen, bot sich uns ein weiter Ausblick gegen Morgen. Wir sahen sofort den Reitertrupp, dessen einzelne Personen nun zu unterscheiden waren. Er bestand aus zehn Personen zu Pferde und dreien, die einen Zug von Kamelen leiteten, welche mit Wasserschläuchen beladen waren. Unser Posten war ihnen also an Zahl weit überlegen. Er bestand zur einen Hälfte aus Ussul, zur andern aus Tschoban und steckte hinter den Mauern eines geräumigen Gebäudes, zu dem vor Jahrtausenden die Bewohner der Residenz hinaufgestiegen waren, um die herrliche Aussicht zu genießen. Wir gesellten uns ihnen bei.

Als die Nahenden so weit herangekommen waren, daß wir ihre Gesichtszüge sehen konnten, erkannte ich in ihrem voranreitenden Anführer den vom > Panther < zum Oberst beförderten Major, der zu mir und dem Brunnenwärter in das Zisternenhaus gekommen war und dann dem 'Mir die lange, aufrichtige Rede gehalten hatte. Er war dann der Kommandeur der Schar gewesen, die uns nach der > Stadt der Toten < gebracht hatte. Was wollte er wieder hier? Als er die Stelle erreichte, wo wir hinter dem Gemäuer auf ihn warteten, ging ich hinaus zu ihm. Die andern bleiben einstweilen noch versteckt.

" Maschallah! " rief er erstaunt, als er mich erblickte. Er hielt sein Pferd an und fügte hinzu: " Das ist ja der Fremde aus Dschermanistan! Du hast doch da unten im Gefängnis Nummer fünf zu stecken! Wie kommst Du hierher? "

" Zu Pferde, " antwortete ich.

(Seite 282B) " Zu Pferde? Wo hast Du das Pferd? "

" Da drin! " Ich deutete bei diesen Worten auf das Gebäude.

" Hole es heraus! Ich arretiere Dich! Ich muß Dich wieder hinunterschaffen Du hast mir zu zeigen, wie Du entwichen bist. Wo sind die andern? "

" Die sind noch unten! "

" Alle? "

" Ja, alle, außer Hadschi Halef. Der ist mit hier oben. "

" Wo? Ich sehe ihn nicht! "

" Er ist mit da drin bei den Pferden. "

" So muß er auch mit heraus und hinunter. Vor allen Dingen: Ist der 'Mir noch unten? "

" Ja. "

" Die beiden Prinzen der Ussul? "

" Ja. "

" Habt Ihr den Dschirbani und den ältesten Prinzen der Tschoban im Kanal getroffen? "

" Ja. "

" Leben sie noch? "

" Sie sind noch nicht ganz tot. "

" Wie konnte es geschehen, daß Du mit Deinem Halef entkamst? "

" Wir fanden ein Loch und krochen hindurch. "

" Dieses Loch hast Du mir zu zeigen. Es wird zu gemauert! Als es Euch gelungen war, zu entkommen, seid Ihr durch die Stadt geritten? "

" Ja. "

" Habt Ihr da vielleicht Menschen gesehen? "

" Sogar sehr viele. "

" Wen? "

" Die Ussul und die Tschoban. "

" Das ganze Heer des Dschirbani? "

" Das ganze Heer. Es fehlte kein einziger. "

" Das ist gut, sehr gut. Sie stecken also alle in der Falle, alle, alle! "

Diese Worte sagte er, zu seinen Leuten gewendet, von denen auch die letzten, nämlich die mit den Kamelen, nun herangekommen waren. Dann wendete er sich mir wieder zu und fragte:

" Hast Du noch mehr Leute gesehen? Etwa Frauen? "

" Ja, Frauen. "

" Welche? "

" Die Frau des 'Mir und ihre Dienerinnen. "

" Also doch! Etwa auch Merhameh, die Prinzessin von Halihm? "

" Auch sie. "

" Und ihren Vater? "

" Ja. "

" Weißt Du, wo diese beiden sich jetzt befinden? "

" Ja. "

" So sage es! Also wo? "

Ich war mit Absicht nicht nahe zu ihm hingegangen, sondern so weit von ihm stehen geblieben, daß er gezwungen war, seine Stimme zu erheben. Ich wollte, daß auch Halef und die Wache hörten, was er sagte. Das war geschehen, und so kam der kleine Hadschi heraus und antwortete an meiner Stelle:

" Du willst Major gewesen und jetzt sogar Oberst geworden sein und kannst nicht schärfer denken und keine geordneteren Fragen stellen? Schäme Dich! Wenn wir beide frei sind, müssen doch auch die andern frei sein! "

" Der Effendi sagte doch, sie seien noch unten! "

" Ja, unten in der Stadt, aber doch nicht mehr unten im Kanal! Und Du willst uns wieder einsperren und hörst doch, daß das ganze Heer der Dschirbani vorhanden ist! "

" Aber jedenfalls schon dreiviertel verhungert oder verdurstet! " verteidigte sich der Offizier.

" Selbst wenn dies der Fall wäre, würdest Du doch wohl nicht so schalten und walten können, wie es Dir beliebt. Du bist ein Schaf, ein großes, dummes Schaf, und rennst dem Fleischer geraden Weges in die Hände. Ich will Dir zeigen, wie verhungert und verdurstet die Ussul und Tschoban schon sind. Paß auf! "

(Seite 283A) Er gab einen Wink. Da kamen die Genannten auf ihren Pferden heraus und beeilten sich, die paar Männer mit samt ihren Pferden und Kamelen zu umringen. Der Oberst griff nach seinem Säbel. Da warnte ihn Halef:

" Laß ihn stecken! Du bist unser Gefangener. Sobald Du Dich wehrst, wirst Du erschossen! Ich sage Dir, es ist kein Spaß, in die Hände des obersten Scheiks der Haddedihn zu fallen! Gebt Eure Waffen her! Und zwar schnell! Sonst helfen wir nach! "

Die andern gehorchten ohne Widerstreben; sie sahen, daß sie die Übermacht gegen sich hatten. Dem Offizier aber kam es vor allen Dingen auf seine Ehre an. Er zog trotz Halefs Drohung blank, ließ sein Pferd vorn steigen und holte aus, um sich durchzuschlagen. Doch während er nach der einen Seite den Säbel hob, sprang ich von der andern zu ihm heran und riß ihn aus dem Sattel herab. Er stürzte zur Erde, und ehe er wieder aufspringen konnte, war er entwaffnet.

" Allah will es nicht, daß ich Euch entkomme, " rief er aus. " Aber Ihr werdet es bereuen! Und Du, Effendi, Du wirst mir bezeugen, daß ich mich Euch nicht ohne Kampf ergeben wollte! "

" Das werde ich tun, und zwar gern, " antwortete ich. " Du hast Deiner Pflicht und Deiner Ehre genügt und kannst offenen Auges vor den Herrscher treten. "

" Welchen Herrscher meinst Du? " erkundigte er sich.

" Den 'Mir natürlich. "

" Den 'Mir? Es gibt nur einen einzigen 'Mir, nämlich den neuen! "

" Du irrst. Es gibt nur einen einzigen 'Mir, nämlich den alten, vor den wir Dich bringen werden. "

" Zu dem will ich nicht! "

" Zu wem sonst? "

(Seite 283B) " Zu Abd el Fadl, dem Fürsten von Halihm. "

" Wirst Du zu ihm gesendet? "

" Ja. "

" Von wem? "

" Vom neuen 'Mir von Ardistan. "

" Den gibt es nicht. Du meinst jedenfalls den zweitgeborenen Prinzen der Tschoban, den man den > Panther < zu nennen pflegt. Wo befindet er sich jetzt? "

" Ich bin nicht beauftragt, es Dir zu sagen! "

" So wirst Du es einem andern sagen! Ich habe Dich als einen ehrenwerten, mutigen Mann kennen gelernt; aber neben dem Mute hat auch die Vernunft zu walten. Eure Pläne waren unvernünftig, und der Panther handelt geradezu verrückt! Hattet Ihr in Ardistan keinen andern, bessern Ersatz für den bisherigen 'Mir als nur diesen fremden, leidenschaftlichen, unerfahrenen Knaben? Konntet Ihr diesem Undankbarsten aller Undankbaren Euer Vertrauen schenken, nachdem er das Vertrauen des 'Mir so gewissenlos betrogen hatte ? - - - "

" Uns wird er nicht betrügen! " unterbrach mich der Oberst.

" Er hat Euch schon betrogen! "

" Wieso? "

" Das sollst Du bald erfahren. Jedes Volk ist den Herrscher wert, den es hat. Wenn Euer 'Mir Euch nicht gefiel, so kannst Du sicher sein, daß auch Ihr ihm nicht gefallen habt. Es wäre jedenfalls vorteilhafter gewesen, Euch einander zu nähern, Euch einander zu erziehen, Euch einander zu bessern, als ihn vom Throne stoßen und Euer Schicksal in die Hand des > Panthers < legen zu wollen! "

Er lachte ungläubig auf und sagte:

" Der 'Mir wäre nie zu bessern und nie zu erziehen gewesen! "

(Seite 284A) " Leichter als Du und leichter als Ihr alle! Du hast ihn erst noch kennen zu lernen. Ihr alle kanntet ihn nicht. Ich bringe Dich zu ihm. "

" Aber ich will doch nicht zu ihm! "

" Wohin Du willst ist gleichgültig. Er ist oberster Kommandeur der > Stadt der Toten <, und ich bin verpflichtet, Dich nur ihm, keinem andern auszuliefern. "

" Oberster Kommandeur! Der Stadt der Toten! " lachte der Offizier wieder, diesesmal aber fast höhnisch. " Der Titel klingt zwar schön, aber das Wasser fehlt, und es ist wohl kein Vergnügen, der Befehlshaber von nur Toten oder Sterbenden zu sein! Übrigens habe ich das Wasser, welches sich hier in unsern Schläuchen befindet, nur dem Fürsten von Halihm abzuliefern. Hoffentlich hindert man mich nicht, dies zu tun! "

" Wer sollte Dich hindern wollen? "

" Ihr alle, die Ihr vor Durst am Verschmachten seid! "

Da rief Halef aus:

" Du bist wirklich ein Schaf, ein sehr, sehr großes Schaf! Schau uns doch an! Sehe ich etwa verdurstet aus? Und betrachte diese dicken, runden Urgäule der Ussul! Wer da vom Verschmachten reden kann, der ist schon selbst verschmachtet, und zwar da oben im Gehirn! Da helfen keine Worte; da nützt nur die Tat! Effendi, ich schlage vor, unsern Rückzug anzutreten. Wieviel Begleitung nehmen wir mit? "

" Begleitung? " fragte ich. " Wozu? "

" Diese Gefangenen zu transportieren. "

" Pah! Die reißen uns nicht aus! Die Waffen, die wir ihnen abgenommen haben, bleiben einstweilen hier. Bring unsere beiden Pferde; das genügt! "

Unsere Rappen waren im Gemäuer stehengeblieben. Halef holte sie. Wir stiegen auf, nahmen den Oberst in die Mitte und ritten fort. Seine Leute folgten uns mit ihren Pferden und Kamelen, ohne sich zu weigern. Sie waren müde und willenlos; ihm aber durften wir noch nicht ganz trauen, wenigstens so lange nicht, als er an dem Vorurteil festhielt, daß es mit uns schlecht stehe. Dies währte aber nur wenige Schritte, bis wir den Rand der Höhe erreichten und nun die Stadt vor unsern Augen lag. Da sah er den Fluß, und er sah auch die Menschen, die sich in den Straßen und Gassen bewegten.

" Allah beschütze mich! " rief er aus, indem er sein Pferd anhielt. " Das ist ja Wasser! "

Wir hielten mit an, sagte aber nichts. Nach einer Weile fuhr er halblaut, wie zu sich selbst, fort:

" Wasser - - viel, viel Wasser - - -! "

Auch jetzt antworteten wir nicht. Er strich sich mit der Hand einige Male über die Stirn; als ob er seine Gedanken ordnen müsse, und wendete sich dann an mich:

" Sag, Effendi, ist das auch wirklich Wasser? Wahres, richtiges Wasser? "

" Ja, wirkliches! " antwortete ich.

" So muß ich es glauben. Ich wollte meinen Augen nicht trauen. Aber wenn das wirkliches Wasser ist, so sind ja alle unsere Berechnungen, die wir auf die > Stadt der Toten < stützten, zuschanden! "

" Das sind sie allerdings. "

" Ihr habt Wasser, mehr Wasser als genug, und könnt also nicht verdursten. Aber der Hunger muß Euch töten! "

" Auch dieser nicht, denn auch da haben wir mehr, als wir brauchen. "

" Wo? "

" Das wirst Du bald sehen. Komm! "

Wir ritten weiter, den Berg hinab, durch den östlichen Stadtteil, über die Brücke und dann durch die Militärstadt, bis wir durch den westlichen Ein- und Ausgang das Innere des Platzes am Maha-Lama-See erreichten. Da wurden wir bereits erwartet. Man hatte unsern Ritt mit den Augen verfolgt, und nun stand der 'Mir mit all den andern hier, um zu sehen, wer es war, den wir da brachten. Noch ehe wir bei ihm anhielten, erkannte er den Offizier.

" Allah, Wallah, Tallah! " rief er verwundert aus. " Unser Wohltäter! Der uns hierherbrachte, damit wir verschmachten sollten! Der es so gut mit uns meinte! Wir haben ihm viel, (Seite 284B) sehr viel zu verdanken! Und wir werden dankbar sein - - - gewiß, gewiß - - - sehr dankbar! "

Der arme Teufel befand sich in größter Verlegenheit. Er starrte zu Boden und wagte nicht, die Augen wieder aufzuschlagen. Der Ton, in dem der 'Mir gesprochen hatte, war ironisch gewesen; jetzt aber klang er streng und befehlend, als der Herrscher fragte:

" Was sollst Du hier? "

" Ich bin zu Abd el Fadl geschickt, dem Herrscher von Halihm. "

" Von wem? "

" Vom - - - vom - - - vom 'Mir. "

" Vom 'Mir! Du wagst es, diesen Lügner und Verräter in meiner Gegenwart so zu nennen? "

Der Gefragte antwortete nicht. Da fragte der 'Mir weiter:

" Was sollst Du bei Abd el Fadl? "

" Ihm ein Schreiben übergeben. "

" Und was noch? "

" Ihn und seine Tochter Merhameh nach der Hauptstadt geleiten. "

" Diese beiden allein? Keinen andern Menschen dabei? "

" Ja. "

" Ah! Sie sollten gerettet werden! Aber nur sie allein? "

" Ja. "

" Du solltest also suchen, sie heimlich zu treffen? "

" Ja. "

" Kennst Du den Inhalt dieses Briefes? "

" Seinen Wortlaut nicht; aber was er enthält, das weiß ich. "

" Gib ihn her! "

Der 'Mir streckte die Hand aus. Der Offizier schüttelte den Kopf und sagte

" Verzeih! Das tue ich nicht. Ich habe den Brief an Abd el Fadl abzugeben, und wenn ich das nicht darf, so bringe ich ihn dem zurück, der ihn geschrieben hat "

" Ich kann Dich sofort erschießen lassen, wenn Du Dich weigerst! "

" Tue es! Ich habe dem neuen 'Mir von Ardistan meine Treue zugesagt, und solange Du mir nicht bewiesen hast, daß er ein Lügner und Betrüger ist, werde ich ihm gehorchen! "

Da trat der 'Mir nahe zu ihm heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte:

" Das habe ich erwartet. Wehe Dir, wenn Du Dich anders verhalten hättest. Da steht Abd el Fadl mit seiner Tochter. Gibt ihm den Brief! "

Der Offizier führte diesen Befehl aus. Abd el Fadl nahm den Brief, öffnete ihn aber nicht, sondern gab ihn dem 'Mir und sagte:

" Lies Du ihn! Es gibt nichts, was ich Dir zu verbergen habe. "

Man sah dem Briefe an, daß er nicht in der Hauptstadt, sondern unterwegs geschrieben war, auf zerknittertes, vielleicht gar beschmutztes Papier, wie es jeder Offizier in seiner Satteltasche bei sich führt. Der 'Mir brach ihn auf und las. Er las ihn noch einmal und gab ihn dann dem Fürsten von Halihm zurück. Dieser überflog ihn schnell und las ihn dann laut vor, so daß wir alle es hörten. Der > Panther < erinnerte Abd el Fadl an jene letzte Szene an der Landenge von Chatar, wo er erklärt habe, daß er Merhameh als seine Braut betrachte. Er forderte sie jetzt zur Frau. Es gebe keinen Grund, sie ihm zu verweigern. Er sei jetzt 'Mir von Ardistan und stehe Abd el Fadl nicht nur am Range gleich, sondern sogar hoch über ihm. Abd el Fadl könne sich und seine Tochter vom Tode des Verschmachtens retten, indem er sein Jawort auf den unbenutzten Teil dieses Briefes schreibe und dem Überbringer desselben heimlich aus der > Stadt der Toten < in die Freiheit folge.

" Du wußtest also, was jetzt vorgelesen worden ist? " fragte ich den Offizier.

" Ja, " antwortete er.

" Und hättest es ausgeführt? "

Der Gefragte nickte. Da es mir darauf ankam, ihn so schnell wie möglich für uns zu gewinnen, zögerte ich nicht, mich zu erkundigen:

" Hast Du denn das Abkommen, welches der > Panther < mit Euerm Basch Islami getroffen hat, nicht gekannt? "

(Seite 285A) " Welches Abkommen? Ich kenne es heut noch nicht, " antwortete er.

" Der Basch Islami hat den > Panther < zum 'Mir von Ardistan zu machen, und der > Panther < hat, sobald er es geworden ist, der Schwiegersohn des Basch Islami zu werden; dann regieren beide. "

Da sah der Offizier erst mich und dann auch die andern groß an.

" Wenn - - wenn - - - wenn das wahr wäre, " sagte er, vor Schreck fast stammelnd, " dann - - - dann - - - "

" Es ist wahr, " versicherte ich, als er hier innehielt.

" Es ist wahr! " versicherte auch der 'Mir.

" Es ist wahr, es ist wahr! " versicherten auch die andern.

" Verzeiht! " rief der Überraschte. " Es genügt mir, wenn es nur einer sagt nämlich dieser da! "

Indem er dies sagte, zeigte er auf mich und fuhr dann, zu mir gewendet, fort:

" Effendi, weiß Du ganz gewiß, daß es so ist, wie Du sagst? "

" Ganz gewiß! " antwortete ich. " Ich war dabei, als der > Panther < mit der Tochter des Basch Islami sprach. Und noch eines will ich Dir sagen: Der Basch Islami hat mir in meiner eigenen Wohnung in Ard mitgeteilt, daß der 'Mir von Ardistan abgesetzt werden soll. Der 'Mir befand sich ungesehen dabei. Er hörte diese Worte. Er konnte den Basch Islami sofort ergreifen, ließ ihn aber entkommen, weil ich ihn darum bat. "

" Ist das wahr? " fragte der Offizier, indem er den 'Mir mit großen Augen wie fremd anschaute.

" Es ist wahr, " nickte dieser. " Ich hörte alles, was der Basch Islami sagte, und erlaubte ihm aber, zu fliehen. "

" Dann - - - dann - - - dann bist Du - - - "

Er sprach nicht weiter, sondern er eilte hin zu dem 'Mir, der wieder von ihm zurückgetreten war, ließ sich auf ein Knie vor ihm nieder, ergriff seine Hand, küßte sie und rief:

" Dann bist Du doch besser, als wir dachten, bist gütiger und edler, als es schien! Verzeih mir, Herr, verzeih! "

" Steh auf! " gebot der 'Mir. " Soeben hast Du gesagt, daß Deine Treue dem neuen 'Mir gehöre. "

" Ich wußte nichts von dem, was ich vom Effendi erfuhr! Nun aber weiß ich, daß der > Panther < ein Unwürdiger ist, der um seines Vorteils willen seine Freunde täuscht und betrügt. Und so einem Manne kann ich mich und meinen Säbel nicht zur Verfügung stellen! "

" So trittst Du also von dem Panther zurück? "

" Ja. Denn ich glaube dem Effendi. Was er sagt, ist wahr. Der Panther hat Dich belogen und betrogen, doch geht das nicht mich etwas an, sondern Dich. Aber er betrügt und belügt auch den Basch Islami, seinen höchsten und besten Verbündeten. Das geht mich sehr viel an, weil ich der Freund und Vertraute des Basch Islami bin. - - - "

" Wenn Du das bist, solltest Du aber doch wissen, daß seine Tochter für den > Panther < bestimmt ist! " fiel ich ein.

" Das wird ein so verschwiegener Punkt ihres Abkommens sein, daß der Basch Islami sich verpflichtet gefühlt hat, sogar mir gegenüber hiervon zu schweigen, " antwortete der Offizier, um sich dann mit der Bitte an den 'Mir zu wenden: " Herr, gib mir eine kurze Zeit zum Überlegen! Ich muß mein Gewissen befragen, ob ich das, was ich weiß, Dir sagen darf oder nicht. Dann magst Du mit mir verfahren, wie die Gerechtigkeit es erfordert. Ich habe mich gegen Dich empört; darauf steht der Tod! "

Der 'Mir antwortete ernst, aber nicht gehässig:

" Diese Bedenkzeit sei Dir gewährt. Ich übergebe Dich unserm Freunde Hadschi Halef, dem Scheik der Haddedihn. Er mag Dich hier herumführen, um Dir zu zeigen, daß wir weder zu verdursten noch zu verhungern brauchen. Wenn zwei Stunden vorüber sind, will ich dann hören, ob Du mir etwas zu sagen hast oder nicht. "

Das war etwas für meinen kleinen Halef! Es gab gar keinen geeigneteren Mann, den Offizier in seinem Innern schnell und völlig umzustimmen. Er nahm ihn auch sofort bei der Hand und entfernte sich mit ihm, um die Führung zu beginnen. Grad in diesem Augenblick erhob sich ein vielfacher, tiefer, langgezogener (Seite 285B) Ton, der von dem höchsten Punkte der Zitadelle ausging und hoch über dem Maha-Lama-See dahin nach auswärts schwebte. Er erklang aus den schon früher beschriebenen, langen Kriegshörnern der Ussul.

" Das ist das Zeichen, daß die Lanzenreiter von El Hadd in der Nähe eingetroffen sind, " erklärte mir der Herrscher. " Während Du mit Halef nach der Höhe rittest, ließ ich ihren Empfang und ihre Unterbringung vorbereiten. Begeben wir uns wieder auf die Höhe des Tempels, um ihre Ankunft besser als von hier aus zu überschauen! "

Wir alle, die wir soeben beisammen waren, stiegen wieder auf die Platte des Domes, von der es die beste Aussicht über die ganze Gegend gab. Es war wirklich so, wie wir vermutet hatten, die Lanzenreiter hatten die kleine Karawane des Oberst kommen sehen und sich sofort unsichtbar gemacht, weil sie nicht wußten, ob sie Freunde oder Feinde vor sich hatten. Jetzt aber hatten sie ihre Mäntel wieder gewendet. Sie kamen nun grad von Norden her, ritten am Fuße des inneren Höhenzuges um den westlichen Stadtteil herum und schwenkten dann links genau nach der Stelle ein, an welcher der von uns benutzte Ausgang lag. Es war ein ganz eigener, ergreifender Anblick, den wir da vor uns hatten. Wir befanden uns inmitten eines öden, weiten Städte-, Völker-, vielleicht sogar Menschheitsgrabes, in dessen Tiefe auch wir hatten verschwinden sollen. Der Tod hatte uns von allen Seiten entgegengegrinst; aber als wir ihn genauer betrachteten, war er zum Verkünder des Lebens für uns geworden. Wir hatten das Grab gesprengt. Wir strebten aus ihm heraus, und kaum hatten wir diesen Willen bekundet, so kam uns auch Hilfe von außen, von den Bergen herab, die gen Himmel ragen, in Gestalt des klaren, reinen, hellschimmernden Wassers und des sich von den Felswänden milchweiß abhebenden Reiterzuges, dessen Helme und Lanzenspitzen goldene Strahlen zu uns sandten. Der Anblick dieser Truppe hatte an diesem Orte und an diesem sonnigen Morgen etwas Unirdisches, ich will nicht sagen, Überirdisches. Man mußte an die > Heerscharen Gottes < denken, von denen in so vielen, alten, frommen Büchern die Rede ist. Wie gesagt, es war mir ganz eigenartig, fromm, ja mehr als fromm, zumute.

Als die Spitze des Zuges den Punkt erreichte, der, nur durch die schon beschriebene Senkung von ihm getrennt, unserm Eingange gegenüberlag, hielt sie an. Wir sahen Posaunen und Trompeten glänzen, die nicht wie heut, sondern wie vor Jahrtausenden gestaltet waren. Sie bliesen eine lange, weithin schallende, feierliche Fanfare, die wie eine Anfrage höherer Wesen klang, ob Ihnen der Einzug gestattet oder verweigert sei. Vom höchsten Punkte der Zitadelle herab antworteten die Riesenhörner der Ussul, indem sie ein tief aufatmendes > Willkommen < jubelten. Dann setzte sich der Zug der weißen Reiter von neuem in Bewegung, die jenseitige Halde hinab, die diesseitige wieder herauf und dann durch den offenstehenden Eingangsraum auf den weiten Platz des Maha-Lama-Sees herein.

Sie waren alle genau so gekleidet wie der Schech el Beled, nämlich in eng anliegende, aus Lederriemen geflochtene Anzüge, welche von weitem das Aussehen von Ritterrüstungen hatten. Diese Riemen waren gegerbt, doch nicht gefärbt, also naturfarben. Die prächtigen Helme bestanden aus leichten, goldig schimmernden Metallteilen. Sie waren hinten mit einem stoffenen Nackenschutz versehen, welcher, nach vorn geschlagen, den Helm für jeden fernen Beobachter unsichtbar machte. Die Mäntel habe ich schon erwähnt. Die Bewaffnung bestand nur in einer sehr langen, aber sehr gefährlichen Lanze und einem in lederner Scheide steckenden Gürtelmesser. Etwas anderes war nicht vorhanden, weder zum Schießen noch zum Hauen oder Stechen. Und auch diese beiden schienen mehr friedlichen als kriegerischen Zwecken dienen zu sollen. Die Pferde waren, wie bereits gesagt, lauter Schimmel, von edler Abkunft, persisch aufgezäumt, mit langen, ungekünstelten Schweifen und Mähnen.

Voran ritt ein starker, stolzer, silberbärtiger Riese, der keinen einzigen fragenden Blick um sich warf und sich ganz so benahm, als ob er mit der Örtlichkeit und allem, was hier geschehen war und noch geschehen sollte, vollständig vertraut sei. Ihm folgten, vier Mann hoch, eine Schar von Offizieren, wohl der Stab. Dann kam, auch zu vieren, die eigentliche Truppe, (Seite 286A) je hundert Mann von einem einzelnen angeführt. Indem sie so, wie sie zum Tore hereinkamen, langsam und in prächtiger Haltung der Rundung des Platzes folgend, längs der nördlichen Säulenhalle hinritten, sahen wir, nach auswärts schauend, daß ihnen ein langer aber wohlgeordneter Zug von Maultieren folgte, welche die Bagage, also Zelte usw. zu tragen hatten.

Aber wir sahen da auch noch mehr, nämlich daß hinter diesen Maultieren eine neue, andere Truppe kam, die auch auf lauter Schimmeln ritt und ganz genau so ausgerüstet war, wie die vorige, nur daß, wie wir später sahen, ihre ledernen Anzüge nicht naturfarbig, sondern blau waren, und zwar von jenem tiefen, beruhigenden, ein wenig violetten Blau, welches der Himmel zeigt, wenn man aus einer tiefen, schmalen Schlucht zu ihm aufschaut und nur einen Streifen von ihm sieht.

" Ein zweites Heer! " rief der 'Mir verwundert aus. " Wer mag das sein? "

Da antwortete Abd el Fadl:

" Das sind die Lanzenreiter von Halihm. "

" Also die Deinigen? "

" Ja. Ich stelle sie Dir zur Verfügung gegen alle Deine Feinde. "

" Auch Du, auch Du! Was seid Ihr doch für Leute, für Menschen, für Helfer und Retter, Du und der Schech el Beled! Aber ich danke Dir. Ich nehme auch Deine Hilfe an. Doch erlaube mir eine Frage: Wo habt Ihr die Infanterie, die Artillerie, die Gewehre, die Säbel, die Kanonen? "

" Auf die verzichten wir. "

" Warum? "

" Weil wir sie da oben in den Bergen, wo sich der Kampf entscheidet, für überflüssig halten. "

" Warum da oben? Ich bin entschlossen, auf meinen Kampf mit Dschinnistan zu verzichten. Es handelt sich für mich also nur darum, die Revolution niederzuwerfen. Und das kann doch nur hier geschehen. "

" Nein. Auch das wird da oben geschehen, wo alle Eure hiesigen Waffen ihren Wert vollständig verlieren. Wir sprechen später hiervon. Jetzt haben wir unsere Aufmerksamkeit auf das zu richten, was da unten vor unsern Augen geschieht. Ich schlage vor, wir steigen hinab, denn wir müssen unsere Leute begrüßen und bitten um die Erlaubnis, sie Dir vorstellen zu dürfen. "

Sie verließen die Plattform des Tempels. Ich allein blieb oben. Ich beobachtete, daß sie, unten angekommen, ihre Pferde bestiegen und zu den Offizieren von El Hadd hinüberritten. Diese hatten soeben den östlichsten Punkt des riesigen Platzes erreicht, als die letzten von ihnen im Westen zum Tor hereinkamen. Die Lanzenreiter des Schech el Beled bildeten also eine ununterbrochene, vierfache Linie, welche genau so lang wie die ganze nördliche Riesenbalustrade war. Man mag hieraus auf die Zahlenstärke dieser Hilfstruppen schließen. Die Maultiere, also das, was wir als Train und Bagage bezeichnen würden, kamen nicht mit herein. Sie schwenkten draußen zwischen den Böschungen links ab, um das Lager im Freien herzurichten.


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