Drittes Kapitel. Am Tode.

 

Ich schlief infolge des gestrigen Nachtwachens heute sehr rasch ein und wäre wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch nicht aufgewacht, wenn Halef mich nicht aufgerüttelt hätte.

„Verzeih, Sihdi, daß ich dich wecke!“ sagte er. „Ich glaube, das alte Weib will wieder kommen.“

„Spürst du ihr Nahen?“ fragte ich.

„Nicht nur ihr Nahen. Sondern ich bemerke, daß sie schon ganz vor mir steht.“

„Halef, du sprichst mit Mühe! Deine Zähne klappern!“

„Nein; aber es hält mir den Mund halb offen, ganz so, wie einem Menschen, der sehr friert. Gieb mir von deiner Arznei!“

Ich folgte dieser Aufforderung. Als er die absichtlich vergrößerte Gabe genommen hatte, erkundigte er sich:

„Weißt du, was Zittern ist, Sihdi?“

„Ja, jedermann weiß das wohl.“

„Aber hast du selbst schon einmal gezittert?“

„Ich glaube, nein.“

„Ich auch nicht, weder aus Angst noch aus irgend einem anderen Grunde. Aber, denke dir, jetzt zittre ich! [180] Oder vielmehr, nicht ich thue es, sondern das alte, zahnlose Fieberweib, welches nun doch in mich hineingekrochen ist, zittert in mir. Ich glaube, aus Furcht, schnell wieder heraus zu müssen. Und sodann ist es mir, als ob mir ein Gürtel um den Kopf gelegt und übermäßig fest zugeschnallt worden sei. Meine Beine sind mir abhanden gekommen. Ich weiß zwar ganz genau, daß ich sie noch habe, aber ihr Selbstbewußtsein ist ihnen verloren gegangen. Sie können sich nicht mehr auf sich selbst besinnen, und darum ist es gar nicht zu verwundern, daß sie auch mich ganz und gar vergessen haben, obgleich ihnen das verboten ist. Ich werde einmal versuchen, sie von ihrer Pflichtvergessenheit zurückzubringen.“

Er erhob sich langsam und unsicher, blieb aber nur kurze Zeit stehen, ließ sich dann wieder nieder und sagte:

„Das ist eine ganz eigentümliche Empfindung, die ich dir wohl nicht deutlich genug machen kann. Es scheint mir, als ob ich da unten keine Knochen, keine Sehnen und kein Fleisch mehr habe, sondern bloß noch die Haut, und diese ist so außerordentlich dünn, daß ich von innen heraus den Stoff der Hose sehen kann.“

Welch naive und doch bewundernswerte Deutlichkeit, mit welcher er diesen Schwächezustand seiner Glieder beschrieb! Er war in dieser Beziehung ja schon überhaupt unübertroffen! Er verstand es, selbst für das unerklärbar Scheinende Worte zu finden, welche trotz ihrer Sonderbarkeit fast stets das Richtige trafen.

Nun war ich fest überzeugt, daß er keinen Augenblick mehr werde schlafen können. Jeder Arzt hätte das mit der größten Bestimmtheit behauptet. Aber ich sollte sogleich vom Gegenteile überzeugt werden, denn er wickelte sich in seine Decke ein und sagte:

„Der Frost ist weg, ganz plötzlich weg, wohl weil [181] ich aufgestanden bin. Ich werde wieder warm. Nun bin ich müd, so sehr müd. Ich werde wieder schlafen. Gute Nacht, mein Sihdi!“

„Gute Nacht, mein lieber Halef!“

„Lieber Halef? So sagst du zu mir? Hast du mir verziehen?“

„Von ganzem Herzen!“

„Ich danke dir! Wollen ja nicht vergessen, einander ohne alle Unterbrechung und ohne alles Aufhören recht, recht lieb zu haben! Du hast mir vergeben, aber ich selbst mir nicht. Ehe ich dich weckte, habe ich über heut nachgedacht. Ich war nicht gut zu dir, nicht höflich und bescheiden. Das ist zwar nicht dein guter Halef, sondern jener böse Hadschi gewesen, der immer, immer Fehler macht, aber da ich diese seine immerwährenden Dummheiten nicht zu dulden habe, muß ich mich ganz ebenso wie ihn selbst anklagen. Er hat dich beleidigt und gekränkt. Das war schlecht, nicht bloß von ihm, sondern auch von mir!“

Nun war er still, der liebe prächtige Kleine. Ich lauschte. Er bewegte sich nicht mehr, und als ich mich nach einiger Zeit zu ihm hinüberbog, bemerkte ich, daß er eingeschlafen war. Er wachte zu meiner großen Freude auch nicht eher auf, als bis die Dinarun aufstanden und er durch den nun entstandenen Lärm aufgeweckt wurde. Da stand er auf, aß und trank, war munter wie ein vollständig gesunder Mann und sagte, als er sah, daß ich ihn beobachtete:

„Sie ist längst wieder fort, die mich heute nacht besuchte. So alte Klage- und Jammerweiber halten es bei einem rüstigen Menschen niemals lange aus. Soeben steigt der Scheik auf das Pferd. Komm, Sihdi, laß uns dasselbe thun!“

[182] Er schwang sich leicht und frei in den Sattel, so wie ich gewohnt war, es von ihm zu sehen. Ich wurde vollständig irr an dem Krankheitsbilde, welches mir in Beziehung auf ihn bisher drohend vorgeschwebt hatte, und fragte mich, ob es sich vielleicht doch nur um eine morbillöse Infektion handle. Aber dann hätte unbedingt ein Katarrh der Luftwege und der Augenbindehaut, begleitet von einem reichlichen Thränengusse, vorhanden sein müssen, und das war keineswegs der Fall. Mochte nun aber vorliegen, was da wollte, ich mußte die Entwickelung ruhig abwarten. Halef kämpfte jedenfalls mit größerer Anstrengung, als er mir eingestehen wollte, gegen dieses Uebel, und ich nahm mir vor, ihm diesen Kampf nicht thörichterweise zu erschweren, daß ich ihn die Größe meiner Besorgnis sehen ließ.

Unser Nachtrab hatte uns gegen Mitternacht eingeholt. Er blieb noch hier, um auszuruhen und uns dann zu folgen. Wir aber ritten weiter.

Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für den Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein. Es genügt vollständig, nur das zu erwähnen, was mit dem Zwecke unseres Rittes in Zusammenhang stand.

Es war noch am Vormittage, als wir über eine Tiefung kamen, auf welche zwei breitere Thäler und mehrere schmale Schluchten mündeten. Es schien, als ob es hier einst einen tiefen See mit zahlreichen Wasserzuflüssen gegeben habe. Der Boden bestand aus einem feinen, hellen, fast mehligen Sande, in welchem jede vorhandene Spur mit ungemeiner Deutlichkeit zu sehen war. Man konnte sogar den Weg, den eine Maus oder ein kleiner, hüpfender Vogel genommen hatte, ganz genau er- [183] kennen. Die Stelle war rundum von Höhen umgeben, welche die Winde abhielten; es gab also hier keine Luftbewegungen, durch welche die Spuren ausgewischt und verweht wurden.

Daher auch die große Deutlichkeit einer Fährte, welche aus einer rechts von uns liegenden Schlucht herauskam, um links in einer andern zu verschwinden. Sie führte also quer über unsern Weg. Nafar Ben Schuri, welcher, wie bisher stets, unserm Zuge voranritt, sah sie zuerst. Er hielt an, um sie zu betrachten. Seine Leute gruppierten sich sogleich in der Weise um ihn, daß die Fährte unter den Hufen ihrer Pferde verschwand. Als wir nun hinkamen, hörten wir die Worte des Scheikes:

„In dieser einsamen Gegend sollte man keine Spur vermuten. Ich weiß genau, daß es weder nach rechts noch nach links hin Menschen giebt. Wer mag das wohl gewesen sein, der hier vorüber gekommen ist?“

„Du fragst und scheinst es doch aber gar nicht wissen zu wollen,“ antwortete Halef.

„Wieso?“ fragte Nafar verwundert.

„Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was thust du da?“

„Ich lese ihn.“

„Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht thust! Du löschst ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe.“

„Traust du mir wirklich keine größere Klugheit zu?“

„Wie kannst du mir eine Frage vorlegen, durch deren Beantwortung ich dich beleidigen würde! Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur. Anstatt sie aber zu lesen, laßt ihr eure Pferde so über die Fährte trampeln, daß sie nun [184] fast nicht mehr zu sehen ist. Nun sei so gut und beantworte dir deine Frage selbst!“

Halef hatte vollständig recht. Wir beide ritten zur Seite, stiegen da, wo die Spur noch nicht ausgetreten war, von den Pferden und folgten ihr, um die Eindrücke zu betrachten, so weit, bis ich genug gesehen zu haben glaubte. Der Scheik war uns langsam gefolgt. Als ich mich jetzt wieder umwandte, fragte er:

„Nun, was habt ihr gesehen? Der Scheik der Haddedihn wird uns jetzt zeigen, wie gut er lesen kann!“

Das klang beinahe ironisch. Halef war sofort mit der richtigen Antwort da:

„Wir haben nichts, gar nichts gefunden, o Scheik der Dinarun. Darum bitten wir dich, dein Pferd zu verlassen, um zu versuchen, ob du diese Schriftzeile besser lesen kannst als wir!“

„Was liegt daran, zu wissen, wer hier war?“ entgegnete Nafar ausweichend.

„Sehr viel liegt daran! Wir befinden uns auf einem Kriegszuge. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wer in derselben Gegend mit uns ist. Es kann uns Verrat und Gefahr von jeder Seite drohen. Ich hoffe, daß dir dies nicht unbegreiflich ist!“

Er gab seiner Stimme einen strengen Klang. Da stieg der Dinari1) [1) Singular von Dinarun.] vom Pferde und betrachtete die Fährte. Hierauf schüttelte er den Kopf und sagte:

„Man sieht, daß zwei Reiter hier vorübergekommen sind, weiter nichts.“

„Wirklich weiter nichts?“

„Nein.“

Wahrscheinlich bemerkte Halef das Lächeln, welches [185] ich um meine Lippen fühlte. Er hatte mehr gesehen als Nafar und nahm wohl an, daß die Schrift für mich trotzdem noch verständlicher gewesen sei, als für ihn selbst. Darum fuhr er fort:

„Du sprichst von zwei Reitern, von weiter nichts. Was ritten sie für Tiere?“

„Pferde natürlich!“

„Was für Pferde waren es?“

„Wer kann das wissen? Niemand!“

„So! Dieser ‚Niemand‘ bin ich. Das eine Pferd war ein junger Hengst, das andere aber eine Stute, welche wenigstens schon fünf- oder sechsmal geboren hat.“

Da machte der Dinari die Augen weit auf und fragte:

„Woran siehst du das?“

„Das ist auch eines unserer Geheimnisse, welche nicht verraten werden. Es würde dir auch nichts nützen, wenn ich es dir sagte, denn es gehört viel Erfahrung und eine lange Uebung dazu, die Zahl der Geburten, also das ungefähre Alter einer Stute aus ihren Spuren zu erkennen. Wäre der Sand nicht so fein, so würde selbst ich vergeblich forschen. Glaubst du nun, daß der Scheik der Haddedihn eine Fährte lesen kann? Und da steht Kara Ben Nemsi, der mein Lehrer in dieser Kunst gewesen ist. Ich sehe es ihm an, daß diese Spur ihm noch mehr gesagt hat als mir. Sprich, Sihdi, was hast du gesehen?“

„Die Stute ist allerreinsten Blutes“, antwortete ich.

„Ja; das weiß ich auch.“

„Sie ist einmal infolge eines Fehltrittes lange Zeit fußkrank und unbrauchbar gewesen.“

„Maschallah!“ rief da der Scheik der Dinarun. „Weißt du, an welchem Fuße?“

[186] „Links vorn. Es war eine Flechsendehnung, welche nur langsam und durch die größte Ruhe zu heilen ist.“

„Bist du allwissend?“

„Nein. Ich habe meine Augen geübt. Das ist es, weiter nichts. Du scheinst verwundert zu sein. Kennst du ein solches Pferd?“

„Ja. Es ist eine braune Stute. Ihre Haut bekommt in der Sonne dunklen Kupferglanz; sie hat die drei berühmten Haarwirbel der Pferde des Propheten; sie trinkt das Wasser mit der Zunge, wie ein Hund; ihr Ohr ist schärfer als das Auge des Geiers, und wenn sie dich anschaut, glaubst du, dem sanften Blick einer Huri zu begegnen.“

Der Beduine wird stets poetisch, wenn er von einem edlen Pferde spricht. So auch hier.

„Wem gehört dieses Pferd?“ erkundigte ich mich.

„Diese wunderbar schnelle Stute heißt Sahm1) [1) „Pfeil“.] und gehört - - dem - - - Ustad2) [2) „Meister“.].“

Er zögerte so eigentümlich, dieses letzte Wort auszusprechen. Das hatte jedenfalls einen besonderen Grund, der nicht allein in ihm vorhanden war, denn als er diesen Namen aussprach, drängten sich die bei uns haltenden Dinarun sofort noch näher zu uns heran.

„Wer ist das, der Ustad?“ fragte ich.

„Ein Dschamiki,“ antwortete er so kurz, daß ich annahm, er gebe nicht gerne Auskunft über diesen Mann.

„Vielleicht der Scheik einer Unterabteilung der Dschamikun?“

„Nein.“

„Also ein gewöhnlicher, wenn auch reicher Mann?“

„Auch nicht!“

[187] „Weder Scheik noch einfacher Nomade? Was aber denn?“

„Warum willst du das so durchaus wissen?“ sprach er ungeduldig. „Dieser Mann geht mich und auch dich nichts an!“

„Dich vielleicht nicht, aber mich! Ich habe keinen Grund, mich vor irgend einem Menschen oder gar nur vor dem Namen eines Menschen zu scheuen. Wir verfolgen die Dschamikun; zwei von ihnen sind hier an dieser Stelle gewesen. Das eine der Pferde ist die Stute des Ustad. Ich muß also unbedingt wissen, wer dieser Ustad ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat.“

„Ich spreche nicht von ihm!“ erklärte er in einem Tone, als sei dies nun sein letztes Wort. Es klang fast wie ein Befehl für mich, still zu sein. Da regte sich das Mißtrauen von neuem in mir. Sein Verhalten war für mich ein Rätsel, dessen Lösung ich mir unbedingt verschaffen mußte.

„Komm, Halef!“

Indem ich diese Aufforderung an meinen Hadschi richtete, wendete ich mich von Nafar Ben Schuri und stieg wieder in den Sattel. Halef that ebenso. Der Blick, den er mir zuwarf, sagte mir, daß er mich verstanden hatte und mir recht gab.

„Wohin?“ fragte er.

„Dorthin!“

Ich zeigte nach der Schlucht links, nach welcher die Spur führte, und setzte mein Pferd anstatt in Schritt in schnellen Trab. Da rief der Scheik der Dinarun hinter uns her:

„Was fällt euch ein? Warum reitet ihr dorthin? Wollt ihr uns verlassen?“

Wir antworteten nicht, sahen uns auch nicht um und [188] erreichten schnell die Schlucht, hinter deren Eingangsfelsen wir für die Dinarun verschwanden. Hier lag derselbe leichte Sand wie draußen. Die Fährte war ebenso deutlich wie dort. Halef hielt sich neben mir. Er konnte es nicht über das Herz bringen, zu schweigen!

„Sihdi, was hast du vor?“ fragte er. „Willst du unsere Freunde verlassen?“

„Nein.“

„Aber warum entfernst du dich von ihnen?“

„Erstens um sie zu zwingen, mir Auskunft über diesen Ustad zu geben, und zweitens um sie darüber zu belehren, daß wir Männer sind, denen man Antwort zu geben hat, wenn sie fragen!“

„Das sind wir allerdings! Doch meine ich, daß wir unsere Freunde - - -“

„Freunde?“ unterbrach ich ihn. „Sei vorsichtig mit diesem Worte! Es fällt mir schwer, das rechte Vertrauen zu dieser Freundschaft zu haben.“

„Ich aber traue ihnen, Sihdi!“

„Das weiß ich gar wohl; es wäre aber besser, wenn du zu mir mehr Vertrauen hättest, als zu ihnen. Es liegt irgend etwas zwischen ihnen und uns. Ich weiß es, kann es aber nicht finden. Wir werden es aber erfahren und ich hoffe, daß wir uns nicht zu der Sorte von Menschen zu zählen haben, welche nur durch Schaden klug werden können! - Schau! Was ist hier?“

„Da sind die Reiter abgestiegen, um auszuruhen,“ antwortete er.

So war es allerdings. Sie hatten an der rechten Seite der Schlucht Halt gemacht und sich in den weichen Sand gesetzt. Daneben standen niedrige Akaziensträucher, deren Spitzen und Blätter von den Pferden abgefressen worden waren. Die Eindrücke in dem Sande waren da, [189] wo sie gesessen hatten, so scharf, daß man sogar sah, welche Stellung dabei von ihren Extremitäten eingenommen worden waren. Kaum hatte ich einen Blick dorthin geworfen, so entriß mir die Ueberraschung den Ausruf:

„Welche Entdeckung! Oder täusche ich mich?“

„Was ist's, Sihdi?“ fragte Halef.

„Später! Die Dinarun kommen!“

Sie waren es nicht alle, sondern nur der Scheik mit einigen von ihnen. Ich war wieder abgestiegen, um die Eindrücke in dem Sande zu untersuchen. Er blieb, um die Spuren nicht wieder zu verwischen, in einiger Entfernung von uns halten und rief uns, halb ärgerlich, halb bittend zu:

„Ist denn plötzlich irgendein Scheitan1) [1) Teufel.] in euch gefahren? Warum verlaßt ihr uns? Wollt ihr etwa hier weiterreiten?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Warum?“

„Wenn ich einen so gefährlichen Weg unternommen habe, wie der unsere ist, lasse ich nie eine unbeantwortete Frage auf ihm liegen. Ich muß unbedingt wissen, wen oder was ich vor mir habe.“

„Du meinst den Ustad?“ Er wußte also wohl, warum wir uns entfernt hatten. „Ist dir dieser Mann denn so sehr wichtig?“

„Ja.“

„Warum?“

„Weil du ihn durch dein Schweigen für mich wichtig gemacht hast. Hättest du mir nicht die Auskunft verweigert, so wäre er für uns wohl weiter nichts als jeder andere Mensch.“

[190] „Und was soll euch diese Fährte nützen?“

„Sie soll mich zu der Kenntnis führen, welche du uns nicht geben willst. Wir reiten als eure Freunde mit euch. Es handelt sich hierbei vielleicht um Blut und Leben. Darum ist die größte Vorsicht geboten. Ich sehe, daß sich noch andere Personen in unserer Nähe befunden haben, vielleicht noch befinden. Ich will wissen, wer sie sind. Ich entdecke, welches Pferd geritten wird. Ich will Auskunft über den Besitzer desselben. Du kannst sie geben, giebst sie aber nicht. Das ist gegen die Offenheit, welche ich von dir zu fordern habe! Du hast Geheimnisse vor uns, die wir mit dir in den Kampf gehen sollen. Das trennt uns von euch. Wir reiten dieser Fährte nach, bis ich weiß, wer die Männer sind, die unsere Wege kreuzen!“

„Du hast einen harten Kopf!“ warf er ein.

„Nicht das, sondern nur einen festen Willen!“

„Weißt du, was kommen wird, wenn ihr euch von uns trennt?“

„Was?“

„Ihr werdet in unbekannter Gegend hilflos sein! Der Hunger wird an euch nagen, und der Durst wird euch verzehren!“

Kein Mensch hätte mir jetzt einen größeren Gefallen erweisen können, als dieser Mann es mit diesen Worten that. Halef traute den Dinarun, ich aber nicht. Das brachte mich in einen zunächst zwar nur innern Zwiespalt mit ihm, der uns aber äußerlich gefährlich werden konnte. Hatte doch Halef mir schon da oben im Lager Widerstand geleistet! Ich mußte wünschen, daß sein Vertrauen zu diesen Leuten ihn nicht wieder zu einem solchen Fehler verleite. Wirklich erschüttert aber mußte es nicht von mir, sondern von ihnen selbst werden. Da kam Nafar [191] Ben Schuri mit seinem Worte „hilflos“ mir zur rechten Zeit zur rechten „Hilfe“. Dieses Wort wirkte auf meinen kleinen Hadschi wie ein feindlicher Pistolenschuß. Er ritt zu dem Scheik hin, blieb hart vor ihm halten und fuhr ihn zornig an:

„Wer wird hilflos sein? Wer wird hungern? Und wer wird dürsten? Warum besteht ihr darauf, daß wir mit euch reiten, wenn ihr uns für junge Schakals haltet, die sich den eigenen Schwanz abfressen, wenn nicht die Mutter ihren Hunger stillt? Hast du jemals gehört, daß Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, sich nicht zu helfen gewußt habe? Hältst du uns für kleine Buben, denen du auf ihre Fragen mit der Beleidigung des Schweigens antworten darfst? Meinst du, daß wir nur dir zuliebe unsere Gewehre mühsam nach dem ‚Thale des Sackes‘ schleppen, um von dir dann einen Wasserschluck und eine Dattel zu erhalten, damit wir nicht vor Durst und Hunger uns in die Brühe faulender Gurken verwandeln? Denkst du, wir lesen dir die schwere Sprache der Fährten zu dem Zwecke vor, von dir zu erfahren, daß sie unnütz sei? Ob dieses Land uns bekannt oder unbekannt ist, das ist uns völlig gleich. Jeder Schuß aus unsern Gewehren wird uns Nahrung bringen, und jeder Busch oder Strauch hat uns zu sagen, wo wir Wasser finden werden! Du hast uns ‚hilflos‘ genannt. Schau dich an! Weißt du, als was ich dich jetzt vor mir krumm im Sattel sitzen sehe? Als den niedergeschmetterten Scheik der Dinarun, dem jetzt, in diesem Augenblicke, um nichts als nur um unsere Hilfe bange ist! Ich habe gesprochen!“

Er wendete sein Pferd um und kam wieder her zu mir. Der Scheik antwortete nicht sogleich. Daß er zornig sei, war ihm wohl anzusehen, doch gebot ihm die Klug- [192] heit, sich zu beherrschen. Seine Leute sprachen leise auf ihn ein.

„Hast du jemals so etwas gehört, Sihdi?“ fragte Halef mit unterdrückter Stimme. „Hilflose Menschen sollen wir sein! Mit solchen Freunden hat man freilich nur mit der nötigen Vorsicht umzugehen! Wenn mich ein Freund beleidigt, so ist das schlimmer, als wenn ein Feind es thut! Ich werde mich in Zukunft nicht nach meinem Herzen, sondern nach deinem Verstande richten!“

Da kam Nafar näher und wendete sich an mich:

„Sihdi, ich konnte nicht ahnen, daß euch mein Schweigen beleidigen werde. Ich bin Moslem und rede also nicht gern von dem, der ein Feind des Propheten ist. Ich habe nicht daran gedacht, daß du ein Christ bist. Willst du mir verzeihen?“

Ich nickte nur. Da fuhr er fort:

„Hast du noch den Wunsch, etwas über den Mann zu hören, den sie den Ustad nennen?“

„Natürlich!“

„Er ist ein Dschamiki, wurde aber nicht bei den Dschamikun geboren. Sie waren arme Teufel, doch treue Anhänger des Propheten, als er aus einer fernen Gegend zu ihnen kam. Er unterrichtete sie in der Weisheit und Fertigkeit der Abgefallenen. Sie wurden durch ihn wohlhabend, viele sogar reich, haben sich aber aus freien Nomaden in unfreie Sklaven der Arbeit verwandelt. Sie züchten Vieh; sie bebauen Aecker, und sie besitzen Gärten, in welche sie Bäume pflanzen. Pfui!“

„Und dennoch sind sie Räuber, die euch eure Herden gestohlen und die Wächter ermordet haben?“ warf ich ein.

„Ja, das sind sie freilich auch! Der Abfall vom Propheten treibt stets zu Raub und Mord!“

„Meinst du?“

[193] „Ja. Das darf dich nicht beleidigen, denn du bist ja nie ein Moslem gewesen und also kein Abgefallener.“

„Sind die Dschamikun Christen?“

„Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie von Muhammed abgewichen sind.“

„Wie nennen sie sich?“

„Nur Dschamikun. Ihrer Religion geben sie keinen Namen. Der Ustad ist ein alter, alter Mann, aber mit tiefschwarzen Haaren. Man sagt, er sei mehrere hundert Jahre alt. Ja, einige meinen sogar, daß er nie geboren worden sei und niemals sterben werde. Das ist gewiß nur Aberglaube. Aber Eins, was man über ihn sagt, ist richtig. Nämlich, daß man sich hüten muß, bös von ihm zu reden. Wer das thut, dem folgt die Rache wie ein böser Geist, der nicht eher ruht, als bis er ihn vernichtet hat. Darum wollte ich deine Frage nicht beantworten. Bist du nun versöhnt?“

„Ich will es sein, warne dich aber vor ähnlichen Beleidigungen. Weißt du vielleicht, ob Sallab, der Fakir, mit den Dschamikun bekannt ist?“

„Er geht überall hin, wahrscheinlich auch zu ihnen.“

„Ist er ihnen mehr Freund als euch?“

„Wer kann das sagen!“

„Er ist hier gewesen.“

„Hier? An diesem Orte?“ fragte er erstaunt.

„Ja.“

„Unmöglich!“

„Er hat auf der braunen Stute des Ustad gesessen.“

„Das ist ebenso unmöglich!“

„Schau her! Hier an dieser Stelle sind die beiden Reiter von den Pferden gestiegen. Der, welcher den Hengst ritt, hat die Spuren von ledernen Sohlen hinterlassen. Der andere, welcher von der Stute sprang, ist [194] barfuß gewesen. Nun komm hierher, wo sie gesessen haben! Hier der barfüßige, und hier der andere. Hast du vielleicht schon einmal einen Menschen so auffällig sitzen sehen, daß er nur das eine Bein unterschlägt und auf das Knie desselben die Kniekehle des andern Beines legt, dessen Ferse also jenseits den Boden berühren muß!“

„Maschallah! So sitzt nur einer! Auch du hast ihn gesehen!“

„Wer ist's?“

„Der Fakir!“

„Richtig! Diese seine Art zu sitzen oder vielmehr zu hocken ist mir sofort aufgefallen, als er in eurem Lager sich bei uns niederließ. Der barfüßige Mann hier hat ganz genau in derselben Weise gesessen.“

„Kann es nicht einen zweiten geben, welcher auch diese Gewohnheit hat?“

„Gut, nehmen wir diese Möglichkeit an! Aber hast du dir genau betrachtet, wie der Fakir gekleidet war?“

„In Fetzen!“

„Wodurch wurden diese Fetzen zusammengehalten?“

„Durch eine Schnur. Die Enden des Knotens hingen hinten herab.“

„Hast du an diesen beiden Enden etwas bemerkt?“

„Zwei Cypressenzapfen an jedem.“

„So sieh hierher! Diese Zapfen haben, als er saß, den Sand hinter ihm berührt. Er hat sich bewegt und mit sich diese Zapfen. Siehst du diese Striche? Und da, wo sie stillgelegen haben, die runden Eindrücke in dem Mehle des feinen Sandes?“

Er richtete die Augen auf diese Zeichen und dann, groß und weit geöffnet, auf mich.

„Sihdi,“ sagte er, „das ist nun freilich Spurenlesen! Es ist bewiesen, daß es wirklich der Fakir war, der hier [195] gesessen hat. Aber an das Pferd des Ustad glaube ich noch nicht!“

„Ich habe nur gesagt, was für ein Pferd es war. Mehr kann ich nicht wissen. Den Ustad hast du selbst genannt. Ist er denn reich genug, der Besitzer eines solchen Pferdes zu sein?“

„Ja, man sagt, daß er die Macht über den ganzen Reichtum der Erde besitze.“

„Man sagt so manches, was man eben bloß sagt. Heut hat für mich nur das Geltung, was ich hier sehe. Wann denkst du, daß wir das Daraeh-y-Dschib erreichen werden?“

„Wir werden schon heut abend in seiner Nähe sein, obgleich wir einen Umweg eingeschlagen haben, um nicht auf etwaige Nachzügler der Dschamikun zu treffen.“

„So treffen wir aber doch vielleicht auf eure Späher nicht!“

„O doch! Wir haben heut den Weg der Feinde zu kreuzen, um ihnen dann zuvorzukommen. An dieser Kreuzungsstelle haben meine Kundschafter auf uns zu warten.“

„So kennen sie die Stelle, an welcher diese Kreuzung stattfindet?“

„Ja. Ich hoffe, daß euer Vertrauen zu uns nun wieder vollständig zurückgekehrt ist!“

Er sah mich an, erwartungsvoll, was für eine Antwort ich nun geben werde. Da wurde mir so offen, daß er es hörte, von Halef die Frage zugeworfen:

„Was wirst du ihm sagen, Sihdi? Das Vertrauen ist nicht wie eine Dattel, die man in der Minute zehnmal hin und her geben kann. Es geht schneller fort, als es wiederkehrt.“

[196] „Ich werde ihn nach einer Lücke fragen, die es zwischen ihm und uns giebt, lieber Halef,“ antwortete ich.

„Eine Lücke? Ich kenne keine.“

„Und doch ist sie da. Wir haben sie mitgenommen, als wir das Lager der Dinarun verließen. Sie wurde um Mitternacht, als uns der Nachtrab erreichte, größer als sie vorher war, und nun bin ich neugierig, ob es ihm gelingt, sie auszufüllen. Ich habe darüber geschwiegen, weil du an die Dinarun glaubtest und ich dir deine Unbefangenheit gönnte.“

„Ich verstehe dich nicht!“

„Du wirst es gleich hören!“

Und zu dem Scheik gewendet, fuhr ich fort:

„Ist euer Lager jetzt vollständig verlassen?“

„Ja,“ nickte er.

„Es befindet sich niemand mehr dort?“

„Kein Mensch mehr!“

„Es ist also alles mit uns unterwegs? Mit uns hier und dem Nachtrab?“

„Alles!“

„Und unsere Gefangenen? Die Dschamikun? Mit denen wir Gericht halten wollten?“

Er war schneller mit der Antwort da, als ich erwartet hatte:

„Ich habe sie nach dem großen Lager unseres Stammes geschickt. Dort werden sie bis zu unserer Rückkehr für euch aufbewahrt.“

„Warum sagtest du uns das nicht?“

„Habt ihr mich gefragt?“

„Du hattest es uns auch ohne Frage mitzuteilen. Die Gefangenen gehörten zunächst uns und dann später dir. Ich sagte nichts über sie, weil ich es für ganz selbstverständlich hielt, daß sie sich beim Nachtrab befinden [197] würden. Ich sage dir ganz aufrichtig folgendes: Daß diese wenigen Dschamikun so nahe bei euch waren, obwohl ihr von ihren Stammesgenossen beraubt worden waret, das erschien mir unbegreiflich. Daß ihr ihnen begegnet seid, ohne sie als Dschamikun anzuhalten, hielt ich für höchst sonderbar. Daß sie nun verschwunden sind, ohne daß du es für nötig gehalten hast, uns ein Wort darüber zu sagen, das kommt mir sogar bedenklich vor. Darum will ich dir deine Frage nach unserm Vertrauen jetzt noch nicht beantworten. Du wirst schon ganz von selbst bemerken, ob es wiederkehrt oder verschwunden bleibt. Jetzt wollen wir den unterbrochenen Weg fortsetzen.“

Er sagte nichts, lenkte um und ritt mit seinen Begleitern wieder aus der Schlucht hinaus. Erst nach einiger Zeit blickte er sich einmal um, damit er sehe, ob wir ihm folgten. Natürlich thaten wir das. Draußen stießen wir zu dem Trupp, der auf uns gewartet hatte, und ritten dann mit diesem weiter, indem wir die beiden letzten des Zuges waren.

„Sonderbar, das mit den Gefangenen!“ sagte Halef nach einiger Zeit, während welcher er still an sich niedergesonnen hatte. „Glaubst du, Sihdi, daß ich seit unserm Aufbruche gar nicht an diese Leute gedacht habe?“

„Ich bemerkte das.“

„Und aber du?“

„Ich sah erst heut früh, daß sie fehlten.“

„Und hast gegen mich geschwiegen!“

„Du warst so heiter wie in den letzten Tagen selten. Ich wollte dich nicht ohne Not bedenklich stimmen.“

„Weil du mich wegen meiner Krankheit schonen willst; ich weiß es! Glaubst du noch an sie?“

„Ja.“

„So gieb mir jetzt wieder die Arznei!“

[198] „Halef!“ rief ich. „Fühlst du dich wieder unwohl?“

„Nein. Aber die Alte ist wieder da. Sie hat sich heimlich herangeschlichen. Sie sitzt hinter mir auf dem Pferde und streicht mir mit eiskalter Hand am Rücken auf und ab. Sie muß wieder fort. Gieb mir das Mittel!“

Ich hatte während der letzten Stunden in Beziehung auf das Fieber nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich seine Augen glänzen. Sie hatten einen unstäten, ängstlichen Blick. Ich nahm das Chinin aus der Satteltasche und gab ihm davon. Er nahm es ein, und dann wurde es für längere Zeit still zwischen uns.

Dieses Schweigen hatte seinen Grund zunächst in der Besorgnis, welche ich in Beziehung auf Halef von neuem hegte. Sodann aber war mir auch in Betreff meiner selbst ein Gedanke gekommen, welcher sehr geeignet war, mich zu beunruhigen.

Wir hatten in jüngster Zeit ganz bedeutende Fehler begangen, Fehler, welche eigentlich für uns hätten unmöglich sein sollen. Hierzu kamen, wenn ich nachdachte, eine ganze Menge kleinere Sonderbarkeiten, die uns eigentlich gar nicht geläufig waren. Vor allen Dingen fragte ich mich, wie es möglich gewesen war, daß wir hatten von dem Lager der Dinarun aufbrechen können, ohne vorher über unsere Gefangenen zu bestimmen. Hierauf fiel mir ein, daß es doch eigentlich geraten gewesen wäre, uns die Leichen oder die Gräber der beim Ueberfalle der Herden ermordeten Wächter zeigen zu lassen. Auch das hatten wir nicht gethan. Wie war es für uns alte, erfahrene, doch sonst so scharfsinnige Leute möglich gewesen, uns solcher Unterlassungssünden schuldig zu machen? Bei Halef war die Krankheit schuld. Was aber bei mir? War ich plötzlich vergeßlich geworden? [199] Hatte ich die Schärfe meiner Denkkraft eingebüßt? Woher kam auch bei mir die sonderbare Müdigkeit, die ich gar nicht beachtet hatte, obgleich sie von Halef schon einige Male erwähnt worden war? Ich befinde mich in dem Besitze einer Konstitution, wie nur selten ein Mensch sie hat. Meine Gesundheit macht für mich den Gedanken, krank zu sein, fast zur Unmöglichkeit. Und wenn ich ja vielleicht einmal unwohl sein sollte, so glaube ich es nicht. Ein Zustand, über welchen andere klagen und sehr besorgt sein würden, ist für mich eine kleine, gar nicht beachtenswerte Unpäßlichkeit, über die ich kein Wort verliere. Nun aber jetzt, da mir der erwähnte Gedanke gekommen war, that ich das, was ich bisher versäumt hatte: Ich nahm nicht Halef, sondern einmal auch mich selbst her, um mich auf mein Wohlbefinden hin zu untersuchen, und da - man lache nicht! - geschah das Unerwartete, daß das „alte, zahnlose Weib“ mir in die Ohren raunte, daß sie auch bei mir zu Gaste sei.

Der Gedanke an die Möglichkeit brachte die Erkenntnis der Wirklichkeit. Was ich bisher nicht beachtet, ja fast kaum empfunden hatte, das trat mir jetzt im Handumwenden deutlich ins Gefühl: Mein Kopf war eingenommen, meine Stimmung unlustig, mein Geist ermüdet und mein Körper nicht mehr von der gewohnten Beweglichkeit. Diese Entdeckung machte ich, und kaum hatte ich sie gemacht, so - - so - - - war es mir, als ob in diesem Augenblicke mein Stirnbein doppelt dick geworden sei und mir das Gehirn zusammendränge. Unsinn! Ich, und Kopfschmerzen haben! Geradezu lächerlich! Die reine Einbildung! Aber ich fühle ihn ja! Ist es erlaubt, an Autosuggestion zu glauben?

Ich nahm mich zusammen und gab meinem Pferde [200] ganz absichtslos die Sporen, daß es einen weiten Satz vorwärts that.

„Was ist's?“ fragte der Hadschi, indem er mir in das Gesicht sah. „Was haben deine Wangen für eine Farbe? Warum sind sie plötzlich eingefallen? Bist du krank?“

„Fällt mir nicht ein!“ lachte ich, ohne aber dabei wirklich heiter zu sein.

„Du, verbirg mir nichts! Meine alte Frau hat dich gegrüßt! Das wäre grad das, was uns noch fehlt! Mir ist so heiß, so heiß und so innerlich angst. Ich habe Sehnsucht nach der allergrößten Kälte, die es giebt. Vor meinen Augen drehen sich feurige Räder. Sihdi, wir müssen den Scheik fragen, ob es nicht vielleicht hier in der Nähe Wasser giebt.“

Er trieb sein Pferd an und ritt nach vorn. Ich folgte ihm. Noch ehe wir den Scheik erreicht hatten, rief er ihm zu:

„Nafar Ben Schuri, sag, ob es in dieser Gegend irgendwo Wasser giebt!“

„Zum Trinken?“

„Ja, auch! Aber noch viel mehr! So viel, daß man hineinspringen und sich baden kann.“

Da zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm rechter Hand nach vorn und sagte:

„Dort ragt ein Berg, ganz dunkel blaugrün. Da giebt es Wald, wahrscheinlich sogar Laub-, nicht Nadelwald. Kennst du ihn?“

„Ja“ antwortete der Scheik. „Seine Kuppe trägt Nadelbäume. Weiter unten aber folgen Mürwaran und Dischbudakan1) [1) Persische Erlen und Eschen.]. Wir kommen an seinem Fuße vorbei.“

[201] „Wo Mürwaran stehen, giebt es unbedingt fließendes Wasser!“

„Das giebt es allerdings dort. Es fließt in einen stehenden Weiher. Ich kenne ihn. Wir haben dort gefischt. In etwas über zwei Stunden werden wir ihn erreichen.“

„So spät?“ fragte Halef.

„Ja. Die Richtung durch die Luft ist nicht halb so weit; aber wir müssen zweimal tief in Thäler hinab und jenseits wieder hinauf. Der Teich liegt an der westlichen Seite des Berges.“

„Zwei Stunden warte ich nicht. Kommt uns nach! Wir reiten voraus. Du machst doch mit, Sihdi?“

Er berührte, ohne meine Antwort abzuwarten, die Flanken seines Rappen mit den Sporen. Da schoß das edle Tier mit ihm davon, als ob es von einem Bogen abgeschnellt worden sei. Mein Assil Ben Rih folgte augenblicklich, ohne einen Antrieb von mir abzuwarten. Er wußte, daß er mit Barkh zusammengehöre.

Es ging zunächst über ebenes Terrain, und da war es eine Wonne, so über dasselbe hinzufliegen, als ob die Hufe den Boden gar nicht berührten. Halef jauchzte auf. Ich ließ ihn voran. Das sollte seinen Ehrgeiz anspornen und seine Energie beleben. Vielleicht hielt er dann aus! Mit abgespanntem Geiste einen Weg von über zwei Stunden zurückzulegen, das hätte ihn vielleicht bis zur Niederlage ermattet. Darum rief ich ihm zu:

„Zähle nach, Hadschi, in wieviel Minuten ich dich einhole!“

Da warf er den Arm in die Luft und rief lachend:

„Nie, nie! Ich zähle nicht. Es wäre eine Ewigkeit!“

Er legte sich nach vorn. Der Luftzug riß ihm auf [202] der Brust den Burnus auf und schwellte ihn zum Ballon. Da zog er den Saum unter dem Sitz hervor, um ihn fliegen zu lassen. Es sah aus, als ob Roß und Reiter beschwingt seien. Der Boden der Erde schwand förmlich hinter uns. Ich schaute mich um. Die Dinarun hatten ihre Pferde angehalten, um uns erstaunt nachzublicken. Einen solchen Ritt hatten sie wohl noch nicht gesehen.

Schon nach kurzer Zeit war die Ebene zu Ende. Nun ging es im Galopp einen sanft ansteigenden Hang hinunter, quer über die Tiefe des Thales und drüben wieder hinauf. Es war eine wahre Wonne, Halef in dieser Weise so leicht, wie von aller Schwere befreit, dahinfliegen zu sehen. Bei so einem echten Beduinenritt haben beide, der Reiter und das Pferd, nur einen einzigen Willen und eine einzige Ehre!

Der jenseitige Abfall der Höhe war steiler. Es lagen da Felsenbrocken wie ausgesät, und zwischen ihnen standen vereinzelte Koniferen. Halef mußte da den Rappen zügeln; ich den meinen auch. Mein Assil war ein besserer Kletterer als Barkh. Das edle Tier wollte nicht zurückbleiben, sondern das andere unbedingt einholen; aber sooft wir fast herangekommen waren, ging Halef mir wieder davon. Unten angekommen, griffen die Pferde ganz von selbst wieder in der früheren Weise aus. Mein Assil ließ jenen tiefen, gutturalen Ton hören, welcher ein Zeichen der Ungeduld war. Er ärgerte sich, daß ich ihn zurückhielt. Da gab ich ihm die Zügel frei, richtete mich in den Bügeln auf, um mein Gewicht zu erleichtern, und rief das Wörtchen jallah aus, welches soviel wie „vorwärts“ bedeutet. Das herrliche Geschöpf warf, vor Freude laut wiehernd, den Kopf in die Höhe, ließ ihn wieder sinken, und nun, aber nun war zu sehen, was so ein echtes Vollblut zu leisten vermag, aus freiem [203] Willen, ohne von dem Reiter angetrieben zu werden, und nur aus reinem Ehrgefühl. Es mag Leute geben, für welche dieses Wort zu hoch gegriffen ist. Sie mögen sich ein anderes suchen. Der wahre Tierfreund aber weiß, woran er ist!

Die Folge dieses plötzlichen Anlaufes war, daß ich Halef überholte. Da ließ er jenen lauten, scharfen Ton erschallen, welcher sich aus dem „a“ und dem „ch“ zusammensetzt. Der Reiter treibt mit ihm sein Tier zur Eile an, und nur eine arabische Kehle ist im stande, ihn richtig hervorzubringen. Da legte sich Barkh nun wieder in das Zeug, um Assil einzuholen. Ich hatte gar nicht die Absicht, voranzubleiben, sondern ich wollte, daß Halef den Weiher vor mir erreichen sollte. Aber damit war mein Pferd nicht einverstanden. Als ich die Zügel straffer nahm, begann es, zornig zu schnauben. Ich konnte mich durch eine falsche Behandlung um sein Vertrauen, um seine Hingebung bringen; darum hielt ich es für besser, ihm seinen Willen zu lassen.

Als wir auf der zweiten Höhe ankamen, hatte der Hadschi mich wieder eingeholt. Sein Gesicht strahlte. Körper, Geist und Seele waren bei ihm in gleicher Spannung. Das war es ja, was ich gewollt hatte!

„Sihdi, gieb jetzt zu, daß ich dich besiege!“ rief er mir zu.

„Nein!“ antwortete ich.

„So paß auf!“

„Du willst doch nicht etwa das „Geheimnis“ anwenden?“

„Nein. Das thun wir ja nur in größter Not. Aber paß auf, ich siege doch!“

Er bog sich so weit wie möglich nach vorn nieder, um in aneiferndem Tone auf das Pferd einzusprechen:

[204] „Rascher, rascher, mein Freund! Zeige nun deine Eilfertigkeit, du Edler! Erweise mir die Liebe, schneller zu sein, du liebster aller Lieblinge! Ich bin stolz auf dich! Dein Wert ist unvergleichlich, du größter meiner Schätze! Willst du zugeben, daß ich mich vor dem Sihdi da neben uns zu schämen habe? Du weißt, daß mein Ruhm auch dein Ruhm und deine Schande auch meine Schande ist. Erhöre mich! Meine Liebe wird dir deinen Eifer lohnen. Lauf, o, lauf! Flieg, o, flieg, du meine Freude, meine Wonne, meine Lust! Ich gebe dir eine ganze Handvoll Datteln; die besten, die aller-, allerbesten, die ich habe, die suche ich dir aus! Denke doch, denke doch: Datteln, Datteln, Datteln!“

Das Pferd verstand natürlich nicht den Sinn der Worte, aber die Bedeutung derselben. Das Wort Tamr, Datteln, aber war ihm wohlbekannt. Es senkte den Kopf tiefer und griff noch schärfer aus als bisher. Die Folge war, daß wir genau nebeneinander blieben.

Unser Ritt war ein so schneller, daß der Berg, der unser Ziel war, in hoch emporstrebender Bewegung zu sein schien. Auch seine Breite gewann mit jedem Augenblick. Bald trennte uns nur noch eine muldenähnliche, grasige Bodensenkung von ihm. Es ging ventre-à-terre über dieses Gras. Da, rechts, floß Wasser von der Höhe. Saftiges Gebüsch bezeichnete seinen Lauf, bis, zwischen den Stämmen hoher Erlen und Eschen hervor, der Spiegel des Weihers uns entgegenglänzte.

„Wasser, Wasser, Wasser! Endlich, endlich!“ rief Halef aus.

Er gab seinem Rappen heimlich den Sporn der von mir abgelegenen Seite. Ich merkte das gar wohl an der Bewegung seines Pferdes, sagte aber nichts. Dieser kleine, etwas unehrliche Kniff mochte ihm immerhin gelingen. [205] Barkh schoß infolge desselben mit einemmal vor, und ohne daß mein Assil diesen schnell entstandenen Vorsprung einzuholen vermochte, waren wir am Ziele angelangt. Halef natürlich zuerst. Er wendete sein Pferd herum und fragte:

„Nun, Sihdi, wer ist Sieger?“

„Du!“ antwortete ich.

„Aber du lächelst ja!“

„Ist die Schande, von dir besiegt worden zu sein, so groß, daß ich weinen soll?“

„Du, Sihdi, verbirg dich nicht! Ich verstehe dieses Lächeln. Ich habe Barkh angetrieben; du aber hast Assil zurückgehalten. Gestehe es! Sei aufrichtig! Thatest du es?“

„Ja,“ antwortete ich. Ich konnte es ehrlich sagen, weil ich meinen Zweck, Halef in Spannung zu halten, doch erreicht hatte.

„Also, ich wäre unterlegen, wenn du gewollt hättest?“

„Ja. Ich sage dir das so offen, weil es eine Ehre, ein großes Lob für dich ist.“

„Wieso?“

„Barkh stammt nicht von einem eurer Pferde. Assil ist ihm über, weil er bei euch geboren und von dir erzogen worden ist. Er ist unvergleichlich, weil Rih, sein Vater, unvergleichlich war.“

„Das ist richtig. Deine Worte machen mich stolz, Sihdi. Ich war nicht ehrlich gegen dich. Du sprachst kein Wort zu deinem Hengste; ich aber habe dem meinen zuletzt den Sporn gegeben. Verzeihe mir!“

Wir waren, während wir diese Worte wechselten, abgestiegen. Wie standen unsere Pferde da! Still, als hätten sie sich schon stundenlang hier befunden. Ihr Atem ging ruhig. Es gab keine einzige Flocke Schaum [206] und keine einzige schweißesnasse Stelle ihrer Haut. Wir liebkosten sie. Da faßte Barkh mit den Zähnen Halefs Aermel und ließ ihn nicht wieder los.

„Weißt du, was er will?“ lachte der Hadschi.

„Die versprochenen Datteln.“

„Ja. Der Mensch hat auch seinen Tieren Wort zu halten.“

Er öffnete den Futtersack und that genau das, was er versprochen hatte: Er suchte eine Handvoll der besten Datteln aus und gab sie dem gedächtnisstarken Mahner. Hierauf sattelten wir die Pferde ab, worauf sie ohne unser Zuthun augenblicklich in das Wasser gingen, bei in der Wüste geborenen Pferden eine Seltenheit!

Die An- oder Aufregung war mit dem Ritte vorüber. Die Spannkraft ließ bei Halef schnell und sichtlich nach. Als er nach dem Einflusse des Baches ging, um von dem dort noch klaren und lebendigen Wasser zu trinken, sah ich, daß seine Schritte unsicher waren. Mich selbst überkam ein eigentümliches Gefühl. Es war mir, als ob ich von ebenso unsichtbaren wie unfühlbaren Händen langsam emporgehoben und dann in das Gras gelegt würde. Ich mußte mich setzen. Da begannen die Erlen um mich herum zu tanzen. Mein Kopf kam mir wie eine hohle Kugel vor, die immer größer und leerer wurde. Ich schloß die Augen. Sonderbar: Ich hörte mit den von ihm doch so entfernten beiden Ohren ganz deutlich das Klopfen meines Herzens. Jemand ergriff meine Hand.

„Sihdi, Sihdi, was ist mit dir? Die Haut deines Gesichtes sieht wie Erde aus! Warum hast du die Augen zu?“

Es kostete Mühe, sie zu öffnen. Halef stand gebückt vor mir. Aus seinem Blicke sprach die Angst, die auch [207] in seiner Stimme klang. Das half. Ich sprang auf und antwortete:

„Es war ein Tanz der Bäume um mich her, den ich vorüberlassen wollte.“

„Ganz wie jetzt oft bei mir! Die Gegend, durch welche wir kamen, drehte sich im Kreise; der Kopf schmerzte, und alle Eingeweide meines Innern wollten sich empören. Es hat mich alle meine Kraft gekostet, dir das zu verbergen und mich aufrecht zu halten. Allah verderbe dieses alte Weib! Kann sie sich nicht mit mir zufrieden geben? Bin ich ihr nicht genug, ich, der berühmte Scheik der Haddedihn, dem Tausende von tapferen Kriegern gehorchen? Muß sie ihre unbeschnittenen Fingernägel auch nach dir ausstrecken? Sie allein ist schuld, daß alles um uns tanzt! Wenn ich sie doch sehen und fassen könnte! Es sollte ihr vergehen, mit solchen Männern sich derartige Scherze zu erlauben. Komm und trink Wasser! Das kühlt das Blut und ärgert dieses Weib!“

Er behielt meine Hand zärtlich in der seinen und führte mich dorthin, wo er getrunken hatte. Er, der Kranke, leitete mich! Was sollte daraus werden! Es galt, mich zusammenzunehmen! Ich trank, trank und trank in langen Zügen. Ich fühlte förmlich die kühle Woge, die dabei langsam und kräftigend durch meinen Körper und meine Glieder ging. Als ich mich dann aufrichtete, war mein Auge wieder klar.

„Und nun komm, wir müssen baden,“ forderte mich Halef auf. „Aber ja nicht entfernt voneinander. Wir haben beisammen zu bleiben, damit wir einander helfen können, falls auch das Wasser um uns tanzen sollte.“

Eine hierzu geeignete Stelle war bald gefunden. Ich stieg zuerst in die für uns jedenfalls außerordentlich wohlthätige Flut. Sie war am Rande seicht, wurde [208] aber bald sehr tief. Ich schwamm hinaus. Das war nach dem kaum vorübergegangenen Schwindelanfalle vielleicht eine Unvorsichtigkeit, aber ich nahm an, daß diese Bewegung mir nützlich sein werde. Jedoch nicht lange, so kehrte ich um. Ein Luftzug kräuselte die Oberfläche des Wassers, und dieses Kribbeln und Krabbeln und Flimmern und Funkeln ging mir durch das Auge ins Gehirn. Ich fühlte mich unsicher.

Als ich wieder Grund gewann, mußte ich nach Halef suchen. War er denn noch nicht im Wasser? Da wurde ich durch eine Bewegung aufmerksam gemacht. Ich näherte mich der betreffenden Stelle. Da lag er, lang ausgestreckt, den Kopf hintenüber gebeugt, so daß nur Mund und Nase außerhalb des Wassers waren. Diese Situation war eine spaßhafte; aber das Lachen verging mir, als ich vollends herankam und den Körper sah. Der ganze Leib war voller Flecken, die eine livid-dunkle Färbung hatten.

Typhus! Wirklich und wahrhaftig Typhus!

War es denn eine Menschenmöglichkeit, daß sich jemand bis zu diesem vorgeschrittenen Stadium der Krankheit aufrecht halten und zuletzt sogar noch einen solchen Parforceritt mitmachen konnte?! Ein Kind der sogenannten „Zivilisation“ hätte das gewiß nicht fertig gebracht! Nur der durch und durch kerngesunde, abgehärtete Körper des enthaltsamen Nomaden, der die Laster und entnervenden Genüsse der „höher stehenden“ Intelligenz nicht kennt, kann eine solche Gegenkraft und Widerstandsfähigkeit zeigen. Neben diesen körperlichen Eigenschaften hatten auch die seelischen des kleinen Hadschi das Ihrige dazu beigetragen, daß er nicht schon längst zusammengebrochen war. Vielleicht hatten auch rein geopraphische Faktoren mitgewirkt. Aber mochte das sein, [209] wie es wollte, die Thatsache war jetzt da. Sie lag vor meinen Augen da im Wasser, bedeckt mit Petechien, deren vorher scharfe Ränder schon begannen, ineinander überzugehen. Als ich das sah, that mein Kopf mir plötzlich weh, und es ging, mich schüttelnd, ein Frost durch meine Glieder. Da kam Halefs Kopf schnell ganz nach oben.

„Du frierst, Sihdi? Ich sehe es!“ sagte er. „Geh du ans Land! Ich werde noch liegen bleiben.“

„Das ist schon vorüber,“ antwortete ich. „Aber, Freund, wie siehst du aus?“

„Gefleckt wie ein Leopard! Nicht wahr? Aber, aber - - was sehe ich da?“

Er erhob sich ganz, zeigte auf meine Brust und fuhr fort:

„Da ist es auch bei dir! Genau so hat es bei mir angefangen!“

Ich schaute an mir hernieder. Was ich vorher noch nicht bemerkt hatte, das sah ich jetzt: auch ich hatte Flecken, allerdings noch klein. Sie lagen unterhalb der Schlüsselbeine.

„Bist du erschrocken?“ fragte der Hadschi. „Warum schweigst du? Warum sagst du nichts? Ist es eine Krankheit? Eine schwere oder eine leichte? Kennst du sie?“

„Ich kenne sie, Halef,“ antwortete ich. „Und damit du keine Fehler machst, muß ich aufrichtig mit dir sein. Sie ist fast ebenso gefährlich und langwierig wie die Pest, welche uns damals dem Tode nahe brachte. Von zehn Kranken sterben zwei - -“

„Aber warum sollen grad wir diese beiden sein?“ unterbrach er mich. „Es mögen nur erst noch die acht anderen kommen! Eher mitzurechnen, fällt mir gar nicht ein!“

„Auch ich hoffe, daß wir dem Schlimmsten entgehen. [210] Wir sind beide in Beziehung auf unsere Gesundheit keine Durchschnittsmenschen; also können die von mir erwähnten Ziffern nicht für uns gelten. Glücklicherweise bin ich im Besitze der besten Gegenmittel, Kampher und Chinin. Kalte Bäder müssen wir haben. Wenn es mir in den Sinn kommt, bleiben wir gleich hier. Unser Leben muß uns ebenso teuer sein, wie die Pflicht der Gastlichkeit. Aber wo nehmen wir die Pflege her, die uns so nötig ist?“

„Daher, von wo sie uns damals gekommen ist, vom Himmel Allahs, der uns nie vergessen hat und nie vergessen wird. Mein guter, mein lieber Sihdi, denke doch daran, daß wir auch damals keinen Menschen hatten, der sich unser annehmen konnte. Wir lagen in der größten Einsamkeit, unter uns die pesthauchende Erde, doch über uns das große, lichte Zelt, von welchem alle Engel auf uns niederschauten. Sie kamen mir im Traume, und auch im Wachen dachte ich an sie. Sind wir nicht gesund geworden ohne alle andere als allein nur ihre Hilfe?“

„Ja, du Wackerer, du Treuer! Sie haben uns gepflegt, erst dich durch meine und dann mich durch deine Hand, obgleich diese unsere Hände so schwach, so hager, so elend waren.“

„So werden sie es jetzt auch wieder thun! Oder glaubst du das nicht?“

„Ich glaube es. Aber damals wurde ich erst dann von der Pest ergriffen, als du bereits wieder am Gesunden warst. Jetzt jedoch werden wir wahrscheinlich zu gleicher Zeit - -“

„Zu gleicher Zeit?“ unterbrach er mich. „Fällt uns gar nicht ein! Wenn dieses alte Weib etwa denkt, daß alles genau so zu gehen hat, wie sie es will, da irrt [211] sie sich! Wir haben doch auch unsern Willen! Und den setzen wir durch! Es kommt mir gar nicht in den Sinn, daß wir miteinander krank werden! Wenn wir es nicht nacheinander werden können, so werden wir es lieber gar nicht! So lange der eine krank ist und der Pflege bedarf, hat der andere gesund zu bleiben! Der Anfang hierzu ist ja schon ganz richtig eingetreten! Diese Flecken haben sich bei mir eher eingestellt als bei dir. Die Höhe der Krankheit wird also nicht zu gleicher Zeit eintreten. Vor dieser Höhe aber lege ich mich nicht nieder! Ehe es mich nicht mit tausend Armen packt, habe ich den Dinarun Wort zu halten.“

„Halef - - -!“

„Sihdi - - -! Ich weiß, was du sagen willst. Morgen aber werden wir im ‚Thale des Sackes‘ sein, und wir sind nicht derart krank, daß wir hier liegen bleiben müssen. Uebermorgen ist der Kampf vorbei, und dann werde ich ohne Widerstreben thun, was du bestimmst. Bleiben wir hier zurück, so ziehen die Dinarun nicht als unsere Freunde, sondern als unsere Feinde weiter und kommen, sobald wir hilflos sind, zurück, um sich zu rächen. Hilflos! Das war ja das Wort des Scheiks. Lassen wir es nicht zur Wahrheit werden, Sihdi!“

Dieser Beweis hatte Hand und Fuß. Wie freute ich mich darüber, daß seine Denkkraft sich noch so scharf erwies! War das dem Einflusse des kalten Bades zuzuschreiben? Ich legte mich zu ihm, denn auch ich empfand, daß das Wasser wohlthätig auf mich wirkte. Unsere Pferde weideten draußen im saftigen Grase, ein lange entbehrter Genuß für sie. Die Schatten der hohen Eschen deckten uns so, daß uns der heiße Strahl der Sonne nicht belästigen konnte. Wir fragten nicht danach, ob ein zu langes Verweilen im Wasser uns schaden könne, [212] und verließen es erst dann, als wir anzunehmen hatten, daß die Dinarun nun bald eintreffen würden. Als sie sich hierauf einstellten, standen wir schon zur Fortsetzung des Weges bereit.

Natürlich aber hielten nun auch sie erst Rast, auf welche jedoch nur eine halbe Stunde verwendet wurde. Dann ging es weiter, wobei wir uns, wie vorher, am Ende des Zuges hielten.

Es war während dieses Aufenthaltes der Dinarun am Deiche zwischen uns und dem Scheik kein Wort gesprochen worden. Für seine Leute hatten wir freundliche Augen und höfliches Benehmen, aber auch keine Reden gehabt. Das höchst fatale Wort „Mißtrauen“ verschloß ihm und uns den Mund.

Wir bemerkten mit Genugthuung, daß wir uns jetzt in einer wasser- und darum wald- und weidereicheren Höhenzone befanden. Das war ein Umstand, der uns Beruhigung gewährte. Uebrigens schien die Wirkung des Bades auf uns eine ganz verschiedene zu sein. Ich fühlte mich gekräftigt, während Halef mir mitteilte, daß er sehr ermüdet sei. Er war kalte Bäder nicht gewohnt, und das heutige hatte wohl eine zu lange Dauer für ihn gehabt.

Später sah ich, daß er sich schüttelte. Die Sonne schien noch warm auf uns nieder, und darum nahm ich an, daß diese seine Bewegung eine rein zufällige sei. Als sie sich aber wiederholte, gestand er mir auf meine Frage, daß er von einem inneren Frost geschüttelt werde, und bat mich wieder um Chinin. Ich hielt es für geraten, ihm dieses Mittel jetzt vorzuenthalten und schlug ihm eine Wiederholung unseres Wettrennens vor. Sofort richtete er sich munter im Sattel auf und sagte:

„Ich bin mit Freuden einverstanden, Sihdi. Aber ich mache eine Bedingung.“

[213] „Welche?“

„Daß wir die Pferde wechseln!“

Welch ein kleiner Schlaumüller! Ich erklärte mich selbstverständlich bereit dazu und gab ihm meinen Assil, während ich seinen Barkh bekam. Am liebsten hätten wir auf diesem Ritte den Weg eingeschlagen, den wir überhaupt zu nehmen hatten, wären da aber zu Fragen an den Scheik gezwungen gewesen, der mit uns schmollte. Wir beschlossen also, eine andere Richtung zu nehmen, und zwar rund um einen Berg, welcher zur Linken vor uns lag. Wir mußten, wenn wir ihn umritten hatten, wieder auf die Dinarun, und wenn nicht auf sie selbst, so doch auf ihre Spuren stoßen. Wir riefen also Nafar Ben Schuri zu, was wir beabsichtigten, und wollten schon die Pferde antreiben, da antwortete er:

„Bleibt doch hier! Dort, jenseits des von euch erwähnten Berges, liegt ja der Kreuzungspunkt, auf welchem meine Krieger auf uns warten.“

„Das ist für uns kein Grund, uns in eure Langsamkeit zu fügen. Ihr kennt ja nun die Schnelligkeit unserer Pferde. Wahrscheinlich sind wir eher dort als ihr.“

„Aber ihr kommt gewiß?“

„Ja.“

„Schwöre es mir!“

„Was fällt dir ein! Einen Schwur giebt es selbst für viel wichtigere Dinge bei uns nicht. Du hast mein Wort, und das muß dir genügen!“

Nun ritten wir fort, aber zunächst langsam, denn Halef hatte eine Mitteilung auf seinem Herzen:

„Er ist mißtrauisch, Sihdi.“

„Und beleidigend,“ fügte ich hinzu.

[214] „Ja, es war eine Beleidigung, einen Schwur zu verlangen. Wir müssen ihm von großem Werte sein.“

„Das scheint freilich so!“

„Hast du eine Ahnung, warum?“

„Ja.“

„Welche?“

„Es ist eben nur eine Ahnung, das heißt, etwas Unklares. Von Wert sind wir ihm als Helfer gegen die Dschamikun. Er weiß, daß er sich auf unsere Erfahrung und auf unsere Fertigkeit im Schießen mehr verlassen kann, als auf sich selbst und alle seine Leute. Das hat er uns ja schon gesagt, ohne es eigentlich sagen zu wollen. Aber diese Betrachtung genügt mir nicht, verschiedenes zu erklären, was mir aufgefallen ist.“

„Was?“

„Er trachtet so auffallend und eifrig darnach, die Geheimnisse unserer Waffen und unserer Pferde kennen zu lernen. Warum? Diese Geheimnisse haben doch nur für den Besitzer Wert. Hat er etwa die Absicht, unser Eigentum an sich zu reißen?“

„Sihdi!“ rief Halef überrascht.

„Ist er etwa unser Feind, der nach den Pferden und Gewehren trachtet, die ihm aber ohne vorherige Aufklärung unnütz sind? Und giebt er nur deshalb vor, unser Freund zu sein, weil er auf diesem Wege die Geheimnisse zu erfahren hofft? Wird er dann, sobald er sie kennt, uns sein richtiges Gesicht zeigen - - das Gesicht eines Räubers und Mörders?“

„Sihdi! Kann ein Mensch von so bodenloser Schlechtigkeit sein?“

„Das fragst du und hast doch schon solche Menschen kennen gelernt!“

[215] „Wie thöricht wäre ich gewesen, wenn du recht hättest!“

„Tröste dich! Auch ich habe keineswegs klug gehandelt. Wir haben die größte Vorsicht zu beobachten. Das ist um so schlimmer für uns, als wir von der Krankheit jeden Augenblick niedergeworfen werden können.“

„Du, Sihdi, die Krankheit ist nun bei mir Nebensache! Seit du deine Befürchtung ausgesprochen hast, giebt es für mich nicht eher Zeit, krank zu sein, als bis wir wissen, woran wir mit diesem Nafar Ben Schuri sind. Ist jetzt noch etwas zu besprechen?“

„Nein.“

„So wollen wir beginnen. Zu gleicher Zeit. Paß auf! Eins - - zwei - - - drei!“

Bei „drei“ begann die Jagd nach der Ehre, welche, wie ich wollte, dem Scheik der Haddedihn zufallen sollte. Leider sollte sie ihm nicht vergönnt sein, aber auch mir nicht. Es wurde eine ganz andere Jagd daraus.

Wir hatten uns von den Dinarun auf einem Plateau getrennt, von welchem wir hinunterritten, um an den Fuß des Berges zu gelangen, den wir halb umkreisen mußten. Unten angekommen, sahen wir, daß sich das Terrain zunächst so sehr verengte, daß wir gezwungen waren, langsam zu reiten. Wir hatten uns vorsichtig durch ein fast unzugängliches Felsengewirr zu winden, wo es aber doch Spuren davon gab, daß zuweilen Menschen hier vorüberzukommen pflegten. Diese Enge trat dann mit einem Male weit auseinander, um sich in das Thal zu öffnen, dem wir rund um den Berg zu folgen hatten. Grad als wir aus ihr hervor wollten, tauchten kaum zwanzig Schritte entfernt zwei Reiter vor uns auf, welche da hineintrachteten, wo wir herauskamen. Und wer waren sie?

[216] Sallab, der Fakir! Er ritt eine braune Stute, die sichtlich ein Pferd allererster Rasse war, jedenfalls „Sahm“, dem Ustad angehörig. Sein Begleiter, ein jüngerer Mann, sichtlich auch ein Fakir und ebenso unbewaffnet wie Sallab, saß auf einem dunkeln, halbedlen Hengste. Beide erschraken, als sie uns erblickten.

„Die Dschamikun [Dinarun]!“ rief Sallab aus.

„Nein, nur wir!“ antwortete ich.

„Ihr beide allein?“

„Ja.“

„Das glaube euch der Scheitan! Komm! Zurück, zurück!“

Er wendete sein Pferd und jagte fort. Der andere folgte ihm.

„Sihdi, was ist - - -“ rief Halef.

„Still! Kein unnützes Wort!“ unterbrach ich ihn. „Diese beiden Fukara1) [1) Plural von Fakir.] sind die Schlüssel zum Rätsel, welches zu lösen ist. Wir müssen sie unbedingt haben!“

„Auch mit Gewalt?“

„Ja, wenn sie sich wehren! Nimm du den andern; ich fasse Sallab. Aber seine Stute ist pfeilschnell. Gieb mir meinen Assil! Jeder sein Pferd, welches er kennt. Rasch, rasch!“

Wir sprangen ab und wechselten die Tiere. Dann ging es vorwärts, hinter den Fliehenden her.

„Nimm dich in acht!“ rief ich Halef noch zu. „Sie könnten doch verborgene Waffen bei sich führen!“

„Keine Sorge, Sihdi! Hamdulillah! Endlich, endlich einmal eine Hetze, eine wirkliche, wahrhafte Hetze! Wohlan! Jallah, jallah, jallah!“

Das Umtauschen unserer Pferde hatte keine Minute [217] in Anspruch genommen, dennoch waren die Fukara schon weit von uns entfernt; Sallab ritt voran. Wie die Sache lag, durfte ich mich auf keine lange Jagd einlassen. Da der Kreuzungspunkt jenseits des Berges lag, konnten die Dschamikun in der Nähe sein. Wir mußten die Flüchtlinge also so bald wie möglich fassen.

„Assil - - Assil! Ramchchchchch, ramchchchchch!“

Das war die Aufforderung zum schnellsten Galopp. Ich streichelte ihm den Hals. Er flog. Die Vorderhufe berührten noch den Boden, so griffen die hinteren schon vor. Es war eine Lust, dieses Gefühl, als ob man nur den freischwebenden Sattel und gar kein sich bewegendes Tier unter sich habe! Ich kam den beiden Fukara schnell näher. Da sah Sallab sich um. Ich hörte, daß er einen Schrei ausstieß. Er trieb sein Pferd an; es vergrößerte die bisherige Schnelligkeit. Der andere schlug auf das seine ein, blieb aber zurück. Nach kurzer Zeit hatte ich ihn erreicht. Indem ich an ihm vorüberflog, that ich das so nahe, daß ich ihn erreichen konnte. Er saß halb nach vorn gebeugt. Ich stieß ihm die Faust in die Seite. Die Kraft meines Stoßes wurde durch Assils ungemeine Schnelligkeit verdoppelt. Der Fakir flog aus dem Sattel, und hinter mir erscholl die Stimme Halefs:

„Ich ergreife ihn! Ich halte ihn! Ich bringe ihn. Schau nur noch nach dem andern, Sihdi!“

Ich sah gar nicht nach dem Hadschi zurück, denn ich wußte ja, daß er thun werde, was ich erwartete. Aber Sallab schaute sich wieder um, und da er mich in solcher Nähe hinter sich sah, mußte er erkennen, daß ich ihn in einer Minute eingeholt haben werde. Ich behielt ihn scharf im Auge und sah, daß er dreimal mit beiden Händen auf beide Halsseiten seines Pferdes schlug und [218] dabei ein Wort ausrief, welches ich nicht verstehen konnte.

Sollte dies das Geheimnis der Stute sein? War dieser Fakir ein solcher Freund und Vertrauter des Ustad, daß dieser es ihm mitgeteilt hatte? Meine Frage wurde sofort beantwortet: Die Stute lief nicht mehr, sondern sie raste! Es war das Geheimnis gewesen. Kaum hatte er es gegeben, so war seine Entfernung von mir schon verdoppelt. Ich mußte also auch das meinige anwenden. Indem ich mich weit vorbog, legte ich Assil die Hand zwischen die Ohren und sagte dreimal seinen Namen. Dieses Zeichen war gewählt worden, weil es sehr schwer auszuführen ist. Nur ein Reiter, welcher eines arabischen Renners würdig ist, wird es fertig bringen, im schärfsten Galoppe die Ohren seines Pferdes mit der Hand zu erreichen.

Die Wirkung war eine großartige. Zunächst schien es für einen Moment, als ob Assil haltenbleiben wolle. Es ging wie ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Dann ließ er ein tiefes, schnaubendes Stöhnen hören, ein Stöhnen dankbarer Willensfreudigkeit. Und aber nun - - - nun kam es mir vor, als ob die Beine nicht mehr zu sehen seien, so unglaublich schnell bewegten sie sich. Die Büsche und Bäume flogen förmlich an mir vorüber. Der Boden des Thales kam wie auf einer sich drehenden Walze auf mich zugeflossen, um hinter mir zu verschwinden. Die stehende Luft des Thales wurde in blasenden Wind verwandelt. Meine Bewegung glich nicht mehr einem Ritte, sondern einem horizontalen Fallen. Ich konnte nicht anders: ich jauchzte auf, worauf Assil schnaubend frohe Antwort gab.

Das war ein ganz anderes Wettreiten, als ich mit Halef beabsichtigt hatte! Die berühmte, pfeilschnelle Stute [219] des Ustad und das beste Blut der Haddedihn im Kampfe gegen einander! Nicht im Scherz, sondern im Ernste! Beide mit geöffneten Geheimnissen und sich anstrengend, ihr Bestes, ihr Alles herzugeben! Wer wird siegen?

Diese Frage blieb mir höchstens eine Viertelminute lang eine Frage. Sie verwandelte sich in die Antwort, als ich sah, daß das Geheimnis die Stute aufgeregt hatte. Das Spiel ihrer Glieder war von wunderbarer Leichtigkeit, aber nicht regelmäßig. Sie zeigte bald die rechte, bald die linke Flanke. Bald sah ich ihren Kopf auf dieser, bald auf jener Seite. Schon nach kurzer Zeit kam es mir vor, als ob sie sich nicht immer gleich, sondern in bemerkbaren Pulsen vorwärts bewege. Wahrscheinlich hatte man sie seit langem nicht mehr geübt, im Geheimnisse zu rennen, und darum wurde ihr nun jetzt die Lunge kurz und schwer. Dazu kam, daß der Reiter kein Mann für ein Pferd dieser Gattung war. Ob man überhaupt gewohnt ist, einen Fakir reiten zu sehen, mag hier Nebensache sein. Mit Sallab mußte es in dieser Beziehung eine ganz besondere Bewandtnis haben. Aber er saß jetzt während des Geheimnisses nicht anders als bei einem ganz gewöhnlichen Galopp im Sattel. Ich vermutete, daß er seine eigne Lunge nicht zu regulieren und dem Pferde überhaupt keine Erleichterung zu geben wisse. Eine innere Fühlung zwischen ihm und dem Tiere gab es nicht, denn ich sah, daß er, um Steinen und anderen Hindernissen auszuweichen, die Zügel zu Hilfe nahm. Das thut man doch nicht, wenn die Energie des Reiters mit der seines Pferdes in guter, innerlicher Verbindung steht!

Wie wunderbar glatt und gleich ließ dagegen Assil seine Kräfte spielen. Das war es ja: es glich einem Spiele, keiner Anstrengung. Es war, als ob er nicht [220] mehr Körper, sondern nur noch Willen sei. Er ging über Löcher und Steine hinweg, oder er vermied sie, ohne daß seine Rückenlinie sich dabei zu heben oder zu senken schien. Der Schlag seiner Hufe wettete an Regelmäßigkeit mit dem Ticken einer Uhr. Die Mitte seiner Stirn wich keinen Augenblick lang und keinen Zoll breit von der Gesamtrichtung seines Körpers ab. Von seinem Atem war kein Hauch zu spüren. Die Schnelligkeit, von der ich vorhin sprach, war nicht mehr da; an ihre Stelle war die Unbegreiflichkeit getreten.

So kam ich dem Fakir näher und immer näher. Er drehte sich immer öfter um und begann, das Pferd zu schlagen. Ich war kaum zehn Längen hinter ihm, als er die Unvorsichtigkeit beging, es auch noch mit den Füßen zu bearbeiten.

„Halt ein!“ rief ich ihm zu. „Im Geheimnisse schlägt und stößt man nie ein Pferd!“

Kaum hatte ich dies gesagt, so bewahrheitete es sich. Die Stute gab ihre Windeseile auf, fiel in Galopp, that einen Seitensprung, einen zweiten wieder zurück, und - - - der Fakir flog aus dem Sattel! Ich schoß sofort weit über ihn hinaus, gab aber schnell das Zeichen und nahm mit dem Zurufe Andak!1) [1) Halt!] das Geheimnis wieder zurück. Fast noch im Fluge ging Assil einen Bogen, fiel dabei durch Galopp und Trab in Schritt und blieb da stehen, wo der Fakir von der Erde aufstand und sich prüfte, ob und wo er vielleicht Schaden genommen habe.

„Warum bist du vor uns geflohen?“ fragte ich ihn, indem ich abstieg.

„Sihdi, dein Pferd ist kein Pferd, sondern ein Dschinni2) [2) Geist, überirdisches Wesen.]!“ antwortete er.

[221] „Ich habe dich nicht nach meinem Pferde gefragt! Bist du verletzt?“

„Nein. Allah sei Dank!“

„So hole Sahm herbei!“

„Sahm?“ fragte er erstaunt. „Du kennst den Namen dieser Stute?“

„Ich weiß noch mehr, mehr als du denkst. Aber eins weiß ich nicht und kann es nicht begreifen: Warum bist du vor uns erschrocken und hast die Flucht ergriffen?“

„Weil - - weil - -“

Er sprach nicht weiter, sah mir forschend ins Gesicht und senkte dann den Kopf.

Da trat ich nahe zu ihm hin und sagte:

„Du scheinst früher von dem Scheik der Haddedihn und mir gehört zu haben?“

„Ja.“

„Gutes oder Böses?“

„Nur Gutes.“

„Und hältst uns doch für schlimme Menschen?“

„Nein.“

„Doch! Denn gute Menschen flieht man nicht!“

„So lange sie gut sind, ja!“

„Sind wir es etwa nicht mehr?“

„Ist der Mensch noch gut, wenn er sich in den Dienst der Bösen stellt?“

„Meinst du die Dinarun?“

„Ja.“

„Wir stehen nicht in ihrem Dienste!“

„Aber in ihrer Freundschaft. Und die Freundschaft solcher Leute macht den besten Ruhm zunichte.“

„Deine Worte klingen mir unverständlich; aber sie haben große Aehnlichkeit mit der Warnung, die mir meine Ahnung gab. Vor allen Dingen muß ich dir [222] sagen, daß wir nie beabsichtigt haben, die Freunde böser Menschen zu sein - - -“

Ich wurde unterbrochen, weil Halef kam. Er ritt neben dem andern Fakir. Beide unterhielten sich, als ob sie sich im herzlichsten Einverständnisse miteinander befänden. Sobald er mich erblickte, rief er mir zu:

„Assil hat gesiegt?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Ich wußte es! Warte, was ich dir zu sagen habe, Sihdi! Es ist von größter Wichtigkeit.“

Er trieb seinen Barkh an, sprang, als er uns erreicht hatte, ab und fuhr eifrig fort:

„Hier werden wir uns niedersetzen, um Beratung zu halten. Weißt du, Sihdi, wer und was unsere Dinarun sind?“

„Nun?“

„Wir sind dumm gewesen, ganz unendlich dumm! Sie sind gar keine Dinarun, sondern Ausgestoßene, Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt. Jeder Mensch, der ein Verbrechen, eine schlechte That begangen und sich mit Schande beladen hat, geht zu ihnen, um sich ihnen anzuschließen. Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen. O, Sihdi, wir haben diesen Leuten ein Vertrauen geschenkt, welches sie gar nicht verdienen. Du bist zwar ein ganz klein wenig klüger gewesen als ich, aber sehr viel trägt das auch nicht aus. Ich möchte dir eine Ohrfeige geben, mir selbst aber zehn oder zwanzig oder auch fünfzig. Aber weil ich dich viel zu sehr achte und liebe, als daß ich sie dir wirklich geben könnte, so muß ich natürlich auch auf meine fünfzig verzichten!“

Sein Aerger war sehr echt, denn ohne diese Echtheit wäre es ihm, der so viel auf seine persönliche Ehre hielt, [223] gar nicht eingefallen, in Gegenwart der beiden Fukara so despektierlich von sich selbst zu sprechen. Was mich betrifft, so war es mir willkommen, endlich Klarheit zu erlangen; aber ich wollte vermeiden, eine begangene Unvorsichtigkeit durch eine zweite, vielleicht noch größere wieder gutmachen zu wollen. Darum fragte ich ihn:

„Weißt du gewiß, daß unsere bisherigen sogenannten Freunde keine Dinarun sind?“

„Ja.“

„Wer hat es dir gesagt?“

„Dieser Fakir.“

Er deutete auf ihn.

„Und du glaubst ihm?“

„Natürlich! Unter Fukara darf keine Lüge sein!“

„Das ist erstens nicht ganz richtig, und zweitens muß ich dich fragen: Könntest du darauf schwören, daß diese beiden Fukara wirkliche Fukara sind?“

„Maschallah! Welche Frage! Richte sie doch nicht an mich, sondern an sie selbst!“

Da wandte ich mich an Sallab:

„Sei aufrichtig! Meine Frage soll der Prüfstein deiner Ehrlichkeit sein. Bist du ein Fakir?“

Da antwortete er:

„Du bist Kara Ben Nemsi, der Mann aus Dschermanistan, und wir wissen, daß aus Dschermanistan nie ein böser Mensch zu uns gekommen ist. Darum will ich ehrlich sein. Ich bin kein Fakir und dieser mein Begleiter ist auch keiner!“

„So heißest du gar nicht Sallab?“

„Nein.“

„Wie denn?“

„Ich legte mir aus guten Gründen den Namen des bekannten Fakirs bei. Aber wer ich eigentlich bin, das [224] darf ich dir so lange nicht sagen, als du dich für verbunden hältst, diesen Räubern Unterstützung zu erweisen.“

„Haben sie uns belogen, so ist das, was wir ihnen versprochen haben, so gut wie nicht gesprochen!“

„Nun, sie haben euch belogen!“

„Kannst du das beweisen?“

„Beweisen? Was verlangst du für Beweise?“

Ich muß gestehen, daß er mich mit dieser Frage in Verlegenheit brachte. Ich antwortete ihm:

„Sie haben sich als Dinarun bezeichnet, und du behauptest, daß sie keine seien. Du selbst aber gestehst ein, daß du als Fakir Sallab eine Lüge seist. Von dir ist die Unwahrheit erwiesen, von ihnen aber nicht.“

Wir hatten uns niedergesetzt, alle vier. Der Alte senkte den Kopf, sah einige Zeit sinnend vor sich nieder, hob ihn dann wieder und fragte:

„Ihr seid mit denen, die sich Dinarun nennen, gegen die Dschamikun ausgezogen. Wir sind Dschamikun. Ihr habt uns gefangen. Was werdet ihr mit uns thun?“

„Wir lassen euch frei. Ihr könnt reiten, wohin ihr wollt.“

„Gleich jetzt?“

„Ja.“

„Reiten?“

„Natürlich!“

„So wollt ihr nicht wenigstens unsere Pferde als Beute behalten?“

„Nein.“

„Aber bedenke, was für ein Pferd die Stute ist!“

„Kein Mann aus Dschermanistan wird jemals in euer Land kommen, um Beute zu machen!“

„So segne dich Allah, und so segne er auch alle, welche in deiner Heimat dieses menschenfreundlichen Ge- [225] dankens sind! Du hast dich soeben als ein Mann erwiesen, der das, was er zu sein vorgiebt, auch wirklich ist, nämlich ein Christ. Die Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, welche Isa Ben Marryam1) [1) Jesus, Mariens Sohn.] von allen fordert, die sich nach seinem Namen nennen, ist bei dir nicht bloß ein leerer Schall, sondern sie leitet dein Leben, dein Reden und dein Thun. Ich aber kann dir leider jetzt, in diesem Augenblicke, nicht den von dir geforderten Beweis erbringen, daß das, was ich sage, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Erst die Thatsachen des morgenden Tages werden dir zeigen, daß du mir heute Vertrauen schenken konntest. Wäre dieser Nafar Ben Schuri im gegenwärtigen Augenblick hier bei uns, so würde er eingestehen müssen, daß ich die Wahrheit über ihn gesprochen habe. Du sollst von mir erfahren, was diese Wahrheit sagt.“

Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort:

„Nafar hat als Oberster der Ausgestoßenen unten in Bagdad und Bassora Späher, von denen er alles für ihn Wichtige erfährt, was dort geschieht. Von ihnen kam die Kunde von euren herrlichen Pferden, von den unvergleichlichen Gewehren, welche euch beiden die Stärke eines ganzen Stammes verleihen. Man teilte ihm mit, daß ihr kommen würdet, und er nahm sich vor, euch diese Schätze abzunehmen. Er ließ euch unterwegs beobachten, ohne daß ihr es bemerktet. So erfuhr er, wann und wo ihr kamt. Euch offen zu überfallen, das wagte er nicht, weil er eure Waffen fürchtete. Darum entschloß er sich zur List. Ihr solltet seine Gäste sein und einen Schurb en Nom2) [2) Trunk des Schlafens.] von ihm bekommen.“

„Bei ihm? Von ihm?“ unterbrach ihn Halef. „Das war doch nicht bei ihm!“

[226] „Höre mich nur weiter!“ antwortete der Alte. „Man hatte am Wasser auf euch gewartet, weil anzunehmen war, daß ihr dort bleiben würdet. Ihr kamt. Man stellte sich bescheiden; man hütete sich, euch durch Aufdringlichkeit mißtrauisch zu machen. Darum war man in Verlegenheit, wie man euch den Schurb en Nom werde beibringen können. Da aber batet ihr selbst um Kaffee. Man that den schon bereitgehaltenen Afiun1) [1) Opium.] hinein und gab euch das Getränk, welches ihr trotz seiner Bitterkeit bis auf den letzten Tropfen zu euch nahmt. Dann schlieft ihr ein. Man wollte euch nur berauben, nicht ermorden. Aber selbst als ausgeraubte Männer hatte man euch zu fürchten, eurer Erfahrung, eurer Klugheit, eurer Kühnheit wegen. Darum mußtet ihr über die, welche euch den Trank der Schläfrigkeit reichten, im Irrtum sein; also ließ sich Nafar Ben Schuri gar nicht bei euch sehen, und darum lauerte er nicht mit allen seinen Leuten auf euch, sondern er schickte nur wenige Männer an das Wasser, welche dann nach vollbrachter That leicht verschwinden konnten. - - - Diese That gelang, und der darauffolgende Regen deckte sogar ihre Spuren zu. Aber als man eben begonnen hatte, des vollbrachten Raubes froh zu werden, mußte man die Vergeblichkeit desselben erkennen. Eure Gewehre gingen von Hand zu Hand, doch niemand konnte entdecken, auf welche Weise man mit ihnen zu schießen habe. Sie waren für die Unwissenheit wertlos. Und eure Pferde ließen keinen Reiter aufsitzen. Man wollte sie zwingen, doch war die Folge, daß dabei zwei Männer verletzt wurden. Es galt also, die Geheimnisse der Pferde und der Waffen zu erfahren, und das konnte nur durch euch erreicht werden.“

[227] „Allah, wallah, tallah!“ rief Halef zornig aus. „Wir werden diesen Schurken unsere Heimlichkeit derart offenbaren, daß ihnen vollständig unheimlich dabei werden soll! Sprich weiter!“

„Nafar Ben Schuri faßte den klugen Plan, als euer Retter aufzutreten. Er war überzeugt, daß die Dankbarkeit euch verleiten werde, eure Geheimnisse gegen ihn nicht als Geheimnisse zu betrachten. Man mußte euch da zwar alles wiedergeben, aber doch nur für kurze Zeit. Er schickte also die Thäter nach einer bestimmten Stelle, wo sie sich ruhig überfallen lassen sollten, und ritt euch dann entgegen, denn er nahm ganz richtig an, daß ihr nicht umkehren, sondern weitergehen würdet, um nach den Uebelthätern zu suchen. Auf welche Weise er diesen seinen Plan ausgeführt hat, das wißt ihr besser, als ich es weiß. Ihr habt ihm ja dabei geholfen!“

„Ja, das haben wir allerdings!“ gestand Halef ein. „Wir haben diesem Manne geglaubt und ihm vertraut. Wir haben ihm die Gefangenen überlassen und nicht einmal nach den Leichen und Gräbern derer gefragt, die ihr ihm getötet habt!“

„Wir? Ihm? Ja, ich weiß gar wohl, welche Fabel euch erzählt worden ist; aber wo es keine Leichen giebt, kann es auch keine Gräber geben. Es ist ihm kein einziger Mann getötet oder auch nur verletzt worden.“

„Was? Wie? So ist auch das eine Lüge?“

„Ja. Wir töten nicht! Unser Glaube verbietet uns den Angriff gegen das Leben derer, die selbst dann unsere Brüder sind, wenn sie die Thorheit begehen, sich als unsere Feinde zu betrachten.“

„Allah! Welch ein Glaube! Welche Friedfertigkeit! So seid ihr also Christen?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht! Erst dann, wenn [228] ich Christen kennen gelernt habe, kann ich dir sagen, ob wir welche sind. Nicht wir haben Blut vergossen, sondern Nafar Ben Schuri hat es gethan. Seine That hat mir, grad mir das Herz so schwer, so tief verwundet. Und dieses Herz, es will laut auf um Rache schreien, weil ich ein Mensch mit menschlichen Gefühlen bin. Aber da oben, wo der Himmel in stillen Stunden für mich offen ist, da steht ein lichtes, großes Wort geschrieben, welches das irdische Gesetz der Rache überstrahlt. ‚Ed dem b'ed dem!‘1) [1) „Blut um Blut!“] schreit das Menschenherz zum Himmel auf, wenn der Rauch vergossenen Blutes aufwärts steigt; von droben aber rufen tausend Engel ihr ‚es Samah!‘2)

[2) „Verzeihung“, „Gnade!“] nieder, und bei diesem heiligen Gebot muß jede Wunde schweigen!“

Er war aufgestanden und ging, innerlich erregt, eine kleine Weile hin und her. Ich sah jetzt nicht den Schmutz, der sein Gesicht entstellte, und nicht die Lumpen, die ihn häßlich machten. Aber ich sah den tiefen Schmerz, der seine Augen füllte, und ich sagte mir, daß wir diesem Mann wohl vertrauen dürften. Als er sich beruhigt und wieder niedergesetzt hatte, sprach er weiter:

„Ich will annehmen, daß ihr euern Bund mit Nafar Ben Schuri für zerrissen halten werdet, und betrachte es darum als keinen Fehler, euch schon jetzt zu sagen, was ihr eigentlich erst später erfahren solltet. Nämlich der Tir3) [3) Unterabteilung.] unseres Stammes, zu welchem ich gehöre, hat sich von den andern Dschamikun abgesondert, weil wir Muhammed zwar für einen Propheten, seine Lehre aber nicht für seligmachend halten. Wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wohnen in Häusern, welche wir nur im Sommer mit Zelten vertauschen. Wir haben Gärten und Felder, [229] welche wir bebauen, und Herden, deren Ertrag wir auf den Markt von Isfahan liefern. Unsere Ernten sind reich an Galläpfeln, Mastix, Mannah, Sesam und Tabak. Mit dem letzteren versorgen wir fast ganz Chusistan. In Beziehung auf den Ruf, in dem wir stehen, füge ich hinzu, daß sich unausgesetzt hundert unserer jungen Leute bei der Leibgarde des Schah-in-Schah befinden, obgleich der Beherrscher sehr wohl weiß, daß sie ihre Waffen niemals verwenden würden, unschuldiges Blut zu vergießen. Ich bin der Scheik und werde nicht bei meinem Namen, sondern Peder1) [1) Vater.] genannt. Hoch über mir und allen andern aber steht der Ustad, vor dessen Ehrwürdigkeit wir uns in Liebe und Gehorsam beugen. Ihr werdet ihn sehen; das hoffe ich.“

„Ist er in eurem Stamm geboren?“ erkundigte ich mich, indem ich an die Angabe Nafars dachte.

„Nein. Wenn du Auskunft über ihn haben willst, so wende dich an ihn selbst. Er ist für uns ein Bote des Himmels, für den wir keine solchen Fragen haben. Wir leben in steter Eintracht unter uns und halten Frieden mit allen andern Menschen. Als wir uns um unseres Glaubens willen von den andern Dschamikun trennten, wurden wir eine Zeitlang von ihnen heftig angefochten und sehr hart bedrängt. Nun aber haben sie eingesehen, daß dieser Glaube auch für sie nur Güte und nur Vorteil hat. Sie sind uns wieder freund geworden. Zu hüten haben wir uns nur noch vor den Ausgestoßenen, welche euch gesagt haben, daß sie Dinarun seien. Sie leben nur vom Raube, wobei sie selbst den Mord nicht scheuen. Wir aber nennen sie nur Massaban2) [2) Die Unglücklichen.], weil unser Chodeh3) [3) Gott.] nicht will, daß wir diejenigen, welche uns leid [230] thun, mit einem bösen Wort bezeichnen. Diese Massaban, deren oberster Anführer Nafar ben Schuri ist, schwärmen in einzelnen Trupps überall herum, in der Absicht, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Aber wenn es einen größeren Streich gilt, finden sie sich schnell zusammen. Ein solcher war es, der uns betroffen hat. Unsere Männer waren fast alle auf einem Fest der Leng-i-Karun abwesend - - -“

„Ich denke, Nafar Ben Schuri war auf einem solchen Feste?“ fiel Halef ein.

„Das ist nicht wahr. Er überfiel uns während der Nacht, raubte alles, was er zusammenraffen konnte, und führte auch einen Teil unserer Herden mit sich fort. Hierbei wurden von den wenigen Männern, welche daheim geblieben waren, sechs ermordet. Unter den Toten befand sich mein einziger Nachkomme, mein Enkelsohn, die Freude meiner Augen, die geliebte Abendröte meiner letzten Lebenstage. Als wir am andern Tage heimkehrten, sah ich ihn vor mir liegen, blutbefleckt und mit weit aufgerissenen Augen und im Todesschmerz geballten Händen. In meinem Innern erklangen zwei Stimmen. Die eine rief mir ‚Ed dem b'ed dem!‘ zu; die andere aber ließ ihr ‚Samah, samah!‘ tönen. Es war ein kurzer, aber schwerer Kampf. Das ‚Samah‘ unseres gnadenreichen Chodeh siegte. Ich ließ alle meine Männer zusammenkommen, um zu beraten. Der Ustad stieg von seinem hohen Hause nieder und wohnte der Versammlung bei. Wir sprachen lange hin und her; da gab er seinen Plan und mit demselben unserm Willen Festigkeit. Es wurde beschlossen, der Plage des Landes, welche die Massaban bilden, mit einem einzigen kräftigen Streiche ein Ende zu machen. Wir wollten sie fangen ohne alles Blutvergießen; keiner sollte entgehen. Dann sollten sie [231] dem Sipahsalar1) [1) Kriegsminister.] geschickt werden, welcher grad jetzt nach Soldaten für Farsistan sucht und keine findet, weil kein Angeworbener hinab nach der ungesunden Grenze gegen Indien will. Wir sandten also einen Boten nach Isfahan, um diese Nachricht hinzubringen, und machten uns zur Verfolgung der Massaban auf. Als sie von uns erreicht wurden, bemerkten sie unsere große Ueberzahl und verloren den Mut, sich zu verteidigen. Sie ließen ihren Raub stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Hierauf verwandelte ich mich und meinen Begleiter hier in Fukara und ritt ihnen mit der Stute des Ustad nach, weil für meinen Zweck unter Umständen das schnellste unserer Pferde nötig war. Als sie sich gelagert hatten, ließ ich den Begleiter an einem verborgenen Orte mit den Tieren zurück und ging zu ihnen. Ich gab mich für Sallab aus, dessen Namen sie kannten. Ein Fakir darf nicht fortgewiesen werden. Man duldete mich. Auch ist er ein Mann, der sich nur um religiöse Dinge zu bekümmern pflegt. Man war also in meiner Gegenwart nicht so vorsichtig, wie man es gegen einen andern gewesen wäre. Ich hörte verschiedenes. Es waren Bruchstücke. Aber wenn ich sie zusammensetzte, bekam ich ein fast ganz vollständiges Bild. Das veranlaßte mich, abends, als es dunkel war, mich scheinbar zu entfernen. Aber ich kehrte zurück und belauschte Nafar Ben Schuri, als er mit einigen seiner Leute zusammensaß. Ich hörte, was man gegen euch vorhatte. Gern hätte ich euch gewarnt, aber ich kannte ja die Oertlichkeiten nicht, und ihr mußtet auch schon dort angekommen sein, wo ihr den Schlaftrunk bekommen solltet. Als ich dann wiederkam und bei ihnen saß, hörte ich, daß man eure Waffen gegen [232] uns brauchen wollte. Wir sollten verfolgt werden, denn die Massaban wollten uns ihre verlorene Beute wieder abnehmen. Das war mein Augenblick, den ich sogleich benutzte. Ich that, als ob ich gar nicht aufgepaßt und darum auch gar nichts verstanden hätte, und begann, von dem „Thale des Sackes“ zu sprechen. Dahin wollten wir sie nämlich locken, weil dies der einzig passende Ort war, sie so einzuschließen, daß sie sich gar nicht wehren konnten. Nafar Ben Schuri griff meine Worte sofort auf. Er ahnte meine Absicht nicht im geringsten. Sein Gehirn begann, an der Falle zu bauen, deren Entwurf ich ihm hingeschoben hatte, um ihn selbst zu fangen. Um ihn sicher zu machen, stellte ich mich ganz unwissend und erzählte, daß ich auf meinem Wege eine Schar von Dschamikun gesehen habe, welche sehr eilig nordwärts geritten sei.

‚Hatten sie Herden?‘ fragte er.

‚Nein.‘

‚Wie viele waren es?‘

‚Wohl einige Hundert.‘

Er glaubte es und dachte nun, wir hätten uns getrennt, und es seien bei den Herden, denen er folgen wollte, nur wenige unserer Leute geblieben. Sein Vorhaben erschien ihm also als sehr leicht ausführbar, und als ich mich dann zum Schlafen niederlegte, konnte ich es mit dem Bewußtsein thun, daß mein Anschlag eine gute Statt gefunden habe. Am andern Morgen erfuhr ich dann auch wirklich, daß beschlossen worden sei, die Dschamikun zu verfolgen und in dem „Thale des Sackes“ einzuschließen. Ich hätte nun gehen können, denn meine Absicht war erreicht; aber der Gedanke an euch hielt mich noch fest. Eure Namen sind bekannt. Ich wollte wissen, ob der gegen euch gerichtete Anschlag gelungen sei. Ich [233] wünschte, euch nützen zu können. Da kamen die Massaban, welche euch beraubt hatten. Sie brachten alles mit, was euch abgenommen worden war. Man jubelte. Da aber stellte es sich heraus, daß eure Pferde störrisch und eure Gewehre unbrauchbar seien. Es wurde schnell Rat gehalten, und man nahm sich vor, sich euer scheinbar anzunehmen, bis man die Geheimnisse eurer Tiere und Waffen erfahren habe. Wie man das ausführte, wißt ihr ja. Ich bekam dadurch Zeit, meine Dschamikun zu unterrichten. Ich ritt zu ihnen, um ihnen meine Anweisungen zu erteilen, und als ich am anderen Tage zurückkehrte, setzte ich mich zu euch. Ich erfuhr, daß ihr die Massaban wirklich für Dinarun hieltet und ihnen gegen uns helfen wolltet. Nun wußte ich genug und ging. Von der nächsten Anhöhe aus sah ich Kara Ben Nemsi auf dem Berge stehen und winkte ihm warnend zu. Das war für so erfahrene Männer, wie ihr seid, hinreichend, zur Vorsicht zu mahnen. Ich wollte euch helfen. Ich gedachte nicht, euch als unsere Feinde zu betrachten. Ihr solltet zwar mit gefangen genommen, dann aber sofort wieder freigelassen werden. Ich hatte gesehen, daß der Scheik der Haddedihn krank sei. Ich kenne diese Krankheit genau. Sie wird sehr häufig vom Euphrat und vom Tigris zu uns heraufgeschleppt, und wir kennen ein Mittel, welches ganz unfehlbar wirkt. Ich machte darum den Hadschi aufmerksam, wo er das Leben gegen den Tod finden werde, weiß aber nicht, ob ihr mich verstanden habt. Ich wußte alles, auch daß uns Kundschafter nachgeschickt worden waren. Als ich wieder zu meinen Dschamikun kam, beeilten wir uns, die Falle so zu stellen, daß die Massaban ganz gewiß glauben werden, wir seien es, hinter denen sie sich zuzuschließen habe. Auch wir haben Kundschafter. Sie haben euch [234] scharf beobachtet. Als ich den Ort eures letzten Nachtlagers erfuhr, setzte ich mich mit diesem meinem Begleiter zu Pferde, um euch mit eigenen Augen zu beobachten. Wir dachten nicht an die Möglichkeit, daß es jemandem von euch einfalle, von euerm Wege abzuweichen. Da trafen wir auf euch.“

„Und wendetet sogleich die Pferde, um die Flucht zu ergreifen! Warum thatet ihr das?“ fiel hier Halef ein.

„Durften wir euch trauen?“ fragte der alte Scheik lächelnd.

„Nein. Du hast recht. Aber wie steht es nun jetzt? Wie denkt ihr nun von uns?“

Da stand Peder wieder von seinem Platze auf, stellte sich in feierlicher Haltung vor uns hin und antwortete:

„Ihr habt uns gefangen, aber wieder freigegeben. Das war eine That des Vertrauens und der Ehrlichkeit. Ich will nicht minder ehrlich sein als ihr. Ja, ich bin es schon gewesen! Ich habe euch gesagt, daß wir den Massaban eine Falle gestellt haben, in welche sie gehen sollen. Wenn ihr ihnen das mitteilt, falls ihr ihnen mehr glaubt als uns, so ist diese unsere Mühe vergeblich gewesen. Ich spreche keine Bitte aus. Dieses mein Schweigen mag euch sagen, was ich von euch denke.“

Nun sprang auch Halef auf. Ich sah ihm an, daß er seinem schnellen Temperamente folgen wollte. Er besann sich aber, wendete sich zu mir und fragte:

„Hörst du es, Sihdi? Der Scheik der Dschamikun giebt sich wehrlos in die Hände unserer Rechtschaffenheit! Ich wollte ihm sagen, was wir thun werden; aber sag du es ihm!“

Ich folgte dieser Aufforderung, indem ich mich erhob und dem Alten die Hand reichte:

[235] „Wir glauben dir! Deine Falle wird sich ganz gewiß bewähren, denn wenn die Massaban zögern sollten, hineinzugehen, werden wir sie hineinführen. Am liebsten ritte ich jetzt mit dir zu deinen Leuten; aber wir betrachten uns von diesem Augenblicke an als deine Freunde und Verbündete und wollen nicht der unverdienten Ruhe pflegen, sondern das unsere dazu beitragen, daß euer Vorhaben gelinge und diese Landplage unschädlich gemacht werde.“

„Das, das wollt ihr wirklich thun?“ fragte Peder im Tone der Freude.

„Ja. Darum bitten wir dich, uns das Nötige über die Lage des ‚Daraeh-y-Dschib‘ mitzuteilen, damit wir keine Fehler machen. Aber thue das schnell und kurz, denn wir müssen nun zu den Massaban zurückkehren, wenn sie nicht wegen unseres zu langen Ausbleibens mißtrauisch werden sollen.“

Ich kann diese seine Instruktionen hier übergehen, weil sich ihr Inhalt aus dem Nachfolgenden ergeben wird. Peder beschrieb die Oertlichkeiten so genau, daß ich eine hinreichende innere Anschauung von ihnen bekam. Auch über die Falle, in welche die Massaban geführt werden sollten, sprach er sich in der Weise aus, daß wir nicht im Zweifel darüber waren, wie wir uns zu verhalten hatten. Dann trennten wir uns von ihm und seinem Begleiter, und zwar in ganz anderer Weise, als wir vorhin mit ihnen zusammengetroffen waren. Sprachlich will ich hier noch bemerken, daß das persische Wort Peder (Vater) nicht etwa wie der deutsche Name Peter, sondern mit dem Tone auf der letzten Silbe, also Pedehr, ausgesprochen wird.

Als wir hierauf nun Seite an Seite um den nördlichen Fuß des Berges herumritten, sagte Halef zu mir:

[236] „Jetzt wissen wir nun endlich genau, woran wir mit diesen Lügnern und Betrügern sind. Wie schwer wird es mir fallen, nun auch Betrüger zu sein!“

„Betrüger? Wieso?“

„Weil wir ihnen doch nicht merken lassen dürfen, daß wir alles wissen. Wir müssen uns verstellen, müssen uns als Freunde gebärden, und das, das fällt mir ganz entsetzlich schwer, Sihdi! Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, so sage ich lieber nichts!“

„Ganz richtig! Ich bitte dich, genau nach diesem Worte zu handeln, doch nicht nur in Beziehung auf das Sprechen. Auch alles, was du thust, muß verschwiegen sein. Du darfst durch keine Bewegung, durch keine Miene verraten, daß du mehr weißt, als du wissen sollst.“

„Das ist es ja eben, was mir schwer fällt!“

„Es ist leichter, als du denkst. Man muß sich nur hüten, gesprächig oder gar geschwätzig zu sein. Wir brauchen uns nur genau so zu verhalten, wie wir es gethan haben, seit wir auf die Spuren getroffen sind. Dann wird es einer großen Verstellungskunst gar nicht bedürfen. Auch ich gebe mich nicht gern anders, als ich bin; aber wenn in diesem gegenwärtigen Falle Klugheit gegen Arglist und Schweigsamkeit gegen Verstellung gehalten wird, so kann das ganz unmöglich eine Sünde sein. - Hat dich unser Eilritt angegriffen, Halef?“

Ich fragte so, weil ich sah, daß er jetzt nicht mehr stramm im Sattel saß. Da nahm er sich sofort zusammen, richtete sich auf und antwortete:

„Angegriffen? Mich? Wie kann mich ein Ritt angreifen, der die größte Wonne ist, die ich mir zu Pferde vorstellen kann? Sei doch so gut, jetzt ja nicht an die Krankheit zu denken! Du siehst doch jedenfalls ein, daß der Hauptteil unseres Erlebnisses mit den Massaban erst [237] jetzt beginnen soll. Meinst du, daß ich da dem alten Weibe erlauben werde, mich von den Thaten, welche geschehen sollen, auszuschließen? Wir werden es kurz machen. Wahrscheinlich sind wir schon morgen mit diesen Leuten fertig. Und so sage ich dir: So lange wir sie nicht in der Falle haben, so lange würde selbst der Tod nichts über mich vermögen. Und wenn er mich niederwürfe, ich würde doch wieder aufstehen, um ihnen zu beweisen, daß sie sich in uns verrechnet haben. Laß uns machen, daß wir schnell zu ihnen kommen!“

Nicht lange hierauf hatten wir den Berg umkreist und stießen auf die Fährte der Massaban, welcher wir folgten, bis wir den Reiterzug an einer Stelle einholten, wo von dieser und der nächsten Höhe aus sich ein ebenes Tafelland nach Osten zog. In diese Ebene ritten wir nun hinaus, ohne daß uns jemand nach dem Verlauf unserer Reitpartie gefragt hätte. Man verhielt sich still gegen uns, und das war uns nur lieb.

Nach einiger Zeit sahen wir auf der Fläche vor uns mehrere Reiter erscheinen, welche, als sie uns erblickten, schnell auf uns zukamen. Nafar Ben Schuri ritt ihnen entgegen und sprach längere Zeit mit ihnen. Dann gab er das Zeichen zum Weiterreiten. Diese neu zu uns gestoßenen Massaban machten nun die Führer.

„Ob das wohl die erwarteten Kundschafter sind?“ fragte Halef.

„Jedenfalls,“ antwortete ich.

„Warum meldet er uns nicht, was sie ihm berichtet haben?!“

„Laß ihn! Es ist die Laune des bösen Gewissens. Er spielt den Gekränkten, freilich ohne zu wissen, daß dieses sein Schmollen uns sehr willkommen ist.“

„Aber, haben wir es uns gefallen zu lassen? Wir [238] sind nicht seine Untergebenen, sondern stehen über ihm. Er ist doch der Meinung, daß wir ihm helfen sollen, und da hat er uns doch unbedingt zu berichten, welche Meldung ihm gebracht worden ist!“

„Hätten wir uns noch als seine Helfer zu betrachten, so würde ich mir diese Zurücksetzung freilich verbitten. Nun aber, da sich die Sache so ganz anders gestaltet hat, kommt mir sein Schweigen sehr gelegen. Dein Selbstgefühl kann sich beruhigen, lieber Halef. Du weißt ja doch, daß die Strafe nicht auf sich warten lassen wird.“

„Das läßt mich allerdings den Verweis, den ich ihm geben möchte, in den Abgrund meines Zornes fallen lassen. Dort mag er bis zur Stunde der Vergeltung liegen bleiben!“

Das gekränkte Ehrgefühl meines kleinen Hadschi brauchte nicht länger als ein kleines Viertelstündchen zu warten, um zu Worte kommen zu können. Schon nach dieser kurzen Zeit stießen wir auf eine von Süden herüberstreichende breite Fährte, welche diejenige der Dschamikun mit ihren Herden war. Gleich der erste Blick belehrte uns, daß diese Pferde- und Wiederkäuerspuren über einen Tag alt waren, ein außerordentlich wichtiger Umstand, den aber weder die Kundschafter, noch Nafar Ben Schuri beachteten. Jetzt hielt er es nun für an der Zeit, einige Worte an uns zu richten:

„Das ist der Kreuzungspunkt, von dem ich zu euch sprach. Ihr seht, daß wir die Dschamikun glücklich eingeholt haben.“

Eingeholt! Wie er sich irrte! Sie waren ja schon gestern hier vorübergekommen und hatten also mehr als genug Zeit gehabt, ihre Falle zu stellen. Seine Kundschafter taugten nichts. Natürlich hüteten wir uns, ihn [239] darauf aufmerksam zu machen, daß seine Ansicht eine durchaus falsche sei. Er fuhr fort:

„Diese Räuber und Mörder machen hier, indem sie weit nach Osten hinaus abbiegen, den Umweg, der sie in unsere Hände bringen wird. Indem wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus nach Norden reiten, kommen wir ihnen zuvor und gewinnen mehr als genug Zeit, das Daraeh-y-Dschib zu besetzen.“

„Wie weit ist es von hier bis dorthin?“ erkundigte ich mich.

„Wir sind schneller gewesen, als wir vorher dachten. Wenn wir uns sputen, können wir es noch vor dem Eintritt der Dunkelheit erreichen.“

„Meinst du, daß die Dschamikun dann morgen kommen?“

„Eher keinesfalls.“

„Und unser Nachtrab? Wo bleibt der?“

Diese Frage schien ihm ganz unerwartet zu kommen. Er machte eine verlegene Miene. Ich hatte sie ausgesprochen, weil mir daran lag, die Massaban alle zusammen in das Netz zu bekommen. Auch die, welche sich noch hinter uns befanden, sollten mit dabei sein.

„An den Nachtrab habe ich gar nicht gedacht, weil es nicht nötig ist,“ erklärte er.

„Nicht nötig? Willst du haben, daß deine Absicht durch ihn verraten und die Ausführung desselben dadurch verhindert werde?“

„Wieso verhindert?“

„Sonderbare Frage! Wann wird der Nachtrab am ‚Thale des Sackes‘ ankommen?“

„Morgen.“

„Und die Dschamikun kommen auch morgen? Sie werden ihn sehen und sofort über ihn herfallen!“

[240] „Maschallah! Das ist richtig! Das muß verhütet werden! Sihdi, gieb uns deinen Rat! Was meinst du, daß wir thun?“

„Es ist nur eines möglich: Deine Dinarun haben uns zu folgen und sich noch während der Nacht bei uns im Thale einzustellen.“

„Im Thale?“

„Ja.“

„Nicht an oder bei dem Thale?“

„Nein. Wenn du fähig wärest, einen so unverzeihlichen Fehler zu begehen, würde ich mit dem Scheik der Haddedihn sofort umkehren und euch keinesfalls weiter begleiten, weil wir überzeugt sein würden, daß dein so schön angelegter Plan dann für uns unheilvoll werden müßte. Wir haben diese Nacht natürlich in dem Thale, keineswegs aber bei demselben zuzubringen.“

„Warum?“

Ich gab mir den Schein der Ungeduld, indem ich antwortete:“

„Denkt ihr denn gar nicht nach? Wenn wir eine ganze Nacht lang in der Nähe des Thales lagern, so giebt das Spuren, welche noch wochenlang zu sehen sind. Die Dschamikun müßten doch blind sein, wenn sie diesen unverzeihlichen Selbstverrat nicht bemerkten! Und nach einer so handgreiflichen Warnung wäre es nur Wahnsinnigen zuzumuten, in die Falle zu gehen. Der Felsengrund des Thales aber nimmt keine Spuren an, die zur vorzeitigen Entdeckung führen können. Außerdem bieten uns die hohen Steinwände Schutz gegen jede Unbill der Nacht. Und drittens befinden wir uns, wenn die Entscheidung naht, gleich frühmorgens an Ort und Stelle und können so wunderbar schön versteckt bleiben, daß bis [241] zum letzten Augenblicke kein Dschamiki ahnen kann, wie nahe sein Verderben ist.“

Ich sah ihm an, daß ich ihn überzeugt hatte. Auch auf den Gesichtern seiner Leute, welche meine Worte gehört hatten, war nichts als Zustimmung zu lesen. Da sagte er:

„Ich höre, daß du dir die Sache gut überlegt hast. Auch ich hatte schon so ähnliche Gedanken. Wir sind bereit, deinen Vorschlag auszuführen. Die Kundschafter mögen hier bleiben, um den Nachtrab, sobald er ankommt, hinunter nach dem Daraeh-y-Dschib zu geleiten. Nun aber müssen wir uns beeilen, weil es im Thale eher finster wird als außerhalb desselben.“

Die Späher stiegen von den Pferden und setzten sich nieder. Der Zug ritt weiter, ich mit Halef hinterdrein. Der letztere sprach, als uns niemand hörte:

„Sihdi, das hast du pfiffig gemacht! Jede Lüge vermieden und doch unseren Zweck erreicht! Leider haben diese Menschen keine Ahnung von der Lehre, die du ihnen jetzt gegeben hast.“

„Welche Lehre, Halef?“

„Das fragst du mich? Du selbst, der sie erteilte?“

„Sprich sie nur aus, damit sie hörbar werde!“

„Beide können klug sein, der Böse sowohl als auch der Gute. Aber wenn es zum Schlusse kommt, so stellt sich unbedingt heraus, daß nur der Gute wirklich und wahrhaftig klug gewesen ist.“

„Was folgt hieraus?“

„Nichts, als was ich gesagt habe. Das ist doch wohl genug!“

„Drehe es einmal herum!“

„O, Sihdi, was mutest du mir zu! Du weißt ja, daß ich nicht gern Rätsel löse! Und wenn man etwas [242] herumdreht, so wird es verkehrt, und ich werde mich wohl hüten, etwas Verkehrtes zu sagen! Drehe du doch selbst es um, damit ich höre, wie es aus deinem Munde klingt!“

„Jedenfalls nicht verkehrt. Aus deinen Worten geht hervor, daß es die wahre Klugheit ist, nur gut, nie aber bös zu handeln. Nafar Ben Schuri ist stolz auf seinen Plan, den er für ungeheuer schlau hält. Von wem aber hat er ihn bekommen? Von dem Peder!“

„Ganz recht! Hast du dir die Augen dieses Mannes betrachtet?“

„Ja.“

„Ich auch. Droben im Lager der Massaban, als er noch als Fakir galt, habe ich ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt aber möchte ich mich fragen, ob ich wohl schon einmal etwas so Schönes wie diese Augen gesehen habe. Es ist mir da ein Gedanke gekommen, und ich kann mir nicht helfen, ich muß ihn dir sagen.“

„Sprich!“

„Wirst du mich auslachen?“

„Nein!“

„Im Herzen des Menschen wohnt entweder der Himmel oder die Hölle, und das Auge ist das Fenster, durch welches entweder Allah oder der Scheitan seinen Blick nach außen richtet. Dieser Peder trägt den Himmel in sich. So oft er seinen Blick auf mich lenkte, war es mir, als ob Allah mich anschaue. Ich könnte diesem Manne niemals etwas thun, was ihn betrüben müßte. - - Gieb mir die Medizin!“

Diese letzte Aufforderung kam so unerwartet, daß ich ihn betroffen ansah.

„Habe ich dich erschreckt?“ fragte er. „Es ist nichts, wirklich gar nichts! Du brauchst keine Sorge zu haben. Aber ich fühle plötzlich den Hals nicht mehr. Es ist [243] mir, als ob der Kopf frei in der Luft schwebe. Und doch wird er mir ganz plötzlich so schwer, daß ich das Gefühl habe, er werde mir herunterfallen.“

Das war ein schlimmes Zeichen. Nach der bisherigen Aufregung begann das Gegenteil nun einzutreten. Auch ich fühlte eine bedenkliche Eingenommenheit des Kopfes, gab aber doch nur Halef von dem Mittel, obgleich ich es wohl auch hätte nehmen sollen.

Unsere bisherige gute Stimmung war plötzlich eine ganz andere geworden. Die Sonne schien nicht mehr, und nun sie hinter den Bergen verschwunden war, breitete sich die Dämmerung mit der jenen Gegenden eigenen Schnelligkeit über das Land. Dieser äußere Vorgang wollte sich auch in unserm Innern fortsetzen. Kein Mensch, und sei er ein noch so ausgeprägter, kräftiger Charakter, bringt es fertig, sich den Einflüssen der Natur ganz zu entziehen. Er hat an den Leiden und Freuden der Schöpfung teilzunehmen, welche auf ihn, so lange er lebt, niemals verzichten wird.

Halef saß jetzt zusammengedrückt im Sattel, er ließ den Kopf hängen. Was mich betrifft, so fühlte ich mich nicht nur ermüdet, sondern matt. Diese Mattigkeit lag nicht in meiner Natur; sie war mir fremd, war - - Krankheit. Wie kam es doch, daß ich grad jetzt an das Hammelfleisch denken mußte, welches wir im Lager der sogenannten Dinarun gegessen hatten? Ich fühlte, daß es mir unmöglich sein würde, gegenwärtig auch nur einen einzigen Bissen davon zu genießen. Schon bloß der Gedanke daran schüttelte mich! War das ein Wink von innen heraus? Wer vermag die dort wohnenden Geheimnisse zu ergründen!

Unser Weg war jetzt ein unausgesetzt abwärts gehender. Der voranreitende Nafar Ben Schuri hatte sicht- [244] lich Eile. Es ging in schnellem Tempo teils an Berghängen, teils auch über freie Bodensenkungen hin, bis uns ein kurzes, schmales Thal aufnahm, dessen Mündung uns an den Rand eines „Warr“ brachte, welches mich an gewisse Gegenden der inneren Sahara erinnerte.

Unter Warr hat man einen Ort zu verstehen, dessen Boden mit wirr liegenden Felsentrümmern bedeckt ist. Ein solches Warr im wahrsten Sinne sahen wir hier vor uns liegen. Als ob vor Jahrtausenden da ein riesiger feuerspeiender Krater vorhanden gewesen sei, so gerade und steil stieg ringsum das schwarze Gestein zum Himmel auf. Wo lebten die Giganten, welche die Spitzen der rundum ragenden Berge abgebrochen und in solche Tiefen geschleudert hatten, daß sie in tausend Trümmer zerschmettert worden waren? Es sah ganz so aus, als ob von unheilvollen Urkräften hier einst irgend eine erschreckliche Teufelei ausgeführt worden sei. Die Zwischenräume der gewaltigen Steinbrocken waren mit Farnen, Dornen und allerlei Gestrüpp so dicht ausgefüllt, daß es gewiß unmöglich gewesen wäre, hindurchzukommen, wenn es nicht ein jetzt leeres Wasserbett gegeben hätte, welches in zwar zahlreichen, aber doch gangbaren Windungen nach der anderen Seite hinüberführte.

Wir folgten diesem Wege. Drüben angekommen, trafen wir auf ein zweites, noch breiteres Wasserbett, welches sich mit dem unserigen vereinigte. Nafar Ben Schuri deutete in die Richtung desselben zurück und rief uns zu:

„Das ist der Weg, auf dem die Dschamikun kommen werden. Und da, gerade vor uns, seht ihr das Thor, durch welches man in das Daraeh-y-Dschib gelangt.“

Zwei früher senkrecht stehende Felsenwände hatten sich einander zugeneigt, bis sie hoch oben aufeinander ge- [245] troffen waren. Sobald uns dieses finstere, aus gewaltigen Massen bestehende und doch einsturzdrohende Thor aufgenommen hatte, war es so dunkel um uns her, daß es einiger Zeit bedurfte, bis wir die Augen hieran gewöhnt hatten und die nächste Umgebung zu unterscheiden vermochten. Da habe ich mich freilich wohl falsch ausgedrückt, denn es gab nur eine „nächste“ und gar keine weitere Umgebung. Das Thal bestand hier aus dem Wasserbette und einem nicht viel breiteren Ufer rechter Hand, welches unsere Pferde zu erklettern hatten. Links gab es keinen solchen Rand, weil das Wasser - nämlich wenn es welches gab - direkt von der Felsenwand begrenzt wurde. Indem wir nun langsam und vorsichtig auf diesem einen und auch einzigen Ufer hinritten, begleitete uns hoch oben ein Himmelsstreifen, welcher nicht breiter als eine Hand zu sein schien.

Die Schritte unserer Pferde erregten hier einen wahren Höllenlärm, von den zurückgeworfenen Schallwellen verzehnfacht, dumpf, hohl, ohne Höhe oder Tiefe, unbegrenzt, vollständig klang- und wesenlos. Es war ein Spektakel schattenhafter Geräusche, denen mit dem Inhalte auch das Leben fehlte.

Später senkte sich das Wasserbett tiefer, und das Ufer wurde breiter. Wir bekamen mehr Platz. Es gab sogar Büsche solcher Arten, die keiner direkten Sonnenstrahlen bedürfen. Wir atmeten eine dicke, stehende, feuchtmodrige Luft, welche die Lungen beschwerte. Das wurde erst besser, als die Felsen oben weiter auseinander traten und uns vom Ausgange des Thales oder vielmehr der Schlucht her ein frischer Odem entgegenwehte. Dann gab es plötzlich Raum genug für uns alle und auch für unsere Pferde. Der „Sack“ war zu Ende.

Eigentlich war der Name „Dschib“ nicht zutreffend [246] gewählt für die vorhandene Oertlichkeit. Sie glich weniger einem Sacke, als vielmehr einer lang- und dünnhalsigen, weitbauchigen Phiole oder einer jener Flaschen, in welche der Steinwein abgezogen wird. Der lange, schmale Gang verbreiterte sich mit einem Male zu einem großen, halbkreisähnlichen Platze, auf dem wir ganz bequem lagern konnten. Und doch hatte der Ausdruck Sack, wenigstens im vergleichenden Sinne, auch seine Richtigkeit, weil der Weg von hier nicht weiter ging. Die Bodenlinie der Flasche wurde nämlich von einem tiefen Felsenrisse gebildet, dessen Ende wir nicht ersehen konnten. In diesen Riß mündete unser Wasserlauf. Es mußte bei gefülltem Bette Grauen erregen, die Wassermasse spurlos da unten in der Tiefe verschwinden zu sehen! Der jenseits des Risses liegende Teil des Berges war nicht steil gerichtet; er bildete vielmehr eine moosig grüne Böschung, auf welcher einzelne uralte Eichen und andere Laubhölzer standen. Das lockte hinüber; aber leider konnten wir nicht, weil der Felsenspalt uns von ihm trennte!

Es hatte eine Brücke hinübergeführt, deren Reste wir noch sahen: zwei Urwaldstämme, darüber Querstämme und dann Steine darauf. Die Steine waren verschwunden. Von den Querstämmen reichte nur noch einer von oben bis in den Felsenriß hernieder, wo er sich eingestemmt hatte, um zu verraten, daß die Brücke nicht von der Natur, sondern durch Menschenhand zerstört worden sei. Die Dschamikun hatten Stämme und Steine in die Tiefe gestürzt, damit den Massaban die Flucht von hier aus abgeschnitten sei. Als der Anführer der letzteren die Vernichtung sah, war er nicht etwa enttäuscht, sondern er rief ganz im Gegenteil sehr erfreut aus:

„Die Brücke ist eingestürzt! Welch ein Glück für uns! Wenn die Dschamikun morgen kommen, können sie [247] nicht hinüber und sind gezwungen, sich uns zu ergeben! Wir haben nun gar nicht nötig, die Brücke zu besetzen, und können uns also alle daran beteiligen, die Feinde hier hereinzutreiben!“

Das gab eine allgemeine Freude, an welcher wir beide uns freilich nicht beteiligten. Halef war nämlich mehr vom Pferd herabgefallen, als herabgestiegen. Ich nahm ihn in den Arm und führte ihn zu einer Stelle, welche ich zum Lagern für die beste am ganzen Platze hielt. Dort legte ich ihn nieder, holte seinen Sattel zum Kopfkissen und wickelte ihn in seine und in meine Decke ein, denn ich sah, daß der Frost ihn förmlich schüttelte. Die Zähne schlugen ihm zusammen. Er schien am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Noch hatte ich ihn nicht ganz eingehüllt, so riß er die Decken wieder weg, richtete sich in sitzende Stellung auf und sagte, indem er mich mit weit aufgerissenen Augen angstvoll anstarrte:

„Sihdi, müssen wir hier bleiben?“

„Ja,“ nickte ich.

„Die ganze, ganze Nacht?“

„Ja.“

„Da sterbe ich! Ich fühle, daß ich es hier nicht aushalte, daß ich fort muß, daß es mein Leben kostet, wenn ich bleibe!“

„Zurück können wir unmöglich!“

„Aber vorwärts?“

„Die Brücke ist weg!“

„Wir haben die Pferde! Der Spalt ist schmal. Wir springen hinüber!“

„Halef!“ rief ich erschrocken. „Das würde Wahnsinn sein!“

Da preßte er die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, als ob er alle seine Kräfte herbeizwinge. Es ge- [248] lang ihm, die Schwäche noch einmal zu besiegen. Er stand ganz auf, ging hin an den Spalt, wo die Brücke gelegen hatte, und maß die Entfernung der gegenüberliegenden Kante mit scheinbar ruhigem Auge. Dann drehte er sich zu mir um und sprach:

„Sihdi, erhöre mich! Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Bitte, die ich in diesem Leben zu dir sage. Ich habe dich belogen, denn ich wollte dich nicht beängstigen. Meine Krankheit ist schlimmer, als du denkst. Ich habe mit allen Kräften gegen sie gekämpft, ohne es dir einzugestehen. Diese Kräfte sind alle; sie reichen nur noch zu dem letzten Sprunge dort hinüber. Dann breche ich zusammen, und du sollst mich pflegen. Willst du diesen Sprung mit mir wagen?“

„Halef, mein lieber, lieber Halef!“ antwortete ich kopfschüttelnd, nicht aus Angst vor dem Wagnis, sondern aus Herzenssorge um ihn.

„Laß mich nicht viele Worte machen, denn sie rauben mir die Kraft, die ich nötiger brauche. Durch den Gang können wir nicht zurück. Das erfordert zu viel Zeit, und die Massaban würden uns auch nicht lassen. Bleiben wir aber hier, so weiß ich, daß ich verloren bin. Allein aber kann ich unmöglich fort. Sihdi, mein Sihdi, hast du mich noch lieb?“

„So lieb, wie noch nie, mein Halef!“

„So denk an den fürchterlichen Sprung damals, den du auf deinem herrlichen Rih über die „Spalte des Verräters“1) [1) Siehe Karl May, „Der Schut“, pag. 499.] thatest. Assil leistet im Springen ganz dasselbe wie sein Vater Rih, und dieser Riß hier ist ganz gewiß nicht so breit, wie jene Spalte war!“

Ich legte ihm beide Hände an die Wangen, küßte [249] ihn auf den Mund und sah ihm dann in das Gesicht. Es hatte noch nie einen so liebevollen, aber auch noch niemals einen so entschlossenen Ausdruck gehabt. Es war wirklich sein Leben, um welches es sich handelte. Es mußte gerettet werden!

„Wirst du denn fest im Sattel sitzen?“ fragte ich. „Nur noch zwei Minuten fest?“

„Ich schwöre es dir bei Allah zu, Sihdi!“

„Gut, dann sei es gewagt! Bleib du ruhig stehen. Ich werde die Vorbereitungen treffen.“

Die Massaban hatten damit zu thun, ihre Pferde zu versorgen und es sich dann möglichst bequem zu machen. Sie achteten infolgedessen nicht besonders auf uns. Ich legte Barkh den Sattel wieder auf, schnallte die Decken an Ort und Stelle und untersuchte mit ganz besonderer Vorsicht die Lage und die Festigkeit der Bauchgurte. Während ich das that, sagte Halef:

„Sihdi, die Pferde können keinen weiten Anlauf nehmen. Sage ihnen also, um was es sich handelt! Sie werden dich verstehen.“

Ich führte die Rappen also ganz hart an die Spalte, so daß sie mit den Köpfen gegen dieselbe standen.

„Natt, natt - springen, springen!“ sagte ich, indem ich sie streichelte.

Da hoben sie die Schwänze; ihre Ohren legten sich vor und ihre Nüstern weiteten sich, tief Atem holend. Sie wußten gar wohl, was das Wörtchen „natt“ zu bedeuten und was hierauf zu erfolgen hatte.

„Wer zuerst?“ fragte Halef.

„Du. Doch beachte, daß auf der Kante drüben der Felsen unter einer Schicht von Erde und faulem Holze liegt. Barkh wird abrutschen, wenn er nur mit den Vorderhufen faßt. Nimm die Peitsche in die Hand, um [250] unglücklichen Falles nachzuhelfen, und schaue dich ja nicht erschrocken um, wenn ich es für nötig halte, den rettenden Schwung durch einen Schuß zu unterstützen!“

„Es wird das alles gar nicht bedürfen. Du kommst gleich hinter mir?“

„Sobald ich sehe, daß du drüben bist und mir Platz gemacht hast. Eher nicht.“

„Kann es losgehen? Jetzt?“

„Ja.“

„So sei Allah unsere Hilfe! Ich denke an Hanneh, der ich mein Herz gegeben habe, und an Kara Ben Halef, meinen Sohn, welcher der Stolz und die Hoffnung meines irdischen Lebens ist. Sihdi, wir bleiben beisammen, jenseits dieser Felsenspalte, lebend, lebend hier oder lebend dort. Du warst und bist mein Freund; ich danke dir! Schaff Platz! Nun soll's beginnen!“

Im Hintergrunde unseres Lagerplatzes war es vollständig Nacht. Vorn gab es noch einen letzten, langsam ersterbenden Dämmerungshauch. Ueber dem Felsenriffe aber stand der offene Himmel, und da reichte die Helle grad noch zu, den jenseitigen Bord des Abgrundes deutlich zu erkennen, aus welchem uns das „Sterben“ entgegen gähnte, denn „Tod“ giebt es ja doch nicht! Sollte uns da unten in der schauerlichen Spalte vielleicht Halefs Frage: „Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“ beantwortet werden?

Er griff nach seinem Gewehre, um es sich am Riemen über den Rücken zu hängen; da aber nahm ich es ihm weg und sagte:

„Halt, du sollst nicht beengt sein. Ich werde es mit zu den meinigen nehmen.“

„Aber du hast ja schon zwei!“ warf er ein.

„Thut nichts. Ich bin nicht so krank wie du, und [251] mein Assil Ben Rih springt besser als dein Barkh. Ich habe dich also zu entlasten.“

Er wollte es trotzdem nicht zugeben; ich schnitt aber alle weiteren Einwendungen dadurch ab, daß ich unsere beiden Pferde an den Zügeln nahm und sie um des Anlaufs willen so weit wie möglich in die Schlucht zurückführte. Als dies Nafar Ben Schuri sah, fragte er:

„Warum verlaßt ihr eure gute Stelle? Wollt ihr da hinten schlafen, wo die Luft so schlecht und so schwer zu atmen ist?“

„Nein,“ antwortete ich; „sondern wir wollen euch zeigen, wie ihr es machen müßt, wenn ihr morgen die Dschamikun fangen wollt.“

„Uns das zeigen? In welcher Weise?“

„Wir reiten über die Spalte.“

„Unmöglich! So einen Sprung bringt kein Pferd fertig. Wer ihn wagte, der wäre unbedingt wahnsinnig. Er würde nicht nur Allah versuchen, sondern in den sicheren Tod stürzen!“

„Wir verlassen uns allerdings auf Allahs Schutz; aber wahnsinnig sind wir nicht. Was euch mit euren Pferden verderblich sein würde, das dürfen wir den unseren wohl zutrauen. Macht Platz, und keiner stelle sich etwa in den Weg oder mache sonst eine Bewegung, uns zu hindern. Wir würden ihn niederreiten!“

„Aber, Sihdi, ich sage dir, daß ihr unbedingt da hinunter in den Riß - - -“

„Schweig!“ unterbrach ich ihn hart. „Du hast uns gar nichts zu sagen!“

Ich hatte die Absicht, ihn durch diesen meinen strengen Ton derart zu verblüffen, daß er jeden Schritt und jeden Griff nach uns unterließ. Und das gelang. Hatten wir einmal zum Sprunge angesetzt, so konnte jede Störung [252] uns das Leben kosten. Als kluger Mann hätte er sich nach dem eigentlichen Grunde dieses unseres Wagnisses fragen müssen, und da wäre er gewiß auf die einzige richtige Antwort gekommen, daß wir uns von ihm und seinen Leuten trennen wollten; aber dieses Vorhaben erschien ihm so ungeheuerlich, daß der Schreck darüber ihn zu gar keiner Ueberlegung kommen ließ.

„Denkt euch, ihr Männer,“ schrie er seinen Massaban zu, „unsere Gäste wollen über den Spalt springen! Das nenne ich eine Verwegenheit, die ganz unglaublich ist!“

Sie antworteten in ihrer wirren, lärmenden Weise. Wir achteten nicht darauf. Halef hatte Barkh bestiegen. Die Peitsche in der Hand, sah er mich mit zuversichtlichem Lächeln an und sagte:

„Ich bin bereit. Mein Rappe muß es verzeihen, wenn er in diesem seltenen Falle einmal einen Schlag von mir bekommt. Es kann dadurch ihm und mir das Leben gerettet werden. Soll ich jetzt?“

„Ich will erst vollständig freie Bahn machen und bitte dich noch einmal, ja nicht zu erschrecken oder dich umzusehen, wenn ich etwa schieße!“

Der ganze Vorgang spielte sich natürlich viel schneller ab, als ich ihn erzählen kann. Ich warf nochmals einen forschenden Blick auf Halef. Seine Haltung war fest und gut, und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines solchen Selbstvertrauens, als ob an ein Mißlingen des Sprunges gar nicht zu denken sei. Nun warf ich mir zwei Gewehre über den Rücken, machte das dritte schußfertig, schwang mich in den Sattel und ließ Assil derart nach der Spalte courbettieren, daß die wenigen Massaban, welche noch im Wege standen, zurückweichen mußten.

[253] „Ileri - vorwärts!“ rief ich nun Halef zu.

„Bi aun illah - mit Gottes Hilfe! Jatib, jatib, ia Barkh - spring, spring, o Barkh!“

Indem er diese Worte ausrief, trieb er sein Pferd an, welches nun wohl wußte, um was es sich handelte. Es flog, nein, es schoß in der Weise vorwärts, daß mein Ohr die einzelnen Hufschläge nicht voneinander unterscheiden konnte. Es gab in mir ein Gefühl, welches ich noch nie empfunden hatte und das mich wahrscheinlich auch jetzt nicht ergriffen hätte, wenn der Hadschi nicht so krank und matt gewesen wäre. Mein ganzes Wesen schien ein einziger, großer, lauter Hilferuf zu sein.

Da setzte Barkh hüben an - - jede seiner Muskeln war federnde Energie - - jetzt schwebte er über dem Abgrunde - - nun faßte er drüben Boden - - mit allen vieren - - schon war es mir, als müsse ich vor Freude jauchzen - - - da gab die jenseitige Kante unter seinen Hinterhufen nach - - sie rutschten ab - - - Halef erkannte die fürchterliche Gefahr - - - er hieb mit der Peitsche hinter sich nach der Weiche des Hengstes - - - dieser wollte empor, brachte es aber nur zu einem vergeblichen Kratzen des nun von der trügerischen Humusschicht befreiten, glatten Felsenrandes - - - sie mußten, mußten, mußten abstürzen, beide, Reiter und Pferd, wenn nicht mein Schuß noch Rettung gab! - - - Ich drückte ab. Der Krach wurde mit verzehntfachter Stärke von den Felsen zurückgeworfen und schien von hundert Echos wiederholt zu werden - - - es war, als ob dieser gewaltige Knall die mechanische Kraft besitze, die Hinterhand des Pferdes emporzuheben - - - oder war es die bewundernswerte Geistesgegenwart Halefs? - - - Er zog die Beine empor, legte beide Hände auf die Schulter des Rappen und schleuderte sich [254] seitwärts am Kopfe desselben vorüber nach vorn, wodurch er glücklich den festen Boden erreichte - - - das dadurch entlastete und durch den Schuß zur Anspannung aller Nerven getriebene Tier gewann die felsige Kante, that einige krampfhafte Sätze vorwärts und blieb dann, am ganzen Leibe zitternd, zwischen den Bäumen stehen. Halef folgte ihm wankend - - - drehte sich um - - - erhob den Arm, um mir zu winken - - - brach dann aber in einer Weise zusammen, als ob ein Schlag ihn zu Boden geworfen habe.

Ich glaube nicht, daß ich jemals im Leben so tief, so unendlich tief und erleichtert aufgeatmet habe, wie in jenem Augenblicke! Die Massaban hatten, wie vom Schreck gelähmt, vollständig still und unbeweglich gestanden; nun aber machten sie ihren Gefühlen durch ein Geschrei Luft, welches infolge des Echos gar nicht aus menschlichen Kehlen zu kommen schien. Sie sprangen hin und her, schlugen mit den Armen in die Luft und gebärdeten sich so, als ob sie toll geworden seien.

„Ruhe! Macht Platz!“ brüllte ich sie an, denn nur durch diese allerstärkste Art des Tones konnte ich mich ihnen hörbar machen.

„Bleib doch, bleib!“ schrie Nafar Ben Schuri. „Hast du denn nicht den sichersten, schauerlichsten Tod vor deinen Augen gesehen?!“

„Hast du denn nicht gesehen, daß dieser Tod gar nicht so sicher ist, wie du sagst?“ antwortete ich. „Gebt Raum! Nehmt euch in acht!“

Indem ich mein Pferd mitten unter sie hineintrieb, zwang ich die Horde, die Bahn wieder frei zu geben. Dann streichelte ich den schönen, warmen Hals des Rappen und bat ihn in ruhigem Tone:

[255] „Jatib, ia Assili, jatib - spring, o mein Assil, spring!“

Er wußte seinen Freund Barkh drüben, und er verstand diese meine Worte. Da bedurfte er gar keines Antriebes. Ich hörte, daß er die Brust voll Atem nahm, und hob mich in den Bügeln. Das gab ihm freie Spannung. Er that die wenigen Sammelsprünge in wunderbarer und nervenruhiger Sicherheit, kam ganz genau am Rande des Abgrundes zum Ansatze und ging leicht wie ein Gedanke über die Spalte hinüber. Noch vier, fünf Schritte, dann blieb er drüben, ohne daß ich ihn anzuhalten brauchte, genau neben Barkh stehen.

Dies war mit so verblüffender Leichtigkeit vor sich gegangen, daß die Massaban da hinten dieses Mal ganz still blieben. Ich sprang ab, warf die Gewehre weg und zog mit beiden Händen den Kopf des herrlichen Tieres an meine Brust. Assil hatte es verdient, daß ich vor allen Dingen erst ihm einige dankbare Schmeichelworte sagte; dann aber mußte ich nach Halef sehen.

Er lag am Boden und regte sich nicht. Tot war er natürlich nicht, sondern nur besinnungslos und zwar nicht etwa vor Schreck oder Angst, sondern infolge der Ueberanstrengung aller seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Der längst von mir befürchtete Augenblick des endlichen Zusammenbrechens hatte sich nun eingestellt!

Was war zu thun? Da - - - horch! War das nicht eine halblaute Stimme, welche mich rief?

„Sihdi - - - Sihdi!“

Das klang hinter einem der starkstämmigen Bäume hervor.

„Wer ruft?“ fragte ich.

„Ich! Der Scheik der Dschamikun.“

„Peder?“