Viele meiner Leser sind, wie ich weiß, in Palästina gewesen. Die Meisten von diesen werden wohl auch, wie einst der Mann im Gleichnisse Christi, von Jerusalem hinab nach Jericho gegangen sein. Er-Riha wird diese Stadt vom heutigen Araber genannt. Von ihr aus geht es über eine alte, verfallene Brücke nach dem fernliegenden „Toten Meere“. Nach der andern Seite führt, an zerlumpten, niedrigen Beduinenzelten vorüber, ein bequemer Weg nach Aïn es Sultan1) [1) Sultansquelle.], wo die eingeborenen Bettler gern unter Wasser tauchen, um die für sie hineingeworfenen Geldstücke herauszuholen. Trinken aber mag man lieber vor als nach dieser Prozedur!
Geht man von hier aus noch weiter, so sieht man den imposanten Dschebel Qarantel vor sich liegen, der sich aus dem Abgrunde wie ein böser Traum aus tiefem Schlaf erhebt. Seine Einsamkeit hat schon in den frühesten Zeiten anziehend auf fromme Anachoreten gewirkt. Die Höhlen wurden von ihnen bewohnt. Zelle gesellte [340] sich zu Zelle. Sie sind hoch am schwindelnd steilen Fall der Felsen gelegen. Heute wird diese Siedlung als Strafkolonie für griechisch-katholische Priester gebraucht.
Warum diese scheinbar unmotivierte Abschweifung nach dem gelobten Lande? Der Aehnlichkeit der Orte wegen. Ich kann die Lage des von dem Ustad bewohnten „hohen Hauses“ eigentlich nur Denen deutlich machen, welche den Dschebel Qarantel gesehen haben. Und doch wie so verschieden sind sie beide von einander. Bei Jericho jeder Nomade ein geborener Bettler; hier in dem abgelegenen, kurdischen Orte jeder Bewohner ein Ehrenmann. Dort Einöde, hier das gepflegteste Tier- und Pflanzenleben. Dort abgrundtiefes Grauen und hier ein herzerfreuender Blick von der Höhe in die Tiefe. Dort die unerbittlich geballte Faust der geistlichen Oberbehörde und hier aber die stets gütig geöffnete Hand dessen, der nur von der Liebe zu seiner dominierenden Würde emporgehoben worden war. Auch in Jericho habe ich unter freiem Himmel wiederholt ganze Nächte durchgewacht. Warum? Der Unsauberkeit und des Ungeziefers wegen, welches mich aus der Wohnung heraus bis an den verwilderten Garten trieb. Da strahlten mir auch die Sterne; aber die körperliche Qual ließ auch nur häßliche geistige Bilder zu. Ich sah am Tel ed Dem1) [1) Bluthügel.] den Chan Chadrur vor mir liegen, welcher die Herberge sein soll, in die der barmherzige Samariter seinen Pflegling brachte. Dort habe ich für eine Flasche allerschlechtesten Bieres drei Mark bezahlt. Ein Glas widerlich parfümiertes Wasser kostete einen Frank. Wer aus Sparsamkeit nicht einkehrt, ist des fernern Weges nicht sicher. Die Verhältnisse sind nach zweitausend Jahren noch ganz die- [341] selben. Das ist „das gelobte Land“! Wie herrlich weit hat man es dort gebracht! Damals war der Samariter, der verachtete Ketzer, der Barmherzige. Wie ist es jetzt? Wenn ich mir diese Frage unter dem Sternenhimmel Jericho's vorlegte, so stand kein Stern mehr über Bethlehem, und keine Schar Engel fand sich ein, um ihr „Et in terra pax, hominibus bonae voluntatis“ zu singen. Vor christlicher Zeit wurde der Jude von Räubern überfallen, beraubt und fast erschlagen. Jetzt, nach zwanzighundert Jahren, steht es nicht besser um diese und ähnliche, oft intellektuelle und moralische Wegelagerei. Jetzt fallen Christen über Christen her. Besonders wer es wagt, nicht den von jedermann betretenen sondern, seinen eigenen Glaubensweg von oder nach der heiligen Stadt zu gehen, der kann sehr leicht an sich selbst erfahren, was Lucas 10 Vers 30 zu lesen ist. Christus wußte gar wohl, weshalb er grad dem Schrift- und Buchstabenstolz mit seinem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter diese ewig unheilbare Wunde schlug. Auch wir Christen haben unser Jerusalem und unser Jericho mit dem „Toten Meere“ in der Nähe. An dem Wege zwischen beiden liegt das un- mit dem egogläubigen Strauchrittertum im Hinterhalte. Wo ist die Humanität, die wahre christliche Liebe und Barmherzigkeit? Soll sie auch noch in der Gegenwart nur dem ketzerischen Samariter überlassen bleiben? Gehen etwa auch jetzt noch Priester und Leviten an dem Angefallenen vorüber, ohne sich seiner anzunehmen? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, als ich des Nachts unter den staubigen Oleandern von Jericho saß und an die göttliche Lehre von der Nächstenliebe dachte.
Dagegen hier im christenfernen Kurdistan! Welch eine herrliche Auslegung hatte da das Gleichnis des [342] Herrn an uns selbst gefunden. Wer und was waren hier die Barmherzigen? Etwa Christen? Priester und Leviten? Vielleicht auch nur Ketzer, denn ich hatte ja ihre Glaubenssatzungen noch gar nicht kennen gelernt. Es war bisher nur von Chodeh, also von Gott gesprochen worden. Gab es bei ihnen überhaupt Satzungen? Waren sie mir verschwiegen worden, weil man annahm, daß nur die Liebe, nicht aber die Konfession barmherzig sei? Was für ganz andere, viel tröstlichere Gedanken waren mir gestern abend unter dem hiesigen Sternenhimmel gekommen! Hier war ich nicht um meines Dogma willen, sondern als Mensch von guten Menschen aufgenommen und mit größter Aufopferung gepflegt worden. Niemand hatte mich gefragt, wo ich getauft und wo ich konfirmiert oder gefirmt worden sei. Giebt das der Liebe einen mindern oder höhern Wert? „Wer ist mein Nächster?“ - „Der, welcher die Barmherzigkeit an mir that!“ Wenn aber ein Christ mir Haß oder Neid anstatt der Liebe giebt, was ist er dann für mich? Mein Nächster? Oder noch schlimmer als nur fremd? Ist er dann überhaupt ein Christ?
Wie herrlich war der Nachmittag unter den Platanen, in deren Schatten man für mich die Kissen zum Sitzen aufgerichtet hatte. Die Sonne brannte, doch konnten die Strahlen nicht durch die dichten Wipfel dringen. Die Rosen dufteten; jede Pflanze schien Wohlgeruch auszuatmen. Ich befand mich nicht weit genug vom Hause entfernt, um es und seine Lage ganz überschauen zu können. Es stand auf kompaktem Felsengrund, dessen Spalten durch festes Mauerwerk ausgefüllt worden waren. Sein hinterer Teil nahm die natürlichen Höhlungen des Gesteines ein. Der vordere Teil ragte frei empor, mehrere Stockwerke hoch und war von ansehnlicher Breite. [343] Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung; wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt. Doch habe ich ganz ähnliche Krönungen auch in alten Orten des obern Niles getroffen. Ueber dem Dache gab es in dem Felsen offene Höhlungen, zu denen schmale Stege emporführten. Das erinnerte mich lebhaft an den „Stabl Antar“ bei Siut, der ganz ebenso zu ersteigen ist. In einer dieser Höhlen sah ich die beiden Glocken hängen. Sie war halbkugelförmig ausgebaucht. Die Tonschwingungen konnten nur nach der einen, offenen Seite fließen, was ihnen eine erhöhte Stärke und beträchtlich erweiterte Hörbarkeit verlieh.
Glocken hier im persischen Kurdistan? So wird wohl mancher fragen. Ich habe freilich viele, viele Menschen kennen gelernt, welche der falschen Ansicht sind, daß nur das Christentum Glocken besitze und daß es in früherer Zeit noch keine gegeben habe. Wenn sogar im Konversationslexikon von Pierer zu lesen ist, daß die Glocken eine Erfindung der christlichen Kirche seien, so darf man sich nur wundern. Kleinerer Glöcklein bediente man sich schon im frühesten Altertume; aber schon im alten China gab es größere und sogar große. Die zu Peking ist über zwölfhundert Zentner schwer und fast fünf Meter hoch. In Aegypten wurden die Osirisfeste durch Glockenspiele eingeläutet. Man hat kleine Bronzeglocken in Assyrien ausgegraben. Im alten Indien wurden die Buddhisten durch große, metallene Glocken zum Gottesdienste zusammengerufen. Bei den Griechen bedienten die Priester der Kybele und der Persephone ihre Glocken, und Kaiser Augustus ließ eine Glocke vor dem Tempel des Jupiter aufhängen. Glocken indischer oder assyrischer Form kamen nach Persien. Die griechische Kirche liebte und verbreitete besonders das Glockenspiel. Im Quellenlande des Euphrat [344] und des Tigris, wo es heut noch Christen uralten Bekenntnisses giebt, besaßen wohlhabende Gemeinden schon zu frühen Zeiten ihre Glocken. Der Islam verhielt sich ablehnend, doch geduldete Christen durften ihre Glocken behalten. So war es also gar kein Wunder, daß auch die Dschamikun zwei besaßen, zu denen sie, wie ich später erfuhr, durch den Ustad auf ganz eigentümliche Weise gekommen waren. Es führte eine bequeme Treppe zu ihnen hinauf, so daß man also auch des Nachts ohne Besorgnis emporsteigen konnte.
Von da aus, wo ich saß, konnte man den Eingang zu dem freien Platze sehen. Man verschloß ihn durch ein großes Thor, welches jetzt offen stand. Von diesem Platze aus stieg man die Stufen zu der Halle empor. Links führte ein Weg nach einer breiten, hohen Thür, deren starke Steinpfosten gewiß schon seit Jahrtausenden standen. Rechts ging man nach einem Garten, in welchem zwischen Obstbäumen Blumen und Gemüse gepflegt wurden. Dorthin beschloß ich, meinen ersten Spaziergang zu machen. Ich griff zum Stocke und stand auf. Die Beine zitterten zunächst ein wenig, und die Füße wollten lieber auf dem Kissen liegen bleiben. Aber sie mußten gehorchen, und als sie sahen, daß ich bei meinem Willen blieb, fügten sie sich in das Unvermeidliche.
Ich kam über den ganzen Platz hinüber bis zur Garteneinzäunung, an der ich aber halten blieb, um auszuruhen. Nachdem ich dies gethan hatte, ging es weiter, in den Garten hinein. Er war sehr groß. Es gab da eine ganze Menge Beete, von deren Erträgnissen ein großer Haushalt bestritten werden konnte. Zwischen ihnen standen viele Bäume, welche Früchte trugen. In leidlicher Entfernung sah ich ein Weichselgebüsch, an welchem eine Bank stand. Dort wollte ich mich nieder- [345] setzen. Ich ging also hin. Hierbei kam ich an zwei nahe beieinander stehenden, persischen Erikan1) [1) Pflaumenbäume.] vorüber, welche so voller Früchte hingen, daß ihrer fast mehr als Blätter waren. Es war eine frühe, eigroße, köstlich blaurot gefärbte Pflaume! Ja, köstlich!!!
Wenn ich hier erst ein und dann sogar drei Ausrufezeichen mache, so hat das seinen guten Grund. Obst geht mir über jede andere Speise. Ich esse da gewiß so viel, wie sogar meine vier Ausrufezeichen schwerlich vermuten lassen. Und Pflaumen? Gar von dieser geradezu zum Stehlen einladenden Sorte? Man würde staunen, wenn ich sagen wollte, wieviel ich da essen und aber auch vertragen kann. Ich sage es also lieber nicht. Das alles gilt aber nur vom Obste. In Beziehung auf andere Speisen sind die sogenannten Tafelfreuden für mich nichts als Tafelarbeiten. Ich weiß, und ich schmecke, was gut ist oder nicht; ich kann sogar auch tadeln; aber ich esse nicht, um zu essen, sondern weil ich leben bleiben will. Gekünsteltes oder Complicirtes schiebe ich zurück. Ich will einfach essen, womöglich nur eine einzige Speise, aber gut. Das Zusammengesetzte ist keineswegs so zuträglich wie man denkt. Ich habe das an mir und tausend Andern erfahren. Wenn die Menschen doch wüßten, was die Art und Zubereitung der Nahrung für einen Einfluß, für eine Wirkung hat! Doch, hierüber könnte man Bücher schreiben, und es würde doch vergeblich sein. Aber, daß ich jetzt als Sechzigjähriger mich körperlich und geistig noch genau so jung und arbeitsfreudig wie ein Zwanzigjähriger fühle, das habe ich wohl vorzugsweise dem Umstande zu verdanken, daß ich so einfach und so wenig wie nur möglich esse. Obst aber, so viel [346] ich immer kann, das ganze Jahr hindurch. Nach dem Preise soll man da nicht fragen. Und Pflaumen! Solche, wie grad hier - - -!
Da stand ich unter den Bäumen und schaute sehnsüchtig hinauf. Wem gehörten sie? Wer war der Glückliche, der da pflücken oder gar schütteln konnte, ohne erst jemand fragen zu müssen? Der Ustad? Der Pedehr? Weder der eine noch der andere war da. Es gab überhaupt im ganzen Garten keinen Menschen, an den ich eine Bitte hätte richten können. Was nun thun? Soll ich? Oder soll ich nicht? Darf ich überhaupt? Adam und Eva im Paradiese wußten wenigstens, daß sie nicht durften; ich aber wußte nicht einmal das! Doch wozu diese übermäßige Zartheit des Gewissens! Bei solcher Art von Pflaumen! Ich war ja Gast! Und der Garten gehörte einem Orientalen, nicht einem abendländischen Besitzer, bei dem das Bäumeschütteln nicht mit zu den unveräußerlichen Rechten des bei ihm Aufgenommenen gerechnet wird! Ich legte also beide Hände an den einen Stamm und - - - schüttelte.
Hei! Was gab das für einen Erfolg! Es regnete förmlich Pflaumen auf mich nieder! Das freilich hatte ich nicht gewollt! Es hatten nur einige fallen sollen; aber sie waren beinahe überreif, und in Anbetracht meiner jetzt noch so geschwächten Kräfte hatte ich mich zu energisch in das Zeug gelegt: Weit über die Hälfte der Früchte lagen nun jetzt unten. Ich stand da mit wohl demselben Gefühle wie jener Reiter, der sich links so kräftig auf das Pferd geschwungen hat, daß er rechts, auf der anderen Seite wieder hinuntergefahren ist. Jedes Zuviel ist eben schädlich! Aber da ich die herabgefallenen Pflaumen doch unmöglich wieder oben anheften konnte, so füllte ich mir die Taschen, ließ die andern liegen und ging dann [347] nach der erwähnten Bank, um dort zu thun, was nun das beste war, nämlich meinen Raub genießen.
Ich saß nun so, daß ich die beiden Pflaumenbäume nicht mehr sehen konnte. Das minderte die Kraft der Vorwürfe, welche ich mir zu machen hatte. Ich aß! Aber, es ist nichts so fein gesponnen, El Aradsch bringt es an die Sonnen. Wer ist El Aradsch? Das wird man sogleich sehen und sogar auch hören. El Aradsch heißt: der Lahme.
„Auch Frenk maidanosu mit, zur Abendsuppe!“ rief hinter mir eine eigentümlich fette Stimme.
Frenk maidanosu ist ein türkisches Wort und heißt zu deutsch Kerbel. Also für heute abend stand eine Potage von Kerbel in Aussicht. Das war zwar gut und auch leicht verdaulich, aber für mich sollte das in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Pflaumendieb außerordentlich verhängnisvoll werden. Zunächst noch ganz ahnungslos, drehte ich mich um, zu sehen, wer gesprochen hatte und wem die Worte galten. Ich mußte mit der Hand das Weichselgezweig auseinander schieben, um nach dem Hause hinschauen zu können. Ich erblickte zunächst eine unendlich lange, männliche Gestalt, welche bis über die Kniee hinauf barfuß war. Von dieser Gegend an war ein blaues, sackähnliches Hemd zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen [348] Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattern! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missethat, die ich begangen hatte.
Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben?
Ich sah eine jetzt geöffnete Thür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn that sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Aeuglein unter ihr! Ja, diese Aeuglein! Wer kann über- [349] haupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht - - ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen!
„Maschallah - - Wunder Gottes!“ hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf.
Ich wendete mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweige. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf.
„Ahija - o wehe!“ klagte er.
Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang.
„Ja charami - o, du Spitzbube!“ rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute.
Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien.
„Iil'an Daknak - verflucht sei dein Bart!“ schimpfte er, und als er den Thäter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: „Allah jelisak borneta - Allah setze dir einen Hut auf!“
Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, [350] vielleicht gar einen hohen Cylinder, occidentalisch „Angströhre“ genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er that dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht.
„Allah ja'lam el gheb - Allah kennt das Verborgene!“ seufzte er endlich erleichtert.
Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blicke, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte.
„Men schabar nahl - wer Ausdauer hat, dem gelingt es!“ rief er aus.
Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte.
„Wer bist du?“ fragte ich.
„Du - - du - - du hast die Pflaumen - - - meines Ustad gestoh - - -“
Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da [351] konnte ich ruhig sein; der gönnte sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Munde flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden „Festjungfrau“.
„Wo sind denn die Räuber, die Mörder?“ fragte sie.
„Hier, hier! Komm, komm!“ antwortete er.
„Wen haben sie ermordet?“
„Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!“
„Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!“
„Komm nur; komm, und sieh ihn an!“
Sie kam; sie stand schon da.
„Zeig, Tifl !“ gebot sie ihm.
Tifl heißt „mein Kind“, sogar „mein kleines Kind“. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühle meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein „kleines Kind“ war, welche Länge mußten da die großen Kinder [352] wohl hier zu Lande haben! Die „Festjungfrau“ war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe.
„Das ist er!“ sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete.
„Wer?“ fragte sie.
„Der Dieb.“
„Was hat er gestohlen?“
„Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!“
Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte:
„Die besten, grad die allerbesten!“
„Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!“ klagte er mit.
„Bis zur Stunde der höchsten Reife!“ fuhr sie fort.
„Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!“ fügte er hinzu.
„Er hat wohl noch genug!“ tröstete ich.
Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an:
„Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?“
„Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!“ erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens.
„Das wißt ihr nicht?“ antwortete ich.
„Nein,“ sagte sie.
„Ihr habt mich noch nicht gesehen?“
„Noch nie! Doch, wer du auch seiest, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!“
„Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Hause. Ich bin des Ustad Gast.“
[353] „Gast? Seit heut?“
„Seit Wochen schon.“
„Seit Wo - - Wo - - - Wochen - - Wo - - -!“
Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farben; das Kinn zeigte sich ängstlich gespannt; das Näschen wollte verschwinden, und die Aeuglein schlossen sich, zwar langsam aber ganz. Hatte sie etwa einmal von einer Europäerin gesehen, welche Ritterdienste in solchen Fällen von einer kleinen Ohnmacht zu erwarten sind? Nein! Die Aeuglein öffneten sich wieder. Sie wurden sogar noch größer, als sie vorher gewesen waren.
„Heut - heut - verläßt der - - der fremde Effendi - - zum erstenmal - - das Haus - - -“, stotterte sie.
„Du hast ihn wirklich noch nicht gesehen?“ fragte ich.
„Nein. Niemand von uns - - durfte die Halle betreten. Bist du - - du etwa der - - - der Effendi?“
„Ja, ich bin's.“
Da fuhr sie vor Entsetzen zwei Schritte zurück. Ihr liebes Gesicht verlor nun alle, alle Farbe. Der Lange aber schoß in seinem Schreck noch höher empor, als er eigentlich gewachsen war. Wahrscheinlich wollte er mit der gedankenreichen Stirn so hoch hinaus, daß ihr meine Rache unmöglich etwas anhaben konnte. Diese Bewegung brachte ihn auf eine rettende Idee:
„Ich hole Kerbel!“ rief er aus.
Mit drei Sätzen seiner langen Beine war er bei den beiden Bäumen, raffte den Korb auf, schüttete die hineingelesenen Pflaumen wieder heraus und rannte fort, um [354] die fernste Ecke des Gartens zu erreichen. Ich sah ihm lachend nach und hatte dabei nicht acht auf meine „Festjungfrau“. Da erklang es neben mir:
„Und ich muß in die Küche!“
Da drehte ich mich um. Sie war schon weg. Ich schob die Zweige auseinander, um ihr nachzusehen. Sie schoß in größter Eile auf einige Hausbedienstete zu, welche auch von den Hilferufen angelockt worden waren, aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen.
„Fort! Weg mit euch!“ rief sie, indem sie an ihnen vorüberkam. „ ‚Das Kind‘ hat wieder eine Dummheit gemacht. Stört dort den Effendi nicht!“
Hierauf verschwand sie in ihrem wohlthätigen Reiche. Vor mir lag eine ihrer beiden Rosen, die ihr entfallen war. Ich hob sie auf und steckte sie zu mir. -
Warum erzähle ich dies eigentlich nichts weniger als bedeutende Ereignis hier? Weil im Menschenleben oft das, was gleichgültig erscheint, später größere Wichtigkeit gewinnt, als man vorher vermuten konnte.
Nach einiger Zeit kam „das Kind“ aus seiner Gartenecke zurück, hütete sich aber wohl, an mir vorbeizugehen. Es machte vielmehr einen Bogen hinterwärts, um wieder in die Küche zu gelangen. Hierauf verließ auch ich den Garten, versäumte aber nicht, mir die Taschen noch einmal mit Pflaumen zu füllen. Noch hatte ich mich nicht lange niedergesetzt, da kam der Pedehr. Er war in der Küche gewesen, und die Köchin hatte ihm erzählt, was geschehen war. Er fragte mich, ob mir „das Kind“ sehr wehe gethan habe. Ich beruhigte ihn mit Vergnügen.
„Er wird von uns nur ‚Kind‘ genannt,“ sagte er. „Andere pflegen ihn El Aradsch, den Lahmen, zu nennen. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis, welche du später auch noch kennen lernen wirst. Du liebst das Obst?“
[355] „Ja. Ich esse es sehr gern, und zwar ungewöhnlich viel.“
„Thue das, so lange du lebst! Die reine, keusche Lebenskraft ist nicht im Fleische des ausgewachsenen Tieres vorhanden. Genießt man welches, so soll es nur ganz junges sein. Das reife Tier giebt auch dem Menschen, der es genießt, tierische Reife. In der Frucht des Baumes aber ist das reinste Leben aufgespeichert, weil Wurzeln, Stamm und Zweige das Unreine zurückbehalten haben. Nun weißt du, warum der Ustad uns gelehrt hat, nicht nur Felder, sondern auch Gärten anzulegen.“
Hatte der Pedehr recht? Ich habe mich später an seine Weisung gehalten und befinde mich sehr wohl dabei!
Hanneh und Kara kamen abwechselnd zu mir auf den Vorplatz heraus. Ich erfuhr von ihnen, daß Halef still und ruhig schlafe.
Später hatte ich das Vergnügen, die Köchin und „das Kind“ wiederzusehen. Sie wollten miteinander hinunter in das Dorf und mußten da an mir vorübergehen. Das Kind hatte jetzt ein längeres Gewand angelegt, welches fast bis an die Knöchel reichte. Die Gebieterin der Küche hatte sich mit einem langen, weiten, weißen, schleierähnlichen Stoff geschmückt, welcher, ihr Gesicht freilassend, von dem Kopfe aus hinten niederfiel und, nach vorn zusammengerafft, die ganze Gestalt einhüllte. Es war an ihr überhaupt, jetzt und auch später, nichts als nur Weiß zu sehen.
Man sah Beiden an, daß sie sich meinetwegen in Verlegenheit befanden. Sie näherten sich nur zögernd. Sie sagte ihm etwas und schob ihn dann mit der Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, that einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte:
„Effendi, ich bin Tifl.“
[356] Das war ganz genau dasselbe, als wenn er in deutscher Sprache gesagt hätte: „Effendi, ich bin ein kleines Kind.“ Ich mußte lächeln und nickte ihm zu.
„Aber ich bin nicht klein!“ fuhr er fort.
Ich nickte wieder.
„Ich bin ein Mann!“ versicherte er.
Ich nickte abermals.
„Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!“
„Das hast du an mir bewiesen,“ bestätigte ich.
„Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?“
„Ja, das hatte ich.“
„Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?“
„Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.“
Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte:
„Hast du es gehört, o Pekala?“
Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet „die Köstliche“. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm:
„Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts [357] als Fehler macht. Und nun thu, was ich dir befohlen habe!“
Er wendete sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich.
„Soll ich es wirklich machen, Effendi?“ fragte er mich.
„Was?“
„Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.“
„Wofür?“
„Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.“
„Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!“
„Recht?“ fragte er in freudiger Ueberraschung.
„Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich that, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht gethan.“
Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an.
„Du tadelst mich also nicht?“ fragte er.
„Nein.“
„Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?“
„Ja.“
„Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?“
„Nein, lieber Tifl.“
„Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala? [358] Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!“
Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb.
„Hast du die Rosen lieb, Effendi?“ fragte sie mich.
„Ja, sehr,“ antwortete ich. „Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?“
„Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?“
„Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.“
„Ich danke dir! Oemürün tschok ola!“
Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung?
„Allah billingdsche olsun - Gott sei mit dir!“ antwortete ich.
Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte:
„Du verstehst türkisch?“
„Ja.“
„So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?“
„Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!“
Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete:
„Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!“
Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höf- [359] liche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum thut man das so wenig?
Kurze Zeit hierauf kam Kara aus der Halle. Er sagte mir, daß sein Vater für einige Augenblicke aufgewacht sei, und dabei, wie noch halb im Schlafe, mit leiser Stimme die Worte gesagt habe:
„Kara muß die Pferde üben!“
Er hatte darum die Absicht, jetzt, wo die Hitze des Tages vorüber war, bis zum Abend auszureiten, und zwar mit allen drei Pferden, weil Assil und Barkh so lange Zeit nicht vom Hause fortgekommen waren. Er sattelte auch sie, weil er es nicht für vornehm hielt, sie nackt nebenherlaufen zu lassen, setzte sich auf Ghalib und ritt dann zum Thore hinaus.
Hierauf mochten kaum zehn Minuten vergangen sein, so hörte ich von der Gegend dieses Thores her ein lautes, schnaufendes Atemholen. Ich drehte mich um. Tifl kam wieder, aber wie! Er machte Sprünge, als ob es sich um sein Leben handle. Seine langen Beine flogen nur so! Um bei dem so eiligen Laufe die Mütze nicht zu verlieren, hatte er sie abgenommen und trug sie in der Hand.
„Was ist geschehen?“ fragte ich, als er an mir vorüber wollte.
Er blieb für einen Augenblick stehen.
„Der junge Haddedihn!“ antwortete er, indem er die Hand mit der ledernen Spinne durch die Luft schwang.
„Kara Ben Halef?“
„Ja.“
„Der ist soeben fort.“
„Ich weiß es, Effendi.“
[360] „Er reitet aus.“
„Und ich darf mit! Ich habe ihn gefragt! Hamdulillah! Ich bin schnell heraufgerannt, um das Pferd zu holen!“
Hierauf rannte er weiter, nach dem Garten hin, hinter dem sich, was ich noch nicht wußte, eine grasige Weide für Pferde an der Seite des Berges hinzog. Wie „das Kind“ sich freute! Für Kara war es freilich nützlich, jemand, der die Gegend kannte, mitzunehmen. Aber grad diesen Tifl? Und wer weiß, auf welchen alten Gaul er sich wagen durfte! Es sollte doch wohl eine Schnelltour mit unsern edlen Tieren werden!
So waren meine Gedanken. Ich kannte „das Kind“ eben nicht. Man soll sich stets hüten, vorschnell zu urteilen! Wer kam nach kaum einer Minute im eiligen Trabe aus dem Garten? Sahm, der Braune des Ustad. Ohne Sattel und Zaum! Nicht einmal eine Leine um den Hals! Er sprang nach dem Thore zu. Hinter ihm her rannte „das Kind“, strahlende Wonne im ganzen Gesicht.
„Den willst du reiten?“ rief ich ihm zu. „Er geht dir ja durch!“
Da lachte er laut auf. Mit zwei, drei weiten Sätzen hatte er das Pferd erreicht. Ein kühner, wundervoll abgemessener Sprung, und er saß oben. Die langen Beine legten sich fest an den Leib des Pferdes. Ein Wehen mit der Kurdenmütze nach mir zurück, dann flog der seltsame Centaur zum Thore hinaus. Wer hätte denken können, daß dieser so willenlos und unbehilflich erscheinende Tifl ein solcher Reiter sei! Es war zum Verwundern!
Wie aber hatte Kara auf den Gedanken kommen können, grad „das Kind“ und keinen andern mitzunehmen? Das war folgendermaßen geschehen:
[361] Als der junge Haddedihn den Berg hinabritt, hatte er die Absicht, den Weg einzuschlagen, den er mit seiner Mutter gekommen war. Dies war ja der einzige, den er kannte, doch auch nicht genau, weil es bei der Ankunft ja nicht mehr Tag, sondern Abend gewesen war. Als er jetzt nun durch den Duar ritt, sah er die Köchin und Tifl vor einem Hause stehen, mit dessen Bewohnern sie sprachen. Er wollte an ihnen vorüber, doch ging das nicht so glatt, wie er gedacht hatte. Assil und Barkh zeigten nämlich die Absicht, stehen zu bleiben. Sie drängten nach Pekala und ihren Begleiter hin.
„Kennen euch die Pferde?“ fragte er.
„Sehr gut,“ antwortete die „Köstliche“. „Sie haben sogar sehr innige Freundschaft mit uns geschlossen.“
„Wie ist das gekommen? Ich habe noch nie gesehen, daß sie Fremden eine solche Zuneigung schenkten.“
„Wahrscheinlich ist es Dankbarkeit. Sie grämten sich; sie weigerten sich, zu fressen. Da habe ich ihnen die besten und grünsten Leckerbissen aus der Küche hinausgetragen oder durch „unser Kind“ geben lassen. Das nahmen sie. So lernten sie uns kennen. Nun freuen sie sich stets, wenn sie uns sehen.“
„Ja, Tiere sind für die ihnen erwiesenen Wohlthaten oft dankbarer als die Menschen. Auch ich danke Euch!“
„Aber diese ihre Dankbarkeit hat die beiden Rappen nicht verleiten können, ihren Herren ungehorsam zu sein.“
„Wie meinst du das? Was deutest du da an?“
Da zeigte sie auf Tifl und antwortete, indem sie pfiffig lächelte:
„Richte deine Frage an diesen hier, an unser Kind! Ich habe es nur gesehen; er aber hat es gefühlt!“
Da sprach der Lange in vorwurfsvollem Tone:
[362] „Warum sprichst du davon, o Pekala? Du solltest es doch nicht verraten! Was habe ich dir gethan, daß du mich so beschämen willst?“
„Es geschieht zu deiner Erziehung. Kinder müssen erzogen werden. Ich hatte es dir verboten, und du thatest es aber doch. Da flogst du freilich herab!“
„Ah, du bist aufgestiegen?“ fragte Kara.
„Ja,“ gestand Tifl, indem sein Gesichtchen einen unendlich kläglichen Ausdruck annahm.
„Auf welchen? Assil oder Barkh?“
„Ich habe es mit beiden probirt.“
„Nun, weiter?“
Da riß er sich mit der linken Hand die Spinnenmütze vom Kopfe, um mit der Rechten kratzend in die Haare zu fahren, und antwortete:
„Ich mußte herunter!“
„Ja, das glaube ich! Wir haben es sie so gelehrt. Du warst kaum oben, so flogst du wieder herab!“
Da richtete sich „das Kind“ in seiner ganzen Länge auf und rief:
„Kaum oben? Oho! Ich bin Tifl, der nur dann aus dem Sattel geht, wenn er will! Es hat mich noch kein Pferd zwingen können, es unfreiwillig zu verlassen!“
„Aber diese beiden doch!“
„Ja. Aber ich würde schwören, daß es eine Lüge sei, wenn ich nicht selbst der heruntergeworfene Tifl wäre! Doch so sehr schnell, wie du meinst, ist es nicht geschehen. Es gab einen Kampf, einen schweren Kampf, doch, doch - - - doch - - -“
Er zögerte mit den Worten; es fiel ihm schwer, seine Niederlage einzugestehen. Da fiel die Köchin lachend ein:
„Ich stand dabei; ich sah den Kampf. Tifl glaubte, [363] es erzwingen zu können; aber die Pferde wollten nun einmal nicht, und so mußte das Kind fliegen.“
„Erst nach längerer Zeit? Nicht gleich?“ fragte Kara. „Das ist sonderbar! Dann müßtest ja du eigentlich ein besserer Reiter sein, als ich je einen gesehen habe!“
„Der? Das Kind? Ein Reiter? Bloß eigentlich?“ fragte Pekala. „Natürlich ist er das! Er ist ja Sa'is1)
[1) Pferdejunge.] beim Schah-in-Schah gewesen!“
„Maschallah! Sa'is? Beim Beherrscher von Persien? Warum ist er das nicht geblieben?“
„Weil das Kind zu sehr wuchs. Es brauchte mit jeder neuen Woche auch eine neue Uniform,“ scherzte die Köchin. „Darüber wurde es dem Schah-in-Schah himmelangst; er konnte das nicht aushalten und schickte Tifl also fort. Hier bei uns kann er wachsen, so hoch er will. Wir haben keine kostbaren Stallungen, welche er dadurch demoliert, daß er mit dem Kopfe durch die Decken stößt.“
„O, meine Pekala, was hast du heut wieder einmal für ein böses Herz!“ klagte der Lange. „Ich weiß ja, daß ich dem Schah-in-Schah zu lang, zu dünn und also zu häßlich wurde; aber grad dieser meiner Länge wegen sitze ich auf dem schlimmsten Pferde fest, weil meine Beine seinen ganzen Leib umfassen - - -“
„Und mit den Füßen kannst du unten sogar noch einen besonderen, festen Knoten knüpfen“, fiel sie ein. „Darum bist du der einzige, der unsern Sahm richtig zu reiten versteht.“
„Wer ist Sahm?“ fragte Kara.
„Das ist die berühmte, echtblütige Stute des Ustad, [364] auf welcher unser Pedehr von Kara Ben Nemsi eingeholt worden ist. Hätte ‚das Kind‘ auf ihr gesessen, so - - -“
Tifl ließ sie den begonnenen Satz nicht vollenden; er fiel schnell und eifrig ein:
„Ich hätte mich ganz gewiß nicht einholen lassen!“
„Assil schlägt jedes andere Pferd!“ behauptete Kara.
„Kennst du unsere Stute?“ fragte Tifl.
„Nein.“
„Hast sie aber gesehen?“
„Noch nicht.“
„Soll ich sie holen?“
„Hierher? Warum holen? Ich darf sie wohl später sehen!“
„Du reitest aber jetzt spazieren. Mit deinen edlen Pferden. Wohin?“
„Das weiß ich nicht genau. Ich kenne eure Gegend noch nicht. Ich will unsere Tiere im Laufen üben. Weißt du, des Wettrennens wegen!“
„Bei diesem Rennen werde ich Sahm reiten. Erlaube mir, daß ich jetzt mit dir übe. Ich eile. Ich hole die Stute. Warte hier! In zehn Minuten bin ich wieder hier!“
Er rannte fort, ohne die Antwort Karas abzuwarten. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu verweilen, bis nach noch nicht zehn Minuten Tifl auf ungezäumtem und ungesatteltem Pferde wieder bei ihm eintraf. Er ritt die Stute, damit Kara sie beobachten möge, in den verschiedenen Gangarten einigemale hin und her und fragte ihn dann, was er zu ihr sage. Kara besaß zwar viel von der großen Lebhaftigkeit seines Vaters, hatte dazu aber von seiner Mutter jene Bedachtsamkeit geerbt, welche vor- [365] schnelles Reden oder Thun vermeidet. Er hütete sich also, ein Urteil auszusprechen, und lobte ihre sichtbaren Vorzüge, ohne zu sagen, ob er einen Fehler an ihr entdeckt habe. Dann fragte er Tifl, nach welcher Gegend man einen Spazierritt, wie der beabsichtigte sei, am besten machen könne. Der Gefragte antwortete, seinem Namen „Kind“ gar nicht entsprechend, außerordentlich sachgemäß:
„Wir müssen einen großen, freien Platz zum Galoppieren haben, dann aber auch steile, beschwerliche Wege, welche uns zeigen, was unsere Pferde auf ihnen zu leisten vermögen. Von hier aus nach Osten liegt eine weite Ebene, welche erst grasig und dann nur noch sandig ist. Jenseits von ihr erhebt sich das Gebirge, über welches zwei Pässe führen, der Boghaz-y-Chärgusch1) [1) Hasenpaß.], welcher so heißt, weil es dort in den Büschen viele Hasen giebt, und der Boghaz-y-Ghulam2) [2) Courierpaß.], den man so nennt, weil dort einmal ein Bote des Beherrschers ermordet worden ist. Wenn wir einen dieser Pässe hinaufreiten und durch den andern zurückkehren, lernst du die Gegend kennen, durch welche sich die östliche Grenze unsers Gebietes zieht.“
„Ist es weit?“
„Für gewöhnliche Pferde, ja; für unsere aber nicht.“
„Da mein Vater krank ist, möchte ich nicht erst spät des Nachts heimkehren.“
„Wir kehren um, sobald du willst!“
„Ist die Gegend sicher?“
„Ja.“
„Du siehst, daß ich nur mein Messer bei mir habe; du aber bist ganz unbewaffnet. Auf eurem Gebiete duldet [366] ihr wohl keinen bösen Menschen, doch kommen wir ja, wie du sagst, bis an die Grenze desselben. Und die Massaban sind sogar bis hierher zu euch gedrungen, um euch zu überfallen. Wirklich und unausgesetzt sicher ist wohl kein Ort hier in den Bergen.“
„Das ist richtig. Aber wer solche Pferde reitet wie wir, der kann jedem Uebel schnell und leicht entgehen. Fürchtest du dich vielleicht?“
Welch eine Frage für Kara! Ob er sich fürchte! Das war bei ihm ein vollständig unmögliches Gefühl. Er war zu verständig, sich als beleidigt zu betrachten, und als Gast der Dschamikun hatte er sich zu hüten, selbst beleidigend zu werden. Darum hielt er es für das beste, so zu thun, als ob diese Frage ganz ungehört an seinem Ohre vorübergegangen sei.
„Komm! Vorwärts!“ sagte er, indem er seinem Ghalib das Zeichen zum Weitergehen gab. Assil und Barkh hatten ihren Willen gehabt und folgten ohne Widerstreben.
„Kommst du noch vor Nacht zurück?“ wurde ‚das Kind‘ von der Köchin gefragt.
„Sehnst du dich schon jetzt nach mir?“ antwortete er lachend.
„Nicht an dich, sondern an Kara Ben Halef denke ich. Ich weiß, daß es weder Zeit noch Schranken für dich giebt, wenn du auf Sahm sitzest. Er aber hat noch von der Reise auszuruhen. Ich werde dich sehr streng bestrafen, wenn du dich verspätest!“
„Welche Strafe wird das sein?“
„Du bekommst nichts zu essen!“
„Das kenne ich! Mit dem Munde entziehst du mir die Kost, aber schon nach einer Viertelstunde giebst du mir sie mit den Händen doppelt, weil mein [367] Hunger nicht meinem Magen, sondern deinem Herzen wehe thut!“
„Da sehe ich, wie schlecht ich dich erzogen habe! Die Liebe ist verderblich für solche Kinder, du sollst aber von jetzt an meine Strenge kennen lernen!“
„Die giebt es ja gar nicht! Leb wohl, o Pekala. Hast du noch einen Wunsch?“
„Bring frohe und hungrige Gäste mit!“
Das ist ein oft gebrauchter, beduinischer Abschiedsgruß. Die Köchin sagte das wohl nur, um überhaupt etwas zu sagen. Sie ahnte nicht, daß, oder gar in welcher Weise er in Erfüllung gehen werde.
Der Ritt ging zunächst des Sees entlang und dann über das ganze Thal desselben hin, bis es zwischen den Bergen einen tiefen Einschnitt gab, welcher sich jenseits auf die von Tifl erwähnte Ebene öffnete. Dort wurde den Pferden erlaubt, zu galoppieren. Tifl erwies sich als ein unübertrefflicher Naturreiter. Von den feineren, erzieherischen Verhältnissen zwischen Mensch und Tier aber wußte er wohl nichts. Wer ihn so sicher, so fest, so ganz wie mit dem Pferde zusammengewachsen, im Sattel sitzen sah, der mußte es freilich für fast unmöglich halten, daß er sowohl von Assil als auch von Barkh abgeworfen worden sei; aber diese unsere Hengste waren nicht, wie die braune Stute des Ustad, gewohnt, augenblicklichen Instinkten, sondern einem zielbewußten, sich stets gleichbleibenden Willen unterthan zu sein.
‚Das Kind‘ machte verschiedene Versuche, den jetzigen Ritt zu einem Wettrennen zu gestalten, hatte aber damit bei dem bedachtsamen Kara keinen Erfolg. Dieser war einerseits viel zu klug, eine Niederlage der ‚Sahm‘ sich wiederholen zu lassen, während andererseits sein Stolz ihm nicht gestattet hätte, etwa aus Höflichkeit freiwillig [368] auf den Sieg zu verzichten. Es blieb also bei dem, was er sich vorgenommen hatte, nämlich bei einem Uebungsreiten, welches keinem leidenschaftlichen Zweck zu dienen hatte.
Die Stute hielt, so lange der Boden grasig war, sehr leicht den gleichen Schritt mit unsern Pferden; aber später im tiefen Sande fiel sie bemerklich ab. Das konnte ihr aber nicht zur Schande gereichen, weil sie kein Pferd der sandigen Steppe war. Als dann der Hasenpaß erreicht wurde und der langsame Aufstieg auf steinigem Boden begann, mußten dafür nun unsere Tiere sich anstrengen, es ihr gleichzuthun, worauf Kara von Tifl wiederholt aufmerksam gemacht wurde.
Die Gegend war hier felsig und unfruchtbar. Niedriges, trockenes Gestrüpp überzog die Berge mit schmutzigem Grau, und nur hier oder da gab es einen Baum, dessen dünn benadelte Zweige keinen Schatten spendeten. Als die Höhe des Passes erreicht worden war, konnte man darum die Aussicht nach allen Seiten frei genießen. ‚Das Kind‘ deutete auf einen der aufgerichteten Steinhaufen und sagte:
„Das ist das Grenzzeichen. Bis hierher gehört das Land den Dschamikun.“
„Und wem sodann?“ fragte Kara.
„Allen Menschen.“
„Giebt es keinen besonderen Besitzer?“
„Das ist der Schah-in-Schah, dem ja das ganze Reich gehört. Die Gegend hier ist so öd und dürr, daß niemand sie haben will. Wer sie bekäme, müßte Steuern zahlen; wer aber kann diese hier aus solchen Felsen ziehen? Wenn der Muhassil kommt, so fragt er nicht, ob der Boden etwas getragen hat, sondern er nimmt alles mit, was man besitzt.“
[369] „Wer ist der Muhassil?“
„Das weißt du nicht?“
„Nein.“
„Das ist der unwillkommenste aller Gäste, die es giebt. Jedermann in Persien soll Steuern zahlen. Auch die freien Stämme werden dazu angehalten. Unser Ustad hat versprochen, es zu thun, und wir halten Wort. Darum wird kein Muhassil zu uns kommen. Andere aber zahlen nicht eher, als bis sie dazu gezwungen werden, denn sie behaupten, ein freier Mann sei auch von Steuern frei. Zu ihnen wird ein möglichst strenger, vielleicht gar hartherziger Offizier oder Beamter gesandt, der Soldaten mitbringt, die ihm helfen müssen, den Mal-i-Divan1) [1) Grundsteuer.] und den Sadir Avariz2) [2) Unregelmäßige Steuern.] mit Gewalt einzutreiben. Sobald er diese Gewalt auszuüben beginnt, hat man ihn mit dem Titel Muhassil zu ehren. Er nimmt zunächst das, was er für den Beherrscher haben will. Sodann nimmt er das, was er für sich selbst haben will, und das ist gewöhnlich alles, was noch da ist.“
„Leistet man ihm denn da nicht Widerstand?“
„Widerstand? Er würde nur gehen, um dann mit noch mehr Soldaten zurückzukehren. Das beste Mittel, ihm zu entrinnen, ist die Flucht. Aber er kommt meist so unerwartet, daß sie unmöglich ist. So hat er kürzlich auch die Kalhuran überrascht, welche eigentlich noch gar keine Steuern zu bezahlen haben.“
„Wer sind diese Kalhuran?“
„Ein Nomadenstamm, dessen Land nicht mehr ausreichte, ihn zu ernähren. Eine Abteilung von ihm bat um neues Land und bekam die Gegend, welche du hier östlich vor uns liegen siehst. Sie beginnt zwar erst jen- [370] seits dieser Felsenberge, ist aber von so geringer Fruchtbarkeit, daß lange Jahre dazu gehören, den Boden zu verbessern; darum wurde den Kalhuran gesagt, daß sie erst nach dem zehnten Sommer Steuern zu bezahlen hätten. Sie sind nun erst vier Jahre hier; dennoch sandte man ihnen einen Boten, welcher sie benachrichtigte, daß sie jetzt schon zu bezahlen hätten. Sie weigerten sich. Da stellte sich ganz unversehens ein Muhassil mit einer ganzen Schar von Soldaten bei ihnen ein. Der hat es sich bei ihnen so bequem gemacht, als ob er jahrelang bleiben wolle. Er wird so lange an ihrer Habe saugen, bis sie kein einziges Pferd, kein armes Schaf mehr haben.“
„Maschallah! Der sollte das einmal bei unsern Haddedihn versuchen! Weißt du, welchen Namen dieser Dschady1) [1) Blutsauger, Vampyr.] hat?“
„Er heißt Omar Iraki. Der Scheik der Kalhuran ist ein junger Mann, dem der Ustad eine Tochter unsers Stammes zum Weibe gegeben hat. Sein Name ist Hafis Aram. Ich kenne ihn, denn er war ja bei uns, als er sie hinüber zu sich holte. Chodeh beschützte ihn! Vor dem Muhassil aber bewahre er alle Menschen. Grad von diesem Omar Iraki hat man nur Böses, aber kein einziges gutes Wort gehört. Komm, reiten wir hinab! Unten wenden wir uns dann nördlich, um durch den Paß des Couriers heimzukehren.“
Auf dieser Ostseite fielen die Berge steil zur Tiefe. Der Weg ging in zahlreichen Windungen hinab, so daß er immer nur für kurze Strecken zu überschauen war. Um so freier war die Aussicht in die Ferne, über die steppenähnliche Fläche hinüber, zu welcher die beiden jetzt hinunterritten.
[371] Als sie die letzte, unterste Krümmung des Weges überwunden hatten und schon daran dachten, wieder galoppieren zu können, bot sich ihnen plötzlich ein unvorhergesehenes Hindernis dar. Da standen nämlich zwischen den Felsblöcken zerstreut, wohl gegen zwanzig Pferde, deren Reiter an einer versteckten Stelle plaudernd bei einander saßen. Einer hockte als Wächter auf einem hochgelegenen Steine, von welchem aus man einen weiten Ausblick in die Steppe hatte. Das waren persische Soldaten, und zwar Kavalleristen. Eigentliche Uniformen trugen sie nicht. Auch ihr Anführer war an keinem Rangabzeichen, sondern nur an einem langen, schweren Schleppsäbel zu erkennen, den er trug. Ihre Waffen taugten nicht viel; desto besser aber waren ihre Pferde. Die persische Kavallerie ist überhaupt recht gut beritten. Als sie die beiden Reiter sahen, sprangen sie alle auf.
„Sallam!“ grüßte Kara kurz, aber in höflichem Tone und indem er ihnen die Hand entgegensenkte.
Sie antworteten nicht. Ihre Augen waren bewundernd auf die vier Pferde gerichtet. Kara hielt nicht an. Er wollte an ihnen vorüber. Da aber stellte sich ihm der Anführer in den Weg.
„Halt!“ sagte er in befehlendem Tone. „Wer seid Ihr?“
Man darf nicht vergessen, daß Kara der Sohn meines wackeren Hadschi Halef war, dem, außer wenn er wollte, niemand imponieren konnte.
„Sag vorher, wer bist du?“ forderte er den Perser auf.
„Du siehst, daß ich Soldat bin!“ antwortete dieser stolz.
„Und du siehst, daß ich keiner bin! Ich diene nicht; ich bin ein freier Mann!“
„Ein Mann?“ lachte der andere. „Schau meinen [372] Bart und greif an den deinen dann! Ich stehe hier im Namen des Schah-in-Schah und frage dich nochmals, wer du bist!“
„Und ich sitze hier in meinem eigenen Namen im Sattel und antworte nur dann, wenn es mir beliebt! Allah schütze deinen Bart! Zum Fürchten ist er nicht!“
Als er dies sagte, richtet er seine dunklen Augen mit einem solchen Ausdrucke auf den Perser, daß dieser die Hand, welche er schon erhoben hatte, um Ghalib am Zügel zu fassen, wieder sinken ließ und von ihm zurücktrat.
„Ich höre an deiner Sprache, daß du ein Araber bist,“ sagte er. „Ich bin Mülazim ewwel1) [1) Oberlieutenant.], des Beherrschers aller Herrscher. Nun weißt du es.“
„Der Beherrscher aller Herrscher kann nur Allah sein! Ich bin Kara Ben Hadschi Halef, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.“
„Wo kommst du her?“
„Woher es mir beliebt!“
„Wo willst du hin?“
„Wohin es mir behagt!“
„Maschallah! Denn für ein großes Wunder Gottes scheinst du dich zu halten! Ich habe hier zu fragen!“
„So frage die, welche dir zu antworten haben; zu ihnen aber gehöre doch nicht ich!“
Das war keineswegs verwerflicher Hochmut von Kara, sondern das wohlberechtigte Selbstbewußtsein des freigeborenen Arabers der Dschesireh. Wenn die Fragen in höflichem Tone und nicht in der Weise eines Verhöres ausgesprochen worden wären, so hätte er sie wahrscheinlich beantwortet. Auch gefielen ihm die höhnischen Blicke [373] nicht, mit denen Tifl von den sich herandrängenden Soldaten betrachtet wurde. Das verächtliche Lächeln dieser Leute forderte ihn heraus, ihnen zu zeigen, daß zum Lachen gar kein Grund vorhanden sei.
„Auch du gehörst zu Ihnen!“ behauptete der Offizier. „Ich stehe an des Gesetzes Stelle. Ich bin hier Polizei!“
„Ich auch!“
Da fuhr der Perser um einige Schritte zurück. Er hatte imponieren wollen und sah und hörte nun aber, daß ihm dies nicht gelungen sei.
„Wagst du vielleicht, mit mir zu scherzen?“
„Sehe ich etwa so spaßhaft aus?“
Sein jugendlich schönes, wie aus dunklem Marmor gemeißeltes Gesicht zeigte allerdings keine Spur von Lust zum Scherzen. Der Grundzug unseres Kara war ein steter Ernst, welcher durch einen elegischen Hauch eher erhöht als gemildert wurde. In seinen Augen, die er von der Mutter hatte, lag etwas, was keine zudringliche Berührung duldete. Das wirkte auch jetzt. Der Oberlieutenant wagte es nicht, seinen Zorn hervortreten zu lassen; ja es klang sogar, als ob er sich entschuldigen wolle, als er nun sprach:
„Du weißt es nicht; aber ich stehe hier über dir, über jeden, der da kommt. Ich habe diesen Platz zu bewachen.“
„Warum?“
„Weil ich die Mörder des Muhassil fangen will.“
„Welches Muhassil?“
„Omar Iraki.“
„Wallah! Ist er ermordet worden?“
„Ja.“
„Von wem?“
[374] „Von Hafis Aram und seinem Weibe.“
„Chodeh, Chodeh!“ rief da „das Kind“ erschrocken aus.
„Kennst du Hafis Aram?“ fuhr der Offizier fort.
„Nein,“ antwortete Kara.
Dann schwang er sich vom Pferde. Sein Interesse war erwacht. Er gedachte dessen, was Tifl ihm erzählt hatte, und es stieg eine Ahnung in ihm auf, daß sich hier ein Ereignis vorbereite, in welches er vielleicht nützlich eingreifen könne. Und mit der Bedachtsamkeit, die weit über seine Jugend ging, ließ er ein interessiertes Lächeln über seine Züge gleiten und sagte:
„Eine Mordthat ist begangen worden! An einem Muhassil! Das ist eine schreckliche That! Kann man erfahren, warum und wie sie geschehen ist?“
„Ja. Ich werde es dir erzählen. Aber vorher mußt du mir sagen, woher du kommst und wohin du willst.“
„Aus welchem Grunde willst du das wissen?“
„Weil du von jenseits gekommen bist, aus dem Gebiete der Dschamikun. Ich sage dir, daß ich es auf sie abgesehen habe! Du aber bist ja kein Dschamiki, sondern ein Haddedihn aus der Dschesireh.“
Da machte Kara eine stolze wegwerfende Handbewegung und fragte:
„Hafis Aram hat den Muhassil ermordet?“
„Ja.“
„Er ist der Scheik der Kalhuran?“
„Ja.“
„Sein Weib ist Dschamikeh?“
„Ja. Sie hat den ersten Schuß auf den Ermordeten gethan. Wir stehen also in Blutrache mit den Dschamikun. Nun sage mir, woher du kommst!“
Es war ein sehr ruhiges und überlegenes [375] Lächeln, welches sich über Karas Lippen legte, als er antwortete:
„Ich sage es dir gern. Hier dieser mein Begleiter kommt mit mir von dem hohen Hause des Ustad. Er ist ein Dschamiki, und ich bin Gast der Dschamikun. Sie und ich, wir sind eins. Was sie thun, verantworte auch ich. Eure Blutrache trifft also auch meine Person!“
Da trat der Perser noch einen Schritt von ihm zurück und rief erstaunt aus:
„Kara Ben Halef - - so nanntest du dich?“
„Kara Ben Hadschi Halef, ja!“
„Also, Kara Ben Hadschi Halef, bist du bei Sinnen?“
„Warum diese Frage?“
„Siehst du nicht, daß wir zwanzig Personen gegen euch beide sind? Das genügt doch wohl!“
„Aber es ist falsch! Richtiger ist, daß wir zwei Personen gegen nur zwanzig sind. Das genügt noch besser!“
„Du bist toll, wirklich toll! Hättest du nicht verschweigen können, daß du Gastfreund der Dschamikun bist?“
„Ja, ein anderer hätte das wohl gethan.“
„Warum nicht du?“
„Aus zwei Gründen: Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte. Und zweitens fürchte ich mich nicht vor euch. Wie ihr von mir denkt und was ihr von mir wollt, das ist für mich von keiner großen Wichtigkeit; die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir selbst schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit gesagt hätte. Und wenn ein Mensch sich selbst verachten muß, so ist dies das allerschlimmste, was ihm im Leben geschehen kann.“
Der Offizier schaute ihn eine ganze Zeitlang an, ohne ein Wort zu sagen. Dann fragte er:
[376] „Du sagst niemals eine Lüge?“
„Nie!“
„Auch nicht in der Not?“
„Nein. Es giebt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden!“
„Aber deine Aufrichtigkeit wird euch euer Leben kosten!“
„Du irrst!“
„Ich irre? Du bist zweifellos verrückt!“
Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort:
„Ihr habt es gehört. Da steht ein Mensch, ein junger Mensch, der niemals eine Lüge sagt, selbst wenn es ihm das Leben kosten sollte. Was sagt ihr dazu?“
Ein allgemeines Gelächter war die Antwort.
„Ich lache ebenso wie ihr,“ stimmte er ihnen bei. Dann drehte er sich wieder nach Kara um: „Ihr seid natürlich unsere Gefangenen. Eure Pferde gehören uns!“
„Versuche es, sie dein zu nennen!“
„Ich brauche es nicht zu versuchen, denn ich habe es bereits gethan. Wir bringen hier die größte Beute heim, die jemals gemacht worden ist! Du, Knabe, bist der allerdümmste Kerl, den es auf Erden giebt! Dieser deiner Dummheit darf ich beantworten, was du mich vorhin fragtest. Setze dich!“
Er deutete auf einen Stein, der neben Kara lag. Dieser ließ sich auf ihn nieder. Dies schien Gehorsam zu sein. Auch Tifl war von seiner Stute gestiegen. Er trat zu Kara und setzte sich neben ihm auf den Boden nieder. Die Soldaten umringten die Pferde, um ihre bewundernden Bemerkungen über diese ebenso unerwartete wie unschätzbare Beute zu machen. Der Offizier aber sprach zu Kara weiter:
[377] „Du hast also den Muhassil Omar Iraki nie gesehen?“
„Nie,“ antwortete der Gefragte.
„Er war ein Herr, der einen starken Willen hatte. Kein Steuerverweigerer konnte ihm widerstehen. Daher wurde er überall hingesandt, wo Andere vor ihm nichts erreicht hatten. So kam er auch zu den Kalhuran, den räudigen Hunden, welche nicht zahlen wollten. Grad hundert Reiter waren bei ihm, welche von den Verweigerern als teure Gäste aufgenommen und verpflegt werden mußten. Nun waren nicht nur die Steuern, sondern auch unsere Löhne zu bezahlen. Die Schuld wurde von Tag zu Tag größer. Wir nahmen erst nur die Wolle, dann auch die Schafe selbst. Das reichte nicht. Wir griffen natürlich auch nach den anderen Herden. Da rotteten sich die Hunde zusammen, um uns zu widerstehen. Der Muhassil ließ den Scheik Hafis Aram ergreifen und zu sich in das Zelt bringen. Dort wurde er gepackt, niedergeworfen und zu den Füßen des Muhassil festgehalten. Dieser verlangte Geld. Der Scheik behauptete, keines zu haben. Da drohte der Muhassil mit der Peitsche. Hafis Aram aber leugnete fort. Da begann der Muhassil, ihn zu züchtigen, mit eigener Hand, denn er war ein sehr starker Mann, der die Peitsche zu führen verstand. Der Scheik wollte sich losreißen, aber acht Hände hielten ihm am Boden fest. Da war er still. Er nahm die Hiebe auf sich, ohne eine Klage, einen Laut hören zu lassen. Aber seine Augen waren unheimlich starr auf den Muhassil gerichtet, ohne daß er diesem auf seine bei jedem Schlag wiederholte Frage nach dem Gelde eine Antwort gab. Was sagst du zu solcher Hartnäckigkeit, Kara Ben Hadschi Halef?“
„Wißt ihr, was es heißt, einen freien Beduinen zu [378] peitschen? Den Scheik eines ganzen Stammes?“ fragte Kara.
„Was soll es weiter heißen, als daß er eben Prügel bekommt? Auch wir alle, die wir jetzt in des Beherrschers Diensten stehen, sind von freien Eltern geboren worden. Haben wir uns etwa dadurch, daß wir den Ungehorsam zwingen, die Gesetze zu erfüllen, in verächtliche Sklaven verwandelt? Stehen wir nicht im Gegenteile höher als die Widerspenstigen? Scheik Hafis Aram wäre ganz gewiß von dem Muhassil erschlagen worden, und zwar mit vollstem Rechte, wenn ihm nicht eine so ganz unerwartete Hilfe gebracht worden wäre, daß wir alle vor Ueberraschung versäumten, ihr zu widerstehen. Rate, von wem sie kam!“
„Ich rate nicht. Sage es!“
„Sie wurde dem Scheik von seinem Weibe gebracht, der Dschamikeh, welche Allah verdammen möge! Sie haßte und fürchtete den Muhassil. Als sie, von einem Gange zurückkehrend, vernahm, daß er ihren Mann habe holen lassen, wurde sie von ihrer Angst herbeigetrieben. Sie lauschte am Zelte, vor dem kein Wächter stand. Sie hörte die Streiche, welche fielen. Da trat sie ein. Sie sah, was geschah, und sprang zum Muhassil hin, um seinen Arm festzuhalten.
„ ‚Herr, du schlägst einen freien Moslem?‘ schrie sie ihn an. ‚Keinen Hieb weiter!‘ “
„Er riß sich von ihrer Hand los, gab ihr selbst einen Schlag und dann dem Scheik einen zweiten. Da sprang sie zum Sufra1) [1) Niedriges, orientalisches Tischchen.], auf welcher die zwei geladenen Pistolen des Herrn lagen. In der Kürze eines einzigen Augenblickes hatte sie die eine ergriffen, gespannt, auf [379] ihn gerichtet und schoß ihm die Kugel in die Brust. Er war nicht sofort tot, griff, indem er die Peitsche fallen ließ, mit den Händen nach der Wunde und stieß einen Schrei aus. Dann begann er, zu wanken. Wir eilten zu ihm, um ihn zu halten. Die vier Männer, welche den Scheik festhatten, erschraken ebenso wie wir. Sie ließen ihn los und sprangen auf, nur für den Muhassil besorgt. Da schnellte sich Hafis Aram empor, riß die zweite Pistole von der Sufra, jagte dem schon Verwundeten die Kugel in die Stirn und rief:
„So zahlt man Peitschenhiebe heim!“
„Hierauf ergriff er die Hand seines Weibes und riß sie mit sich fort, zum Zelt hinaus. Der Muhassil glitt in unsern Händen tot zur Erde nieder. Wir hatten nur Augen für ihn. Darum konnten die beiden so schnell entkommen. Aber ich faßte mich doch bald und eilte fort, um sie ergreifen zu lassen. Da traf ich den Suari juzbaschysy1) [1) Rittmeister.]. Einige Worte genügten, ihn zu unterrichten. Wir rannten nach dem Zelte des Scheikes, kamen aber schon zu spät. Er hatte mit der Frau auf zwei von seinen Pferden sofort die Flucht ergriffen. Diese Hunde laufen schneller, als man denkt!“
Kara war der Erzählung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Jetzt fragte er:
„Habt ihr erfahren, wohin sie sich gewendet haben?“
„Ja. Die Spuren haben es uns gesagt. Denn keiner der Kalhuran wollte uns Auskunft geben. Schakale pflegen einander zu helfen. Zum Glücke hatte Hafis Aram nicht schnell genug gute Pferde erwischen können. Die zwei, welche ihm bequem gestanden hatten, sind alt und keine ausdauernden Renner. Wir sind besser, viel [380] besser beritten als er. Darum hätten wir ihn wohl bald eingeholt, wenn er auf dem geraden Wege geblieben wäre. Aber die Angst vor uns hat ihn zu einem Umwege über felsigen Boden getrieben, wo seine Spuren nicht mehr zu sehen sind.“
„So seid ihr ihm dorthin nicht gefolgt?“
„Nein.“
„Und wißt also nun nicht, wo er sich befindet?“
„Nicht ganz genau, aber doch so, daß er uns nicht entkommen kann. Er will zu euch, zu den Dschamikun, weil sein Weib von ihnen stammt und weil er euern sogenannten Ustad für mächtig genug hält, ihn gegen uns zu beschützen. Dieses Ziel aber kann er nur durch den Paß der Hasen oder den Paß des Kuriers erreichen. Darum sind wir schleunigst hierhergeritten und haben beide besetzt.“
„Weißt du genau, daß es keinen andern Weg giebt?“
„Einen Weg nicht, aber wenn er jene felsigen Berge gut kennt, ist es vielleicht möglich, über sie hinweg so weit nach Norden zu entkommen, daß er die Pässe hier umgehen kann. Dem aber ist der Suari juzbaschysy auch zuvorgekommen, indem er mit unsern schnellsten Pferden und besten Reitern einen Bogen dorthin schlägt. Sieht er die Flüchtigen, so wird er sie mir hierher entgegentreiben. - So, das ist es, was ich dir aus Dankbarkeit erzählen wollte.“
„Dankbarkeit?!“ lächelte Kara.
„Ja.“
„Wofür?“
„Zunächst für euch und sodann noch viel mehr für eure Pferde.“
„Du nennst sie jetzt wieder ‚unsere‘ Pferde. Dies ist richtiger als das, was du vorhin sagtest!“
[381] „Lächle nicht! Du thust es doch nur aus Verlegenheit! Ihr seid unsere Gefangenen. Wenn wir den Scheik und sein Weib nicht ergreifen sollten, so haben wir doch euch. Ihr werdet die Dijeh1) [1) Blutpreis.] mit eurem Leben zahlen. Und eure Pferde sind uns noch viel, viel mehr wert als ihr selbst und der Scheik mit samt seinem Weibe. Sie gehören uns als rechtmäßige Beute. Wir werden sie dem Schah-in-Schah anbieten, welcher gewiß eine sehr große Summe für sie bezahlt, um in den Besitz solcher Zierden seines Stalles zu kommen.“
„Herrscher zahlen zuweilen ganz anders als mit Geld!“
„Das laß getrost nur unsere Sorge sein; dich gehen diese Pferde nichts mehr an!“
„Gut! Einverstanden! Nimm sie dir!“
Kara sagte das so gleichmütig, als ob es sich nur um eine Bagatelle handele.
„Ja, ich nehme sie. Du hast also eingesehen, daß du dich darein ergeben mußt. Ich werde sofort einmal diesen Rappen da probieren.“
Er meinte Barkh. Als seine Leute diese Worte hörten, wichen sie von den Pferden zurück, um ihm Platz zu machen. Sie waren natürlich nicht weniger als er über den vermeintlichen Fang erfreut, weil auch ihnen ein Teil des Ertrages zuzufallen hatte. Er ging hin und schwang sich so schnell in den Sattel, daß der Hengst gar keine Zeit fand, sich zu weigern. Aber schon im nächsten Augenblicke ging Barkh so rasch hintereinander erst vorn und dann hinten in die Höhe und bockte hierauf so kräftig zur Seite, daß der Offizier grad da auf die Erde zu liegen kam, wo das Pferd vorher gestanden hatte. Seine [382] Leute lachten laut. Aber als er sich erheben wollte und es doch nicht zu können schien, kamen sie von dieser respektwidrigen Lustigkeit zurück. Er sagte zunächst kein Wort, hielt ihnen aber die Arme auffordernd hin, ihm behilflich zu sein. Nun richteten sie ihn auf. Er konnte stehen. Aber als er vorwärtsschreiten wollte, stöhnte er.
„Hast du Schmerzen?“ fragte Kara.
„Ich bin auf den Säbel gefallen,“ lautete die Antwort.
„Warum bliebst du denn nicht oben?“
„Schweig!“ gebot er in donnerndem Zorne.
Dann hinkte er unter allerlei Gesichtsverzerrungen nach einem niedrigen Felsenstück, um sich da niederzusetzen und die schmerzenden Körperstellen prüfend zu betasten.
„Gebrochen habe ich nichts. Aber der Säbel ist kaputt, und gequetscht hat er mich. Das werde ich noch lange fühlen.“
Hierbei erinnerte er sich, daß über ihn gelacht worden war.
„Sellab!“ rief er.
Der Genannte trat zu ihm.
„Ihr habt gelacht. Du am meisten. Hinauf auf diesen Hengst, der den Scheitan im Leibe zu haben scheint! Das sei deine Strafe. Wehe dir, wenn du auch herunter mußt!“
Der Mann gehorchte. Er kam ganz gut hinauf und wollte sich eben festsetzen, da saß er aber auch schon wieder unten. Der Oberlieutnant gebot einem andern Soldaten, den Versuch zu machen; den ließ aber Barkh gar nicht heran. Er hatte die Geduld verloren und schlug nach ihm aus.
[383] „Eine Bestie!“ konstatierte der Offizier. „Sind die andern ebenso?“ fragte er Kara.
„Das mußt du doch wissen!“ antwortete dieser.
„Ich? Wieso?“
„Es sind ja ‚deine‘ Pferde! Das sagtest du!“
Der Zurechtgewiesene senkte den Kopf. Er dachte nach. Dann sagte er:
„Der Stute ist am meisten zu trauen. Wer will es mit ihr versuchen?“
Ein Mutiger näherte sich und begann damit, daß er sie vorsichtig liebkoste. Sie that, als ob er gar nicht vorhanden sei. Kara kannte sie noch nicht und warf deshalb einen forschenden Blick auf Tifl. Dieser machte ein Auge zu und blinzelte ihn mit dem anderen lustig an. Das war genug gesagt.
Der Soldat klopfte die Stute an verschiedenen Stellen. Sie bewegte nicht einmal die Spitze eines Ohres. Grad diese wartende, lauschende Unbeweglichkeit hätte ihm verdächtig vorkommen müssen; er aber gewann im Gegenteile durch sie den Mut, erst einen Vorder- und dann einen Hinterfuß der ‚Sahm‘ aufzuheben, um die Hufe zu betrachten. Sie ließ auch das ruhig geschehen. Das machte ihn sicher. Er stieg auf. Auch jetzt noch stand sie still; aber sie wendete den Kopf, um ihr Auge auf ‚das Kind‘ zu richten. Kara war höchst gespannt, welche ‚Mucke‘ man zu sehen bekommen werde. Der Offizier aber freute sich des scheinbar guten Erfolges. Er sagte:
„Es ist also doch wohl nur dieser Rappe, dem man nicht trauen darf. Reite aber doch einmal vom Fleck!“
Der Soldat wollte gehorchen, aber damit war für die ‚Sahm‘ die Zeit gekommen. Sie that nicht etwa [384] einen Sprung, o nein. Sondern sie fiel einfach um, blitzschnell, als ob ein Schlag sie getroffen habe, wälzte sich zwei-, dreimal auf dem Reiter hin und her, sprang auf der andern Seite wieder auf und stand dann so ruhig und sanftäugig wieder da, als ob sie ganz außer stande sei, auch nur das kleinste Wässerlein zu trüben.
Für Reiter, welche stürzen, lautet im Abendlande der schonende Sportausdruck: „Er hat sich vom Pferde getrennt.“ Hier aber hätte man berichten müssen: „Madame Sahm hat sich vom Reiter getrennt.“ Dieser letztere blieb zunächst ein ganzes Weilchen vollständig still neben der nun harmlos mit dem Schwanze wedelnden Stute liegen. Dann begann er, sich mit den tastenden Händen in der Weise über sämtliche Teile seines Körpers zu fahren, wie man es bei Stubenfliegen beobachtet, wenn sie mit den Beinen die anhaftenden Lebestäubchen und Ansteckungsstoffe vom Leibe zusammenstreichen, um sie zum Heile der Menschen zu verzehren. Sein Gesicht war während dieser anatomischen Untersuchung ein nichts weniger als fröhliches. Als er zu der Ueberzeugung gekommen war, daß er trotz der dreifachen Umwälzung noch alles wohl beisammen habe, kam er zu dem Entschlusse, erhebend auf sich einzuwirken. Er richtete sich vorläufig nach löblicher Quadrupedenart auf Hände und Füße auf, schaute sich nach allen Seiten prüfend um, ob nicht vielleicht ein doch abhanden gekommenes Glied zu sehen sei, und ging endlich sehr langsam und höchst vorsichtig in jene aufrechte Stellung über, in welche selbst ein abgeworfener Reiter schließlich doch zurückzukommen strebt. Hierauf wankte er wie ein ängstlicher Quartaner, der zum erstenmal Schlittschuh fahren soll, vom Schauplatze der erlittenen ‚Trennung‘ weg und verschwand hinter einem Felsenstücke, um sich da, fern von der verständnislosen [385] Menschheit anzusiedeln. Es darf nämlich nicht verschwiegen werden, daß diese seine schmerzliche Auferstehung leider von seinen Kameraden mit lautem Gelächter begleitet wurde. Selbst der Offizier stimmte zunächst mit ein; dann aber fragte er ‚das Kind‘ in zornigem Tone:
„Du saßest, als ihr kamt, auf diesem Pferde. Ist es dein?“
„Nein,“ antwortete Tifl.
„Wem gehört es?“
„Dem Ustad.“
„Wußtest du, daß es sich wälzt?“
„Ja.“
„Auf welches Zeichen hin thut es das?“
„Frag das Pferd, nicht mich! Ich habe mich nicht gewälzt!“
Da sprang der Oberlieutenant auf, ging, obgleich er noch kurze Zeit vorher solche Schmerzen gehabt hatte, schnell zu ihm hin und fuhr ihn an:
„Mensch, so spricht man nicht mit mir! Wagst du das noch einmal, so antworte ich mit der Peitsche!“
Da richtete sich ‚das Kind‘ in seiner ganzen Länge, ihn weit über Kopfeshöhe überragend, vor ihm auf und sagte:
„Denk an den Muhassil! Was hat seine Peitsche ihm gebracht? Mehr sage ich dir nicht!“
Wer hätte diesem Tifl wohl ein so männliches Verhalten zugetraut! Seine Kinderzüge hatten einen so ernsten, ja strengen Ausdruck angenommen, daß der Ausbruch von Thätlichkeit nun unvermeidlich zu sein schien. Da aber ertönte die Stimme des Wächters, welcher von seiner Warte herunterrief:
„Ich sehe zwei Reiter!“
„Wo?“ fragte der Offizier, der sogleich seine ganze Aufmerksamkeit von Tifl weg nach oben richtete.
[386] „Ganz draußen.“
„Wie weit?“
„So weit, daß sie nur wie kleine Punkte sind.“
„Welche Richtung haben sie?“
„Das sieht man nicht sogleich. Warte!“
Man kann sich denken, daß nun eine allgemeine Spannung eintrat. Es vergingen mehrere Minuten, bis der Mann dann meldete:
„Sie nähern sich, aber nicht gerade.“
„Wie denn?“
„Sie sind jetzt schon viel weiter südlich als vorhin.“
„Da scheuen sie sich vor den beiden Pässen. Sie werden den Suari juzbaschysy gesehen haben, der sie mit seiner Schar zurückgetrieben hat. Paß auf, ob wohl noch andere Reiter kommen!“
„Sie sind schon da!“
„Wo?“
„Im Norden, hinter ihnen, aber sehr weit zurück.“
„Dann ist es so, wie ich sage. Der Suari juzbaschysy hat sie dort im Norden nicht durchgelassen. Sie sind umgekehrt, und er folgt ihnen. Sie kommen nicht hierher; sie hegen Verdacht. Sie versuchen, einen Ausweg nach Süden zu finden. Den muß ich ihnen verlegen. Zehn Mann mit mir auf die Pferde! Schnell, vorwärts! Wir treiben sie hierher. Die andern zehn bleiben hier, um sie zu empfangen und diese beiden Gefangenen zu bewachen!“
Einige Augenblicke später jagte er mit der Hälfte seiner Leute davon. Daß die, welche er seine ‚Gefangenen‘ nannte, an Flucht denken könnten, das schien ihm gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Die Zurückbleibenden waren nicht weniger unbesorgt. Sie eilten zu dem Wächter hinauf, um von dort aus die Jagd besser sehen zu können. [387] Sogar der Soldat, von welchem sich die Stute in so unceremonieller Weise ‚getrennt‘ hatte, krabbelte den andern langsam nach, um sich den Genuß, den sie dort oben suchten, ja nicht entgehen zu lassen. So waren also Kara und Tifl allein miteinander unten geblieben. Hatten sie sich schon vorher nicht als Gefangene betrachtet, so konnte es ihnen jetzt erst recht nicht einfallen, dies zu thun.
Tifl war sehr ernst. Er hatte sich im höchsten Grade lobenswert benommen. War er etwa, wie so mancher Mensch von sich behauptet, aus zwei verschiedenen Naturen zusammengesetzt? Oder besaß er die Eigenheit, sich dem über ihn genährtem Vorurteile gegenüber anders zu zeigen, als er eigentlich war? Er kletterte auf einen der nahen Felsen, schaute gen Osten und sagte dann:
„Sie sind es. Du hast alles gehört, o Kara Ben Hadschi Halef. Sag mir, was du zu thun gedenkst!“
„Wir müssen ihnen helfen,“ antwortete der Haddedihn.
„Ja, das müssen wir!“
„Wie denkst du dir das? Den Mülazim mit seinen Leuten fürchte ich nicht; aber am Passe des Couriers steht eine zweite Schar, und da draußen kommt der Suari juzbaschysy mit der seinigen geritten. Wir haben keine Angst; aber der feigste Mensch kann, wenn er ein Gewehr besitzt, den tapfersten, der wehrlos ist, mit seiner Kugel oder Lanze töten; ohne selbst nur die geringste Gefahr zu laufen. Wir müssen uns also fern von diesen ihren Waffen halten. Was siehest du jetzt?“
„Die Pferde der Flüchtlinge sind schlecht. Nicht lange, so werden sie eingeholt sein.“
„Sie mögen sie stehen lassen. Wir geben ihnen Barkh und Assil dafür. Wie gut, daß ich diese mithabe! Ist das dir so recht?“
[388] „O, wie so recht! Chodeh segne dich, o Kara Ben Hadschi Halef! Es ist die höchste Zeit!“
„So komm!“
Tifl kam vom Felsen herab. Beide stiegen in die Sättel und ritten dann in die Steppe hinaus. Als die Soldaten sie sahen, erhoben sie zwar ein lautes Geschrei, konnten aber damit nichts an der Thatsache ändern, daß ein Vorteil, den man nicht festzuhalten versteht, stets nur zum Nachteil wird. Kara und Tifl galoppirten.
Weil sie sich nun nicht mehr am höher liegenden Felsen, sondern in gleicher Ebene mit den sich weit draußen bewegenden Reitern befanden, konnten sie zunächst von diesen gar nichts sehen. Bald aber tauchte die Linie, auf welcher diese Bewegung vor sich ging, als Horizont vor ihren Augen auf. Da konnten sie nun zunächst drei verschiedene Gruppen erkennen; die einzelnen Reiter waren noch nicht von einander zu unterscheiden. Es gab eine mittlere, kleine und rechts und links von ihr je eine größere. Das Verhältnis dieser Gruppen zu einander veränderte sich nur sehr langsam; dennoch aber war nach und nach immer deutlicher zu erkennen, daß die innere Gruppe von den beiden äußeren am seitwärtigen Ausbrechen verhindert und auf den Paß des Hasen zugedrängt wurde. Kara und Tifl hielten sich jetzt eng neben einander. Sie ritten voran, während Assil und Barkh ledig hinter ihnen folgten, ohne geführt zu werden. Nun sie einmal im Gange waren, fiel es diesen edlen Tieren nicht ein, auch nur um einen Schritt zurückzubleiben. Der schlanke Galopp brachte die beiden Reiter so schnell vorwärts, daß die erwähnten Gruppen sich schon nach Kurzem vor ihren Augen in Einzelpersonen aufzulösen begannen. Aber sobald dies geschah, war allerdings auch zu erkennen, daß die allergrößte Eile nötig sei.
[389] Die beiden Reiter in der Mitte waren jedenfalls Hafis Aram, der Scheik der Kalhuran mit seiner Frau. Rechts von ihnen sah man den Oberlieutnant mit seinen zehn Kavalleristen. Diese konnten die größere Schnelligkeit entwickeln, weil sie wohlausgeruhte Pferde hatten. Links kam der Rittmeister mit seinen Leuten, welche gewiß nicht weniger als zwei Dutzend zählten. Die Verfolger waren den Verfolgten wohl um das Vierfache näher als Kara und Tifl.
„Müssen wir die Geheimnisse anwenden?“ fragte darum der Letztere besorgt.
„Nein,“ antwortete der Haddedihn. „Das thun wir nur im allerschlimmsten Falle.“
„Aber es steht doch schlimm!“
„Noch nicht!“
„Man wird sie gleich einholen.“
„Sie kommen ja grad auf uns zu! Mit jedem Sprunge der Pferde wird es besser.“
Kaum hatte er das gesagt, so geschah etwas, was dieses Wörtchen ‚besser‘ Lügen strafen zu wollen schien. Der Scheik der Kalhuran nämlich hatte bisher angenommen, daß er es nur mit zwei feindlichen Abteilungen zu thun habe; nun aber sah er auch noch andere Reiter, die sogar genau von vorn grad auf ihn zukamen. Er mußte auch sie für Gegner halten. Die Entfernung war ja noch so groß, daß vom Erkennen der Gesichter keine Rede sein konnte. Er glaubte sich also in der allerhöchsten Not und versuchte, noch Rettung dadurch zu finden, daß er von der bisherigen Richtung schief nach rechts abwich. Er konnte freilich hoffen, hierdurch an den neuerschienenen Feinden glücklich vorüberzuschneiden, gab damit aber dem „Rittmeister“ eine bedeutend größere Chance, ihn einzuholen.
[390] „Das ist falsch!“ rief Tifl erregt aus. „Das sollte er nicht thun!“
„Er weiß doch nicht, wer wir sind, und daß wir ihn retten wollen!“ antwortete Kara. „Giebt es denn nicht vielleicht ein Zeichen, welches er kennt?“
„Nein!“
Aber schon nach einigen Augenblicken hatte er sich auf etwas besonnen. Er fügte hinzu:
„Doch, aber doch! Ich habe einen Gedanken. Ich werde einen Raum zwischen dir und mir lassen. Hoffentlich sieht er dann, daß hier die Stute unseres Ustad läuft. Und meine Mütze, die ich so oft vor ihm vom Kopf genommen habe! Ich zeige sie ihm. Wenn er scharfe Augen hat, so erkennt er mich an ihr!“
Er ließ zwischen sich und Kara so viel Abstand entstehen, daß die „Sahm“ von Karas Pferden abgesondert zu sehen war. Dann richtete er seine lange, schmale Figur möglichst hoch empor, nahm die Mütze vom Kopfe und schwang sie in so auffälliger Weise über sich, daß der Scheik der Kalhuran ganz besonders auf ihn aufmerksam werden mußte. Zur großen Freude des „Kindes“ ließ der Erfolg der gegebenen Winke auch gar nicht lange auf sich warten; Hafis Aram lenkte wieder in die vorherige Richtung ein, und man sah trotz der noch großen Entfernung deutlich, daß er den Arm in die Höhe hob, um Antwort zu geben.
Ganz natürlich hatten aber seine Verfolger dieselbe Beobachtung wie er gemacht. Zwar wußte der „Rittmeister“ nichts über Kara und Tifl; aber dafür mußte es dem „Oberleutnant“ um so klarer sein, daß und durch wen den Flüchtlingen jetzt diese Hilfe kam. Es war zu sehen, daß er seine Leute antrieb, ihre Eile zu vergrößern.
[391] „Er hat mich verstanden!“ jubelte Tifl. „Aber, schau, was ist's mit seinen Pferden?“
Diese Frage war sehr gerechtfertigt, denn die Schnelligkeit der Verfolgten begann jetzt plötzlich, sich zu vermindern. Ihre Pferde konnten nicht mehr weiter. Sie fielen aus der bisherigen Karriere zunächst in einen kurzen, stoßweise noch erzwungenen Galopp; dann hielt mitten in demselben das eine an, that noch einige wankende Schritte vorwärts und brach hierauf, vollständig erschöpft, zusammen. Es war dasjenige, welches die Frau des Scheiks ritt. Sie besaß Gewandtheit genug, während des Sturzes abzuspringen, so daß sie nicht mit zu Falle kam. Sie ließ das Tier liegen und lief, so schnell sie konnte, weiter. Da stand auch das andere still, Hafis Aram glitt aus dem Sattel, faßte sein Weib, als es ihn erreichte, bei der Hand und zog es in eiligstem Laufe mit sich fort.
Während dies geschah, hatte sich der Abstand zwischen den verschiedenen Parteien so verringert, daß Kara und Tifl das jubelnde Geschrei der Verfolger hören konnten. Der erstere maß mit scharfem Auge die verschiedenen Abstände; der letztere besaß diese ruhige Kaltblütigkeit nicht.
„Das Geheimnis, das Geheimnis!“ rief er aus. „Wir kommen sonst zu spät!“
„Nein,“ entgegnete Kara. „Vielleicht nachher, doch nicht jetzt! Wir kommen grad zur letzten, rechten Zeit!“
Er hatte ganz richtig geschätzt. Der „Oberleutnant“ ritt von allen seinen Leuten das beste Pferd und befand sich infolgedessen dem Scheik am allernächsten. Seine Untergebenen waren wohl noch an die hundert Pferdelängen hinter ihm. Man hörte seine drohend brüllende Stimme. Dreihundert Längen jenseits, links von ihm, [392] kam der „Rittmeister“ herangestürmt. Da fragte Tifl, natürlich mitten im Jagen:
„Werden Assil und Barkh sich nicht weigern, den Scheik und seine Frau zu tragen?“
„Nein,“ antwortete Kara. „Ich sage ihnen ein Wort; das genügt. Ich befürchte nichts. Nur der „Oberleutnant“ kann uns stören.“
„Kümmere dich nur um die zu Rettenden, damit sie nicht zögern, aufzusitzen; ihn aber überlaß mir!“
„Getraust du dich an ihn?“
Da lachte „das Kind“ laut auf und sagte:
„Getrauen? Hast du mich für feig gehalten? Paß auf! Gleich sind wir da.“
In diesem Augenblick blieben die Flüchtlinge stehen; sie waren außer Atem. Aber sie erkannten Tifl, sahen zwei ledige Pferde und sandten den Rettern freudige Rufe entgegen. Diese sausten heran. Kara zügelte seinen Ghalib und hielt mit ihm und den beiden Rappen vor Hafis Aram an.
„Steig schnell auf!“ sagte er, indem er absprang, um die Hengste zu halten.
„Das ist edles Blut!“ sagte der Scheik. „Werfen sie uns nicht ab?“
„Nein. Nur schnell hinauf! Ich halte sie!“
Es geschah das viel schneller, als man erzählen kann. Hafis Aram hob erst seine Frau empor und schwang dann sich selbst hinauf. Dabei entging ihnen das Zeichen, welches Kara den beiden Pferden gab. Sie wußten nun, daß sie zu gehorchen hatten.
Indessen war Tifl eine kleine Strecke weitergeritten, dem „Oberleutnant“ entgegen. Da holte er nach rechts aus, ließ seine „Sahm“ einen kurzen Bogen gehen, der [393] ihn im Zurückkehren wieder herüber und an die Seite des Offiziers führte, welcher Kara wütend zubrüllte, sich nicht an den Flüchtlingen zu vergreifen. Er achtete nur auf diese, nicht auf Tifl, der bald so eng neben ihm ritt, daß die beiden Pferde sich berührten. Nun erst nahm er Notiz von ihm.
„Was willst du, Hund? Fort mit dir!“ schrie er ihn an. „Fort, fort!“ Dabei erhob er die Faust, um nach Tifl zu schlagen.
„Nein, nicht fort!“ antwortete dieser. „Ich mache dir meinen Besuch.“
Er hob den einen Fuß auf den Rücken der Stute und schnellte sich von ihr zu dem Offizier hinüber, so daß er hinter diesem zu sitzen kam. Dann schlang er die langen Arme um ihn, legte die Beine fest an den Leib des Pferdes und rief aus:
„Ich thue dir nichts. Ich will nur sehen, wie es mit eurem Atem steht. Paß auf!“
Er drückte den Soldaten so an sich, daß diesem die Luft verging, und preßte die Weichen des Pferdes in der Weise zusammen, daß es im Galopp unterbrochen und nach wenigen langsameren Schritten gezwungen wurde, stillzustehen. Er hielt gerade da an, wo der Scheik soeben mit seinem Weibe auf die Rappen gestiegen war. Da sah man den „Rittmeister“ gejagt kommen, in jeder Hand eine gespannte Pistole haltend.
„Fort! Schnell!“ gebot Kara. „Er schießt; wir aber haben keine Waffen.“
Er galoppierte mit den beiden Geretteten davon, in der Richtung zurück, aus welcher er gekommen war. Tifl ließ sein nach Atem schnappendes Opfer los, sprang herab und hinüber zur „Sahm“, welche ganz in der Nähe stehen geblieben war. Er schwang sich auf.
[394] „Halt! Bleib!“ schrie der nun nahegekommene „Rittmeister“. „Ich fange dich!“
„Thue das!“ antwortete der Angerufene.
„Ich schieße!“
„Das kannst du, aber treffen nicht!“
Um so wenig wie möglich Ziel zu bieten, bog er den Oberkörper tief an den Hals des Pferdes herab, welchem er mit einem Schnalzen der Zunge das Zeichen zum schnellsten Laufe gab. Es gehorchte. Da krachten hinter ihm zwei Schüsse, aber keiner von ihnen traf. Die Kavalleristen, welche ihre Offiziere nun einholten, schickten ein vielstimmiges Geschrei hinter ihm her.
„Das hätte meine gute Pekala sehen sollen!“ lachte er in sich hinein. „Wie würde sie sich freuen!“
Nun keine Kugel mehr zu fürchten war, richtete er sich wieder auf. Er fühlte sich sicher, wenigstens für jetzt, denn von den Soldatenpferden eingeholt zu werden, davon konnte ja nicht die Rede sein.
Nach einiger Zeit schaute Kara sich um. Er sah, daß die beiden Kavalleristengruppen beisammenhielten. Ihre Offiziere schienen sich zu beraten. Da parierte auch er seinen Ghalib, um Tifl vollends herankommen zu lassen. Der Scheik hatte bis jetzt nichts weiter als vorhin seine ersten Worte gesagt. Er wollte jetzt sprechen, wahrscheinlich von seiner Dankbarkeit. Da aber sagte der junge Haddedihn zu ihm:
„Jetzt keine Worte, o Scheik der Kalhuran! Wir haben uns zunächst zu - -“
„Wie? Du kennst mich?“ unterbrach ihn dieser doch.
„Ja.“
„Sag, wer du bist! Ich kenne dich nicht.“
„Ich bin Kara Ben Hadschi Halef Omar, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.“
[395] „Hadschi Halef Omar? Ist dieser dein Vater Hadschi Halef Omar etwa der Scheik eures Stammes?“
„Ja.“
„Maschallah, und doch auch nicht Maschallah! Es ist ein Wunder, aber dennoch keines! Ein Wunder Allahs ist es, daß wir errettet worden sind, grad als die Gefahr für uns am größten war. Und wiederum ist diese Rettung kein Wunder zu nennen, weil sie durch den Sohn eines Mannes geschah, dessen Leben aus einer ununterbrochenen Reihe solcher Ereignisse besteht. Du scheinst der Erbe seiner Thaten zu sein!“
Jetzt war Tifl herangekommen. Auch er schaute sich um. Als er sah, daß die Soldaten halten geblieben waren, sagte er zu dem Scheik:
„Frage jetzt nicht. Wir haben keine Zeit. Wir wissen, was geschehen ist. Deine Feinde haben es uns erzählt. Auch wir müssen beraten. Laßt uns aber dabei weiterreiten!“
Als sie ihre Pferde wieder in Bewegung gesetzt hatten, ergriff der Scheik abermals das Wort:
„Ich will also von dem Vergangenen noch schweigen; aber über das, was vor uns liegt, darf ich doch sprechen. Reiten wir durch den Paß des Hasen?“
„Nein,“ antwortete Kara.
„Warum nicht?“
„Weil dort zehn bewaffnete Soldaten stehen. Der größte Mut ist ohnmächtig, wenn er keine Waffen hat.“
„So müssen wir nach dem Passe des Couriers hinüber.“
„Der ist mit noch mehr Leuten besetzt.“
„Wißt ihr das genau?“
„Ja.“
„So bleibt uns nur der Versuch, nach rechts oder [396] links durchzubrechen. Ich habe das schon versucht, doch meine Pferde hielten es nicht aus.“
„Mit diesen hier wird es vielleicht gelingen,“ meinte Kara.
„Nein,“ sagte Tifl.
„Warum nicht?“
„Sieh hinter dich!“
Als Kara dieser Aufforderung folgte und sich umschaute, sah er, daß die Perser einen Entschluß gefaßt hatten. Sie unterließen es, den Flüchtlingen zu folgen. Sie hatten sich wieder in zwei Abteilungen getrennt, welche im Galopp die Richtung nach den beiden Pässen einschlugen.
„Sie trachten darnach, uns die beiden einzigen Wege zu den Dschamikun zu verlegen,“ sagte der Scheik.
„Aber sie werden uns dabei nicht aus den Augen lassen,“ fügte Kara hinzu. „Wollen wir nach rechts oder links, so sind sie gewiß schnell da. Ich möchte ihre Kugeln mehr wegen unserer Pferde als wegen uns selbst vermeiden. Soll ich daheim die Schande erleben, erzählen zu müssen, daß so edles, unersetzliches Blut durch das Blei solcher Leute zu Grunde gehen mußte?“
„So weiß ich keinen Rat!“
„Aber ich!“ erklärte Tifl.
„Welchen?“
„Wir können zwischen den Pässen hinüberkommen!“
„Hamdulillah!“ rief da der Scheik erfreut aus. „Giebt es denn noch einen Weg?“
„Einen Weg nicht, aber doch die Möglichkeit, die andere Seite zu erreichen, ohne daß man zu klettern braucht. Niemand ist so oft in diesen Bergen gewesen wie ich. Ich suchte da nach heilsamen Kräutern für den Pedehr.“
„So suchen wir diese Richtung auf!“
[397] „Aber wir können da nicht reiten, sondern wir müssen gehen. Niemand darf von einem Pferde mehr fordern, als es leisten kann.“
„So steigen wir ab, sobald es nötig ist!“
„Also kommt!“
Tifl wollte bei diesen Worten seine Stute antreiben, doch forderte Kara ihn auf:
„Halt, noch nicht so schnell! Sag uns erst, wie lange es dauert, bis wir die Höhen hinter uns haben werden!“
„Das Kind“ sah nach dem Stande der Sonne und antwortete sodann:
„Wir werden noch vor der Dämmerung die jenseitige Ebene erreichen.“
„Aber wahrscheinlich nicht wir allein.“
„Wer noch?“ fragte der Scheik.
„Das Militär.“
„Du denkst, daß man hinter uns hersteigen werde?“
„Auch das ist möglich, doch meinte ich etwas Anderes. Die Soldaten beobachten uns. Wenn sie sehen, daß wir versuchen, hier in gerader Richtung über die Höhen zu kommen, werden sie schnell zu beiden Seiten durch die Pässe reiten, um uns drüben zu empfangen. Dann bleibt uns weiter nichts übrig, als in die Felsen zurückzukehren. Dann aber ist es Nacht geworden; wir müssen im Gebirge bleiben und uns früh am Morgen von neuem jagen lassen.“
„Da aber käme uns Hilfe von Pedehr.“
„Meinst du?“
„Ja. Denn da ich dich in Tifls Begleitung sehe, so vermute ich, daß du jetzt Gast der Dschamikun bist.“
„Das ist allerdings der Fall.“
„So kannst du dich auf die von mir vermutete Hilfe fest verlassen. Weiß man, wohin ihr geritten seid?“
[398] „Nicht genau. Aber man hat gesehen, in welcher Richtung wir uns entfernten.“
„Das ist genug. Wenn ihr nicht nach Hause kommt, wird man euch suchen.“
„Man wird nicht suchen!“ fiel Tifl ein.
„Doch!“ behauptete der Scheik.
„Nein!“ lächelte das Kind.
„Warum nicht?“
„Weil wir zur rechten Zeit nach Hause kommen werden.“
„Bist du überzeugt davon?“
„Ja.“
„So schwöre!“
Das klang im höchsten Grade ernst. Genau so, als ob es sich um Tod oder Leben handle. Darum schaute Kara den Scheik überrascht an. Dieser aber sah nichts weniger als ernst, sondern jetzt sogar ganz heiter aus.
„Du wunderst dich über mich?“ fragte er. „Ich sehe, daß du unsern Tifl noch nicht kennst. Er hat gar manches Geheimnis unter seiner alten Mütze stecken. Also, Tifl, willst du das, was du sagtest, beschwören?“
„Nein,“ antwortete der Gefragte.
„Warum nicht?“
„Weil ich niemals schwöre. Mein guter Ustad sagt, daß es Sünde sei. Es ist also verboten!“
Er sagte das so treuherzig bestimmt, so rührend überzeugt, so kindlich gehorsam, daß der neben ihm reitende Kara ihm die Hand hinstreckte und beistimmend zu ihm sagte:
„Ja, es ist verboten! Auch bei uns, den Haddedihn. Mein Vater weiß von Kara Ben Nemsi, daß jeder Schwur eine Sünde an Allahs Namen ist.“
„Aber eine Beteuerung ist erlaubt?“ fragte der Scheik, indem er schalkhaft zu Tifl hinüberlächelte.
[399] „Ja,“ nickte dieser.
„Nun, so beteure es!“
Da nahm Tifl mitten im Reiten, und zwar mit einer Bewegung, als ob er Jemandem eine Ehre zu erweisen habe, die zackige Mütze vom Kopfe und sagte, indem er den Blick des Scheiks mit heiterem Einverständnisse zurückgab:
„Wir werden zur rechten Zeit nach Hause kommen. Das versichere ich im Namen meiner guten Pekala, die, bis wir eintreffen, mit ihrer Kerbelsuppe auf uns warten wird. Beeilen wir uns also jetzt!“
„Aber wie willst du das anfangen?“ fragte Kara.
Er erhielt keine Antwort, denn „das Kind“ hatte sein Pferd schon bei den letzten Worten zum vollen Laufe angetrieben und flog so schnell voran, daß man ihm schleunigst folgen mußte. Der Haddedihn konnte sich den Vorgang nicht ganz erklären; er sah darum den Scheik fragend an.
„Du bist erst kurze Zeit bei dem Dschamiki?“ erkundigte sich dieser.
„Ganz kurze.“
„So kannst du dieses „Kind“ allerdings noch nicht begreifen. Es steckt ein ganzer, seltener Mann in ihm, der aber daheim verborgen bleibt und nur zum Vorschein kommt, wenn Tifl zu Pferde sitzt. Dieser Mann ist nicht nur tapfer, sondern auch so klug, so ungewöhnlich klug, daß man sich ihm unbedingt anvertrauen darf. Und wenn er gar irgend etwas im Namen seiner geliebten Pekala verspricht, so weiß er, was und warum er es sagt, und es giebt für jeden, der ihn kennt, keinen Zweifel, daß es in Erfüllung gehen wird.“
„Also auch das jetzige Versprechen?“
„Ganz gewiß!“
[400] „Aber wie? - Das ist mir rätselhaft.“
„Frage ihn nicht! Er würde es doch nicht sagen. Wenn er sich so verhält, wie eben jetzt, liebt er es nicht, ausgefragt zu werden. Er hat einen Gedanken, den er für gut hält, und wird ihn in der Weise ausführen, daß wir zufrieden sein können. Folgen wir ihm also, ohne in ihn zu dringen! Das gute „Kind“ ist so unendlich glücklich, wenn man ihm vertraut!“
Die vier Pferde flogen jetzt nur so über die Steppe dahin. Die Frau des Scheiks saß fest; sie ritt so sicher wie ein Mann, Tifl schaute sich nicht um; aber man sah, daß er nach rechts und links die Perser beobachtete. Der Anführer derselben schien ein umsichtiger Mann zu sein, der seine Bestimmungen für verschiedene Möglichkeiten vorausgetroffen hatte. Denn jetzt, da es sicher war, daß die Flüchtigen grad über den Bergeszug wollten, trennten sich von seinen beiden Abteilungen Leute, welche von hüben und drüben her ganz dieselbe Richtung einschlugen und jedenfalls den Befehl hatten, den Scheik und seine Retter durch die Felsen zu verfolgen.
„Das war es, was du befürchtetest,“ sagte Kara zu dem Scheik.
„Vorhin, aber jetzt nicht mehr!“ antwortete dieser.
„War es vorhin bedenklicher als jetzt?“
„Nein; aber inzwischen hat uns Tifl sein Versprechen gegeben, und er wird es halten.“
„Aber bedenke den Unterschied! Hier auf ebenem Boden sind wir im Vorteile, weil wir bessere Pferde haben. Da oben aber werden die Soldatengäule den meinigen im Klettern überlegen sein. Wenn man uns nach oben folgt, wird man uns wahrscheinlich einholen.“
„Mag es geschehen!“
„Aber dann, was thun?“
[401] „Ich frage nicht, Tifl weiß, was er will!“
Nun war der Fuß der Höhen erreicht. Es gab da eine zunächst sanft ansteigende, schuttartige Halde, vor welcher der spinnenmützige Führer nicht vom Pferde stieg. Er ritt hinauf; die andern folgten. Die Hufspuren waren in dieser Art von Boden mehr als deutlich zu erkennen. Als man oben angekommen war, deutete Tifl auf diese Fährte und sagte:
„Hier habe ich ihnen gesagt, wohin wir wollen. Sie werden uns folgen, weil sie es glauben.“
„Wie meinst du das?“ fragte Kara. „Sollten sie es vielleicht nicht glauben?“
„Nein.“
„Warum nicht?“
„Weil ... weil ...“
Er brach mitten in der Antwort ab. Seine Brauen zogen sich zusammen; seine kindlichen Züge wurden um Jahre älter; sie nahmen einen ernsten, ja abweisenden Ausdruck an.
„Bist du hier daheim, oh Kara Ben Hadschi Halef?“ fragte er.
„Nein.“
„Aber ich kenne diese Gegend. Wären wir bei den Haddedihn, so folgte ich dir. Wir befinden uns aber bei den Dschamikun. So folge mir!“
Er sprang vom Pferde und ging weiter, die Stute hinter ihm. Die andern stiegen auch ab und schritten hinter ihm her, wobei der Scheik und seine Frau die Rappen an den Zügeln führten, weil sie ihnen als Fremden wohl nicht so unbedingt und willig gefolgt wären, wie es nötig war. Es ging eine ziemlich steile Felsenlehne hinauf. Hier und da stand ein Busch, irgend ein Gestrüpp, Tifl brach da immer Zweige ab, die er fallen [402] ließ, um die Verfolger hinter sich herzulocken. Man konnte sie nicht sehen, weil hohes Gestein dazwischen lag. Dann aber kam eine vortretende Stelle. Als die vier auf sie heraustraten, sahen sie die Soldaten tief unter sich, welche, ihre Pferde auch führend, den Berg heraufgestiegen kamen. Einer von ihnen schaute zufällig empor und sah die hoch oben Stehenden. Er machte seine Kameraden auf sie aufmerksam, worauf sie mit den geballten Fäusten drohten und zornige Rufe heraufsandten.
„Sie kommen wirklich!“ sagte der Scheik. „Nun bin ich neugierig, was geschehen wird.“
„Das geschieht!“ antwortete Tifl.
Er deutete nach rechts und links, wo weit draußen die übrigen Perser zu sehen waren, welche in größter Eile auf die Pässe zujagten. Hafis Aram sprach:
„Sie reiten hinüber, um uns jenseits zu empfangen, und diese hier jagen uns vorwärts. Wenn wir doch Waffen hätten. Ich fand nicht Zeit, die meinigen zu holen. Es mußte alles nur darauf gerichtet sein, so schnell wie möglich aus dem Duar zu verschwinden.“
„Wir brauchen keine Waffen - kommt!“
Mit diesen Worten wendete Tifl sich zum Berge zurück, um die Flucht fortzusetzen. Sie führte in ein Gewirr von Felsen hinein, durch welches der Kurde sonderbarer Weise nicht die gerade Richtung nahm. Er wich vielmehr bald nach dieser und bald nach jener Seite von ihr ab, so daß der zurückgelegte Weg beinahe einen Kreis bildete, auf welchem man fast wieder zurück zum ersten Punkte kam. Hier ging es zwischen zwei eng zusammenstehenden Felsen hinein, welche eine schmale, oben offene, sich abwärts senkende Höhle bildeten. Das war ein sehr beschwerlicher Weg, welcher nur höchst langsam zurückgelegt werden konnte. Warum Tifl gerade diesen Teil [403] des Berges wählte, das war den Andern unerfindlich; sie sagten aber nichts.
Als man wieder in das Freie kam, befand man sich an einer Felsenwand, welche senkrecht nach oben stieg. „Das Kind“ blieb lauschend stehen und gab mit der Hand zum Munde das Zeichen, zu schweigen. Da oben erklangen jetzt Stimmen.
„Wer ist das?“ fragte leise der Scheik.
„Die Perser sind es,“ lächelte Tifl, indem er ebenso leise antwortete.
„Also über uns?“
„Ja.“
„Maschallah!“
„Das ist der Vorsprung, auf dem wir vorhin standen, als wir sie kommen sahen. Wartet noch!“
Als es nach kurzer Zeit oben still geworden war, winkte der Kurde, ihm weiter zu folgen. Nach einiger Zeit sahen die andern zu ihrem Erstaunen, daß sie sich oberhalb der früher genannten Felsenlehne befanden, welche sie heraufgekommen waren. Sie trafen auf ihre eigene Fährte, die inzwischen durch die Spuren der Verfolger verstärkt worden war.
„Nun suchen sie da oben nach uns!“ lachte Tifl. „Wir gehen wieder hinunter. Aber nicht hier, sondern dort, wo man auf dem festen Steine keine Eindrücke machen kann.“
Er deutete vorwärts, nach einer Stelle, wo das kompakte Gestein jenseits des weicheren Bodens hart zu Tage trat. Es senkte sich allmählich bis fast an den Rand der Steppe nieder. Die Pferde rutschten mehr als sie stiegen hinunter, wo man nur noch ein schmales Randgebüsch zu durchbrechen hatte. Jenseits desselben wieder auf der Ebene angekommen, wollte Tifl sich auf sein Pferd [404] schwingen; da ergriff Kara ihn am Arm, sah ihm mit fast bewunderndem Ausdruck in das Gesicht und fragte:
„Tifl, sag, wo hast du das her?“
„Ich? - Was?“ lautete die ruhige Antwort.
„Diese Klugheit, diese Umsicht.“
„Du meinst, daß ich klug gewesen sei?“ erkundigte sich der Kurde, indem er das allerkindlichste seiner Gesichter zeigte.
„Ja, außerordentlich klug! Jetzt erst begreife ich dich. Sag: du hast gar nicht über die Berge hinüber gewollt?“
„Nein.“
„Sondern nur so gethan, um die Perser zu betrügen?“
„Ja.“
„Du wolltest sie veranlassen, durch die beiden Pässe nach der andern Seite der Höhe zu eilen?“
„Ja.“
„Damit wir hier freien Weg bekämen?“
„So ist es.“
„Aber was nun? Denkst du, daß wir jetzt über die Seitenberge reiten, von denen der Scheik wieder zurückgetrieben worden ist?“
„Nein, das haben wir nicht nötig.“
„Aber was ist denn deine Absicht?“
„Wir reiten ganz einfach durch den Paß der Hasen, durch welchen wir gekommen sind, wieder nach Hause.“
„Aber da treffen wir doch wieder auf die Perser!“
„Wo?“
„Nun, doch entweder noch im Passe selbst oder erst am Ende desselben.“
„O nein. Wenn du das von ihnen glaubst, so hältst du sie für unbeholfen. Du hast aber doch gesehen, wie umsichtig ihr Anführer sich alles überlegt hat. Denke [405] dir grad in der Mitte zwischen den beiden Pässen eine Linie über das Gebirge. Er glaubt, daß wir dieser Linie folgen und also auch jenseits auf der Mitte zwischen ihnen eintreffen. Wird er da seine Leute dort bei den Pässen auf uns warten lassen?“
„Allerdings nicht,“ gestand Kara ein.
„Sondern wo?“
„Eben in der Mitte.“
„Die Pässe werden also für uns frei. Es ist folglich sehr wahrscheinlich, daß wir heimreiten können, ohne von den Persern überhaupt gesehen zu werden.“
„Außer, wenn er in den Pässen Wachen zurückläßt.“
„Vielleicht thut er das, vielleicht auch nicht.“
„Und wenn er es thut, was dann?“
„Es käme darauf an, wie stark diese Wache ist, ob wir uns ihrer mit List erwehren können, oder ob wir Gewalt anwenden dürfen, ohne vor ihren Waffen besorgt sein zu müssen. Jetzt suchen uns die Soldaten da oben auf der Höhe; wir aber reiten nach dem Hasenpaß.“
Man stieg zu Pferde. Der Scheik der Kalhuran that dies langsam und mit so vorsichtigen Bewegungen, als ob er sich dabei zu verletzen befürchte. Seine Frau, welche bisher kein Wort gesagt, sich aber außerordentlich wacker gehalten hatte, beobachtete ihn dabei mit liebevoll mitfühlenden Blicken. Während des Weiterrittes war er sehr still. Zuweilen biß er die Zähne zusammen. Kara, welcher das alles sah, dachte an die Erzählung des „Oberleutnants“ und was im Zelte des Muhassil mit Hafis Aram geschehen war.
„Hast du Schmerzen?“ fragte er ihn teilnehmend.
Der Scheik zögerte mit der Antwort. Da aber ließ die Frau zum erstenmal ihre Stimme hören:
[406] „Sagtet ihr nicht, ihr wüßtet, was sich in unserem Duar ereignet hat?“
„Ja. Der Offizier hat es uns erzählt.“
„Und da fragst du, ob Hafis Aram Schmerzen leide? Ich sage dir, er ist ein Held, den ich nicht genug bewundern kann! Du hast gehört, wie scheinbar ohne Qual er sprach. Du hast ihn sogar heiter lächeln sehen. Und doch ist er am Leibe so blutig wund, daß es mich grauste, als er mir meine Bitte erfüllte, es mir zu zeigen. Man hat ihn geschlagen wie einen Hund. Man ist mit ihm -“
Er unterbrach sie mit einer Handbewegung.
„Darf ich, dein Weib, welches dich so innig liebt, dir nicht mein Mitleid zeigen?“ fragte sie.
„Mitleid?“ antwortete er. „Ist es eine Ehre für einen Mann, bemitleidet zu werden?“
„Aber ich weiß, was für entsetzliche Schmerzen du so still zu tragen und zu beherrschen hast!“
„Du fühlst sie mit mir, weil du mich liebst, und dafür danke ich dir. Doch daß ein Mann, der Scheik eines Stammes, Schläge bekommen habe, das darf er in Gegenwart anderer selbst nicht aus dem Munde seines Weibes hören. Ich bitte dich also, jetzt nicht mehr davon zu sprechen.“
Er reichte ihr seine Hand hinüber. Sie zog sie an ihre Lippen und küßte sie. Es lag ein so inniges und doch zugleich so stolzes Erbarmen in den Augen, die sie kaum von ihm lassen konnte. Und sie war keine Europäerin, sondern sie gehörte einem Volke an, welches man als „halb wild“ zu bezeichnen pflegt! Er aber gab sich nun doppelte Mühe, ihr keine Spur der Schmerzen, welche er als Mann und Krieger zu verheimlichen hatte, mehr sehen zu lassen.
Man kam durch den Paß, ohne von etwas Erwäh- [407] nenswertem gestört zu werden. Als man sich dem Ausgange desselben näherte, stieg Kara vom Pferde und reichte dem „Kinde“ die Zügel, es zu führen.
„Warum?“ fragte Tifl.
„Ich will leise vorausgehen.“
„Du denkst, daß sich Wächter da vorn befinden?“
„Hast du das nicht selbst für möglich gehalten? Kommt langsam nach! Ist niemand da, so haben wir nichts als nur eine kurze Zeit verloren. Wird der Paß aber bewacht, dann könnte uns ein unvorsichtiges Vorwärtsreiten teuer zu stehen kommen.“
Er ging voran. Die andern hielten sich so weit hinter ihm, daß er den Hufschlag ihrer Pferde nicht hören konnte. Der Weg machte einige Windungen, welche verhinderten, ihm mit den Augen zu folgen. Als man an der zweiten Krümmung vorübergekommen war, sah man ihn an der dritten stehen. Er deutete warnend nach vorwärts und winkte mit der Hand, zu ihm zu kommen.
„Hast du jemand gesehen?“ fragte der Scheik, als er ihn erreichte.
„Ja. Es sind fünf Soldaten hier.“
„Im Sattel?“
„Nein. Sie sitzen mitten auf dem Wege an der Erde, und ihre Pferde raufen zur Seite am Gestrüpp herum.“
„Ich will sie betrachten,“ sagte Tifl.
Er stieg ab und schlich sich vorsichtig bis zur Krümmung hin. Indem er den Kopf nur bis zu den Augen vorstreckte, sah er, wer sich jenseits derselben befand. Dann kam er zurück. Er machte eine beruhigende Handbewegung und sprach:
„Sie sind ganz ahnungslos und also ungefährlich. Wir reiten über sie hinweg. Das wird sie so erschrecken, [408] daß wir schon fern von ihnen sind, ehe sie an ihre Waffen denken können. Darf ich voran?“
„Ja,“ nickte der Scheik. „Wir folgen sofort hinter dir her.“
Tifl schwang sich wieder auf. Dann schoß er auf seiner Stute hinter der Krümmung hervor, grad auf die Perser zu und in einem Bogen über sie hinweg. Sie schrien laut auf und wollten aufspringen, warfen sich aber, als sie noch die drei andern kommen sahen, statt dessen schnell glatt auf den Boden nieder. So kam es, daß sie von den Hufen der über sie hinwegspringenden Pferde nicht berührt wurden. Diese letzteren jagten noch eine ganze Strecke weiter und wurden erst dann, als man sich sicher fühlte, zu langsamerem Gange gezügelt. Nun schaute sich Kara nach den Wachen um. Sie hatten sich von ihrer Ueberraschung erholt, kamen aber nicht etwa hinterdrein, sondern sie galoppierten, den Paß verlassend, in nördlicher Richtung längs des Höhenzuges dahin.
„Sie wollen melden, daß wir entkommen sind,“ sagte der Scheik.
„Ja, entkommen!“ fügte seine Frau hinzu, indem sie tief und erleichtert Atem holte. „Chodeh sei Dank! Erst jetzt können wir in Wahrheit sagen, daß wir gerettet sind. O Tifl, Tifl, wie danke ich dir!“
Da zeigte „das Kind“ die allerverlegenste seiner Mienen und antwortete, auf den Haddedihn deutend:
„Nicht mir gebührt der Dank, sondern diesem klugen Kara Ben Hadschi Halef Omar. Hätte er nicht zwei ledige Pferde mitgenommen, so wäre es uns unmöglich gewesen, euch zwischen den Reitern herauszuholen.“
Da reichte der Scheik Kara seine Hand und sprach:
„Verzeihe mir, daß ich jetzt keine lange Rede des Dankes halte. Ich bin sehr müd und möchte bald ver- [409] bunden werden. Ich werde dich und diese drei herrlichen Tiere, so lange ich lebe, nicht vergessen. Nur mit solchen Pferden konnten wir gerettet werden! Dein Dunkelbrauner ist köstlich. Wem aber gehören die beiden andern?“
Da kam Tifl dem Haddedihn, welcher antworten wollte, schnell zuvor:
„Versuche, es zu erraten, o Scheik der Kalhuran.“
„Sollten diese Rappen zu dem Braunen gehören?“ fragte dieser.
„Weiter!“
„Es gab einen schwarzen Hengst der Haddedihn, der von keinem andern Pferde jemals besiegt worden ist. Er hieß Rih und wurde von Kara Ben Nemsi geritten, so oft dieser bei Hadschi Halef Omar war.“
„So schau den Rappen an, auf welchem die Gebieterin deines Zeltes sitzt! Er heißt Assil Ben Rih.“
„So ist er Rihs Sohn? Maschallah! Und der andere Hengst? Der mich jetzt trägt?“
„Sein Name ist Barkh. Er hat den berühmten Scheik der Haddedihn zu uns gebracht.“
„Was höre ich! Hadschi Halef Omar ist bei euch?“
„Ja.“
„Aber zwei Rappen! Wer reitet den andern?“
„Denke nach!“
„Sollte - - sollte Kara Ben Nemsi wieder einmal bei seinem Freunde sein?“
„Ja, auch der ist da. Und noch jemand ist da! Du wirst sie alle sehen. Wir wollen nicht hier erzählen, denn wir müssen uns nun beeilen, wenn wir heimkommen wollen, bevor es ganz dunkel wird.“
Es ging zunächst in nicht zu schnellem Gange über die tiefsandige Ebene hinüber. Hierbei verstand es sich ganz von selbst, daß zuweilen ein Blick zurückgeworfen [410] wurde. Da waren nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Kavalleristen zu sehen, welche von den Posten am Passe benachrichtigt worden waren. Sie kamen hinterher. Kara behauptete das; der Scheik aber wollte es nicht glauben. So blieb man also für einige Augenblicke halten, um sie zu beobachten.
„Es ist ja ganz unmöglich, daß sie auf den Gedanken gekommen sind, uns noch weiter zu verfolgen!“ ließ sich Hafis Aram hören.
„Sie müssen doch eingesehen haben, daß sie uns auf ihren Gäulen nicht einholen können!“ fügte Kara hinzu.
„Es ist nicht bloß das. Aber sie dürfen sich doch nicht auf das Gebiet der Dschamikun wagen!“
„Ist ihnen das verboten?“
„Ja. Der Ustad hat vom Schah-in-Schah das Recht erwirkt, kein bewaffnetes Militär bei sich zu dulden. Diese Soldaten befinden sich aber nicht bloß schon auf seinem Gebiete, sondern ich sehe es nun allerdings auch ganz deutlich, daß sie hinter uns dreingeritten kommen. Sind sie etwa so verwegen, uns bis zu den Wohnungen der Dschamikun zu verfolgen? Fast scheint es so!“
„So ist also der Ustad hier alleiniger Herr?“
„Er gehorcht nur dem Beherrscher selbst. Das steht auf einem Pergament geschrieben und wurde von dem Schah-in-Schah eigenhändig unterzeichnet und besiegelt. Ich bin zwar seit heut der Blutrache verfallen, weil ich den Muhassil erschossen habe; aber auf das Gebiet der Dschamikun darf mir kein Rächer folgen. Hier giebt es ewigen Frieden, der höchstens einmal von den Verachteten und Ausgestoßenen gebrochen werden kann, die keinem Gesetze gehorchen. Wenn diese Soldaten uns folgen, ohne dort an den Bergen ihre Waffen abgelegt zu haben, hat der Ustad das Recht, sie alle, vom ersten bis zum letzten [411] niederschießen zu lassen! Tifl, sag, was meinst du dazu?“
„Ich werde es gleich beim ersten Hause melden, damit in der kürzesten Zeit es alle wissen,“ antwortete der Genannte. „So laßt uns also eilen! Vorher aber sollst du mir sagen, o Scheik der Kalhuran, ob ich mein Versprechen erfüllen werde. Ich habe im Namen meiner guten Pekala beteuert, daß wir zur rechten Zeit daheim sein werden.“
„Du hältst stets dein Wort, besonders aber wenn du es im Namen deiner Pekala giebst. So auch heut.“
„Ich danke dir. Nun kommt!“
Sobald der tiefe Sand dieser Ebene in grasigen Boden überging, konnten die Pferde weit ausgreifen. Es dauerte dann nur noch kurze Zeit, bis man den See erreichte und mit ihm das erste Haus, an welchem Tifl anhielt, um die von ihm erwähnte Meldung abzugeben. Der Bewohner desselben war, so zu sagen, auf dieser Seite der Pförtner des Duars und hatte den die Sicherheit desselben betreffenden Nachrichtendienst zu verwalten. Als dies besorgt war, stand es fest, daß die Soldaten, falls sie wirklich kämen, den ihnen für solche Fälle vorherbestimmten Empfang finden würden, und Tifl konnte nun mit den drei Andern direkt nach dem „hohen Hause“ reiten. Allen denen, die ihnen begegneten, fiel der ganz unerwartete Besuch Hafis Arams und seines Weibes auf, zumal er in dieser ganz seltenen Weise und ohne die imponierende Kamelsänfte geschah, aber es gab keinen, der irgend ein Aufheben davon machte. Höchstens, daß hier oder da Einer stehen blieb, um den Reitern verwundert, aber still nachzuschauen. Das Gemeindeleben war hier eben ein anderes, geordneteres und darum auch ruhigeres als in den Dörfern anderer Stämme. - - -
[412] Das war es, was Kara während seines Rittes erlebt hatte. Er berichtete es mir später noch ausführlicher, als ich es hier erzählt habe. Dieser sogenannte Uebungsritt war also noch viel mehr geworden, als er ursprünglich hätte werden sollen.
Was mich betrifft, so war mir während dieser Zeit nichts Besonderes begegnet. Mit der „festjungfräulichen“ Köchin gab es ein kurzes Gespräch. Als sie bei ihrer Rückkehr aus dem Thale an mir vorübergehen wollte, nickte ich ihr freundlich zu. Dies veranlaßte sie, stehen zu bleiben. Sie machte die kleinen Aeuglein zu, um besser nachdenken zu können, welchen Gegenstand des Gespräches sie am liebsten wählen könne; dann schlug sie sie wieder auf und fragte mich, natürlich in türkischer Sprache:
„Effendi, kennst du Teheran?“
„Ja,“ nickte ich.
„Hast du dort Hagad, den Aschtschy1) [1) Koch.] gekannt?“
„Nein.“
„Das ist schade, denn er war mein Vater. Hast du aber Machub Suleiman Effendi gekannt, welcher Sefir2) [2) Türkischer Gesandter, Botschafter.] war?“
„Nein.“
„Auch das ist schade, denn er war der Herr meines Vaters. Beide kamen nach Teheran, der Sefir, weil der Sultan ihn sandte, und mein Vater, um für ihn zu kochen. Meine Mutter war auch dabei, und als mein Vater ein Jahr lang für Machub Suleiman Effendi gekocht hatte, wurde ich geboren.“
„So stammst du also nicht aus der Türkei, sondern aus Persien?“
„Ich stamme von meinem Vater und von meiner Mutter, und beide waren Osmanen. Ich habe als Kind [413] meist türkisch mit ihnen gesprochen, und darum liebe ich noch heute diese meine Muttersprache sehr. Mein Vater kochte auch mit für meine Mutter, und da ich sein Liebling war, hat er mich alles gelehrt, was er konnte. Ich half ihm gern und überall, und als meine Mutter gestorben war, ließ er seinen Harem für immer leer, und ich blieb mit ihm allein. Als der Sefir nach Stambul zurückkehrte, blieb mein Vater in Teheran, weil er Koch des Beherrschers wurde. Aber unsern Tifl kennst du wohl?“
„Natürlich! Das weißt du ja!“
„Er hieß damals anders; aber ich habe ihn stets Tifl genannt. Manche heißen ihn El Aradsch, weil er hinkt. Ich glaube, seinen früheren Namen hat er ganz vergessen. Er kam mit anderen Kindern der Dschamikun nach Teheran, um Reitknecht des Schah-in-Schah zu werden. Er wohnte also im Ark1) [1) Residenz.], grad so wie ich, und wir wurden sehr bald und auch sehr gut mit einander bekannt, weil sein steter Hunger keinen Anfang und kein Ende hatte. Ich fütterte ihn und nannte ihn darum Tifl, das Kind. Alles, was er von mir bekam, schmeckte ihm köstlich, und weil dieses Wort in der türkischen Sprache pek ala heißt, so hat er mir den Namen Pekala gegeben. Daher kommt es, daß wir beide noch heut von jedermann Pekala und Tifl genannt werden. Mein Tifl war eigentlich nur für die Pferde geboren. Er wußte und wollte außer mir nichts anderes als sie. Und wie er sie liebte, so liebten sie ihn auch. Er war sehr klein, da that es ihm kein anderer Seïs gleich. Darum waren seine Vorgesetzten außerordentlich mit ihm zufrieden. Aber das rührte ihn nicht; er achtete nur auf mich; ein Lob von mir war ihm lieber als tausend andere. Ich erzog ihn aber auch sehr sorgfältig und erziehe ihn noch heut! [414] Ein Mann muß nämlich stets erzogen werden. Man darf nur freilich nicht darauf achten, wenn er sich dagegen sträubt. Sie sind alle, alle fast noch wie die Kinder!“
„Auch der Ustad? Oder der Pedehr?“ unterbrach ich sie.
Diese meine Frage brachte sie sichtlich in Verwirrung. Sie sah mich verlegen an, rieb sich mit dem gebogenen Zeigefinger das kleine, unbedachtsame Näschen und ließ ihre runden Wänglein noch beträchtlich röter werden, als sie so schon waren. Dann warf sie plötzlich den Kopf zurück und verriet mir durch den triumphierenden Ausdruck, der sich ihres ganzen Gesichtes bemächtigte, daß sich unter der Ursprungsstelle ihrer langen Haarflechten ein rettender Gedanke eingefunden habe.
„Das sind doch keine Männer!“ sagte sie.
„Was denn?“
„Herren und Gebieter! Du weißt doch, daß es zweierlei männliche Wesen giebt!“
„So?“
„Ja! Nämlich solche, welche zu gebieten, und solche, welche zu gehorchen haben. Die Herren sind schon erzogen; die anderen aber müssen es sich gefallen lassen, daß man es mit ihnen thut.“
„Und dazu seid wohl ihr Frauen da?“
„Ja! Denn zur Erziehung eines Mannes gehört außerordentlich viel Liebe, Geduld und Energie, und diese drei sind nicht bei euch, sondern nur bei uns zu finden. Wenn du das nicht glaubst, so frage nur „mein Kind“! Du wirst von ihm erfahren, was für Mühen und Sorgen mir seine Erziehung bereitet hat und auch heute noch bereitet. Es ist kein Spaß, die Mutter eines Jungen zu sein, der fast ganz genau so alt ist, wie ich selber bin. Er ist sogar einige Monate älter! Ich sage dir, Effendi, [415] es hat keinen geringen Kampf gekostet, mich bei ihm in Respekt zu setzen, denn er glaubte, daß die Pflicht des Gehorsams nach der Körperlänge zu bestimmen und zu bemessen sei. Er aß für drei oder vier Personen, und dadurch sammelte sich in seinem Körper jene heimtückische Kraft zum Wachstum an, welche ihn später so überaus schnell in die Höhe trieb. Es gab eine Zeit, in der ich, wenn ich genau aufpaßte, ihn wachsen sehen konnte. Ich aber blieb klein. Das kränkte mich. Ich wollte so gern in gleicher Länge mit ihm bleiben. Darum begann ich, ebenso viel zu essen wie er. Aber die Kraft wirkte bei mir nicht nach oben hinaus, sondern sie ging in die Breite und rundum im Kreise. Ich wurde kugelrund, anstatt mir seine schlanke Höhe anzueignen. Er war gezwungen, auf mich herabzuschauen, und das erweckte in ihm die Einbildung, daß er überhaupt und in jeder Beziehung über mir erhaben sei. Meine Fülle imponierte ihm nicht; ja, er belächelte sie sogar. Wie mich das betrübte! Ich mußte ja befürchten, daß er meiner mütterlichen Zuneigung gewiß noch ganz entwachsen werde. Diese fast täglich zunehmende Körperlänge entfremdete ihn mir mehr und mehr. Er wurde immer stolzer auf sie. Er sah gar nicht, wie sehr sie ihm schadete. Ein Pferdejunge hat bei seiner bestimmten Größe zu bleiben. Er aber schoß weit über die Achseln seiner Vorgesetzten empor. Das nahmen sie ihm übel. Seine Hosen waren stets zu kurz; seine Aermel getrauten sich nicht über die Ellbogen hinaus. Das sah nicht schön, sondern häßlich aus, und darum wurde er mehr und mehr zurückgesetzt, obwohl er der geschickteste und gutherzigste von allen war. Das ärgerte ihn. Er wurde grob, besonders mit mir. Sein Magen blieb mir treu, aber sein Herz entfernte sich immer mehr von mir. So wären wir uns gewiß nach und nach immer [416] fremder geworden, bis wir uns gar nicht mehr gekannt hätten, da aber trat ein Ereignis ein, durch welches die Verschiedenheit unserer Gestalten vollständig und für immer ausgeglichen wurde. Weißt du, daß der Islam den Wein verbietet, Effendi? Der Koran will es so.“
„Nein; der Koran will es anders.“
„Wieso! Ich verstehe dich nicht.“
„Die betreffende Stelle lautet: ‚Alles, was betrunken macht, sei untersagt!‘ Also ist jeder betäubende Trank verboten, nicht aber der Wein besonders, falls man ihn so genießt, daß man nüchtern bleibt.“
„Du magst recht haben. Aber ein kluger Muselmann hütet sich lieber gleich ganz vor ihm, weil der Betrunkene nicht eher von dieser seiner Betrunkenheit etwas weiß, als bis er wieder nüchtern ist. Dann macht ihm die Trübsal seines Jammers nicht nur dieses eine Wort, sondern den ganzen Kuran plötzlich heilig! Aber der Schah-in-Schah hat zuweilen Gäste, welche nicht Muhammedaner sind. Er muß ihnen Wein geben, wenn sie bei ihm speisen. Darum giebt es einen Kabu1) [1) Keller.], in welchem viele, viele Flaschen aufbewahrt werden, die bis zu den Hälsen herauf voll von den verschiedenen Betrunkenheiten sind. Der Weg von meiner Küche nach diesem Kabu war gar nicht weit, und es kam zuweilen vor, daß die Thür zu diesen Flaschen offen stand. Was glaubst du wohl, Effendi, was nun geschehen wird?“
„Tifl verläuft sich in den Keller!“
„Maschallah! Woher weißt du das?“
„Ich vermute es.“
„Er hat es dir nicht erzählt?“
„Nein.“
[417] „Das würde mich auch wundern, denn er spricht nie davon. Denn seine Scham über das, was er dort that, ist größer, als der ganze Keller ist! Aber so schnell, wie du denkst, geht das nicht. Ich muß es dir genau der Reihe nach erzählen. ‚Das Kind‘ hatte am Mittag bei mir gegessen, ich weiß noch ganz genau, was für Speisen und wieviel. Soll ich es dir sagen?“
„Nein, ich danke dir.“
„Ich hatte auch Dattelbrühe gemacht, über den dicken Reis zu gießen. Die war ihm zu dünn. Er zankte. Ich zankte wieder. Er wurde noch zorniger; ich auch. Er saß am Boden, und weil er da nicht länger war als ich, so benützte ich das sehr eilig und geschickt und stülpte ihm den ganzen Topf mitsamt der Dattelbrühe über den Kopf. Sie lief ihm in die Augen, in die Ohren, in die Nase, in den Mund. Er begann zu schreien, zu husten, zu niesen. Der Topf paßte ihm nur ganz eng auf den Kopf. Er schob und schob, um ihn zu entfernen; das ging sehr langsam. Sein Grimm wuchs, und ich bekam Angst. Ich glaubte, er werde sich dann mit dem Topfe an mir rächen. Ich floh also aus der Küche und versteckte mich. Erst nach langer, langer Zeit getraute ich mich zurück. Tifl war fort; der Topf lag zerbrochen am Boden. Ich las die Scherben auf und gelobte mir, die Dattelbrühe künftig noch viel dünner zu machen, als sie heut gewesen war. Der Nachmittag verging. Die Zeit zum Abendessen kam, aber Tifl nicht. Da wurde ich traurig und nahm mir vor, die Brühe doch nicht dünner zu machen. Am nächsten Morgen war Tifl noch nicht da; am Mittag auch nicht. Da grämte ich mich, denn ich sah ein, daß die Dattelbrühe viel, viel dicker sein müsse. Als dann am Abend und wieder am Morgen ‚das Kind‘ immer noch nicht kam, gelobte ich mir, die [418] Brühe noch dicker als den dicken Reis zu machen. Ich weinte. Aber das half nichts, denn früh fehlte Tifl immer noch. Nun erkundigte ich mich nach ihm. Niemand hatte ihn gesehen. Man suchte, aber man fand ihn nicht. Wie ich mich da grämte! Ich suchte die weggeworfenen Scherben wieder zusammen, sah sie traurig an und kam zu dem Entschlusse, sobald er wiederkehre, eine so dicke Dattelbrühe zu machen, daß man sie als Reitsattel auf den Rücken eines Kamels schnallen könne. Das half! Denn kaum hatte ich das gedacht, so kam der Märd-y-Scharab1) [1) Mann des Weines, Kellermeister.] in die Küche gelaufen und meldete ganz außer Atem, daß Tifl gefunden worden sei. Er liege jammernd im Keller und könne nicht herauf, weil er ein Bein gebrochen habe. Weißt du, was ich that, Effendi?“
„Du liefst in den Keller!“
„Ich lief? O, ich glaube, ich bin geflogen! Ja, mein Tifl lag unten. Er war grad wieder nüchtern geworden.“
„Nüchtern? War er denn betrunken gewesen?“
„Wie kannst du fragen! Wenn ihr Männer zornig seid, thut ihr alles, was verboten ist! Der Zorn ist ja schon an sich nichts weiter, als eine Art von Rausch, von Betrunkenheit, und wenn dann so ein vom Zorne berauschtes ‚Kind‘ gar noch die Thür des Kellers offen findet, so kann man sich denken, daß es nicht vorübergeht. Tifl war also hinabgestiegen. Du weißt, was er für ein Esser war. Meinst du, daß er nicht trinken konnte? Es lagen zehn oder zwölf leere Flaschen neben ihm.“
„Wie hatte er sie geöffnet!“
„Die Hälse fehlten. Er hatte sie abgeschlagen. Aber wie er das gemacht hatte, das wußte er nicht mehr. Er [419] erinnerte sich nur, großen Durst gehabt und viel, sehr viel getrunken zu haben. Erst später fiel ihm ein, daß er die vielen steilen Stufen heraufgestiegen, aber wieder hinabgefallen sei. Dabei hatte er das Bein gebrochen. Es war ihm unmöglich gewesen, aufzustehen. Er glaubte, daß er dann weitergetrunken habe, bis er eingeschlafen sei. Aber welch ein Schlaf! Erst dem Märd-y-Scharab war es gelungen, ihn durch fortgesetztes Rütteln aufzuwecken.“
„Er wird inzwischen doch zuweilen für kurze Zeit erwacht sein. Stand es gefährlich mit dem Bein?“
„Es war unterhalb des Knies gebrochen und so sehr geschwollen, daß der Hekim1) [1) Arzt.], welcher gerufen wurde, sagte, er könne nicht eher etwas thun, als bis diese Geschwulst verschwunden sei. Dadurch ist das Bein kürzer geworden. ‚Das Kind‘ hinkt und wird deshalb von vielen Leuten El Aradsch, der Lahme, genannt. Aber eine Schwäche ist nicht zurückgeblieben. Tifl springt und reitet ebenso schnell und ebenso vortrefflich wie vorher, doch Saïs konnte er nun als Hinkender unmöglich werden.“
„Ich vermute, du hast ihn gepflegt?“
„Natürlich! Kein anderer Mensch durfte ihn berühren; ich duldete es nicht. Ich war ja schuld an seinem Zorne, in dem er that, was er sonst gewiß unterlassen hätte. Und - - und - - darf ich dir etwas anvertrauen, Effendi?“
„Warum nicht?“
„So will ich dir sagen: Dieser Unfall hat mich mit meinem Tifl für immer so vereint, daß er mir gehorcht in allen Stücken, außer - - außer - - wenn er auf dem Pferde sitzt. Dann ist er der Herr; dann habe ich nichts zu sagen, ihm nichts zu befehlen. Er schämt sich [420] noch heute jener Betrunkenheit. Ich brauche sie nur so von weitem zu erwähnen, so thut er alles, was ich will, nur damit ich schweige. Ist das im Abendlande, wo man alles, was man will, trinken darf, ebenso? Ist auch dort der Rausch der Vater und die Betrunkenheit die Mutter so fortgesetzter Scham?“
Welche Antwort hätte ich auf diese Frage wohl geben können! Glücklicherweise wartete Pekala sie gar nicht ab, sondern fuhr in ihrem Eifer sogleich fort:
„Wie dankbar mein Tifl damals war, und wie dankbar er jetzt noch ist! Er haßt und verachtet die Undankbarkeit ebenso wie ich. Wir haben beide einander gesundgepflegt, erst ich ihn und dann er mich.“
„Auch du wurdest krank?“
„O, wie sehr! Nicht mein Körper, sondern meine Seele. Kaum konnte Tifl wieder gehen, so trat der Tod zu uns und nahm mir meinen Vater. Weißt du, was das heißt? Ich hatte nur diese beiden, den Vater und ‚das Kind‘, weiter keinen Menschen. Ich hatte nur für diese zwei gelebt. Als Vater tot war, wollte ich auch sterben, wollte ihm nach, wollte zu ihm. Ich weinte und jammerte den ganzen Tag; ich durchwachte alle Nächte. Man lachte über mich; mein Tifl lachte nicht. Aber er gab mir auch nicht Recht. Er schalt mich aus. Da wollte ich über ihn zornig werden, that es aber nicht, denn wir hatten uns mit Hand und Mund versprochen, nie wieder zu zanken, und das hielten wir. Er dachte über den Tod ganz anders als ich. Was sagst du von ihm, Effendi?“
„Es giebt gar keinen Tod,“ antwortete ich.
Da schlug sie die Händchen zusammen und rief im Tone der Verwunderung aus:
„Auch du? Auch du? Und doch habe ich gehört, [421] daß man im ganzen Abendlande ebenso fest an den Tod glaube, wie hier bei den muhammedanischen Sunniten und Schiiten! Der Ustad hat uns gelehrt, daß der Tod für ewig besiegt und überwunden sei. Ich glaubte, daß nur er dies sagen und beweisen könne, und nun höre ich, daß du dasselbe denkst! Der Tod war mir ein böser, finstrer Mann, der jeden holt und keinen wiedergiebt. Ich fürchtete mich vor ihm, wünschte aber doch, daß er komme und mich zu meinem Vater führe, denn ich liebte diesen mehr, viel mehr, als ich das Sterben fürchtete. War das klug oder thöricht, Effendi?“
„Keines von beiden! Aber du glaubst, damals über den Tod anders gedacht zu haben als jetzt?“
„Ja.“
„Nun, so sag: Was glaubst du jetzt?“
„Daß es keinen giebt, ganz so wie du.“
„Und damals?“
„Daß es einen giebt.“
„Du irrst. - Du glaubtest schon damals nicht daran.“
„Nicht? Effendi, das muß doch ich wissen, nicht aber du!“
„Du hast es doch selbst gesagt!“
„Wann?“
„Soeben! Du hast gewünscht, daß der Tod komme und dich zu deinem Vater führe. Kann es da einen Tod geben? Nämlich in deinen Gedanken!“
„Gewiß! Ich wünschte ihn ja herbei!“
„O Pekala, o Pekala!“
„Du lächelst? - Warum?“
„Der Tod soll dich zu deinem Vater führen. Wenn er das kann, so giebt es deinen Vater noch?“
„Natürlich!“
[422] „Und wenn er dich zu ihm bringen soll, so bist auch du noch vorhanden?“
„Ja.“
„Also ihr beide, du und dein Vater, seid noch da?“
„Ja. Ich komme zu ihm!“
„So seid ihr aber doch nicht tot!“
Da machte sie eine Geberde des Erstaunens und rief aus:
„Maschallah! Das ist richtig! Du hast mich gefangen!“
„Nicht dich habe ich gefangen, sondern etwas ganz anderes! Denke weiter! Wenn ihr nach dem Tode nicht tot seid, giebt es doch gar keinen Tod!“
„Diesen Gedanken begreife ich. Aber man stirbt doch!“
„Ist dieses Sterben ein Aufhören, ein vollständiges Vernichtetsein?“
„Nein. Es bringt vielmehr das wahre, rechte Leben. So sagt der Ustad.“
„So sage auch ich; so sagst auch du, und so hast du stets gesagt, auch damals, als du dich nach dem Tode sehntest. Nur dies wollte ich dir beweisen. So reden Tausende und Abertausende vom Tode, ohne zu wissen, daß sie ihn mit ihren eigenen Worten aus dem Dasein streichen. Als der Mensch zum erstenmal von dem Tode sprach, wurde er, der Tod, im Menschengehirn geboren; aber es war das eine Totgeburt. Und die Gedankenleiche dieses Totgebornen hat man durch Millionen Gehirne und durch Jahrtausende bis auf den heutigen Tag weitergeschleppt und wird sie noch durch die folgenden Jahrhunderte zerren, ohne einzusehen, daß man alle diese lächerliche Furcht und Mühe auf einen Korkuluk1) [1) Popanz, Scheuche, Schemen.] verwendet!“
[423] „Korkuluk! So ähnlich sagte damals auch mein Tifl.“
„Wie? Er, der junge Mensch?“
„Warum nicht, Effendi? Bedenke doch, daß unser Ustad sich bereits fünfzig Jahre bei den Dschamikun befindet! Was er glaubte und dachte, davon hat er die Alten überzeugt, und diese haben es den Jungen, den Kindern, überliefert. Weißt du, in welcher Weise das geschieht? Ganz so, wie mein Tifl mit mir that, als ich ihm sagte, daß ich sterben wolle. Es giebt im ganzen Duar kein einziges Kind, welches auf einen solchen Wunsch nicht sofort antworten würde, daß er ja gar nicht in Erfüllung gehen könne. Darf ich dir erzählen, wie Tifl zu mir sprach?“
„Ja, sage es mir!“
Da trat sie näher zu mir heran, kauerte sich in orientalischer Weise vor mir nieder, zog den weißen Schleier so um sich, daß nur ihr liebes Angesicht und die beiden Händchen aus demselben vorschauten, und begann:
„Es war am Abend; draußen vor der Küche, wo die Tarfasträucher1) [1) Tamarisken.] ihre langen, niedlich blühenden Zweige über mich senkten, als ob sie Erbarmen mit meiner Trauer hätten, denn ich weinte leise vor mich hin und wünschte mir den Tod. Da kam Tifl, ebenso leise, leise, denn mein Schluchzen war ihm heilig. Er lehnte sich neben der Tarfa an die Mauer und sagte lange, lange nichts, kein Wort. Kein Laut war ringsum zu hören; in mir nur sprach die Sehnsucht nach dem Tode fort und fort in trostlosen Klagelauten. Da plötzlich ertönte die Stimme ‚des Kindes‘ neben mir, halblaut, langsam, feierlich. Wie klang sie doch? Ganz anders als wie sonst! So hoch von oben! Als ob eine gütige Fee aus [424] „Alif leïla wa leïla“1) [1) „Tausend und eine Nacht“.] da über den Zweigen schwebe und von ihrer schönen, lichten Heimat zu mir sprechen wollte. Meine Tränen stockten. Ich lauschte.“
Pekala machte eine Pause. Ihre Augen suchten das nahe Rosengebüsch. Sie sann. Welch einen Ausdruck hatte jetzt ihr Gesicht! Als ob die Fee jetzt wieder bei ihr sei und ihr mit lieber Hand verschönernd und durchgeistigend über die Wangen gestrichen habe! Dann fuhr sie fort:
„Es kam ein Sonnenstrahl zum Monde nieder
Und hielt mit seinem Glanze bei ihm Rast,
Doch mit der Morgenröte ging er wieder
Und wurde dann der Erde Tagesgast.
Da sprach der Mond: Was soll ich um ihn trauern?
Ein Scheiden giebts im Licht, doch keinen Tod.
Es wird nur wenig, wenig Stunden dauern,
Da kehrt der Freund zurück im Abendrot!“
Sie schwieg und sah mich eigentümlich fragend an. Ich muß gestehen, daß ich zögerte, zu sprechen. Das war nicht, wie ich erwartet hatte, ein orientalisches Märchen, keine heidnische Sage, kein christliches Gleichnis. Wie sollte ich es nennen, wie rubrizieren? Aber war es denn so außerordentlich notwendig für mich, der nun sofort mit irgend einem Schema herbeistürzende Abendländer zu sein? Die Strophe wirkte ganz genau so, wie es der Dichter beabsichtigt hatte. Wer aber war dieser Dichter? Sie hatte von der Art und Weise des Ustad gesprochen, auf seine Leute einzuwirken. Geschah es vielleicht durch solche Gedichte, welche selbst von der Jugend sehr leicht verstanden und auswendig gelernt werden konnten?
„Hast du gehört, was ich gesprochen habe?“ fragte sie, als ich so lange still war und nichts sagte.
[425] „Jawohl, meine liebe Pekala,“ antwortete ich.
„Und auch verstanden?“
„Gewiß.“
„Ich kann es nicht so sagen, wie es damals klang. Man muß die Augen voller Thränen um einen lieben Abgeschiedenen haben, um es so zu hören, wie es gehört werden soll. Und es muß mit einer Stimme gesprochen werden, die aus einem so kindlich gläubigen Herzen klingt, wie dasjenige meines Pfleglings damals war und heute noch ist und immer bleiben wird. Er fügte nichts hinzu, kein Wort, kein einziges. Er lehnte noch einige Zeit still an der Mauer und ging dann fort, so leise, leise wie er gekommen war. Ich aber saß noch lange, lange unter den überhängenden Tarfazweigen, und es wurde ruhig und immer ruhiger in mir. Meine Thränen hatten aufgehört zu fließen; meine Todessehnsucht schwieg. Ich sah durch die langen, feinen Blütenrispen hindurch den Mond am Himmel stehen. Der Sonnenstrahl war bei ihm: ich sah ihn leuchten. Unten bei mir, auf der Erde, war es dunkel. Aber morgen, morgen wird alles, alles um mich her im Sonnenglanze strahlen. Auch der Strahl ist dabei, den ich liebe, nach dem ich mich sehne. Oh, Effendi, Effendi, ob mein Auge dann wohl so geöffnet ist, daß ich im stande bin, ihn zu erkennen?“
Ich sah sie an und mußte mir Mühe geben, ihr nicht merken zu lassen, daß ich über sie staunte. War das noch die „festjungfräuliche“ Köchin, die mir beinahe lächerlich vorgekommen war? In welchem Lichte erschien mir jetzt ihr ewig langer „Tifl“, den ich für einen Schwachkopf gehalten hatte! Hatten etwa die Bewohner des „hohen Hauses“ alle zwei verschiedene geistige Gestalten? Muß man aus Europa zu den verachteten Kur- [426] den gehen, um Menschenseelen entdecken zu lernen? Sieht man nicht, so oft man eine solche Entdeckung macht, daß jeder Mensch eigentlich zu zweien ist? Warum wurde es mir hier so leicht, daheim aber so schwer gemacht, das zu erkennen, was der Scheik der Haddedihn „nicht den Hadschi, sondern den Halef“ nannte? Ich riß mich von diesen Gedanken los, denn ich sah, daß Pekalas Augen betrachtend auf mich gerichtet waren.
„Wo hatte das ‚Kind‘ den Gedanken her, dir grad mit diesem Gedichte den beabsichtigten Trost bringen zu können?“ fragte ich.
„Die Liebe sagte es ihm, Effendi. Hast du noch nie bemerkt, daß die wahre, wirkliche Liebe stets das Richtige trifft? Es war nach dem Tode des Vaters nun zum erstenmal, daß ich ruhig und ununterbrochen bis zum Morgen schlief. Als ich erwachte, war ich ernst, doch weinte ich nicht mehr. Wenn eine Thräne emporsteigen wollte, dachte ich an den Sonnenstrahl, der nicht stirbt, sondern strahlend wiederkehrt. Und es geschah auch sehr bald, daß ich keine Zeit mehr hatte, mich der Trauer hinzugeben. Der Vater war tot; man brauchte mich nicht mehr. Was sollte ich thun? Wo sollte ich hin? Tifl ging nun lahm. Er konnte nicht Saïs werden. Man beschloß, ihn als unbrauchbar zu den Dschamikun zurückzuschicken. Da geschah es, daß unser Pedehr nach Teheran kam, um nach seinen Leuten zu sehen, welche bei der Leibgarde des Beherrschers standen. Er schaute auch nach Tifl, und dieser erzählte ihm von mir. Da ließ er mich zu sich kommen. Hast du gesehen, wie schön, wie gut seine Augen sind? Er richtete sie auf mein Angesicht, als ob er mir durch Leib und Seele schauen wolle. Dann fragte er mich, ob es mir recht sei, ‚mein Kind‘ zu den Dschamikun zu begleiten und dort zu bleiben, so [427] lange es mir gefalle. Wie glücklich mich das machte! Ich nahm sie an, die neue Heimat, die mir so lieb geboten wurde. Ich mag sie nicht verlassen, so lange, als ich lebe, und da es keinen Tod giebt, ist es mein allergrößter Wunsch, dann einst wie jener Sonnenstrahl zu sein, der mir gesagt hat, daß ich niemals sterben werde.“
Sie schlug den Schleier wieder auseinander und stand auf.
„Ich habe eine Bitte, Effendi,“ sagte sie. „Wirst du sie mir erfüllen?“
„Gern, wenn ich kann.“
„Du kannst es, wenn du willst. Sei ein wenig lieb und gut zu ‚meinem Kinde‘! Verzeihe ihm seinen heutigen Irrtum! Seine allergrößte Freude ist die Dankbarkeit, und diese Freude wirst du ihm bereiten, wenn du die Güte hast, ihn freundlich zu beachten.“
„Es bedarf dieser deiner Bitte nicht, meine gute Pekala. Wenn ich so weit gekräftigt bin, daß ich mich wieder in den Sattel setzen darf, werde ich hier täglich einen Ausflug unternehmen. Er kennt die Gegend und ist, wie ich gesehen habe, ein vortrefflicher Reiter. Darum soll er mich begleiten. Sage ihm das!“
„Wie wird er sich darüber freuen! Ich sage dir meinen Dank dafür, ja, den meinigen, denn ich bin stolz darauf, daß du keinem Andern diesen Vorzug giebst, als grad ‚dem Kinde‘, welches ich erzogen habe!“
Sie legte die Hände auf der Brust zusammen, verbeugte sich und ging. Ich schaute ihr nach, bis sie jenseits der Gartenthür verschwand. Welch ein eigenartiges, psychologisch höchst interessantes Verhältnis zwischen diesen beiden Menschenkindern - Pekala und Tifl! Ist unsere sogenannte Psychologie überhaupt imstande, eine solche seelische Zusammengehörigkeit genügend zu erklären? Was [428] ist die Seele? Wo ist die Seele? Welcher Art ist ihre Verbindung mit dem Leibe? In welcher Weise wirkt sie auf unsere körperlichen und geistigen Organe ein? Wir sprechen täglich, ja stündlich von ihr; aber man zähle doch einmal alles, alles auf, was man von ihr weiß! Wer darf behaupten, daß er sie kenne? Wer hat sie begriffen. Wer hat die Thür zum Prüfungssaale geöffnet, sie in ihrer ganzen, großen, herrlichen Identität eintreten lassen und gesagt: „Das ist die Seele des Menschen. Sie steht schon seit Jahrtausenden bereit, euch jede Auskunft zu erteilen; ihr aber habt eure Erkundigungen nur an euch selbst, doch nicht an sie gerichtet. Ihr habt in euch selbst hineingesprochen und darum nicht ihre, sondern nur eure eigene Antwort gehört. Nun bringe ich sie euch. Woher? Das wißt ihr nicht? Habt ihr den Mut, sie zu fragen, wer sie ist? Dann fragt sie nicht nach ihr, sondern nur nach euch. Sie hat nur eine einzige Antwort, die sie giebt, und diese Antwort seid - ihr selbst!“ - - -
Hanneh, welche bei Halef war, ließ sich zuweilen unter dem Bogen der Halle sehen, um mir lächelnd zuzunicken. Einmal aber stieg sie die Stufen herab, kam zu mir her und sagte: