[256] „Ja. Ich darf nicht hinter dem Baume hervor, weil mich die Massaban da drüben trotz der Dämmerung doch vielleicht sehen würden. Komm her zu mir!“

Ich ging hin. Ja, da stand er, noch als Fakir, wie wir ihn vorher gesehen hatten.

„Wirklich du!“ sagte ich. „Wie ist es möglich, daß du schon hier sein kannst. Wir sind so schnell geritten, und zwar, wie es scheint, den allerkürzesten Weg!“

„Wir aber noch schneller, und zwar auf einem Wege, welcher auch nicht länger als der eure ist. Ich wollte vor euch hier sein, um wo möglich noch heut abend die Falle schließen zu können. Ich habe sowohl hier, als auch am Eingange des Daraeh-y-Dschib meine Wachen stehen, welche mir alles melden, was geschieht. Sie sahen euch kommen und haben hinter euch das Thal so gut besetzt, daß die Massaban nur dann wieder heraus können, wenn wir es ihnen erlauben.“

„So muß ich dir vor allen Dingen sagen, daß noch während dieser Nacht auch noch der Nachtrab ankommen wird.“

„Das ist mir wichtig. Ich danke dir und werde meine Vorkehrungen darauf treffen. Ich postierte mich hierher, um die Enttäuschung der Massaban zu beobachten, sobald sie sähen, daß die Brücke nicht mehr vorhanden sei. Ich hatte vergessen, dir zu sagen, daß wir sie zerstört haben. Es war anzunehmen, daß du mit dem Scheik der Haddedihn bis morgen früh bei ihnen hier im Thale bleiben und dich dann in unauffälliger Weise von ihnen trennen würdest, um zu kommen. Ihr habt das aber schon heut und zwar derart gethan, daß meiner Bewunderung die Worte fehlen. Sihdi, habt ihr denn nicht an den Tod gedacht?“

„O doch! Grad weil wir das thaten, wurde der [257] Sprung unternommen. Es galt, Halef zu retten. Er konnte es unmöglich da drüben bis morgen früh aushalten. Das Wagnis mußte unternommen werden.“

„Es war mehr, viel mehr als bloß das, was man Wagnis nennt! Ich fühlte mich bis jetzt so sehr beschämt, daß ich mit der berühmten Stute des Ustad von dir auf deinem Rappen eingeholt worden bin; nun ich aber hier gesehen habe, was ihr euch und euren Pferden zuzumuten versteht, sehe ich ein, daß es keine Schande ist, von euch übertroffen worden zu sein. Es war auch für mich ein schrecklicher Augenblick, Hadschi Halef an der Kante über dem Abgrund hängen zu sehen. Sein kühner Schwung und dein Schuß haben ihn gerettet. Als ich dann sah, daß du bereit warst, ihm zu folgen, bebte mir das Herz. Der Araber war auf dem Araber nicht glatt angelangt; so gab es also für den Europäer noch weniger Hoffnung, auf einem nichtfränkischen Pferde diesen entsetzlichen Sprung mit Glück zu thun. Wie gern hätte ich dir zugerufen, dies zu unterlassen; aber es war mir ja verboten, meine Gegenwart zu verraten! Da kamst du angesaust, so leicht, so glatt, so unbeschreiblich sicher! Du saßest nicht; du standest hoch im Bügel. Noch nie war das von mir gesehen worden! Das war so ungewohnt, so fremd, so über mir, und doch kam augenblicklich die Gewißheit über mich, daß für dich nichts zu fürchten sei. Dein Rappen ging in kühnem, festem Bogen in die Luft. Es war nur ein Moment, aber doch so hell, so deutlich, was ich sah: du warst es zwar, doch war's auch ein Gesicht, ein Blick ins ferne Land, das wir die Zukunft nennen: du warst das Abendland, auf fehlerfreiem, morgenländischem Pferde! Der Abgrund zwischen hier und dort, er schwand; dein Assil trug das Christentum mir zu. Die finstere Schlucht dort ist ver- [258] schwundenes Land. Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen! Krank liegt der Osten hier zu unsern Füßen, in tiefer Ohnmacht, ganz wie Halefs Körper. Doch du und ich, wir werden ihn erwecken, und unsere Liebe soll ihm Rettung sein!“

Er zog mich an sich und küßte mich. Ich erwiderte diesen Kuß so gern, so gern, obwohl er noch als Fakir gekleidet und darum in diesem Augenblicke nicht etwa ein Ideal körperlicher Sauberkeit war. Dann fuhr er fort:

„Das war das Gesicht, welches über mich kam, für einen einzigen, noch weniger als kurzen Augenblick; aber dieses Schauen in die Ferne der zukünftigen Zeit wird von seiner Deutlichkeit nichts verlieren, denn was die Seele unserm Auge zeigt, das darf von dem Geiste nicht vergessen werden! - - Nun erlaube mir, für Hadschi Halef zu sorgen. Ich gehe fort, um Befehle zu erteilen, werde aber schnell zurückkehren.“

Er entfernte sich. Welch ein sonderbarer Empfang von seiten dieses Mannes! Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den er mit seinen Worten auf mich machte. Dazu die nun hereingebrochene Nacht. Ueber mir die hochragenden Bäume, durch welche ein schweres, ernstes Rauschen ging. Vor mir ein vollständig unbekanntes Terrain, mit Menschen, die mir fremd und dennoch Freunde waren. Hinter mir die durch unsere Entschlossenheit besiegte Tiefe, über welche die rufenden Stimmen der Massaban herüberklangen. Sie wollten Antwort von mir haben; ich gab sie ihnen nicht. Mit diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu thun haben. Ich war entschlossen, wenn möglich, keinen von ihnen jemals wiederzusehen. Ich nahm an, daß wir uns mit ihnen gar nicht mehr zu beschäftigen brauchten; die Dschamikun hatten jedenfalls Leute genug, mit ihnen fertig zu werden.

[259] Halef lag noch genau so da, wie er niedergefallen war. Dem Atem fehlte die Stärke, die Brust zu bewegen, und den Puls konnte ich kaum fühlen. Ich rief seinen Namen, sogar ganz nahe bei dem Ohre; es machte keinen Eindruck auf ihn. Seine Hände, seine Arme, seine Glieder waren vollständig schlapp. Es lag vor mir ein Körper, der weder Kraft noch Willen und kaum noch Leben hatte. Das war der hochenergische, strotzende und sprühende Hadschi Halef, der sich so gern „den größten Helden des Morgenlandes“ nannte. Als ich ihn so vor mir liegen sah oder vielmehr ihn unter meinen Händen fühlte, vergaß ich natürlich ganz, auch an mich selbst zu denken. Dennoch bemerkte ich, daß mir, wenn ich mich bückte, der Kopf schwer nach vorn fallen wollte. Es war, als ob in meinem Gehirn eine reibende und darum schmerzende Bewegung vorhanden sei. Die Augenlider wollten nicht geöffnet bleiben. Es ging durch mich, wohl ebenso geistig wie auch leiblich, eine Empfindung, welche nur durch die Worte ausgedrückt werden kann: du hast dich gesträubt, so lange du mußtest; jetzt aber sind alle Gefahren vorbei; nun bist du mein!

Da kam Peder wieder. Er hatte mehrere seiner Leute bei sich. Ich hatte mich neben Halef niedergesetzt und stand auf. Das wurde mir schwer, so schwer, daß ich mich mit den Händen stützen mußte. Einige von den Dschamikun nahmen den Hadschi auf und trugen ihn fort. Andere ergriffen die Zügel unserer Pferde, um sie zu führen. Der Scheik faßte meine Hand und sagte:

„Der Ustad läßt euch bitten, bei ihm zu wohnen. Ich habe ihm einen Boten gesandt; er weiß, daß ihr kommt.“

„Ist es weit?“ fragte ich.

Fiel ihm nur diese meine Frage oder auch der matte [260] Ton auf, in dem ich sie ausgesprochen hatte? Er erkundigte sich:

„Bist du etwa auch krank?“

„Ganz plötzlich müd, sehr müd!“

„Hast du Flecken am Körper?“

„Ja, auf der Brust.“

„Allah jesellimak - Gott erhalte dich! In diesem Zustande habt ihr einen solchen Todessprung gewagt! Ganz unbegreiflich, ja eigentlich eine Menschenunmöglichkeit!“

Ich versuchte, zu scherzen:

„Du hast vorhin in mir das Abendland gesehen. Verzeihe mir, daß es so krank zu euch gekommen ist!“

Da drückte er mir die Hand, an welcher er mich führte, fester und antwortete:

„Ich kenne euer Leiden. Es geht so gern auf die gesunden Andern über. Doch tragt ihr es uns ja nicht heimlich zu und gebt die Schwäche nicht für Stärke aus. Wer uns nicht täuscht, der täuscht sich nicht in uns. Komm, lieber Mann, ich will dir Bruder sein!“

Es war unter den Bäumen so dunkel, daß ich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Der Peder hielt mich fest. Er kannte das Terrain genau und machte auf jede Eigentümlichkeit desselben aufmerksam. Dennoch wurde mir das Gehen schwerer, als die Umstände es eigentlich begründeten. Ich stolperte und schwankte oft. Da schlang er, um mich zu stützen, stets und schnell den Arm um mich. Am liebsten wäre ich in diesem starken, liebevoll besorgten Arme liegen geblieben, um mich von ihm weitertragen zu lassen!

Wie lange wir so, oft auf-, oft abwärts gingen, weiß ich nicht. Das Gefühl für die Bestimmung der Zeit war mir vollständig abhanden gekommen. Dann [261] war der Wald zu Ende. Die Sterne standen über uns, und unsere Füße schritten über ebenen Boden und auf weichem Grase. Wir hatten bei der Entfernung von der Felsenspalte den Schluß gemacht, waren also die letzten und beide allein. Von dem Hadschi und den Pferden sah ich nichts. Als ich nach ihnen fragte, bekam ich die Antwort:

„Habe keine Sorge! Du wirst deinen Freund beim Ustad finden, eure Pferde auch und ebenso die Gewehre.“

Die Gewehre! Da kam noch nachträglich der Schreck über mich. Ich hatte sie vergessen, vollständig vergessen, gar nicht an sie gedacht, als ich vom Peder fortgeführt worden war. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich sie, als ich nach dem Sprunge aus dem Sattel stieg, neben mich hingeworfen hatte. Diese im andern Falle ganz unmögliche Vergeßlichkeit brachte mich zu der Ueberzeugung, daß die Krankheit auch bei mir viel weiter vorgeschritten sei, als ich gedacht hatte.

Kaum hatte ich diesem Gedanken Raum gegeben, so begann er, mich zu beherrschen. Ich mußte stehen bleiben. Meine Beine zitterten, die Füße versagten mir den Dienst.

„Was ist mit dir?“ fragte der Peder, „fällt dir das Gehen schwer?“

„Nicht schwer, nicht leicht; es giebt eben kein Gehen mehr. Erlaube, daß ich mich für einen Augenblick setze!“

Er umfaßte mich, um mich langsam niederzulassen. Ja, sitzen! Das war nicht möglich; ich mußte sofort liegen; es fehlte mir die Kraft, den Oberkörper aufrecht zu halten. Da sanken auch die Lider herab und waren nicht wieder in die Höhe zu bringen. Was nun mit mir geschah, das weiß ich nicht. Ich war wie ganz im festen Schlafe, zuweilen auch wie nur im Traume. Ich hörte [262] zuweilen die gütige, besorgte Stimme des Peder. Er sprach zu mir; er sprach auch zu Andern, doch klang es wie aus weiter, weiter Ferne. Ich fühlte mich gehoben und getragen. Ich war so leicht; ich hatte keinen Körper. Ich bestand aus nichts als nur aus froher Zuversicht und glücklichem Vertrauen, und diese gänzliche Hingebung lag wie auf Engelsflügeln ausgebreitet.

Dann war es mir, als schwebe ich durch tausend, tausend selige Ewigkeiten, unendlich lang und doch so kurz, so kurz! Was für Töne erklangen da? Waren das die Harfen verklärter Geister? Oder war es der Psalter des alttestamentlichen Sängers, der da spricht:

„Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt!“

Und da legte sich eine Hand auf meine Stirn. Es war, als ob von ihr aus eine gütig reine, immaterielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe, wohllautende Stimme sprach die letzten Worte ganz desselben Psalms:

„Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!“

Die Stimme schwieg. Leise Schritte entfernten sich. Tiefe, fromme Stille herrschte in mir und auch rund umher. Aber ich hatte die Empfindung, daß ich nicht allein und verlassen sei. Es umwehte mich ein feiner, gottesdienstlicher Duft, wie von Weihrauch und Myrrhen. Da erklangen hoch über mir zwei Glöcklein. Sonderbar, daß ihr schönes Harmonieverhältnis mir sofort in die Ohren trat! Die eine, tiefe, war in die untere Dursexte der oberen gestimmt. Es war gewiß ganz eigentümlich, daß mir trotz meines Zustandes die Frage kam, warum in diesem Grundakkorde doch die Quinte fehle! Nun wieder tiefe Stille. Dann hörte ich in kurdischer [263] Sprache ein vierstimmiges, feierliches Lied erklingen, dessen erste Strophe deutsch zu lauten hätte:

        „Herr, ich trete

         Im Gebete

Vor dein heilig Angesicht.

        Laß dir sagen

        Meine Klagen;

Höre, was mein Flehen spricht!“

Es waren nicht Orgel-, sondern Harfentöne, welche dieses Lied begleiteten. Gab es hier eine Kirche? War ich überhaupt auf der Erde? Träumte oder wachte ich? Ich hatte keine Macht über meine Augen. Besaß ich überhaupt jetzt welche? War ich jetzt vielleicht nur Geist, nur Seele? Wo war mein Körper geblieben? Ich fühlte ihn nicht!

Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete:

       „Herr, es treten,

        Um zu beten

Zu dir Alle, die du liebst.

        Laß den Glauben

        Uns nicht rauben,

Daß du nichts als Leben giebst!“

Meine Hand wurde lange festgehalten. Das merkte ich, obgleich ich den Sinn für Zeit und Raum kaum noch zu besitzen schien. Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten. Ich wollte sie zurückziehen, ohne daß ich diese Bewegung ausführen konnte. Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? Ich wünschte so dringend, dies zu erfahren, doch gelang es mir nicht, ein Wort der Frage [264] auszusprechen. Aber ich fühlte, daß meine Augen sich öffneten; das war so eigenartig, so ganz als ob es nicht meine leiblichen, sondern die seelischen seien. Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht. Es war von einer so frommen, edlen Schönheit, wie man Heilige abzubilden pflegt. Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wärme aus, welche auf mich überfloß. Mir war, als ob ich dieses Antlitz schon einmal gesehen habe, nicht gleichgültig und vorübergehend, sondern sorgsam und mit derselben Herzenswärme, welche ich jetzt zurückempfand. Nun breitete sich ein frohes Lächeln über die so kinderholden und doch so frauenhaft sinnigen Züge, und die Lippen, welche vorhin meine Hand berührt hatten, fragten mich:

„Erkennst du mich, Sihdi? Ich bin Schakara, welche du vom Tode errettet hast.“

Ich wollte antworten, konnte aber nicht. Ich hörte nichts, als ein unverständliches Flüstern, welches aus meinem Munde kam. Da fuhr sie fort:

„Ich bin das Mädchen, welches damals in Amadijah die Oelim kires1) [1) Todeskirsche.] gegessen hatte. Deine Hand brachte mir das schon fast entflohene Leben zurück2) [2) Siehe Karl May „Durchs wilde Kurdistan“ pag. 205 ff.]. Kannst du dich erinnern?“

Ich bewegte meine Augenlider, um ihr anzudeuten, daß ich sie verstanden habe. Zu sprechen war mir nicht möglich. Da legte sie ihre Rechte auf meine Stirn und sagte:

„Die Krankheit hat dir das Reden verboten. Aber sei getrost! Chodeh ist die Barmherzigkeit. Er wird uns nicht das schreckliche Leid anthun, dich bei uns sterben [265] zu lassen. Der Ustad hat für euch gebetet, und die Güte des Himmels wird ihn ganz gewiß erhören. Schau, da kommt er. Siehst du ihn?“

Sie fragte mich so, weil mir jetzt die Augen zugefallen waren; ich konnte sie nicht wieder öffnen. Doch hörte ich Schritte, welche sich näherten.

„Kam er noch nicht zu sich?“ wurde Schakara gefragt.

Das war dieselbe tiefe, wohllautende Männerstimme, welche ich schon gehört hatte.

„Er öffnete die Augen und sah mich an,“ antwortete sie. „Sprechen konnte er nicht.“

„Hat er dich erkannt?“

„Ich glaube es.“

„So liegt er nun wieder in der vorigen Bewußtlosigkeit. Ihn werden wir wohl retten. Von seinem Gefährten dort aber kann ich das leider nicht sagen. Er steht bereits sehr nahe am Tode.“

Da hörte ich Halefs Stimme laut und zornig erklingen:

„Am Tode? Sein Gefährte? Also ich? Ihr glaubtet wohl, ich schlafe? Ich bin soeben aufgewacht und habe euch gehört. Ich stehe nicht am Tode! Nein, nein, nein! Ich bin Hadschi Halef Omar, der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Mich kennt man überall; einen Tod aber giebt es nicht! Darum ist das, was ihr sagt, ganz unmöglich. Ich befinde mich nicht am Tode - - - am Tode - - - nicht, nicht - - - am - - - - - Tode!“ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - -

Ich hörte diese Worte meines Hadschi, wußte aber nicht, wo er lag. Es war, als ob irgend eine Frage nach ihm sich in mir emporringen wolle; sie trat aber [266] weder in das Bewußtsein noch in den Willen, denn ich hatte die Empfindung, als ob ich jetzt emporgehoben und weit, weit fortgetragen werde, und wie in unendlicher Ferne hörte ich die Worte verklingen: „Am Tode - - - am Tode - - -!“ - - -

Wie lange ich fern von mir gewesen war, oder, durch die gewöhnliche Redensart ausgedrückt, wie lange ich nun wieder ohne Bewußtsein dagelegen hatte, das weiß ich nicht. Hierauf schien es, als ob mir Harfenklänge nahten. Es war aber umgekehrt: ich kam zu ihnen; die Besinnung kehrte mir zurück. Es bedurfte jetzt keiner Anstrengung für mich, die Augen zu öffnen, doch fühlte ich eine mir unbekannte Schwere in den Lidern. Ich war außerordentlich matt. Als ich versuchte, den Kopf zu bewegen, dauerte es eine ganze Weile, bis es mir gelungen war, das Gesicht auf die von der Wand abgewendete Seite zu legen. Ich hatte den Mund offen, und sonderbarerweise war es mir, als ob dies so sein müsse; es fiel mir gar nicht ein, ihn zu schließen. Und doch war ich mir zu derselben Zeit vollständig darüber klar, daß dies zu den Krankheitserscheinungen des exanthematischen Fiebers gehöre.

Nun sah ich, wo ich mich befand. Es war ein hoher, lichter, weiß getünchter Raum, dessen Wände augenscheinlich aus starken Mauersteinen bestanden. Die beiden Seiten waren nicht durchbrochen. In der Hinterwand gab es eine breite Doppelthür, für die Gegend, in welcher wir uns befanden, eine große Seltenheit. An der Vorderseite standen zwei Säulen, die mit den Mauerwerken drei offene Bogen bildeten, durch welche Luft und Licht mehr als genugsam Zugang fanden. In der einen Ecke lag ich, in der andern Halef, mit den Füßen nach der Thür gekehrt, damit die vorn hereinbrechenden [267] Sonnenstrahlen nicht direkt in unsere Augen fallen möchten. Längs der ganzen Hinterwand waren blühende Pflanzen aufgestellt, zur Augenweide für uns, wie ich später hörte. Rechts, wo ich lag, stand in einer breiten Nische ein thronähnlicher Sessel. Vor ihm lag ein Teppich ausgebreitet, mit persischen Sitzkissen nach rechts und links. Ich schloß daraus, daß ich mich nicht in einem Wohnraume befand. In der Folge erfuhr ich, daß der Ustad hier die Aeltesten des Stammes zu empfangen und mit ihnen zu beraten pflege. Es war ein kaum genug zu schätzender Vorzug für uns, daß er grad dieses Gelaß für uns bestimmt hatte. Ich sah an den Wänden Sprüche stehen; aber ich las sie nicht. Selbstdenken konnte ich; aber geschriebene Zeichen in Gedanken zu verwandeln, das brachte ich nicht fertig.

Bettstellen gab es natürlich nicht, doch waren unsere Lager von der größten, hier zu Lande ganz ungewohnten Reinlichkeit. Man hatte weiche Kissen hoch aufeinander gerichtet, so breit, daß mehrere Personen hätten nebeneinander liegen können, und die hellen, saubern Kamelhaardecken waren so fein und leicht, als ob sie aus Seide gewebt worden seien. Halef lag still, ganz bewegungslos. Sein Gesicht war außerordentlich eingefallen; es glich dem einer Leiche. Seltsamerweise machte mich das nicht im geringsten bange. War das Vertrauen? Oder war es die Gleichgültigkeit, welche man bei Kranken oft zu beobachten pflegt?

Unweit der Thür saß Schakara mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah1) [1) Orientalische Harfe.]. Darf man ein [268] menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier!

Hätte wohl ein europäischer Arzt erlaubt, in der Nähe so schwerkranker Personen Musik zu machen? Wahrscheinlich nicht! Es kommt ja wohl auch auf die Art des Instrumentes an. Der Harfenton ist der am wenigsten künstliche. Er bietet Klänge der Natur, wohllautend für das Menschenohr gestimmt. Dieser Wohllaut ist auch für kranke Nerven angenehm. Man darf einer Kurdin nicht zumuten, Künstlerin zu sein. Schakara griff nur die vorgestimmten Akkorde; sie wußte nichts von einer chromatischen Veränderung der Töne; aber grad durch diese diatonische Einfachheit war jede Mitthätigkeit des Ohres ausgeschlossen; es empfing die Töne ebenso leicht und selbstverständlich, wie die Brust die Luftwellen, von denen sie herbeigetragen wurden, atmete. Daher kam es, daß diese Klänge die Seele unmittelbar berührten; sie schienen zur Atmosphäre dieses Hauses zu gehören und einen die Lebenskräfte hebenden, wohlthuenden Einfluß auszuüben. Ich fühlte diesen Einfluß. Es war, als ob es in mir etwas gebe, was den Harfentönen verwandt sei, was lange, lange geschwiegen habe und nun endlich, endlich einmal mit erklingen dürfe. Darum berührte es mich fast wie eine Entsagung, wie ein Verlust, als Schakara aufhörte und die Harfe auf die Seite lehnte.

„Bitte, spiel weiter!“ bat ich sie.

Ich hatte diese Worte ganz unwillkürlich, fast ohne Willen ausgesprochen. Nun überkam mich eine Art von Verwunderung darüber, daß ich wieder sprechen konnte. Die Kurdin kam schnell zu mir herüber, ließ sich an meiner Seite nieder und sagte:

[269] „Suhker Chodeh!1) [1) Gott sei Dank!] Ich höre deine Stimme! Siehst du mich, und verstehst du, was ich sage?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Du befindest dich im hohen Hause des Ustad. Er wünscht, daß ich euch pflege. Erlaubst du es mir?“

„Ja.“

„Hast du einen Befehl für mich?“

„Nein, nie!“

„Warum nicht?“

„Für dich nur Bitte, nie Befehl.“

Da ergriff sie meine Hand, sah mir mit einem langen, frohen Blick ins Angesicht und sagte dann:

„Du bist noch ganz so voller Güte, wie du damals warst. Sag, Effendi, welcher Wohlgeruch ist dir der liebste?“

„Benefsesch2) [2) Veilchen.].“

Da küßte sie mir die Hand, stand auf und eilte aus der Stube. Warum hatte sie mich nach meinem Lieblingsdufte gefragt? Der Grund sollte mir leider nur zu bald zur Erkenntnis kommen. Er war mir nicht fremd, aber meine Gedanken waren jetzt zu schwach, ihn augenblicklich zu erraten. Da drüben bei Halef hatte man eine Menge in Erdkästen gepflanzte Rosen aufgestellt; bei mir hier gab es keine Blumen, doch fragte ich mich nicht, woher das kommen möge.

Mich fror ganz plötzlich, durch und durch und so intensiv, als ob ich ganz in Schnee und Eis begraben sei. Es war ein von starkem Fieber begleiteter Schüttelfrost, der mich an die Petechien erinnerte, welche ich unterwegs auf meiner Brust bemerkt hatte. Ich sah nach, die Flecke hatten sich jetzt über den ganzen Ober- [270] leib verbreitet; auch auf den Armen bemerkte ich sie. Diese Entdeckung ließ mir den Kopf heiß erglühen, während der Körper vor Kälte bebte.

Da sah ich den Peder hereintreten und leisen Schrittes zunächst hin zu Halef gehen. Er trug natürlich die Fakirlumpen nicht mehr, sondern war ganz weiß in weite, kurdische Hosen und ein bis auf die Kniee reichendes Obergewand gekleidet, welches an der Taille von einer blauen Schärpe zusammengehalten wurde. Da steckten anstatt der Messer und Pistolen einige schön erblühte, purpurglühende Schirasrosen. Sein langes, seidengrau glänzendes Haar war von vorn nach hinten zurückgekämmt und hing bis über die Schultern herab. Sein heut vom gestrigen Schmutze freies, Ehrfurcht erweckendes Angesicht wurde von jenem Hauche innerer Jugend verschönt, welche aus der Seele auf den Körper überstrahlt und selbst im höchsten Lebensalter nicht vergeht. Man sah ihm an, daß er mit vollem Rechte Pedehr genannt wurde, ein Vater, der den Seinen nichts als Liebe giebt, Liebe mit verständiger Einsicht gepaart, und von ihnen dafür wieder Liebe erntet.

Er betrachtete Halef aufmerksam, kniete dann bei ihm nieder und sprach zu ihm, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Hierauf strich er ihm wiederholt über das Gesicht und ergriff seine Hände, um sie zu bewegen. Auch das war ohne Erfolg; der kleine, liebe Hadschi gab kein Zeichen, daß er lebe. Da kam der Pedehr zu mir. Er sah, daß ich die Augen offen hatte, ließ sich bei mir nieder und fragte:

„Siehst du mich, Sihdi?“

„Ja,“ antwortete ich.

Nun richtete er seine großen, klaren Augen auf die meinigen. Es war, als ob er mit diesem seinem langen [271] Blicke in die Tiefen meines Innern hinabsteige, um es zu erforschen. Dann fuhr er fort:

„Schmerzt es deinen Kopf, wenn ich zu dir spreche?“

„Wenig, aber doch.“

„So wollen wir nur das sagen, was unbedingt nötig ist. Ich kenne diese Krankheit und weiß, daß du nicht an ihr sterben wirst, es trete denn eine unvorhergesehene Ursache zur Verschlimmerung ein. Ihr habt in der verflossenen Nacht unser Heilmittel wiederholt getrunken, wovon du aber nichts weißt, weil ihr beide ohne Bewußtsein waret. Es wird gewiß seine Wirkung thun.“

„Auch bei meinem Halef?“

Er zögerte mit der Antwort. Da bat ich ihn:

„Sag die Wahrheit! Ich bin ein Mann und muß, muß, muß sie wissen!“

Er neigte zustimmend den Kopf und sprach:

„Ja! Von einem andern würde ich denken, daß ich ihn schonen müsse; dir aber bin ich die Wahrheit schuldig. Du wirst in einen langen, tiefen, schweren Schlaf verfallen, und wenn du aus ihm erwachst, wird das, was an deinem Freunde unsterblich ist, von ihm geschieden sein. Das ist es, was menschliches Ermessen zu dir aus meinem Munde sagt. Er wird vielleicht noch einigemal für kurze Augenblicke zu sich kommen, dann aber einschlummern und erst im Verscheiden wieder erwachen. So denke ich. Aber ich hoffe, daß Chodeh, welcher die allmächtige Liebe ist, es anders und viel besser weiß. Nun sag auch mir die Wahrheit! Bist du erschrocken?“

„Nein. Ich danke dir! Deine Aufrichtigkeit hat mich geehrt. Sie beweist mir, daß du mich nicht für einen Schwächling hältst. Halef darf nicht sterben. Chodeh wird helfen.“

[272] „Ja, wenn wir glauben, wird er uns wohl den Melek esch Schefa1) [1) Engel der Genesung.] senden!“

„Ich bin überzeugt davon. Aber wir dürfen uns nicht unthätig auf diesen Engel verlassen, sondern müssen seiner Hilfe entgegenkommen. Laßt mich nachdenken!“

Ich war doch schwächer, als ich gedacht hatte. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das aufmerksame Zuhören, um zu verstehen, griff mich an. Ich schloß die Augen, um nachzudenken; aber es kamen mir keine Gedanken. Ich fieberte, und dieses Fieber brachte mir allerlei verworrene, unklare Bilder vor das innere Angesicht. Es war, als ob sich ein nur halb durchsichtiger, sich unausgesetzt bewegender Vorhang vor mir befinde, hinter welchem sich Ereignisse abspielten, die ich nicht deutlich zu erkennen vermochte. Da geschah etwas ganz Sonderbares: der Vorhang stand plötzlich still; er teilte sich nach rechts und links, und ich sah eine liebe, liebe Gestalt vor mir erscheinen. Ihr Anblick wurde mir nur für einen ganz kurzen Moment gewährt, aber das Bild hatte so scharfe Umrisse und so lebendige Züge und Farben, daß ein Irrtum darüber, wer es sei, ganz ausgeschlossen war. Es kam ein Reiter, erst in der Ferne klein, doch immer größer werdend, in schlankem Galoppe auf mich zugeritten; gerade vor mir parierte er sein Pferd, senkte die Hand zum Gruße und war dann verschwunden. Der Vorhang schloß sich und begann, sich wieder zu bewegen wie vorher. Wer war es gewesen? Unser Kara Ben Halef, meines kranken Freundes Sohn. Sogar das Pferd hatte ich erkannt. Es war der dunkelbraune, noch nicht vier Jahre alte „Ghalib“2) [2) „Sieger“, „Ueberwinder“.], den die Haddedihn als Leihgebühr für die Pferdezucht des [273] Stammes der Abu Hammed-Beduinen gewonnen hatten. Dieser Braune berechtigte zu den schönsten Hoffnungen und war unsern beiden Schwarzen ebenbürtig. Ich überlegte nicht lange, sondern fragte, die Augen wieder öffnend, den Pedehr:

„Willst du den Hadschi retten? Du kannst es!“

„Wie gern!“ versicherte er.

„Habt ihr einige sehr schnelle, ausdauernde Pferde?“

„Ja.“

„Und jemand, der die Gegend am Tigris jenseits von Qalat el Aschig, gegenüber von Samara, kennt?“

„Ich habe einen sehr zuverlässigen Mann, der ein guter Reiter und schon einigemale am Dschebel Sindschar gewesen ist. Er kennt die Gegend, von welcher du sprichst.“

„Sende ihn, und gieb ihm einige Begleiter mit. Im Westen von Qalat el Aschig wird er auf die Haddedihn treffen. Er soll um keinen Preis verraten, daß Halef krank ist; aber er soll unbedingt den Sohn des Hadschi bringen, welcher Kara Ben Halef heißt und den Ritt hierher auf dem dunkelbraunen Pferde ‚Ghalib‘ zu machen hat! Das Denken und das Sprechen fällt mir schwer. Gieb die Befehle so, wie du sie für nötig hältst!“

Da erhob er sich, faßte meine Hand und sprach:

„Ich verstehe dich, Effendi. Wenn Halef erwacht, um zu sterben, soll er seinen Sohn vor sich sehen. Dadurch wird seine Seele vielleicht festgehalten werden. In nicht mehr als einer Stunde werden drei vertrauenswerte Männer unser Urd1) [1) Lager, Dorf.] verlassen, um deinen Wunsch so schnell wie möglich auszuführen!“

[274] Hierauf entfernte er sich. Ich aber fühlte mich in hohem Grade ermattet und versank in einen lethargischen Zustand, der aber nicht Bewußtlosigkeit und auch nicht Schlaf zu nennen war, denn meine inneren und äußeren Sinne blieben in, wenn auch nur geringer, Thätigkeit. Ich hörte das leise Rauschen von Schakaras Gewand wieder, und ich bemerkte, daß ein süßer Veilchenduft in meine Atmosphäre trat. Und dann - ob gleich hierauf oder später, das weiß ich nicht - war es mir, als ob ich im Gelobten Lande sei, und zwar in El Chalil1) [1) Hebron.]. Ich ritt auf dem alten Pflasterweg nach dem Haine Mamre hinaus und ließ mir im russischen Hospize dort den Schlüssel zum Aussichtsturme geben. Ich sah die unterhalb desselben stehende „Eiche Abrahams“ so deutlich, wie sie in Wirklichkeit absterbend dort zu sehen ist, und ritt dann zwischen Weinbergsmauern weiter, die Jerusalemstraße hinaus und rechts hinüber nach dem Brunnen Abrahams. Er liegt in der unteren, rechten Ecke des Mauerfeldes, und die strenggläubigen Bewohner von El Chalil sehen es nicht gern, wenn ein Christ von seinem Wasser trinkt. Ich schöpfte aber doch und trank und trank. Hierauf sammelte ich, wie ich schon früher gethan, den Samen der dort massenhaft wachsenden Kompositenblumen, um ihn daheim in meinem Garten anzusäen. Da erklang eine Stimme hinter mir: „Friede sei mit dir!“ Ich richtete mich auf und wandte mich um. Wer war die hohe, patriarchalische Gestalt, welche leuchtenden und doch so gütigen Auges vor mir stand? War es der erste der Erzväter, zu dem zu dritt die Engel kamen, um bei ihm einzukehren? War es Abraham, Tharahs Sohn, der aus Ur, im Lande der Chaldäer, [275] stammt? Ja, gewiß, er war es; er mußte es sein; aber nicht so alt wie im Haine Mamre und auch nicht so jung wie in Mesopotamien, und doch beides, alt und jung zugleich! Ich schaute in ehrerbietigem Staunen zu ihm auf.

Ja, ich schaute! Ich hatte die Augen wieder geöffnet. Ich war nicht mehr geistig dort in El Chalil, sondern wirklich hier im kurdisch-persischen Gebirge. Ich befand mich auf meinem Krankenlager. Es war ringsum mit duftenden Veilchen geschmückt. Zu meinen Füßen saß Schakara, die Spenderin derselben, und zur Seite stand - - - Abraham, der Erzvater? Vielleicht hat dieser ein ganz genau solches einfaches, kamelhaarenes Gewand getragen wie der hochgestaltete, ehrwürdige Greis, den ich jetzt vor mir sah. Greis? Ja, denn der schneeweiße Bart, welcher ihm bis herab zur Gürtelschnur reichte, konnte nur eine Gabe des höchsten Menschenalters sein; aber das Ehrfurcht gebietende Angesicht war hochbetagt und jugendlich zugleich, und die voll und schwer vom Kopfe herniederhängenden Haarflechten zeigten eine nicht etwa stumpfe und künstliche, sondern so echte und lebenswahre Schwärze, wie sie nur den Jünglings- und den kräftigsten Mannesjahren eigen ist. Ich sah wie vorhin mit geschlossenen, nun mit offenen Augen staunend zu ihm auf. Da lächelte er mild zu mir hernieder, breitete die Hand wie segnend über mich und sprach:

„Friede sei mit dir!“

Das war dieselbe tiefe, klangvolle Stimme, welche ich vorhin am Brunnen Abrahams gehört hatte. Es ging ein geheimnisvolles, köstliches Imponderabil von diesem Manne aus. Es kam zu mir, durchflutete mich, zog mich zu ihm hin. Ich konnte gar nicht anders, ich durfte ihm nur die eine Antwort geben:

[276] „Du bringst ihn mir. Mein Dank und Segen sei dein Eigentum!“

„Die Jugend ist beim Alter, der Sohn beim Vater eingekehrt,“ fuhr er fort. „Die Liebe soll dich hier mit mir vereinen. Vertraue uns, so wirst du bald gesunden. Ich lege dir die Hand auf das kranke, müde Haupt. Aaleïk essallam u rahhmet Chodeh - der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mir dir!“

Er ließ seine Hand fast eine Minute lang auf meiner Stirn liegen. Sie war so warm und doch so eigen frisch. Ich griff nach ihr und führte sie an meine Lippen. Er ließ das geschehen, hob aber dann den Finger und sprach, indem sein Mund fast schalkhaft lächelte:

„Verschweige dies daheim! Wie darf das Abendland die Hand des Morgenlandes küssen! Man würde dich wohl kaum begreifen können!“

Hierauf wendete er sich von mir und ging zu Halef hinüber. Das also war der „Ustad“, der „Meister“! Ich folgte ihm mit meinen Augen, weil es mir unmöglich war, sie vom ihm abzuwenden. Fieberte ich etwa schon wieder? Es kam mir der sonderbare Gedanke: „Soeben hast du in das Angesicht des Orients geschaut.“ So eine Idee kann doch nur bei einem Kranken möglich sein!

Er stand einige Zeit am Lager des Hadschi, ohne etwas anderes zu thun, als ihn zu betrachten; dann legte er auch ihm die Hand auf das Haupt, worauf er sich sehr ernsten Angesichts entfernte.

„Das war er!“ sagte Schakara. „Dein Herz wird ihm gewiß bald angehören. Willst du nun die Harfe hören?“

Ich nickte. Sie ging nach der Stelle, wo die Sandurah lag, hatte sie aber noch nicht erreicht, so blieb sie stehen. Der Hadschi hatte sich bewegt.

[277] „Sihdi - Sihdi - Sihdi!“ rief er laut.

„Hier bin ich, Halef,“ antwortete ich.

„Ich war ganz nahe, ganz nahe!“ fuhr er fort, ohne daß er die Augen öffnete.

„Wo?“

„Am Sterben, am Sterben! Ich habe sie gesehen, beide, beide, ihn und ihn!“

„Wen?“

„Den Hadschi und den Halef! Der Hadschi war ein anderer; der Halef aber, der war ich! Der Halef lenkte seine Schritte hinauf nach dem Paradiese; der Hadschi aber hielt ihn fest, um ihn hinab zur Dschehenna1)

[1) Hölle.] zu zerren. Es war ein schwerer Kampf. Der Halef war nicht stark genug, und der Hadschi wollte eben siegen; da fühlte ich eine Hand auf meiner Stirn und war gerettet. Hamdulillah!“

Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, angstvollen, erschütternden Klang.

„Warum antwortest du mir nicht?“ rief er. „Ich will noch leben; ich darf noch nicht sterben. Der Halef in mir ist noch nicht geschickt dazu; der Hadschi würde ihn zur Tiefe reißen. Die Hand, die Hand, sie soll so oft wie möglich wiederkommen! Sie soll dem Halef helfen - helfen - - hel - - - hel - - - -!“

Er sprach immer langsamer, langsamer und leiser, bis bei der letzten Silbe die Bewußtlosigkeit wieder über ihn kam. Schakara griff zur Harfe, deren Akkorde ich erst deutlich hörte; dann schien es, als ob sie sich entfernten, bis sie endlich ganz verklangen - - - ich war eingeschlafen.

Eingeschlafen? Es war mehr als bloß nur Schlaf. Ich erfuhr später, daß ich fast zwei Tage lang gelegen [278] hatte, ohne mich ein einziges Mal zu bewegen. Ein ganz entsetzlicher Frost war die Veranlassung, daß ich erwachte. Drüben in der andern Ecke waren mehrere Männer beschäftigt, Halef mit kaltem Wasser und Tüchern zu frottieren. Die Luft kam mir verschlechtert vor. Es roch trotz der frischen Veilchen, welche ich sah, so dumpf, so moderig, fast wie nach Leiche. Ah! Da kam die Erkenntnis: Ich selbst war es, von dem dieser Geruch ausging, der ein Symptom des Petechialtyphus ist! Nun wußte ich, daß eine wochenlange Betäubung sich meiner bemächtigen werde. Also darum die Veilchen! Diese Blumen hatten bei mir denselben Zweck wie dort bei Halef die Rosen. Es wurde mir himmelangst, mehr um ihn als um mich. Ich wollte die Männer fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange, da mir das Bewußtsein sehr bald wieder schwand.

Später erinnerte ich mich, zuweilen kaltes Wasser an meinem Körper gefühlt und scharfen Salmiak gerochen zu haben. Auch war es mir, als ob Halef mich gerufen und vom Sterben gesprochen habe. Dann, als ich zwei volle Wochen so gelegen hatte, stellte sich die erste, deutliche Empfindung bei mir ein: Ich fühlte die Hand des Ustad auf meiner Stirn.

„Er lächelt!“ sagte er. „Wie todesmatt! Vielleicht schlägt er die Augen auf!“

Ich versuchte, es zu thun, doch gelang es mir nur halb. Da beugte sich der Ustad zu mir nieder und sagte:

„Ich sehe, daß du mich verstehst. Sei getrost; du bist gerettet! Auch Halef lebt noch. Er ist noch nicht erwacht. Wenn er es thut, ist es vielleicht zum Leben!“

Hierauf schlief ich sogleich wieder ein. Die späteren [279] Erinnerungen erzählten mir, daß Schakara sehr oft bei mir kniete und mir wie einem Kinde mit einem Löffel dünne Speise gab. Ich war so schwach, daß ich kaum schlucken konnte. Hierbei freute ich mich unendlich über die Entdeckung, daß der schlimme Geruch verschwunden war. Fast noch größere Freude bereitete mir der Anblick einer vor meinem Lager errichteten Pyramide, an welcher meine Waffen, meine Kleidungsstücke und Assils Zaum- und Sattelzeug hingen. Das war ein Zeichen liebevollster Aufmerksamkeit.

„Assil!“ entfuhr es meinen Lippen. „Ich sehne mich nach ihm.“

„Willst du ihn sehen?“ fragte die Kurdin.

„Ja.“

Sie ging nicht, ihn bringen zu lassen, sondern sie trat nur unter den Eingangsbogen hin und rief den Namen des Rappen. Er war also da draußen in der Nähe. Ich hörte seine nahenden Schritte und sein mir so liebes, zutrauliches Schnauben. Es gab vom Vorplatze aus ein Dutzend Stufen zu ersteigen. Einige Schmeichelworte von ihr veranlaßten den Rappen, heraufzukommen. Daraus erkannte ich, daß sie sich viel mit ihm beschäftigt hatte. Ich sah neben der Säule, an der sie stand, seinen charaktervollen, schön gezeichneten Kopf erscheinen, den sie liebkosend an sich drückte. Er legte seine Lippen an ihre Wange. Das war der Kuß, mit dem er außer mir nur noch Halef auszuzeichnen pflegte. Er hatte sich also mit Schakara ganz ungewöhnlich zusammengefreundet.

„Assil!“ rief ich ihn. Meine schwache Stimme klang allerdings gar nicht laut dabei. Er stutzte. „Assil, lihene - hierher!“ Da kam er mit einem schnellen, kurzen Satze vollends herein und schaute sich um. Ich [280] streckte ihm die Hand entgegen. Er näherte sich, blieb bei mir stehen und sah mich lange zweifelnd an.

„Er kann dich nicht erkennen, denn du siehst dir nicht mehr ähnlich,“ sagte Schakara.

„Assil, mein Lieber, mein Braver, mein Treuer, mein Liebling!“

Da kam er ganz zu mir heran, um mich in nächster Nähe zu beriechen. Er berührte meine Hände, mein Gesicht. Und nun warf er plötzlich den Kopf hoch empor und stieß ein drei-, viermal wiederholtes und so eigenartiges Wiehern aus, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Hierauf ließ er Schwanz und Ohren spielen und ging unter allerlei drolligen, aber unendlich rührenden Kapriolen bald vorn, bald hinten in die Luft. Diese seine Bewegungen glichen den freudigen Sprüngen eines Hundes, der seinen lange entbehrten Herrn wieder vor sich sieht. Schakara ging hinaus, um einige Handvoll grüner Kischr1) [1) Schoten von Erbsen oder Bohnen.] herein zu holen, welche sie ihm auf meine Decke streute. Sie hatte also entdeckt, daß dies seine Lieblingsspeise sei. Aber er fraß sie nicht; er nahm nicht eine einzige davon, sondern er scharrte, wie dies vor dem Schlafen seine Weise war, mit den Vorderhufen den aus Steinfliesen bestehenden Boden und legte sich dann lang und eng an meinem Bette nieder, so daß ich seinen Kopf mit der linken Hand erreichen und dankbar streicheln konnte. Jede Kreatur will Liebe haben und giebt sie doppelt wieder, wenn sie sie empfängt!

Von jetzt an hatte ich nicht mehr mit der Krankheit, sondern nur noch mit der allerdings außerordentlichen Schwäche zu kämpfen, welche ihre Folge war. Ich bekam kräftige, aber leicht verdauliche Nahrung. Der Ustad [281] und der Pedehr kamen täglich wiederholt, um nach mir zu sehen, doch thaten sie das nur, wenn sie wußten, daß ich schlief. Sie wollten vermeiden, mich durch das Sprechen mit ihnen anzustrengen, aber tausend Beweise stiller, liebevoller Aufmerksamkeit sagten mir, daß sie mit ihren Gedanken immer bei mir und Halef seien. Schakara war Tag und Nacht unausgesetzt im Raume. Sie verließ ihn nur dann, wenn kräftige Männerhilfe für uns nötig war.

Und aber Halef? Der lag nun schon drei Wochen lang in tiefster Betäubung. Er atmete nur leise; der Schlag seines Herzens war kaum noch zu spüren. Ich ließ mich einmal zu ihm hintragen, um ihn anzusehen. Welch ein Anblick bot sich mir! Ich konnte die Thränen, welche aus meinen Augen brachen, nicht hinunterkämpfen. Man ist als Genesender ja überhaupt weicher als sonst gestimmt. Ich hatte ein Skelett vor mir, dessen Anblick durch die dunkle Petechialhautfarbe doppelt schmerzlich wirkte. Die Augenlider lagen konkav in ihren Höhlen; die Wangen hatten sich in Vertiefungen verwandelt, und weil der Hadschi sehr gesunde Zähne besaß, trat die untere Partie des Gesichtes wie bei einem Totenkopfe hervor. Genau so wie ihn hatte ich im Gizehmuseum bei Kairo die Mumien von Ramses II, Thutmosis und anderer altägyptischer Herrscher vor mir liegen sehen. Dort die toten Zeugen einstigen Strebens, den Körper ewig zu erhalten, und hier der kaum noch atmende Beweis, daß der Leib, sobald die Seele sich von ihm zu lösen beginnt, der unerbittlichen Zersetzung anheimzufallen hat!

Der Anblick that mir wehe; ich ließ mich nach meinem Lager zurücktragen. Dort kam mir der Gedanke, nach einem Spiegel zu fragen. Ja, es gab einen. Man [282] brachte ihn mir, und ich schaute hinein. Du lieber Himmel, ich sah nicht viel besser als Halef aus. Es war gar kein Wunder, daß Assil mich nicht erkannt hatte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich es sei, so wäre ich wohl kaum auf den Gedanken gekommen, in diesem dunkeln, hippokratischen Schemen mein eigenes Bild vor mir zu haben!

Aber das besserte sich nun von Tag zu Tag. Ich genoß viel Milch, mein Lieblingsgetränk, und erhielt sehr reichlich ausgepreßten Saft von Hühnerfleisch. Bald konnte ich aufrecht sitzen, ohne gleich wieder umzufallen. Das Sprechen strengte mich nicht mehr an, und ich machte an mir die bei Genesenden sehr häufige Beobachtung, daß geistig ganz wertlos scheinende Kleinigkeiten mir ein ungewöhnliches, wenn auch fast kindliches Interesse abgewannen.

Es war an einem dieser Tage. Die Sonne stieg dem Untergange zu. Da trug man Kissen hinaus ins Freie, und Schakara fragte mich, ob ich nicht einmal draußen sitzen möge. Der erste Ausflug, zwanzig Schritte weit bis vor die Säulen hin! Ich stimmte freudig ein. Zwei Männer hoben mich auf und brachten mich hinaus. Das war keine schwere Arbeit, denn ich war sehr leicht geworden. Nun sah ich zum erstenmal die Gegend, in welcher wir uns befanden. Sie mußte auch jedem, der nicht Rekonvaleszent war, als ein Paradies erscheinen.

Von da, wo ich mich befand, führten zwölf Stufen auf eine weite, grasige Terrasse hinab, auf welcher Assil und Barkh spazieren gingen oder vielmehr spazieren sprangen. Sie war von Blumenbeeten und blühenden Rosenbäumchen eingefaßt. Mehrere hoch- und breitkronige Dilbiplatanen breiteten schützend ihre Wipfel [283] über diesen freien Platz, von welchem ein gut unterhaltener Zickzackweg hinab zur Sohle des Thales führte. Das Haus des Ustad stand hoch auf stolzer Höhe. Es war auf gewaltigen, altpersischen Mauerresten errichtet und glich mehr einer Burg als einem Wohngebäude, doch konnte ich das jetzt noch nicht sehen. Das vor mir liegende Thal hatte eine elliptische Form, an deren westlicher, schmaler Seite ich hier saß. Es war wohl eine Wegesstunde lang und halb so breit. In der Mitte flimmerten die vom Windeshauche bewegten Wellen eines Sees, welcher rundum von saftig grünem Weideland umgeben war. Ich sah da Pferde, Maultiere, Kamele, Rinder und eine Menge Kleinvieh grasen. Hieran schlossen sich wohlbebaute Felder, welche bis an die rings emporragenden Berge reichten, an denen sich Wein-, Maulbeer-, Frucht- und Blumengärten bis da hinaufzogen, wo der Wald sich seiner Herrschaft nicht berauben ließ. Ich sah lebhafte Wasser von den Höhen fließen, um ihren Weg zum See zu suchen, auf dem - ein Wunder hier in Persien! - ein kleines Boot sein helles Segel blähte. Ueberall standen Häuser, meist mit platten Dächern, aus festen Steinen aufgeführt und freundlich weiß getüncht. Sie wurden im Winter bewohnt. Für die jetzige Jahreszeit hatte man luftige Zelte errichtet oder auf den Dächern aus Laub und Stangen Hütten gebaut, in denen man des Nachts zu schlafen pflegte. Diese Hütten sind auch in andern Gegenden des Orients gebräuchlich. Man sieht sie z. B. besonders auf den alten, dumpfigen Gebäuden von Beled esch Schech und El Jadschur, welche an der Straße von Haïfa nach Nazareth liegen. Die Berge erreichten hier eine solche Höhe, daß ihnen der Wald nicht ganz hinauf zu folgen vermochte. Die Kuppen bildeten alpine Weiden, [284] auf denen die dort grasenden Ziegen dem Auge als ganz winzige Tüpfelchen erschienen.

Die Mehrzahl der Häuser und der Zelte lag im Vordergrunde, von welchem aus ein breiter, straßenähnlicher Weg hinauf nach einem Felsenvorsprunge führte, wo ich ein Bauwerk liegen sah, dessen Stil meine Verwunderung erregte. Es war ein nach allen Seiten offener Tempelbau, dessen Dach nur von Säulen, nicht von geschlossenen Wänden getragen wurde. Es gab kein einziges Zeichen, welches verriet, welcher Art von Verehrung es zu dienen habe. Ich sah nur die Säulen und das Dach, sonst weiter nichts. Es gab keinen Altar, keinen einzigen Sitz, keinen Rednerstuhl. Aber an allen Säulen rankten sich blühende Kletterrosen und andere Schlingpflanzen empor, und der ganze Platz rund um den Tempel bildete einen sichtlich mit großer Liebe gepflegten Blumengarten, durch welchen zahlreiche, mit reinlichem Sand bestreute Wandelgänge führten.

Noch hing mein bewundernder Blick an dieser Herrlichkeit da drüben, da kam jemand durch den Raum gegangen und blieb hinter mir am Pfeiler stehen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ganz deutlich, daß es der Ustad war. Es verging einige Zeit, ohne daß er sich bewegte oder sprach. Auch ich war still. Ich sah hinauf zu den Bergen. Das Licht hatte begonnen, sich aus dem Thale zurückzuziehen. Die leise schreitende Dämmerung stieg empor. Als sie den Fuß des Waldes erreicht hatte, erschienen die freien Höhen wie in flüssiges, leuchtendes Gold getaucht. Die scheidende Sonne gab ihnen den letzten, glühenden Abschiedskuß. Das Gold ging in tiefere Orange- und Purpurtöne über, denen ein kurzer, violetter Schatten folgte; dann schwang sich das Abendrot von den Bergen himmelwärts, um sich dort für eine [285] andere Welt ins Morgenglühen zu verwandeln. „Gute Nacht!“ klang es mir durch die Seele.

Ich hatte das bloß gedacht, und doch ertönte sogleich neben mir die tiefe Stimme des Ustad:

„Gute Nacht für uns; für andere aber bedeutet es den Morgen! Erlaubst du mir, Effendi, eine kurze Zeit bei dir zu sein?“

„Du bist mir, wie kein anderer, hochwillkommen!“ antwortete ich ihm.

Da trat er zu mir heran, legte mir die Rechte auf das Haupt und sprach:

„Seit du bei mir in meinem Hause bist, ist's heut zum erstenmal, daß deine Krankheit nicht zwischen meinen Worten und dem Verständnisse derselben steht. Sie ist gewichen; du kannst nun, ungehindert von ihr, das, was ich sage, empfangen und begreifen. Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höhern Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet.“

„Du? Auf mich?“ fragte ich erstaunt.

„Ja. Schon seit langer, langer Zeit. O, ihr wißt gar nicht, wie lange wir schon auf euch warten, auf euch, auf euch, auf euch!“

Er hielt einen Augenblick inne, wie um mir Zeit zu gewähren, über seine Worte nachzudenken; dann fuhr er weiter fort:

„Und nun du endlich, endlich gekommen bist, und zwar in einer Weise, wie ich kaum hoffen konnte, so segne ich dich mit dem besten Segen, den ein Mensch vom Himmel zu empfangen und einem andern Menschen zu geben vermag. Nimm ihn hin von mir, diesen Segen, und glaube nicht, daß er in leeren Worten bestehe! Er [286] kommt nicht von mir, sondern von dem, der die einzige Quelle alles Segens ist!“

Als er das gesagt hatte, trat er von mir weg und setzte sich zu meinen Füßen auf die erste der hinabführenden Stufen nieder. Das war so bescheiden und anspruchslos; das war so klein, und doch war es so groß!

Nun herrschte eine Weile zwischen uns Schweigen. Die schnelle Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Die Häuser waren verschwunden, aber freundliche Lichter tauchten auf, um uns die Stellen zu bezeichnen, an denen Menschen wohnten. Am Himmel wurden die Sterne immer sichtbarer. Ihr Schein reichte hin, uns die erhabenen Gestalten der Berge sichtbar zu machen, um deren baumlose Häupter lichtere Töne webten, welche mein Auge unausgesetzt auf sich zogen. Da deutete der Ustad empor und sagte:

„Ich sehe, daß du hinauf zu unsern Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe thun! Aber es scheint nur unsere Thäler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserm Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tode, nicht von unserm Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserm Verfall, doch nicht von unsern Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.“

„Ich habe noch nicht mit dir hierüber gesprochen. Solltest du mich trotzdem kennen?“ fragte ich.

„Ja. Wir haben nicht die Mittel des Verkehrs, die ihr besitzt; aber der Ilahn1) [1) Kunde, Bericht, Fama.] ist ein schneller Reiter. [287] Er eilt von Duar1) [1) Lager, Dorf.] zu Duar, um zu verkünden, was er sah und was er hörte. Er hat schon längst, schon längst von dir erzählt. Du warst wiederholt ein Gast der Haddedihn, und von ihnen bis herauf zu uns ist gar nicht weit. Du warst schon einigemal in den Bergen Kurdistans. Was da geschah, das haben wir erfahren. Ich habe geahnt, daß deine Seele dich auch zu uns führen werde, und darum sagte ich soeben, daß du von uns erwartet worden seist. Aber es giebt noch eine andere, bessere und zuverlässigere Quelle, aus deren reinem, klarem Wasser mir dein geistiges Angesicht entgegenblickte. Ahnest du vielleicht, wer diese Quelle ist?“

„Nein.“

„Ihr Name ist Marah Durimeh.“

„Sie? Meine liebe, liebe Freundin und Beschützerin?“ fragte ich da schnell. „Kennst du sie?“

„Wahrscheinlich kennt sie keiner so gut, wie ich sie kenne. Doch, schweigen wir jetzt von ihr! Es giebt noch eine andere Person, an die ich jetzt zu denken habe. Als ich am Morgen, nachdem man euch zu mir gebracht hatte, eure Waffen sah, fiel mir ein Chandschar2) [2) Dolch.] auf, der bei dir gefunden worden war.“

„Kennst du ihn?“ fiel ich rasch ein.

„Ja. Es kennen ihn sehr viele. Ist er ein Geschenk?“

„Ja.“

„Wo hast du ihn bekommen?“

„In Amerika.“

„Von wem? Verzeih, daß ich dich frage! Es ist nicht müßige Neugierde, die mich zu dieser Erkundigung veranlaßt.“

„Von einem Perser, Namens Dschafar.“

[288] „Mirza Dschafar, der Sohn von Mirza Masuk?“

„Ja, von ihm.“

„Er gab dir die Waffe mit der Versicherung, daß derjenige, der ihm diesen Chandschar vorzeige, sei er, was er sei, darauf rechnen könne, daß er alles für ihn thun werde?“

„So ist es. Also auch diese Worte sind dir bekannt!“

„Nicht nur sie und nicht nur alles, was Mirza Dschafar mit dir erlebte, sondern auch alles, was er mit dir gesprochen hat. Du siehst also, daß ich dich besser kenne, als du wohl ahnen konntest. Darum weiß ich ganz genau, wie du über das Morgenland und sein Verhältnis zum Abendlande denkst. Ich begreife, daß du näheres über Mirza Dschafar erfahren möchtest, bitte dich aber, mich jetzt nicht zu fragen. Du gehst ja noch nicht fort von mir, und wir haben also Zeit genug, über diesen mir so wichtigen Mann zu sprechen. Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich es dir so weit, wie ich es kenne, enthüllen darf.“

Er schwieg. Auch ich war still. Wie wunderbar die Fäden des menschlichen Lebens gesponnen werden! So fern die Maschen von einander liegen, es kommt ganz unerwartet ein Faden, der sie eng vereinigt. Wer sind die Arbeiter, die an unsern Webstühlen sitzen? Wir selbst? Wer liefert uns das Garn? Wer bringt es auf die Spule? Wer legt die Kette um den drehenden Rahmen? Wer legt die Muster auf? Wer lenkt das unermüdliche Schiffchen Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom ersten bis zum letzten Augenblicke unserer Erdenzeit? Immer und immer nur wir selbst? Wir armen, armen, kurzsichtigen Thoren!

Es lag in diesem Gedankengange, daß mein Blick [289] hinüber nach dem Blumentempel geführt wurde. Ich fragte den Ustad, was das für ein Gebäude sei.

„Es ist unser Beit-y-Chodeh1) [1) Gotteshaus.],[“] antwortete er. „Du kannst es auch Beit Allah nennen. Chodeh und Allah ist ja gleich. Ihr nennt ihn Gott!“

Da aber wendete er, der mir bisher die Seite zugekehrt hatte, sich plötzlich ganz zu mir herum und sagte:

„Gott - Allah - Chodeh - welche eine Todsünde, zu behaupten, daß diese drei Worte nicht Verschiedenes bedeuten! Ich sah einen englischen Missionar, welcher seinen Schülern befahl, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge nur englisch „God“ zu nennen; Allah und Chodi seien ganz andere Götter! Als ob der Ewig-Ewig-Eine von irgend einem sich überhebenden Menschenkinde gezwungen werden könne, für jede andere Sprache und für jede andere Art, in der die Sterblichen zu ihm lallen, auch ein anderes Wesen anzunehmen! So ein Thor stellt sich hoch über Gott, indem er es in seiner Verblendung wagt, zu bestimmen, welches Wort der einzig richtige Name des Weltenlenkers sei! Hast du als Christ den Mut, Gott Allah oder Chodeh zu nennen, Effendi?“

„Wenn ich überhaupt schon den Mut besitze, von Gott oder gar im Gebete mit Gott zu sprechen, so ist der Mut, den du meinst, wohl selbstverständlich. Ich besitze nicht die Macht, Gott vorzuschreiben, wie er sich in den verschiedenen Ländern der Erde nennen zu lassen habe. Und ich bin auch nicht so wahnsinnig, zu behaupten, daß Gott ein Wesen sei, dessen Namen nur aus Buchstaben des deutschen Alphabetes zusammengesetzt werden könne.“

[290] „So denke ich auch. Man giebt ihm in jeder Sprache und in jeder Anbetungsweise so viele und so verschiedene Namen; aber er ist und bleibt stets derselbe. Welches Menschenwort könnte ihn umfassen? Von welchem irdischen Gebäude dürfte man sagen, daß er hier ausschließlich wohne? Darum haben wir zwar die Säulenhalle da drüben errichtet, aber wir nennen sie nicht „sein“ Haus, sondern „unser“ Gotteshaus. Dieses haben wir für uns gebaut, nicht aber zur Wohnung dessen, der allgegenwärtig ist und sich nicht etwa von einem andern Orte und von andern Menschen entfernen kann, um, uns zum Vorzuge, bei uns einzuziehen. Wer einen besondern Ort für Gott bestimmt, der begeht die Sünde, dem allumfassenden Geiste die Fesseln von Raum und Zeit anlegen zu wollen. - - - Warum ist es zu allererst Chodeh, von dem ich zu dir spreche? Warum habe ich nicht mit etwas anderem begonnen? Du solltest vor allen Dingen und zunächst wissen, wem dieses Haus und dieses kleine Reich gehört, dessen Lichter du da unten glänzen siehst. Ich wollte dir damit sagen, daß du dich bei Leuten befindest, welche wissen, wem sie angehören. Und wir sagen nicht bloß, daß wir ihm dienen, sondern wir sind jederzeit bereit, dieses Wort in Thaten zu verwandeln. Horch! Da hast du gleich Gelegenheit, so eine That zu hören.“

Die beiden Glocken begannen, über uns zu klingen.

„Warum läutet man?“ fragte ich.

„Um zum Gebete aufzufordern. Irgend ein Bewohner unsers Thales sendet in diesem Augenblicke seine Seele zu Chodeh empor; er hat das hier gemeldet; die Glocken klingen, und so weit ihre Stimmen zu hören sind, faltet jedermann die Hände, und tausende von Herzen beten mit. Ich thue es auch!“

[291] „Ich ebenso!“

Es war, als ob diese meine zwei Worte mit Willen begabte Wesen seien, welche meine Hände faßten, um sie ineinander zu legen. Muß man wissen, um was jemand bittet, um mit ihm beten zu können? Nein! Der Glaube trägt die Nächstenliebe himmelan; der Gegenstand des Wunsches braucht nicht genannt zu werden. „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, noch ehe ihr darum bittet.“

Giebt es vielleicht ein Dogma oder irgend ein Glaubensbekenntnis, gegen welches ich gesündigt hätte, indem ich hier als Mensch mit andern guten Menschen meiner brüderlichen Pflicht gedachte? Ich hoffe: keines! Es sei denn, daß eine Religion existiere, welche die Verknöcherung des Herzens zur unbedingten Folge hat! Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre, aus welcher ich hier an diesem Orte und in dieser Stunde körperlich und geistig Odem sog. Da unten in Basra hatten wir die pest- und fieberschwangern Dünste einer nicht bloß orographischen Tiefe eingeatmet; hier oben aber umwehte mich, auch nicht bloß äußerlich, eine Lebensluft, die frei von Keimen zum Erkranken war. Ich hätte behaupten mögen, daß nie ein Glockengeläut so rein erklungen sei wie dieses hier. Vielleicht waren die aufsteigenden Fürbitten von eben derselben Lauterkeit, weil niemand wußte, um wen und um was es sich handelte. Dieser von jeder Aeußerlichkeit erlöste Gottesdienst wirkte so unmittelbar und siegreich auf das Gemüt, daß eine Frage nach Knigges „Umgang mit Andersgläubigen“ gar nicht aufkommen konnte. Nur einem vollständig herz- und gemütslosen Menschen wäre es zuzutrauen gewesen, hier ohne sowohl innere als auch äußere Teilnahme zu bleiben.

Als der letzte Ton der Glocken zwischen den Bergen [292] verklungen war, verharrte der Ustad noch einige Zeit im Schweigen; dann wendete er sich mir wieder zu und sagte:

„So wie jetzt wurden die Glocken geläutet, mitten in der Nacht, als man dich und den Scheik der Haddedihn hier bei mir eingebettet hatte. Es gab keinen einzigen Dschamiki, der sich nicht dem Schlafe entriß, um für euch zu beten. Und alle, alle, sind auch dann noch mit dieser Fürbitte einverstanden gewesen, als sie erfuhren, daß ihr unsern Chodeh „Gott“ und „Allah“ nennet. Wäret ihr beide bei uns gestorben, so hätten wir euch nicht etwa abseits eingescharrt, sondern ihr wäret unter Glockenklang und Liedersang auf den Berg getragen worden, wo alle unsere Brüder und Schwestern liegen, die sich verwandelt haben. Wir hätten euch gesegnet, wie wir sie gesegnet haben, und euch die schönsten und duftendsten unserer Rosen auf die Gräber gepflanzt. Denn wir verheimlichen nicht, was wir wissen und was wir glauben und was kein guter unbefangener Mensch bezweifeln kann, nämlich daß nicht wir die Richter sind, welche über die Seligkeit oder Verdammnis der Sterblichen zu bestimmen haben. Sag, würde man auch bei euch Christen einem Andersgläubigen die Glocken läuten und den Segen geben? Ich frage dich nicht, um eine Antwort zu erhalten, denn ich weiß, daß du sie mir nicht geben darfst.“

Als er jetzt schwieg, blieb ich still. Warum? Bloß wegen meiner körperlichen Schwäche als Genesender? Oder aus Klugheit, um ein Wortgefecht zu vermeiden? Warum soll man, wenn man von Achilles redet, grad von der Ferse sprechen! Mein Auge war hinunter auf das Thal gerichtet. Ich sah Lichter, welche sich hin und her bewegten. Waren das Fackeln? Vereinzelte Stimmen [293] drangen herauf; sie klangen wie Kommandorufe. Da fragte mich der Ustad:

„Bemerkst du, daß sich da unten das Dorf belebt?“

„Ja,“ antwortete ich.

„Fühlst du dich schwach oder wohl?“

„Wohl. Warum willst du das wissen?“

„Weil ich eine Mitteilung für dich habe, welche dich wahrscheinlich sehr bewegen wird.“

„Sprich sie aus! Ich fürchte nichts für mich.“

„Sie ist eine doppelte. Das eine klingt nicht froh. Das will ich dir zuerst sagen, damit das andere dich wieder beruhigen möge. Mein Pedehr vermutet, daß Hadschi Halef Omar in dieser Nacht erwachen werde.“

„Zum letzten Male?“

„Das weiß allein Chodeh. Ich bin überzeugt, daß die Erwartung des Pedehr sich erfüllen werde, denn er kennt diese Krankheit so genau, wie kein zweiter sie kennt.“

„Wo werden die Boten sein, die wir nach den Weideplätzen der Haddedihn gesandt haben!“

„Das ist das zweite, was ich dir mitzuteilen habe. Der Gedanke, Kara Ben Halef holen zu lassen, wurde zwar von dir ausgesprochen, aber er kam nicht von dir. Daß er dir gegeben wurde, läßt mich für unsern dem Tode so nahen Freund noch Hoffnung hegen. Unser Können ist erschöpft; es giebt nur noch die Möglichkeit, daß der unerwartete Anblick seines Sohnes ihn rettet.“

„Aber der ist nicht hier!“

„Er kommt.“

„Wirklich? Gewiß? Noch heut?“ fragte ich in freudiger Ueberraschung.

„Ja; noch heut, noch diesen Abend, noch vor Mitternacht.“

Ich lehnte mich zurück und holte tief, tief Atem. [294] Es war, als ob der Odem mir bisher gefehlt und sich nun wieder eingestellt habe. Ich schloß die Augen. Mein Blick richtete sich nach innen. Da sah ich nun so recht, wie schwer die Sorge um meinen Halef auf mir gelastet hatte. Jetzt teilte sich die unheilschwangere Wolke, und ein lichter Strahl gab mir die Hoffnung wieder!

„Sind die Boten denn schon zurück?“ erkundigte ich mich.

„O nein! Sie sind mit dem jungen Scheik der Haddedihn nur bis zu einem Duar gekommen, welcher fast drei Tagesritte von hier liegt. Da müssen sie bleiben, um sich zu erholen. Auch ihre Pferde konnten nicht weiter! Der Sohn, welcher kommt, um seinen Vater wo möglich noch lebend anzutreffen, hat weder sich noch sie geschont. Nur die Rücksicht auf sein abgetriebenes, edles Pferd hat ihn vermocht, eine volle Nacht in jenem Duar zu bleiben, damit es einmal länger ruhen könne. Aber er hat sogleich nach seiner Ankunft dort zwei Boten vorausgesandt, von denen ich erfuhr, daß er heut abend sicher kommen werde.“

„Warum sagst du mir das erst jetzt?“

„Weil ich es selbst nicht früher wußte. Der Vorsprung, den sie vor ihm hatten, wird durch die Eile, mit welcher er ihnen folgt, derart ausgeglichen, daß er nur ganz kurze Zeit nach ihnen hier einzutreffen gedenkt. Nun siehst du die Lichter, welche sich da unten im Thale bewegen. Es versammelt sich da eine Schar meiner Dschamikun, um den beiden entgegenzureiten.“

„Den - - beiden? Sind es zwei?“

„Ja.“

„Wer noch, außer ihm?“

„Ein Haddedihn, welcher nicht zu Pferde mit ihm kommt, sondern sich zweier Eilkamele bedient, um mit ihnen wechseln zu können.“

[295] „Wie heißt er?“

„Das weiß ich nicht. Die Boten waren über seine Hedschan1) [1) Plural von Hedschin – Reitkamel.] der Bewunderung voll; sie versicherten, noch nie im Leben so herrliche Tiere gesehen zu haben.“

„Tragen diese Kamele etwa einen Tachtirwahn2) [2) Kamelsänfte.]?“

„Nein. Meinst du, daß der junge Haddedihn eine Frau mitbringe? Es giebt kein Weib, welches, selbst in der Sänfte, eine solche Anstrengung auszuhalten vermöchte. Die Boten sagten, der Begleiter Kara Ben Halefs scheine ein vornehmer Christ zu sein, der zwar wenig, aber sehr gebieterisch spreche. Er trage eine blaue Brille und darunter noch einen blauen Schleier, um seine Augen zu schützen. Wahrscheinlich sei er einer der gelehrten Abendländer, welche nach der Dschesireh kommen, um in den dortigen Ruinen alte Ziegel auszugraben. - - Nun sag, hat dich diese Nachricht aufgeregt?“

„Nein. Um aufgeregt sein zu können, bin ich wohl noch zu schwach. Wir stehen vor einer Entscheidung. Fällt sie ungünstig aus, so trifft sie mich nicht unvorbereitet, und ich weiß, daß das Leben des Menschen nicht mit dem Tode aufhört. Selbst wenn Hadschi Halef stürbe, würde er mir unverloren bleiben. Die Nachricht von der Ankunft seines Sohnes erfüllt mich mit herzlicher Freude. Das Wiedersehen wird nicht schädlich auf mich wirken.“

„So bin ich beruhigt. Ich kam, dich vorzubereiten. Ich weiß, daß du wohl viele Fragen hast, deren Beantwortung du dir wünschest. Mein Pedehr wird das gern thun. Ich sorge für die Seelen unserer Dschamikun; alles andere ist in seine Hand gegeben.“

Er erhob sich, strich mir mit der Hand wie liebkosend über das Haar und kehrte dann nach dem Innern [296] des Gebäudes zurück. Bei dieser Berührung meines Hauptes hatte ich wieder das Gefühl, als ob dabei eine gütig reine, nicht materielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Kann man den von einem wohlwollenden Menschen ausgehenden Segen in dieser Weise fühlen? Oder giebt es ein uns noch unbekanntes Fluidum, welches in dieser Weise von dem einen auf den andern übertragen werden kann?

Nun war ich allein und dachte an Halefs Sohn. Endlich, endlich! Ich hatte eine Zuversicht in mir, welche an die Gewißheit grenzte, daß er seinen Vater retten werde. Wer aber war der Fremde, den er mitbrachte? Einen Augenblick lang hatte ich an seine Mutter gedacht, an Hanneh, die „lieblichste und schönste unter allen Blumen des Morgenlandes“. Ich war durch die Sänfte zu diesem Gedanken geführt worden. Aber ich hatte doch angeordnet, daß Hanneh nichts von Halefs Krankheit erfahren solle, und mußte mit der Ansicht des Ustad einverstanden sein, daß ein weibliches Wesen einen solchen Parforceritt unmöglich aushalten könne. Zwar war sie eine außerordentlich resolute Frau; sie verstand, jedes Pferd nach Männerart zu reiten, und sie hing mit so inniger Liebe an Halef, daß ihr der Entschluß, jetzt mitzukommen, sehr wohl zugetraut werden konnte; aber anzunehmen, daß sie diesen Gedanken in Wirklichkeit ausgeführt habe, das schien mir doch viel zu gewagt zu sein.

Ein europäischer Gelehrter! Man hielt ihn wohl nur seiner blauen Brille wegen für einen solchen; er brauchte es ja trotzdem nicht zu sein. Auch ich hatte solche Brillen bei mir gehabt, um sie aufzusetzen, wenn die Sonnenstrahlen allzu blendend von den hellen Sand- oder Felsenflächen zurückgeworfen wurden. Ich war von dem damals noch kleinen Kara gebeten worden, sie ihm [297] zu schenken, und hatte es gethan. Also, die Brille macht noch nicht den Gelehrten; ich habe nie im Leben die Absicht gehabt, „gelehrt“ zu sein, denn es ist mir nie gelungen, mir dieses Wort sympathisch werden zu lassen. Wer aber war dieser Mann? Unser David Lindsay jedenfalls nicht. Nur allein diesem, der sich aber unterwegs nach Schiras befand, konnte die kühne Schrulle beikommen, sich Hals über Kopf einer solchen Hetzpartie nur aus dem Grunde anzuschließen, weil es etwas Ungewöhnliches war. Ich sann hin und her, konnte mir aber außer ihm niemand denken, und hielt es darum für das beste, jetzt einmal dem Beispiele Halefs zu folgen, der, wenn es etwas zu erraten gab, sich stets mit der Bemerkung aus der Schlinge zu ziehen pflegte, daß er sich mit der Lösung von Rätseln nicht abzugeben habe.

Unten im Thale gab es wieder Ruhe; die Schar der Dschamikun, von welcher der Ustad gesprochen hatte, war fortgeritten. Auf dem freien Platze zu meinen Füßen, wo sich unsere Pferde befanden, wurden an den dazu vorhandenen Einfassungsstützen Fackeln aufgesteckt, welche später angebrannt werden sollten. Dann kam der Pedehr mit einigen Bedienten in den Raum, an dessen Säule ich sitzend lehnte. Er gab leise Befehle. Dann kam er heraus, setzte sich bei mir nieder und fragte:

„Der Ustad hat dir gesagt, wer heut noch kommt?“

„Ja.“

„Ich weiß, daß du dich auf das Wiedersehen mit dem Sohne freust, und ich hoffe, daß der Himmel den Vater dir erhält. Denkst du, stark genug für diesen vielleicht schweren Abend zu sein?“

„Wenn ich will, wird der Körper gehorchen.“

„Ich habe Befehl erteilt, die Kerzen der Beratung hereinzubringen. Sie werden nur dann angebrannt, wenn [298] die Aeltesten des Stammes sich bei dem Ustad befinden, um mit ihm wichtige Angelegenheiten zu beraten. Doch soll auch an dem heutigen Abend der Raum so tageshell erleuchtet sein, wie er es bei diesen Gelegenheiten ist. Ich habe über das Leben des Kranken zu wachen und brauche Licht, um die Schrift seines Angesichts lesen zu können. Was ich verbiete, darf nicht geschehen. Bist du damit einverstanden, Effendi?“

„Sehr gern!“

„Wenn er erwacht und aber nicht spricht, so wird er sterben. Findet jedoch seine Seele den Weg zu seinem Munde noch frei, so kann er uns erhalten bleiben. Unser Freund kann sich nur durch sich selbst, durch seinen eigenen Willen retten. Besitzt er diesen noch, so hoffe ich für ihn. Wenn er einen Wunsch äußert, so haben wir ihn zu erfüllen, falls dies möglich ist, denn dieser Wunsch ist die Stütze, an welcher das niedergesunkene Leben sich aufzurichten hat.“

„Ich bitte dich, mich hineinschaffen zu lassen. Ich möchte, wenn er erwacht, an seiner Seite oder doch wenigstens in seiner Nähe sein.“

„Dies wird geschehen, doch warum schon jetzt? Macht dich der Aufenthalt im Freien schwach?“

„Nein. Warten wir also bis später! Jetzt möchte ich gern wissen, was aus den Massaban geworden ist. Ich habe noch nichts wieder über sie gehört.“

„Ich werde dir das morgen oder übermorgen ausführlich erzählen. Heut aber wird dein Inneres so sehr beschäftigt werden, daß ich dir nur das eine sagen will: Es ist uns keiner entgangen. Genügt dir das?“

„Wenn du willst, ja. Horch! War das nicht ein Schuß? Noch einer! Und noch einer!“

„Drei Schüsse. Sie kommen. Viel eher, als ich dachte!“

[299] „Mit Kara Ben Halef?“

„Ja. Bist du innerlich gerüstet, Effendi?“

„Gewiß!“

„Prüfe dich! Es wird ein Sturm sein, welcher an deiner Seele, an deinem Leben rüttelt!“

„Diese Seele ist stark; ich kenne sie.“

„So sei es denn! Wir wagen viel, sehr viel, doch meine Hoffnung blickt zu Chodeh auf, der nur allein es ist, dem wir vertrauen müssen. Ich will nach Halef schauen und dann am Thor die Gäste begrüßen; hierauf kehre ich mit ihnen hierher zurück zu dir.“

Er ging hinein, und ich hörte, daß er befahl, die Kerzen anzubrennen. Gleich hierauf drang eine Fülle des Lichtes durch die offenen Bogen heraus auf den Vorplatz. Ich sah deutlich unsere zwei Pferde liegen und mehrere Dschamikun damit beschäftigt, die aufgesteckten Fackeln schnell anzuzünden. Auch die andern Räume des „hohen Hauses“ schienen hell erleuchtet worden zu sein, denn die Strahlen vereinten sich zu einem glänzenden Lichtstrome, welcher weit hinaus bis an den See und tief hinunter bis auf die Sohle des Thales flutete. Von dort klangen laute Stimmen herauf. Ich hörte Pferde wiehern. Eine Fantasia oder gar ein lärmendes Pulverspiel gab es nicht. Die Nähe des Todes verbietet solche Dinge.

Bald hörte ich fernleisen Hufschlag, welcher lauter wurde. Er kam den Berg herauf. Nun ertönte das langgezogene, ungeduldige „Chchchchchuuuuh“ eines Kameles. Ich kannte diesen Ton. So klagt das Hedschihn der ebenen Wüste, wenn es gezwungen wird, auf ungewohnten Bergwegen zu schreiten. Von rechts unten her erklang die laute Stimme des Pedehr. Ich verstand die Worte nicht, doch waren sie das Willkommen, welches [300] er den Gästen sagte. Hierauf erschienen einige Dschamikunreiter auf dem Vorplatze. Sie waren die Führer. Hinter ihnen kam, von den Fackeln genügend beleuchtet, Kara Ben Halef, auf seinem „Ghalib“ sitzend. Ihm folgten zwei aus der edelsten Bischarizucht stammende Eilkamele. Das eine war ledig; auf dem anderen saß der verschleierte Fremde. Seine Waffen hingen am Sattelknopfe. Er sprach mit dem Pedehr. Er war ebenso wie Kara in den gewöhnlichen Wüstenanzug gekleidet.

Kara Ben Halef sprang vom Pferde und trat zu dem Kamele hin, um dessen Reiter beim Absteigen zu unterstützen. Dieser aber glitt ohne die beabsichtigte Hilfe schnell aus dem Sattel herab und fragte so laut und pressant, daß ich die Worte verstehen konnte:

„Nun sag, wo liegt der Scheik der Haddedihn?!“

Welch eine Stimme! Die kannte ich ja! Täuschte mich mein Ohr, oder war es Wirklichkeit?

„Hier oben in der Halle,“ antwortete der Pedehr.

„So komm!“

Mit diesen Worten ergriff der Fremde Karas Hand, um mit ihm die Stufen emporzueilen.

„Ich ersuche euch, nicht so schnell zu gehen,“ bat der Pedehr. „Es ist notwendig, daß ich vorher - - -“

Dem Verschleierten aber fiel es gar nicht ein, auf diese Worte zu achten. Er zog Kara von Stufe zu Stufe in größter Ungeduld hinter sich her, bis er die oberste erreicht hatte. Da fiel sein Blick auf mich. Er blieb stehen, um mich zu betrachten. Seine Gestalt schien plötzlich alle Möglichkeit, sich zu bewegen, verloren zu haben. Er stand starr, wortlos, eine ganze, ganze Zeit. Dann hob er langsam die Arme und schlug die Hände laut zusammen.

„Sihdi?“ rief er aus.

[301] „Ich bin es,“ antwortete ich.

Da that er die drei Schritte zu mir her, warf sich vor mir nieder, zog meine beiden Hände unter seinen Schleier und drückte sein Gesicht hinein. Es waren glatte, bartlose Wangen, die ich fühlte. Sein Körper bewegte sich konvulsivisch. Er wollte den Ausbruch des Schmerzes, das Schluchzen unterdrücken und konnte es doch nicht. Aus seinen Augen floß eine Flut von Thränen über meine Hände. Kara stand still auf der vorletzten Stufe. Auch er erkannte mich, ließ aber dem Andern das Vorrecht, zuerst mit mir zu reden.

Da hob dieser Andere den Kopf empor, sah mir noch einmal forschend ins Gesicht und sagte schluchzend:

„Das, das ist mein Sihdi! Der einzige Freund meines irdischen Lebens! Der kluge Berater meines Herzens! Der treue Leiter meiner irrenden Seele! Der unerschütterliche Fels in jeder Not! Kennst du mich?“

„Hanneh!“

Ich konnte dieses kleine Wort kaum über die Lippen bringen, so tief erschüttert war ich. Meine Augen standen voller Thränen, und meine Stimme bebte. Da warf sie den Turban vom Kopfe, riß den Schleier herab und rief jammernd aus:

„Ja, ich bin es! Aber bist du der noch, der du warst?“

„Ich werde es wieder sein!“

„Ja, du mußt, du mußt, du mußt es wieder sein! Ich mache dich gesund, ich, ich, ich! Und ich beginne damit gleich, gleich jetzt, in diesem Augenblick! Kennst du das Märchen von Chakika1) [1) Die „Wahrheit“.], welche vom Himmel kam [302] und dem Tode begegnete? Sie küßte ihn; da wurde aus ihm das Leben.“

„Ich kenne es. Diese lichte, himmlische Chakika ist die herrlichste Wahrheit, die es giebt.“

„So laß mich dieses Märchen sein, und zürne mir wegen meiner Kühnheit nicht!“

Sie rutschte auf den Knieen ganz zu mir heran, zog meinen Kopf an sich und küßte mich auf beide Wangen und dann noch auf die Stirn. Dann fuhr sie unter Thränen fort:

„Wer war es, der dich jetzt mit den Lippen berührte? Nicht Hanneh, das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn! Der Kuß dieser Frau könnte dir nichts nützen trotz aller Liebe und Dankbarkeit, die sie in ihrem Herzen für dich pflegt. Oh, mein Sihdi! Oh, mein Effendi! Ich wußte, daß du uns allen teuer bist, aber wie, wie, wie teuer, das wußte ich noch nicht! Das habe ich erst jetzt begriffen, wo du, von Todes Hand noch festgehalten, mit einem Lächeln auf mich niederblickst, so schwach, so matt und doch so lieb und gut, daß es mir das Herz zerreißen will! Kara Ben Halef, mein Sohn, tritt herbei, und leg deine Hände auf das Haupt dieses Mannes, der zu uns kam, um uns allen nichts als nur Liebe, Liebe, Liebe zu erweisen!“

Er biß die Zähne zusammen, um nicht lautauf zu weinen; aber seine Lippen zitterten und seine Augen standen voll Wasser. Er legte mir nicht nur die Hände sondern auch die Wange auf den Kopf; er hatte mich lieb, so recht von ganzer Seele lieb. Da faltete seine Mutter ihre Hände und sprach weiter:

„Sihdi, ich segne dich! Ich segne dich nicht so, wie andere segnen. Ich gebe dir mehr, als was nur ich dir geben könnte. Ich segne dich durch die Hände meines [303] Kindes, auf dem der Segen seines Vaters und seiner Mutter liegt. Dreifach also ist der Segen, der auf dir ruhen soll in alle Ewigkeit!“

Da erklang die tiefe, klare Stimme des Ustad, der, von uns unbemerkt, hinter uns an der Säule gestanden hatte:

„Nicht nur dreifach soll er sein, und nicht nur gesegnet sollst du haben, sondern auch gesegnet werden!“

Er trat aus der Halle heraus, breitete seine Hände über sie und fuhr fort:

„Ich sehe dich heut zum erstenmal, und doch ist es mir, als seist du mir schon längst bekannt. Ich höre, daß du Hanneh bist, unsers Hadschi Halef Weib; aber für mich und uns bist du in diesem Augenblicke mehr. Du bist die Seele des weiblichen Geschlechtes, die aus der Höhe niederstieg, um Geist in Seele zu verwandeln. Wie hast du mich gerührt! Wie ward mein Herz bewegt von deinem Herzen! Es wallt in mir ein großes Wünschen auf, für welches ich das rechte Wort nicht finde. Du, eines Moslem Weib, verurteilt zu des Harems Einsamkeit, hast einem Nasarah1) [1) Christ.] gegenüber dies Gesetz gebrochen, um dem höheren des Herzens zu gehorchen. Wie wert muß doch sein Christentum deines dreifachen Segens sein! Und so gern, wie es noch nie geschah, will ich für dich zu Chodeh beten, an dir zur Wahrheit zu machen, daß, wer da segnet, selbst gesegnet wird!“

Sie schaute zu ihm auf, aus weitgeöffneten Augen, mit einem langen, langen Blicke.

„Bist du der Ustad?“ fragte sie.

„Man nennt mich so,“ antwortete er.

[304] „Du sagtest, es sei dir so, als habest du mich schon längst gekannt. Habe nicht auch ich dich schon gesehen? Doch wo und wann? Ich kann mich nicht besinnen. In diesen Bergen ist es nicht gewesen. Du hast den Gebieter meines Stammes und meines Zeltes bei dir aufgenommen. Ich danke dir! Erlaubst du mir, daß ich jetzt zu ihm gehe?“

„Ich führe dich,“ antwortete er. „Der Pedehr ist bei ihm. Doch, meine Tochter, bist du stark genug, den Hadschi so zu sehen, wie man nur Leichen sieht?“

Da richtete sie sich auf. Ihre Augen blitzten. Sie war ganz Entschlossenheit.

„Kennst du das Weib, Ustad?“ fragte sie.

„Ich kenne es,“ lächelte er, „und ich sehe, daß du es bist!“

„Vielleicht erschrecke ich, doch eine Klage wirst du nicht aus meinem Munde hören. Auch mein Sohn ist stark. Komm, Kara, laß uns zum Vater gehen!“

Welch eine Frau! Der Ustad ergriff ihre Hand, um sie zu leiten. Sie gab die andere Kara; so gingen sie hinein. Ich horchte. Sie schritten langsam nach der Ecke, in welcher Halef lag; dann war es still, kein Wort, kein Laut zu hören. Wie war sie über mein leidendes Aussehen erschrocken! Halefs Anblick aber war noch schlimmer. Und doch diese Ruhe hinter mir! Ich wiederhole: Welch eine Frau!

Ich schaute den Dschamikun zu, welche Karas Dunkelbraunen und die beiden Kamele abgeschirrt hatten und ihnen nun Wasser und Futter gaben. Aber meine Gedanken waren natürlich weniger dort als in der Halle am Lager des Freundes. Erst nach langer Zeit hörte ich wieder Schritte. Der Pedehr kam zu mir.

„Sie ist eine Heldin und ihr Sohn ein Held,“ flüsterte [305] er mir zu. „Sie sind bei ihm. Auch der Ustad wird bleiben, denn wir vermuten, daß Halef bald erwachen werde. Ich sah, daß sich die Falten seiner Stirn bewegten.“

„Und ich? Darf ich hinein?“ fragte ich.

„Ich bitte dich darum. Er darf dich nicht vermissen.“

Er holte einige Leute, welche mich samt den Kissen hineinbrachten. Hanneh und Kara saßen zur Seite Halefs, der Ustad zu seinen Füßen. Ich bekam einen Platz in der Nähe. Der Pedehr hatte sich auf der Ecke des Lagers niedergelassen. Er beobachtete den Kranken unausgesetzt. Schakara war auch da, und an der Thür standen zwei Männer, um etwaige Befehle sofort auszuführen.

Ich konnte das Gesicht Halefs deutlich sehen. Die Halle war von Wachskerzen hell erleuchtet. Die Bienenzucht der Dschamikun lieferte dieses außerhalb ihres Gebietes seltene Material. Ich wiederhole, daß das Gesicht des Hadschi ganz dem einer Mumie glich. Hanneh bewegte sich nicht. Ihre Züge waren wie aus Stein geformt. Kara saß so, daß ich die seinigen nicht beobachten konnte. Was mich betrifft, so gab es in mir eine zwar erwartungsvolle, sonst aber ruhige Stille. Es war, als ob jedes Wünschen und Wollen verschwunden sei; aber das bedeutete nicht etwa eine Ergebung in das Unvermeidliche, sondern es war eine Zuversicht, die ich vor der Ankunft Hannehs und Karas keineswegs empfunden hatte.

„Sihdi!“

Was war das? Hatte mich wer gerufen? Ich schaute die Andern fragend an. Sie blickten ebenso fragend zu mir herüber. Keiner hatte dieses Wort gesprochen, aber alle hatten es gehört.

[306] „War es Halef?“ erkundigte ich mich.

Niemand wußte es. Seine uns bekannte Stimme war es nicht gewesen. Auch hatte man keine Bewegung seiner Lippen gesehen. Nun hingen wir mit unsern Augen an seinem Munde, welcher ein wenig offen stand.

„Sihdi - - - Sihdi - - -!“

Jetzt hörten wir genau, daß Halef es war, obwohl die Stellung seiner Lippen sich nicht im geringsten verändert hatte. Das war eine ganz eigentümliche Stimme, nicht laut, nicht leise, ganz ohne allen Ton und Klang und doch so gut verständlich. Wenn es Schatten oder Schemen gäbe, welche sprechen könnten, so würden sie es ganz gewiß in dieser Weise thun.

„Halef, mein lieber Halef!“ antwortete ich.

„Der bin ich nicht!“ erwiderte er.

„Nicht mein Hadschi?“

„Der bin ich auch nicht!“

„Also mein Hadschi Halef?“

„Ich bin es nicht!“

„Wer bist du denn?“

„Ich weiß es nicht!“

„Sag mir deinen Namen!“

„Ich habe keinen!“

„Aber du kennst dich doch?“

„Ich bin ich!“

„Wo bist du?“

„Hier!“

„Wo ist das?“

„Bei dir, bei meinem Sihdi! Jetzt bei den Haddedihn! Wo ist Hanneh? Sie ist nicht da! Wo ist Kara, mein Sohn? Er ist auch nicht da. Ich suche sie!“

„Wo gehst du hin, sie zu finden?“

Er antwortete nicht. Darum schwieg auch ich.

[307] Er hatte alle diese kurzen Antworten gegeben, ohne die Lippen zu bewegen. Darum waren die Labiallaute nicht zu hören gewesen. Das hatte aber nicht verhindert, ihn zu verstehen.

„Sihdi - - - Sihdi - - -!“ erklang es nach einer längeren Pause wieder.

„Ja,“ sagte ich.

„Ich bin bei dir.“

„Wieder?“

„Ja. Ich habe deine Augen.“

„Wirklich?“

„Wirklich! Und was du siehst, das sehe ich auch! Nun habe ich sie gefunden. Ich sehe sie! Kara und Hanneh, die ich liebe. Ich sehe noch mehr. Ich sehe - - - wer - - - wer ist das? Das ist der - - - Pe - - - der Pe - - - Pedehr und - - - und - - - ich muß fort - - - fort von dir! - - - Wer - - - wer - - - wer bin - - - bin - - - wer bin ich und wer - - - -“

Da stand der Ustad mit einer unerwartet schnellen Bewegung auf und rief ganz auffallend laut und deutlich:

„Du bist Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn! Hörst du? Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar!“

„Had - - - Hadschi Hal - - - Halef - - - - - - - -“

Er brachte nur diese Silben zusammen; dann verhauchte seine Stimme und wurde nicht mehr gehört. Nun ließ sich der Ustad wieder nieder, bog sich zu mir herüber und fragte mich, leise flüsternd:

„Begreifst du, was ich that?“

„Nein.“

[308] „So denke nach! Ich habe ihn zu sich zurückgeführt.“

„Ist es denn möglich, eine Seele, welche bereits im Begriffe steht, ihre Verbindung mit dem Körper zu lösen, durch Worte festzuhalten?“

„Ja, das hast du jetzt erfahren und wirst den Beweis bald kommen sehen. Für euch Abendländer ist das freilich ein Rätsel. Eure Seelenlehre ist noch nicht einmal so weit gekommen, daß sie sagen kann, was und wo die Seele ist. Wer die sonderbare Ansicht hegt, daß der Offizier im Körper des Soldaten stecke, der wird alle Bewegungen dieses Soldaten als Regungen des Offiziers erklären; über die Seele aber Auskunft zu geben, das wird ihm ganz unmöglich sein!“

Das klang so alt und doch so neu, in jedem Falle aber wahr!

Nun wieder störte kein Laut die Stille um uns her. Wir konnten nichts thun, als warten. Es verging wohl über eine halbe Stunde; da sahen wir, daß die bisherige Starre im Gesicht des Hadschi weichen wollte. Die Mumienähnlichkeit begann, sich zu verlieren, obgleich von einer eigentlichen Wiederbelebung der Züge noch nicht gesprochen werden konnte. Jetzt bewegte er die Lippen, doch wir hörten nichts. Es war zu bemerken, daß seine Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern regten. Es gab ihm eine Anstrengung, welche vergeblich nach dem Erfolge rang. Hierauf zuckten seine Arme und Beine unter der Decke; es ging ein Leben durch seinen ganzen Körper, und fast schreiend erklangen die Worte:

„Sihdi - - Sihdi - - bist du bei mir?“

Ich sage, „fast schreiend“, aber es war doch kein eigentliches Schreien, nicht einmal ein Rufen, auch nicht das, was man „laut“ zu nennen pflegt. Und doch klang es so deutlich, so heftig, so todesängstlich! Man hörte [309] dieser Stimme die außerordentliche Schwäche an, und trotzdem war sie im fernsten Winkel der Halle zu vernehmen.

„Ich bin hier,“ antwortete ich.

„Sag, wie heiße ich?“

„Du bist mein Freund Halef Omar.“

„Der Scheik der Haddedihn?“

„Ja.“

„Ich liege bei den Dschamikun?“

„Ja.“

„Bin ich noch krank?“

„Jetzt noch; bald aber wirst du gesunden.“

„Du bist Kara Ben Nemsi?“

„Ja.“

„So staune! Ich weiß, was sterben heißt!“

„Sag es mir!“

„Nicht jetzt. Das Sprechen fällt mir schwer. Sihdi, hast du nicht Glocken hier gehört?“

„Ja, die Glocken des Gebetes.“

„Laßt sie läuten; laßt beten, daß ich leben bleibe. - Ich will zurück zu Hanneh, meiner Seele. Sie ist - - -“

Er hielt inne. Sein Gesicht bekam zum erstenmal wieder einen Ausdruck, nämlich den der Spannung. Er suchte in sich nach. Dann fuhr er fort, so langsam, als ob er die Worte mühsam aus der Ferne herbeiholen müsse:

„Wie ist mir denn? - - - habe ich nicht - - - meine Hanneh - - - hier gesehen? - - - Saß nicht auch - - - - Kara, mein Sohn - - - bei mir - - - an diesem Lager? - - - Ich hatte nicht - - - meine Augen - - - sondern andere. - - - Mit diesen Augen - - - sah ich meine – [310] - - - meine eigene Leiche. - - - Bei ihr saß Hanneh - - - wie ein Mann gekleidet - - - hier, hier - - - zu meiner rechten Hand - - - - Ich kann den Kopf nicht wenden - - - - die Augen nicht öffnen - - - sie nicht sehen - - - und doch, und doch - - - Hanneh, Hanneh - - - mein Glück und meine Retterin - - - ich weiß - - - du bist bei mir!“

Da war es für einen Augenblick um ihre ganze Selbstbeherrschung geschehen. Sie stieß einen fast überlauten Schrei aus, sprang empor und rief:

„Allah, ich danke dir! Fast wäre ich erstickt vor lauter Qual und Herzeleid! Nun aber kann ich wieder atmen, denn ich weiß, daß mein Geliebter nicht sterben, sondern leben wird. Du, Allbarmherziger, hast ihn mir zurückgegeben!“

Wir hatten während dieser ihrer Worte nur auf sie geschaut und nicht auf Halef gesehen. Nun aber staunten wir über die Wirkung, welche der Klang ihrer Stimme auf ihn hervorgebracht hatte. Er bewegte den Kopf; seine Züge hatten Leben bekommen; seine Augen waren geöffnet und mit dem Ausdrucke des Entzückens auf Hanneh gerichtet. Kara war auch aufgestanden; er trat an die Seite seiner Mutter. Halef sah ihn neben ihr. Da konnte er plötzlich auch die Hände bewegen. Er faltete sie und sprach:

„Auch du bist hier, mein Liebling? Ich bin nicht gestorben und habe doch die Seligkeit, den ganzen, ganzen Himmel hier bei mir!“

Hierauf schloß er die Augen. Mutter und Sohn knieten bei ihm nieder. Sie nahmen seine Hände und sprachen ihre überquellende Liebe in zärtlichen Worten aus. Er antwortete nicht. Da erklangen über uns die [311] Glocken, denn einer der an der Thür stehenden Dschamikun war, sobald Halef diesen Wunsch ausgesprochen hatte, fortgegangen, um ihn zu erfüllen. Der Kranke hörte es und lächelte. Jetzt beteten Tausende für ihn. Wir hier in der Halle auch. Er schlief indessen ein. Mit ihm auch noch ein anderer, nämlich ich.

Das war nach den Anforderungen, welche dieser Abend an mich gestellt hatte, gar nicht verwunderlich. Ich wurde so plötzlich von einer ganz unwiderstehlichen Müdigkeit befallen, daß mein aufrecht sitzender Oberkörper den Halt verlor. Ich fiel um. Man trug mich nach meiner duftenden Veilchenecke, in welcher ich einen so langen und tiefen Schlaf that, daß, als ich am nächsten Tag von ihm erwachte, die Sonne sich fast schon wieder zum Untergange neigte. Ich fühlte sogleich, daß diese lange Ruhe mich außerordentlich gekräftigt hatte.

Wer saß bei mir, als ich die Augen öffnete? Hanneh! Sie hatte einen mitgebrachten Frauenanzug angelegt. Als sie sah, daß meine Augen offen und auf sie gerichtet waren, reichte sie mir die Hand und sagte:

„Ich grüße dich aus vollem Herzen und mit meiner ganzen Seele, mein Effendi. Ich wartete auf dein Erwachen. Inzwischen sitzt mein Kara dort bei Halef, um mir sofort zu melden, wenn ich nötig bin. Jetzt mußt du sogleich essen. Ich werde es Schakara sagen, daß sie dir die Speise bringe.“

„Weißt du, wo sie ist?“

„Ja. Sie ist schnell meine Freundin geworden, denn sie besitzt ein siegreiches Herz, dem niemand widerstehen kann.“

Hanneh stand auf und eilte hinaus, um bald darauf mit der Kurdin zurückzukehren. Während die letztere mir beim Essen behilflich war, ging die erstere zu Kara [312] und Halef, welcher, wie Schakara mir sagte, seit gestern abend in einem immerwährenden, tiefen und wahrscheinlich wohlthätigen Schlafe gelegen hatte. Hanneh beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit ihren Lippen. Sie schien ihn dadurch aufgeweckt zu haben, denn er begann, sich zu regen. Schakara verließ sofort die Halle, um den Pedehr zu holen, welcher das Verlangen geäußert hatte, bei dem Erwachen des Scheikes gegenwärtig zu sein.

Ich hörte, daß Halef leise vor sich hin sprach. Zu verstehen war aber nichts. Auch hatte er die Augen nicht geöffnet. Da kam der Pedehr. Er beobachtete den Kranken kurze Zeit und winkte dann Hanneh, mit ihm zu reden. Sie that es, indem sie laut einige Worte sprach, die seine Kosenamen waren. Da ging ein Lächeln über sein Angesicht. Er lauschte. Sie wiederholte die Worte und knüpfte an sie die Frage, wie er sich befinde. Da hörte ich seine außerordentlich matte und doch so deutliche Stimme erklingen:

„Hamdulillah - - - es war - - - kein Traum - - -! Mein Leben - - - ist zu mir - - - gekommen! Hanneh - - - Hanneh - - - und - und - - und - - -“

Er schwieg, um nachzusinnen. Da fuhr Kara an seiner Stelle in dem angefangenen Satze fort:

„Und ich ebenso, mein Vater! Kara Ben Halef, dein Sohn; ich bin auch bei dir!“

„Kara - - - mein - - - mein Sohn - - der junge Held - - - der Haddedihn - - -?“

Er bewegte den Kopf; er kehrte das Gesicht dem Sohne zu, doch ohne die Augen aufzuschlagen. Dann sprach er weiter:

„Auch hier - - -? Zu mir - - - ge- [313] kommen? - - - Ich sah ihn schon - - -! Geritten - - -?“

„Ja, mein Vater.“

„Auf - - - auf welchem Pferde?“

„Auf Ghalib, den du mir schenktest, damit er mich lieben und meinen Willen verstehen lerne.“

Da ging ein schneller, energischer Ruck durch Halefs Körper.

„Steig auf!“ sagte er.

„Auf Ghalib?“ fragte Kara.

„Ja.“

„Jetzt? Hier?“

„Ja - - -! Der Stamm der Haddedihn - - - bist du - - -! Ich will - - - die Tapfern sehen!“

Dieser Befehl erklang in mattestem Tone und trotzdem so willenskräftig. Kara sah den Pedehr fragend an.

Dieser nahm ihn bei der Hand, um ihn von dem Lager weg und hinaus auf den Vorplatz zu führen. Dabei hörte ich, daß er ihm die Unterweisung gab:

„Der Braune muß so schnell wie möglich gesattelt werden. Du legst alle deine Waffen an und kommst so, wie man sich in den Kampf begiebt, herein und bis zu deinem Vater hingeritten. Das muß so sein! Dein Anblick giebt ihm neue Lebenskraft. Beeile dich, mein Sohn!“

Halef war jetzt still; aber er wartete. Seine zwar nur leisen, aber ungeduldigen Bewegungen verrieten das. Nach einigen Minuten - es waren wohl kaum mehr als fünf - erklang seine Stimme wieder:

„Kara - - - schnell - - - schnell - - -! Ich habe - - - habe - - - keine Zeit - - -!“

Der Ton war so ängstlich, daß Hanneh rasch auf- [314] stand und an die nächste Säule trat, um nachzuschauen. Da kam der Pedehr auch schon herein.

„Es eilt!“ sagte sie zu ihm.

„Er kommt sofort,“ antwortete er. „Sei mutig, und sei still! Dieser Augenblick wird viel entscheiden. Knie hin zu ihm; du wirst ihm nötig sein!“

Sie folgte dieser Aufforderung soeben, als Halef die nur noch mit Mühe hervorgebrachten Worte hören ließ:

„Er - - - er kommt nicht - - -! Ich muß - - - muß gehen!“

Da aber gab es draußen lauten Schlag der Hufe. Treppenstufen zu ersteigen, das war dem edlen Ghalib ungewohnt; er schien sich zu weigern.

„Jallah, kawahm, kawahm - vorwärts, schnell, schnell!“ erscholl Kara's aufmunternde Stimme.

Da nahm der Braune mehrere Stufen auf einmal und kam von der letzten aus in einem weiten, ärgerlichen Sprung hereingeflogen, um hart an Halefs Lager angehalten zu werden und dort, wie aus Erz gegossen, still zu stehen. Der junge Haddedihn hatte das Messer und die Pistolen in den Gürtel gesteckt, die kunstvoll ausgelegte Beduinenflinte quer über dem Rücken und die lange, doppelschneidige Lanze in der Hand. Das kraftvoll schöne Bild eines Beduinenkriegers, so sah er blitzenden Auges auf den kranken Vater nieder.

Dieser öffnete die Augen und richtete den Blick zu seinem Sohn empor. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Hanneh ihm die Arme unter Kopf und Schultern schob, um ihn ein wenig aufzurichten.

„Ghalib - - - der Unbesiegliche - - -!“ sagte er. „Er trägt - - - die Zukunft - - - meiner Haddedihn - - -! Doch die - - - Vergangenheit [315] - - - stirbt nicht - - - stirbt nicht - - -! Die bin - - - bin ich - - - mit ihm die - - - Gegenwart - - -! Ich bleib bei euch - - - bei euch - - -! Ich will - - - ich will - - - ich will - - -! Kara - - - Hanneh - - - mein Leben - - - kehrt zurück!“

Er hielt den frohen Blick noch einige Zeit auf Kara gerichtet; dann schloß er die Augen. Hanneh bettete ihn wieder bequem in die Kissen. Mir kam es vor, als ob sein Gesicht jetzt einen ganz, ganz andern Ausdruck habe, nicht mehr den leichenhaften wie vorher. Kara stieg vom Pferd und führte es so leise wie möglich hinaus. Hanneh sah den Pedehr ängstlich fragend an. Er nahm sie bei der Hand, zog sie empor und sagte:

„Die Hoffnung ist erwacht! Komm mit! Wir wollen ihm einen stärkenden Trank bereiten. Wenn er ihn zu sich nimmt, so wird er gerettet sein!“

Als sie miteinander fortgegangen waren, kam Kara wieder herein, erst für einige Augenblicke zu mir; dann setzte er sich zu seinem Vater, welcher zwar nicht ganz wach zu sein aber auch nicht zu schlafen schien. Er bewegte bald dieses und bald jenes Glied in einer Weise, welche darauf schließen ließ, daß es nicht unwillkürlich, sondern absichtlich geschehe.

Dann kehrte der Pedehr mit Hanneh zurück. Ich vermutete, daß in dem Gefäße, welches sie trug, von demselben ausgepreßten Fleischsaft sei, der auch mich so gestärkt hatte. Er wurde Halef mit Hilfe des Löffels gegeben; er weigerte sich nicht, ihn anzunehmen, und fiel dann sogleich in einen ruhigen Schlaf, von dem der Pedehr sagte, daß er wenigstens bis zum nächsten Morgen dauern werde.

Hanneh und Kara waren unbeschreiblich glücklich [316] hierüber und stellten, als ich mich jetzt wieder wie gestern hinaus in das Freie schaffen lassen wollte, die Bitte an mich, ihnen da draußen zu erzählen, was ich seit unsererTrennung von den Haddedihn mit Halef erlebt hatte. Dagegen aber erhob der Pedehr ganz entschieden Einspruch. Er wies sie auf die Anstrengungen ihres eigenen Rittes hin und machte sie allen Ernstes darauf aufmerksam, daß sie sich jetzt unbedingt ganz gründlich auszuruhen hätten. Halef bedürfe ihrer heut nicht mehr, da sowohl er als auch Schakara in bester Weise für ihn sorgen würden. Sie mußten gehorchen, und so kam es, daß ich dann später ganz allein draußen vor der Halle saß, um dasselbe Schauspiel des Sonnenuntergangs zu genießen, welches mich gestern schon so erhoben hatte.

Wie viele Menschen habe ich schon sagen hören, daß man die Schönheiten der Natur niemals allein, sondern stets in Gesellschaft genießen müsse. Ich bin da ganz anderer Meinung. Schon das Wort „genießen“ scheint mir da falsch gebraucht zu sein. Ich könnte mit ganz demselben Rechte sagen, daß ich eine Predigt, ein Oratorium, ein Kirchenlied „genießen“ wolle. Auf mich wirkt die Natur erhebend, und zugleich veranlaßt sie mich zur Einkehr in mich selbst. Ich bin ein Teil von ihr und kann sie nicht schauen, ohne mit ihr auch mich zu betrachten. Gesellschaft anderer Leute würde mir da nur hinderlich sein. Durch den Wald will ich allein spazieren, außer ich bin gesellschaftlich gezwungen, noch jemand mitzunehmen. Plauderei entheiligt mir die That. Denn ein solcher Gang zum predigenden Walde ist für mich eine That, und zwar nicht bloß eine körperliche, sondern mehr noch eine seelische. Werde ich begleitet, so bringe ich fast nichts mit heim, als nur die Erinnerung an das, was gesprochen worden ist.

[317] Ganz ebenso ist es mit dem Sonnenauf- und mit dem Sonnenuntergang. Jede Bemerkung, jede Interjektion, sei sie auch noch so begeistert, muß, falls ich sie anzuhören habe, die Erhabenheit und Heiligkeit des Augenblickes mindern. Ich habe menschliche Gesellschaft gern, wie ich überhaupt die ganze Menschheit herzlich liebe; aber die Natur will ich in ungestörter Einsamkeit auf mich wirken lassen, und meine schönsten und gewiß auch besten Lebensstunden sind die, in denen ich in stiller Nacht und ohne einen Plauderer neben mir dem ewig frommen und ewig treuen Sternenhimmel in seine leuchtend hellen Augen sehe.

So auch heut, wo ich allein und von höflicher Rücksicht frei vor der Halle des „hohen Hauses“ saß. Ich kenne ein Bild, „Die Genesende“ unterzeichnet. Eine weibliche Gestalt sitzt bleichen Angesichtes in hochgelegener, offener Laube, von welcher aus einer der herrlichsten Punkte des Rheintales zu überschauen ist. Soeben dem Tode entronnen, hat sie das Krankenzimmer mit dieser freien, vom Blumendufte umwehten Stelle vertauscht, um neues, sonniges Leben einzuatmen. Sie nimmt es mit einem stillen, milden, unendlich dankbaren Lächeln entgegen; aber die großen, ernsten Augen sind nicht hinunter auf die glitzernden Fluten des Stromes oder die grünenden Rebenhänge, sondern weit, weit hinaus in die grenzenlose Ferne gerichtet, die selbst den Horizont unter sich nur als trügerische Vorspiegelung des Menschenauges kennt. Es ist, als ob diese Augen, welche nur Unbegrenztes schauen, noch immer nach der unsichtbaren Pforte jener Geheimnisse suchten, deren Schlüssel in der verschwiegenen Erde des Friedhofes vergraben liegt. Die Seele, welche sich von dem Körper trennen wollte, hat die Verbindung mit ihm noch nicht vollständig wieder hergestellt. Sie [318] zieht den Blick hinaus, dorthin, wohin sie heimwärts gehen wollte, dem Taucher gleich, der nach vollbrachtem Tagewerke sich von der schweren, unbehilflichen Rüstung trennt und sie am Strande liegen läßt, um, wonnig atmend, wieder frei zu sein. -

An dieses Bild dachte ich am heutigen Abend, was leicht erklärlich war. Auch ich stand im Genesen und fühlte jenen weichen, tief empfänglichen Ernst in mir, dem es ein Bedürfnis ist, über den Horizont der Endlichkeit hinauszuschreiten. Dort, jenseits dieser Grenze, giebt es dann ebenen Weg; die Zeit der Schlagbäume ist überstanden, und kein niederes Interesse kann den Blick von jenen Höhen lenken, in denen nicht einmal die Sterne mehr die Namen tragen, die ihnen von den Menschen gegeben worden sind. Sie wandeln groß und erhaben über uns, und wer ihnen mit dem Herzen, nicht mit dem Rohre folgt, dem offenbaren sie viel mehr, viel mehr, als man durch dieses Rohr über sie erfahren kann. Keine noch so kunstvoll gearbeitete teleskopische Linse wird jemals an Schärfe das Auge der Seele erreichen!

Während ich mich bis fast Mitternacht im Freien befand, saß Schakara bei Halef. Der Pedehr war bei dem Ustad, in dessen Wohnung heut eine wichtige Beratung stattfand, welche nicht in der Halle abgehalten werden konnte, weil diese ja uns überlassen worden war. Der Scheik der Dschamikun kam grad, als ich mich wieder hinein nach meinem Lager bringen ließ. Er teilte mir mit, worüber verhandelt worden war.

„Wir haben über das beabsichtigte ‚Fest der fünfzig Jahre‘ gesprochen,“ sagte er.

Ein persisches Fest dieses Namens war mir nicht bekannt. Darum sah ich ihn fragend an.

[319] „Hat dir noch niemand etwas hiervon gesagt? erkundigte er sich.

„Nein.“

„Auch Schakara nicht?“

„Nein.“

„Sie hätte gewiß sehr gern davon gesprochen, denn dieses Fest beschäftigt uns alle schon seit längerer Zeit; wahrscheinlich aber ist ihre Meinung gewesen, auch in diesem Punkte gehorsam sein zu müssen. Der Ustad hat nämlich befohlen, euch nicht mit fremden, also auch nicht mit unsern Angelegenheiten zu behelligen. Ihr mußtet unberührt von jeder innern Störung bleiben. Deine Genesung aber, Effendi, ist so weit vorgeschritten, daß ich nun unbedenklich zu dir von diesem Feste sprechen kann. Es gab einen Kampf zwischen dem Ustad und uns, der ein Kampf der Liebe war. Unser Herr wünschte nicht, daß dieses Fest gefeiert werde. Heut abend aber haben wir ihm die Erlaubnis durch unsere vereinten Bitten abgerungen. In zwei Wochen nämlich werden es fünfzig Jahre, daß er zum erstenmal in ein Zelt unseres Stammes trat, und die Dankbarkeit gebietet uns, diesen Tag feierlich zu begehen. Er hat sich bisher ablehnend verhalten; heut aber ließ er sich überzeugen, daß es ein Herzensbedürfnis für uns sei, und hat uns die Genehmigung erteilt - nicht seinet-, sondern unsertwegen, sagte er. Ihr seid zu dieser Zeit noch hier bei uns, ein Umstand, über den wir uns alle freuen - - -“

„Wird euch diese Freude nicht vielleicht von Hadschi Halef getrübt werden?“ fiel ich ein.

„Diese Frage war natürlich von dir zu erwarten. Ich möchte dir gern sagen, was ich denke, befürchte aber, daß du über mich lächeln wirst.“

„Dann bin ich beruhigt! Wenn es nichts Schlimmeres [320] als nur ein Lächeln ist, was du von mir erwartest, mußt du in Beziehung auf ihn wohl gute Hoffnung hegen!“

„Ja, die habe ich. Mein Ausdruck ‚Lächeln‘ aber war anders gemeint. Ich bezog ihn nicht auf Halefs Genesung, sondern auf deine Gedanken. Ich habe als sein Arzt Ansichten, welche vielleicht sehr fern von den deinen liegen, das ist es, was ich meinte.“

„Du bist der Hekim1) [1) Arzt.]; ich aber bin der Laie. Wie könnte es mir beikommen, über dich zu lächeln!“

„Und doch! Denn was ich dir sage, wird nicht die Ansicht allein des Hekim sein. Ich habe es mit einem schwerkranken Menschen zu thun. Wer und was ist das Wesen dieses Menschen? In welcher Beziehung stehen seine Teile zu einander? Das muß ich wissen, wenn ich ihn richtig behandeln soll. Ich vermute aber, daß du über diese Fragen ganz anderer Meinung bist als ich.“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Keinesfalls aber werde ich für deine Gedanken nichts anderes als ein Lächeln haben. Ich bitte dich, sie auszusprechen!“

„So höre!“

Er sprach zwar diese beiden Worte, doch ließ er mich zunächst nichts weiter als nur sie hören. Er hatte sich an meinem Lager niedergesetzt, das Gesicht mir voll zugewendet. Jetzt hob er den Kopf und schaute in das stille, bescheidene Licht der Kerzen, welche in der Nische brannten. Es war, als ob er durch dieses Emporblicken ein ganz anderes Gesicht bekommen habe. Wie rein, wie edel erschienen mir die Linien desselben, die bei unserm ersten Zusammentreffen von häßlichem Schmutz bedeckt gewesen waren! Die Kerzen sandten ihm ihre Flämmchen als winzig kleine und doch fast strahlend helle Punkte in [321] die schönen Augen. Das lange, graue Haar gab einen ganz eigenartigen, lebendig wallenden Rahmen zu diesem Bilde. Da kam eine Erinnerung über mich. Ich sah mich im Atelier eines Freundes. Er arbeitete an einer Darstellung aus der Offenbarung Johannis. Ich sah die Studienblätter durch. Eines von ihnen fesselte mich ganz besonders. Unter einem eingefallenen, nach oben offenen Mauerbogen saß der Seher und schaute himmelan, nach einer Oeffnung in den dunklen Wolken, aus welcher eine Fülle jenseitigen Lichtes auf ihn niederstrahlte. Darunter war zu lesen: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ Das mit diesen Worten wunderbar harmonierende Gesicht des Inspirierten hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; es war mir lange, lange geistig gegenwärtig geblieben, bis neue Regungen es in Vergessenheit hatten geraten lassen. Und nun sah ich es plötzlich wieder, in mir und auch außer mir. Denn die Züge des Pedehr glichen in diesem Augenblicke fast ganz genau denen jener Studie, und es war gewiß nicht zu verwundern, daß sie auch dieselbe Wirkung auf mich hatten. Es ging etwas durch mein Inneres, was mich begreifen ließ, daß man unter den Trümmern des Veralteten sitzen könne, um den Blick empor zum Neuen, wirklich Wahren zu erheben.

Grad so, als ob dieser mein Gedanke für ihn laut und vernehmlich geworden sei, wendete sich jetzt der Pedehr mir wieder zu und sagte:

„Es ist für dich wohl ein Neues, was ich dir mitteilen werde. Ich bitte dich, mir meine Frage zu beantworten: Weißt du, was Geist ist?“

„Nein.“

„Weißt du, was Seele ist?“

[322] „Nein.“

„Meinst du, daß beides das Gleiche sei?“

„Nein.“

„Weißt du, was Körper ist?“

„Auch nicht.“

Da ging ein so liebes, kluges Lächeln des Einverständnisses über sein Gesicht, und er sprach:

„Ich würde dir das Lob deiner Bescheidenheit nicht versagen, aber du hast es nicht verdient. Du erwartest, von mir zu hören, was du mir nicht sagen willst. Und weil dir die Wahrheit dessen, was du mir sagen könntest, als nicht ganz zweifellos erscheint, so ziehest du vor, diese Zweifel nicht an deine, sondern lieber an meine Worte legen zu können. Du sollst deinen Willen haben. Wer Schonung bietet, der darf wohl selbst auch auf sie rechnen.“

Wie das so klang! Saß da wirklich nur ein ungebildeter Dschamiki vor mir? Zwar der Scheik des Stammes, aber doch ein Mann, der in Beziehung auf seinen äußern und auch innern Werdegang allen andern Dschamikun gleichzurechnen war? Wenn seine geistige Persönlichkeit bedeutend höher stand, als man nach seiner Lebensstellung schließen durfte, so konnte das nur eine Folge seines langjährigen Verkehres mit dem Ustad sein. Hatte ich aber dieses angenommen, so trat sogleich die weitere Frage an mich heran, in welcher Weise und auf welchem Wege wohl dieser letztere zu einer so hohen Entwickelung seiner Individualität gelangt sein könne. Dieser mein Gedankengang wurde durch den Pedehr unterbrochen, welcher weiter sprach:

„Hast du Geist, Sihdi?“

„Ich hoffe es,“ antwortete ich.

„Nein, hoffe es nicht! Du hast zwar dieses Phan- [323] tom, aber eigentlich hat es dich: du bist sein Sklave! Hast du Seele?“

„Meinst du eine Seele oder Seele überhaupt?“

„Sei nicht der spitzfindige, gelehrte Europäer, sondern antworte mir. Hast du Seele?“

„Ja.“

„Nein, sondern auch sie hat dich; aber sie ist kein Phantom, sondern eine erhabene, göttliche Wahrheit, der wir unser Anrecht auf die Seligkeit verdanken. Das sagt ein halbwilder Asiat dem von der Weisheit dieser Welt erzogenen Abendländer. Ob letzterer es glauben wird, das ist wohl sehr die Frage. Der Osten hat den Westen schon so manches gelehrt, was entweder nicht geglaubt oder nicht verstanden worden ist. Und nun der Orient dieser vergeblichen Belehrung müd geworden ist, behauptet man, daß er alt und schwach geworden sei. Doch, ich wollte ja nicht vom Ilmi ahwali nefs1) [1) Psychologie.], sondern nur als Hekim von der Krankheit unseres Hadschi Halef zu dir sprechen. Ueber die Seele magst du mit dem Ustad reden, der von ihr wohl noch mehr weiß, als was in seinen Büchern steht.“

„Bücher?“ fragte ich. „Er hat Bücher?“

Da schaute mich der Pedehr mit einem Blicke an, der mir die Röte in die Wangen trieb, und antwortete:

„Ob - er - Bücher - hat -! Er besitzt sogar vier große, große Bibliotheken! Die erste besteht im Kitab el mukkades2) [2) Bibel.]; die zweite ist sein Herz, in welchem tausend herrliche Suren stehen; die dritte umfaßt alles, was die Schöpfung seinem Auge lehrt, und die vierte wirst du sehen, wenn du so weit genesen bist, daß du die Treppe emporsteigen kannst, um ihn in seiner Wohnung aufzu- [324] suchen. Da wirst du viele, viele Bände finden, die in Sprachen geschrieben sind, von denen ich ein Wort weder lesen noch verstehen kann. Wenn ich ihn nach dem Inhalte frage, so antwortet er, daß die ganze Summe alles dessen, was geschrieben ist, nichts anderes als der Ausruf sei, den die Pilger ausstoßen, wenn sie nach langer, mühsamer Wanderung endlich Mekka liegen sehen: ‚Hier bin ich, o mein Gott!‘ Die noch viel längere und viel schwerere Reise durch diese Bände schließe ganz genau mit denselben Worten ab. Ich habe einen großen Teil meines Lebens da oben bei ihm und seinen Büchern gesessen, um seinen Worten zu lauschen und sie in mir nachklingen zu lassen. Daß ich meinen Stamm durch Kampf und Leid zum Frieden führte, habe ich ihm zu verdanken, und daß man mich als einen guten Hekim kennt, ist auch eines seiner Werke, für welche ihm die Liebe der Dschamikun zu danken hat. Grad die Krankheit, welche auch dich und deinen Halef ergriff, hat früher große und schwere Opfer von uns gefordert. Der Ustad aber hat ihre Macht gebrochen, indem er uns lehrte, wie sie zu behandeln sei. Ahnst du, warum sie so gefährlich sei, gefährlicher als viele, viele andere?“

„Sage es mir!“

„Du weißt es nicht, und eure Aerzte wissen es auch nicht.“

„Ich vermute, der langen Betäubung wegen, die sie mit sich bringt.“

„Du triffst das Richtige. Aber sage mir, was der Grund dieser Betäubung ist!“

„Die Seele zieht sich vom Körper zurück.“

„Ja. Aber warum?“

„Natürlich der Krankheit wegen.“

„Du wandelst im Kreise, Effendi. Und du kennst [325] die Seele nicht. Hast du einmal den Ausdruck ‚gute Seele‘ gehört?“

„Ja.“

„Böse Seele?“

„Nein.“

„Jetzt kommt das Neue, was ich dir sagen wollte. Nämlich es giebt keine böse Seele. Die Seele scheut alles Böse, sogar schon alles Häßliche. Das Böse und das Häßliche hat nur darum so große Macht über uns, weil die Seele davon abgestoßen wird. Sie zieht sich zurück; dann stehen wir ohne ihren Schutz allein. Der Mensch soll seine Seele nicht versuchen, sondern alles meiden, was sie, die sich nicht beflecken will, beleidigen muß. Er soll sie ja nicht zwingen, sich von ihm, wenn auch nur für die kürzeste Zeit, zu trennen. Hast du schon einmal gesehen, daß ein Mensch in Ohnmacht fällt?“

„Schon oft.“

„So wirst du wissen, daß der Grund fast stets ein böser oder häßlicher war. Bei bösen Dünsten, bei häßlichen Gerüchen oder gar bei wirklichem Gestank befindet sich der Mensch nicht wohl; er atmet schwer; er kann sogar das Bewußtsein verlieren. Die Seele zieht sich von den Sinnen zurück, welche ihr diese Schmerzen bereiten. Wird dir dein Haus oder Zelt so verunreinigt, daß du es nicht mehr aushalten kannst, so verlässest du es. Nun denke über deine Veilchen und über Halefs Rosen nach!“

„Ah! Ich beginne zu begreifen!“

„Diese Krankheit löst gewisse feine Körperteilchen auf, ohne sie aber ausscheiden zu können. Der Verwesungsprozeß beginnt bei lebendem Leibe. Der Geruch wird dir das bewiesen haben. Ich fürchte dein Lächeln und will dir deshalb und einstweilen nur sagen, daß wir die duftenden Rosen und Veilchen nicht etwa nur darum [326] zu euch gestellt und dein Lager mit ihnen bestreut haben, um unsere Nerven des Geruches zu schonen. Es ist vorzugsweise aus andern und tiefern Gründen geschehen. Bin ich ein guter Hekim, so habe ich mein Augenmerk nicht allein auf den Körper, sondern auch auf die Seele zu richten. Ich muß aus allen Kräften und mit allen Mitteln dahin wirken, daß sie sich nicht gänzlich vom Körper loslöse. Du ahnst nicht, wie oft du während deiner langen Bewußtlosigkeit im reinigenden Wasser gelegen hast. Diese Bäder haben noch ganz andere Gründe als nur die Säuberung des kranken Körpers! Lächelst du?“

„Nein.“

„Es schien mir so! Wenn die Zersetzung des Körpers so weit vorgeschritten ist, daß die Seele die Sinne nicht mehr berühren kann, dann ist der Kranke aufzugeben. Darum setzte ich bei Halef meine Hoffnung darauf, daß er noch werde sehen, hören und sprechen können. Sie hat mich nicht betrogen. Aber die Seele des Leidenden darf nicht bloß können, sondern sie muß auch wollen. Es war ein wunderbar glücklicher Gedanke von dir, zu den Haddedihn zu schicken, daß Kara Ben Halef kommen solle. Und die vortreffliche Wirkung wird dadurch verstärkt, daß er seine Mutter mitgebracht hat. Der Anblick dieser beiden Lieben hat die Seele gezwungen, mit dem Körper verbunden bleiben zu wollen. Denn, glaube mir, der Leib hat keine Macht, die Seele zu halten, wenn sie sich nicht halten lassen will oder halten lassen darf! Gelingt es dem Arzte, dieses seelische Wollen zur Energie zu steigern, so kann er doppelt frohe Hoffnung hegen. Halef kam mir da mit seinem Wunsche entgegen, seinen Sohn zu Pferde und als Krieger sehen zu wollen, und du weißt, wie gern und schnell ich hierauf eingegangen bin. Ich glaube nun, daß er gerettet ist.“

[327] „Du glaubst es nur?“

„Ja.“

„Wie gern möchte ich hören, daß du überzeugt seist!“

„Warte bis morgen!“

„Giebt es da eine Entscheidung?“

„Wahrscheinlich. Halef ist doch, wie ich gesehen habe, ein ausgezeichneter Reiter?“

„Nicht nur das. Er ist mit ganzer Seele bei allem, was das Pferd betrifft.“

„Mit ganzer Seele! Das ist das, was ich wünsche, denn diese seine Seele ist dadurch zu fassen. Ich denke dabei an den Wettritt zwischen euch beiden und uns. Du wirst dabei bemerkt haben, daß ich wahrscheinlich ein guter Scheik oder Hekim, aber kein tadelloser Reiter bin. Der innige Umgang mit dem Ustad hat mir nicht erlaubt, in der notwendigen, immerwährenden Uebung zu bleiben. Wäre das nicht, so hätte ich die Stute besser geritten und wäre von dir wenigstens nicht so schnell eingeholt worden. Ich erinnere mich, daß Halefs Augen leuchteten. Liebt er solche Anstrengungen der Pferde?“

„Ein Wettreiten auf edlen Rossen geht ihm über alles!“

„Wohl! Es wird bei dem geplanten Feste ein solcher Ritt stattfinden - - -“

„Das ist ja in zwei Wochen schon!“ unterbrach ich ihn. „Ich befürchte, daß er da noch zu schwach ist.“

„Allerdings. Er soll auch nicht etwa mitreiten. Aber schon das Wort, der Gedanke wird von guter Wirkung auf ihn sein. Ich vermute, daß er morgen nicht nur für einige kurze Minuten erwacht. Finde ich, daß ich es wagen darf, so werde ich ihm über diesen Wettritt eine Bemerkung machen. Wirkt sie so, wie ich erwarte, so wird das geschehen, was du vorhin wünschtest: Mein [328] Glaube, meine Vermutung wird sich in Ueberzeugung verwandeln. Aber freilich, kein Mensch und also auch kein Hekim ist allwissend. Wo wäre ein Sterblicher, der zu sagen vermöchte, was schon im nächsten Augenblicke mit ihm geschehen kann. Aber nach menschlichem Ermessen bist du gerettet, Effendi, und ich hoffe, von dem Hadschi morgen dasselbe sagen zu dürfen.“

„Das, o Pedehr, haben wir nur euch zu verdanken, eurer Nächstenliebe und der aufopfernden Pflege, welche - - -“

„Still, still!“ unterbrach er mich. „Sprechen wir lieber von dem Geschenk, welches ich dir morgen zu machen gedenke!“

„Ein Geschenk? Auch noch?“

„Ja.“

„Darf ich schon heut erfahren, was es ist?“

„Ja. Denn ich meine, daß man eine Freude nie zu früh bereiten könne.“

„Nun, so sage es! Was ist es?“

„Rate einmal, Sihdi!“

„Unmöglich! Es giebt so vieles, womit du mich in deiner Güte erfreuen und stützen könntest.“

„Stützen, stützen! Das ist es ja! Du hast es fast erraten!“

„Also stützen? Etwa ein Stock?“

„Ja. Ein Stock. Du sollst morgen versuchen, zum erstenmal wieder aufrecht zu gehen. Und wenn es nur einige Schritte sind, so wird es dich doch stärken.“

„Stärken! Jetzt bist nun du es, der das richtige Wort getroffen hat. Stärken! Daß ich daran denken darf, morgen diesen Versuch zu unternehmen, das läßt schon jetzt mich fühlen, daß es mir gelingen wird. Wie doch schon im Gedanken eine so große Wirkung liegt.“

[329] „So schlafe dich recht aus! Es ist schon spät geworden. Chodeh behüte dich!“

Er ging, und ich that, was er gesagt hatte: Ich schlief tief bis in den nächsten Vormittag hinein.

Als ich erwachte, sah ich Hanneh und Kara bei Halef sitzen. Eben kam Schakara vom Vorplatze herein. Sie sah meine Augen offen, nickte mir still zu und glitt wortlos hinaus, um mir meinen Morgentrank zu holen. Da sie ihn mir brachte, wurden die beiden andern auf mich aufmerksam und kamen zu mir herbei. Ich hörte von ihnen, daß Halef zwar noch schlafe, aber sich zuweilen leise bewege. Der Pedehr hatte angeordnet, sofort zu ihm zu schicken, sobald der Kranke die ersten Zeichen gebe, daß er wieder bei sich sei.

„Wieder bei sich sei!“ Diese Worte ließen mich an meine gestrige Unterhaltung mit dem Genannten denken. „Wieder bei sich!“ Wer ist dieser „Sich“? Dieser „Er“ oder diese „Sie“? Dieses Wesen, diese Persönlichkeit?

Nach der Ansicht des Pedehr ist es die Seele. Der „Geist“ ist ihm Phantom. Er kennt am Menschen nur den Körper und die Seele. Die letztere ist das eigentliche Wesen. Was nun aber ist der Leib? Die Seele kann sich von ihm trennen. Unter gewissen Umständen wird aus diesem Können ein Wollen, welches sich sogar - jedenfalls beim Sterben - zum unbedingten Müssen steigert. Ist sie die Herrin und der Leib der Diener? Oder ist dieses Verhältnis für ihn vielleicht ein noch viel niedrigeres? Gleicht er einer, allerdings aus Organen zusammengesetzten, Maschine, welche im Schlafe zu ruhen hat, während sie zu dieser Zeit heimkehrt, um für den morgenden Tag neue Aufgaben und neue Kräfte zu empfangen? Bleibt sie auch während dieses seines Schlafes und während dieser ihrer Abwesenheit durch geheimnis- [330] volle Fäden oder Beziehungen so mit ihm verbunden, daß sie bei jeder Störung zu seinem Schutz zurückgerufen wird? Und wenn es so ist, wo liegt das Heim, zu dem sie einst am Grabe völlig Rückkehr feiert? Im Leibe keinesfalls! Die chemisch-mechanische Thätigkeit gewisser Organe in ihm wird selbst durch die tiefste Ohnmacht nicht beendet, denn diese Kräfte wirken unaufhörlich weiter, bis der dazu nötige Stoff vollständig aufgezehrt worden ist. Aber das willkürliche Leben ist unterbrochen, und alle ihm zugehörigen Bewegungen sind eingestellt, bis sie, die Herrin, wiederkehrt, um den „entseelten“ Körper aufs neue zu „beseelen“.

Was gestern vom Pedehr hierüber gesagt worden war, das hatte so einfach, so naiv geklungen. Natürlich hatte er unrecht, er, der geistig arme Mann im unkultivierten Kurdenlande! Mit welch einem unendlich zusammengesetzten und ebenso imponierenden Apparate behandelt dagegen unsere gelehrte Psychologie dieses „Seele“ genannte, mit hundert Armen und Beinen zappelnde Gliedertier! Natürlich hat sie recht, diese auf allen Akademien gepflegte und von allen seelenvollen Menschen anerkannte Wissenschaft! Und Geist? Ein Phantom? Ist es nicht grad der Geist, dem wir diese tiefeingehende, beglückende Wissenschaft über die Seele verdanken? Ist nicht er es, der uns mit dem Animismus, dem Okkultismus, dem Spiritismus, der Pneumatologie und ähnlichen übersinnlichen Geschenken gesegnet hat? Und dieser Geist, der die Menschen sogar Geister sehen und mit Geistern sprechen läßt, soll ein Phantom sein? Pedehr, Pedehr, du bist ein lieber, guter Mensch, bist mein und Halefs Retter, ragst seelisch über Tausende empor, doch muß ich dir es sagen: Du hast nicht eine einzige Spur von Geist! -

Man kann sich denken, daß ich an den Stock dachte, [331] der mir für heut versprochen worden war. Die liebe Ungeduld verleitete mich zu der Bitte an Schakara, ihn mir doch recht bald zu bringen. Sie versprach es lächelnd, that es aber nicht, wenigstens nicht gleich.

Es mochte gegen Mittag sein, als Halef die ersten Zeichen gab, daß er erwache. Kara eilte sofort aus der Halle, um den Pedehr zu holen. Als dieser kam, hatte er den Stock in der Hand; er gab ihn mir.

„Ich halte mein Versprechen,“ sagte er, „doch warte noch ein wenig. Ich werde dich hinab zu Assil tragen lassen. Dort wirst du im Schatten der Platanen bis zum Abend ungestört sein und dich wohlbefinden.“

Kaum hatte er das gesagt, so ließ sich Halefs Stimme hören:

„Kara, mein Sohn!“

„Hier, mein Vater,“ antwortete der Gerufene, der neben dem Pedehr gestanden hatte und nun hin zu dem Hadschi eilte.

„Ich sah dich auf dem Ghalib. Weißt du, wann das war?“

„Gestern war's.“

„Wo?“

„Hier.“

„Hier? Wo ist das?“

„In dieser Halle.“

„Halle? Warte! Ich will sie sehen!“

Er kehrte seinem Sohne langsam das Gesicht zu und öffnete die Augen. Ihr Blick ging, soweit er reichen konnte, von Person zu Person, von Stelle zu Stelle. Als er mich in meiner Ecke sah, fragte er:

„Wer liegt dort? Ist das nicht mein Sihdi?“

„Ja, ich bin es, mein Halef,“ antwortete ich.

„O, Sihdi, Sihdi, ich besinne mich. - Ich war sehr [332] krank. - Ich bin es noch. - Ich starb bereits. - Da rief man mich zurück. - Ich hab sehr viel gesehen. - Doch weiß ich es nicht mehr. - Vielleicht fällt es mir wieder ein. - Ich will nicht sterben. - Ob ich wohl noch leben bleibe?“

Er sprach nur in kurzen Sätzen, leise, aber hörbar. Nach jedem Satze sammelte er sich und holte tief Atem. Als eine Weile vergangen war, bat er:

„Hanneh - Kara - - steht auf! - Ich will euch ganz sehen. - Ich liebe euch!“

Sie thaten nach seinem Willen. Da begann sein Auge, sich mehr zu beleben.

„Mein Weib! Wie danke ich dir! - Mein Sohn! Wie schön warst du auf deinem Pferde! - War Ghalib sehr ermüdet?“

„Nur ein einziges Mal,“ antwortete Kara.

„Hast du für ihn gesorgt?“

„Ja.“

„Für Barkh auch?“

„Ja, mein Vater.“

„Wenn ich sie sehen könnte!“

Im Nu eilten Hanneh und Kara hinaus, um die Pferde zu holen. Als sie die beiden brachten, kam Assil aus eigener Machtvollkommenheit hinterher gelaufen. Er wußte, wo ich lag, und wendete sich zu mir. Die zwei andern wurden hin zu Halef geführt. Dieser bekam plötzlich Kraft, den Arm erheben zu können.

„Barkh, mein Liebling! - Komm her zu mir!“ sagte er, indem er die Hand nach dem Rappen ausstreckte.

Dieser trat ganz zu ihm heran, spielte mit den Ohren und nahm die dargebotene Hand in die Lippen.

„Mein Guter! - Mein Treuer! - Du hast dich nach mir gesehnt! - Ich sehe es dir an!“ klagte der [333] Kranke. „Er hat gehungert! - Wie ist's damit? - Sag es mir, o Pedehr!“

„Es ist so, wie du sagst,“ antwortete der Gefragte. „Wenn sie auch nicht gehungert haben, so konnte Schakara sie doch oft nur dadurch zum Fressen bringen, daß sie ihnen ihr grünes Lieblingsfutter gab.“

„Wenn ich gesund bin - - - wird Barkh wieder fressen - - wie vorher. - - Aber ob ich nicht - - doch sterben werde?!“

„Du wirst leben bleiben!“

„Glaubst du das?“

„Ja.“

„Wirklich?“

„Gewiß! Du wirst von heut an so schnell genesen, daß du wahrscheinlich schon bei unserm großen Wettrennen zugegen sein kannst.“

„Wettrennen?“ fiel Halef rasch und hörbar kräftig ein. „Giebt es ein Rennen?“

„Ja.“

„Wo?“

„Hier. Rund um den See.“

„Wann?“

„In zwei Wochen.“

„So ein kleiner Ritt? - Ganz gewöhnlich und gelegentlich?“

„O nein! Es wird ein großes Fest bei uns gefeiert, zu welchem Tausende von Menschen herbeiströmen werden. Es dauert mehrere Tage, und wir werden vieles thun, die Gäste zu unterhalten. Das Hauptstück wird ein Wettrennen sein, welches aus mehreren Abteilungen besteht.“

„Groß? - Mehrere? - Hanneh, Hanneh! - Gieb mir deinen Arm! - Richte mich auf! - Das muß ich weiterhören! - Alles, alles will ich hören!“

[334] Es hatte sich seiner eine Energie bemächtigt, die man vorher für vollständig unmöglich gehalten hätte. Sein Gesicht, sein Blick, seine Stimme, alles, alles war im Handumdrehen anders geworden. Es schien, als ob ganz plötzlich die volle Lebenskraft durch seine Adern pulsiere.

„Reg dich nicht auf! Schone dich!“ warnte der Pedehr.

„Aufregen? Schonen?“ antwortete er. „Ich spreche doch bloß! Ich strenge mich ja gar nicht an!“

Er machte jetzt zwischen den Sätzen nicht mehr, wie vorher, eine Pause, um Atem zu suchen.

„Sag, was für Pferde werden laufen?“ erkundigte er sich.

„Es werden nicht bloß Pferde sein. Wir lassen alle Arten der Tiere laufen, die es bei uns giebt, Schafe, Ziegen, Esel, Maultiere, Lastkamele, Reitkamele, gewöhnliche Pferde, und zum Schlusse wird es mehrere Rennen zwischen Tieren edelster Rasse geben.“

„Wem gehören sie?“

„Das weiß ich noch nicht. Jeder Gast darf sich beteiligen, und es werden viele kommen, welche gute Renner besitzen.“

„Allah, wallah, tallah! Darf ich mich mit melden?“

„Du?“

„Ja, ich!“

„Verzeihe mir, o Scheik der Haddedihn! Eure drei Pferde werden wahrscheinlich die besten sein, und ich bin sehr überzeugt, daß du rasch gesunden wirst; aber die zum Reiten nötige Stärke wirst du in zwei Wochen doch noch nicht besitzen!“

„Wer hat das gesagt? Wer wagt es, das zu behaupten?“

[335] „Jeder Hekim muß das sagen!“

„Allah verderbe alle Hekims, die es - - - Nein, Allah verzeihe mir! Ich will nie wieder solche böse Worte sprechen!“

Hanneh hatte ihn durch Kissen so gestützt, daß er mit dem Oberkörper halb aufrecht lag. Er machte einen geradezu mehr als bloß Hoffnung erweckenden Eindruck. Der Pedehr aber ließ ihn keinen Augenblick aus dem Auge. Wenn er sich auch nichts merken ließ, so war es für ihn doch selbstverständlich, daß auf die jetzige An- oder vielmehr Aufregung die unausbleibliche Abspannung folgen werde.

„Wird mein Sihdi in zwei Wochen wieder hergestellt sein?“ erkundigte sich Halef.

„Ja; aber wettrennen darf er mir noch nicht!“

„Du bist grausam. Aber Kara, meinem Sohne, wirst du es nicht verbieten? Er ist nicht krank.“

„Ich wünsche sogar, daß er sich beteilige.“

„In drei Rennen? Mit jedem unserer Pferde einmal?“

„Wenn du es wünschest, gern!“

„Oh, wüßte ich doch schon jetzt, was für Renner zu besiegen sein werden!“

„Ich kann dir sagen, daß es feine Perser, vorzügliche Turkmenen und echte Araber geben wird.“

„Das ist für heut genug. Kara, mein Sohn, du wirst von jetzt an mit jedem unserer Pferde täglich einen Eilritt unternehmen! Ueberwache sie beim Füttern und beim Tränken! Laß sie - - - laß sie bis zur - - - zur Schnelligkeit der Geheimnisse gehen - - - aber zwinge sie - - - ja zu dieser nicht - - -!“

Er begann jetzt wieder, Pausen zu machen. Seine Stimme wurde matter.

[336] „Hanneh, laß mich wieder nieder!“ bat er.

Sie nahm die stützenden Kissen weg. Nun lag er wieder wie vorher. Da fuhr er langsamer und leiser fort:

„Ghalib wird siegen - - - ganz gewiß! - - - Barkh überholt jedes - - - jedes andere Pferd! - - - Assil Ben Rih aber wird - - - sie alle mit Leichtigkeit - - - mit Wonne in ihre - - - in ihre Schande rennen! Mit dem reinen - - - echten Blut der Haddedihn - - - ist kein anderes - - - kein anderes zu vergleichen - - -!“

Er schloß die Augen. Alle waren still. Nach einiger Zeit hörte ich ihn wie befehlend sagen:

„Kara - Kara, der Bügel - - - ist zu scharf - - -!“

Der Pedehr nickte befriedigt vor sich hin. Was er dann leise zu Hanneh und ihrem Sohn sagte, konnte ich nicht mehr verstehen. Dann aber kam er her zu mir und sagte:

„Ich fürchtete entweder die Gleichgültigkeit oder eine größere Aufregung. Nun bin ich doch zufrieden!“

„Und deine Hoffnung - - -?“ fragte ich.

„Ist zur Gewißheit geworden. Wenn keine unvorherzusehende Störung kommt, wird er gerettet sein. Das Rennen wird ihn beschäftigen, auch wenn er zu schlafen scheint. Ja, es wird ihn vielleicht sogar bis in den Traum begleiten. Er wird, wie du gestern sagtest, ‚mit seiner ganzen Seele‘ ununterbrochen bei diesem Rennen sein und sich an diesem Gedanken zum neuen Leben stärken. Dich aber werde ich jetzt hinunter zu den Platanen tragen lassen. Dort magst du den Stock versuchen, bis er dir später nicht mehr nötig ist.“

Er ging, und gleich hierauf kamen drei Dschamikun, welche mich hinausbringen sollten. Sie trieben zunächst Assil hinaus, was Kara Veranlassung gab, auch Barkh [337] und Ghalib wegzuführen. Hierbei war das laute Geräusch der Hufe nicht zu vermeiden. Halef bewegte sich. Grad als man mich vom Lager hob, öffnete er die Augen.

„Komm her zu mir, Sihdi - - -!“ sagte er, „du sollst - - etwas hören - - etwas sehr - - sehr Wichtiges - - !“

Man setzte mich bei ihm nieder.

„Gieb mir deine Hand!“ bat er.

Ich ergriff die seinige. Er sah mir mit seiner alten Innigkeit in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort:

„Sihdi - - - wie denkst du - - - über das Sterben?“

„Ich denke überhaupt nicht mehr daran,“ antwortete ich.

„Ich auch nicht! - - - Das alte - - - alte Weib - - - ohne Zähne - - -! Weißt du - - -? Sie ist fort - - - ! Sie wollte - - - mich zwingen - - - zum Sterben - - -! Da erfuhr ich - - - daß auch dieses Sterben - - - eine große, große Lüge ist - - - so groß - - - wie es gar keine - - - keine zweite giebt! - - - Sihdi, leg dein Ohr - - - an meinen Mund - - -!“

Ich folgte dieser Aufforderung, da flüsterte er mir zu:

„So lange ich lebte - - - steckte ich im Tabuth1) [1) Sarg.] - - - das ist der Leib - - -! Ich sollte - - - sollte, nein - - - ich wollte - - - wollte, nein - - - ich durfte - - - durfte auferstehen! - - - Da rief jemand - - - im Sarg meinen ganzen - - - ganzen Namen! - - - Das hielt mich in - - - in ihm - - - von neuem in ihm fest! - - - Ich war - - - war nicht allein - - -! [338] Es standen - - - standen - - - ich sah - - - Sihdi, ich kann - - - mich nicht besinnen! Es fällt mir - - - schon noch wieder ein - - - dann sage - - - sage ich es dir!“

Ich behielt seine Hand in der meinen, während er hierauf längere Zeit ohne Wort und Bewegung lag. Plötzlich zuckte er zusammen und rief mit erhobener Stimme aus:

„Sihdi, es giebt ein großes Rennen - - -! Ich muß essen - - - muß trinken - - - muß stark werden - - -! Assil - - - mein Barkh - - - und Ghalib, der Ueberwinder - - -! Ich bin froh - - - daß ich lebe - - -! Wir werden siegen - - - siegen - - - siegen - - -! Hamdulillah - - - Hamdulillah - - - Hamdulillah!“- - -

[339]