Im Reiche des silbernen Löwen 3. Band. Reiseerlebnisse von Karl May Inhalt. Seite 1. Kapitel: In Basra . . . . . . . . 1 2. Kapitel: Ueber die Grenze . . . . . . 67 3. Kapitel: Am Tode . . . . . . . 179 4. Kapitel: Ein Bluträcher . . . . . . 339 5. Kapitel: Ahriman Mirza . . . . . . 534 [1] Erstes Kapitel. In Basra. Jedem Leser von „Tausend und eine Nacht“ ist der Name Basra bekannt, weil die ebenso schöne wie kluge Erzählerin Scheherezade einen Teil ihrer Märchen in dieser einst so hochberühmten Stadt spielen ließ. Basra, früher auch Bassora oder Balsora genannt, ist die älteste der am Euphrat und Tigris gelegenen Khalifenstädte und wurde im Jahre 636 von Omar gegründet, um den Persern die Verbindung mit dem Meere und so den Seeweg nach Indien abzuschneiden. Zu jener Zeit lag an der damaligen, jetzt vollständig vertrockneten Mündung des Flusses die alte Stadt Teredon oder Diridotis, welche wegen der Fruchtbarkeit ihrer Gegend Jahrhunderte lang von den Arabern zu den vier Paradiesen der Moslemin gerechnet wurde. Sie stand seit Nebukadnezar bis zur Zeit der macedonischen Diadochen in Blüte und ist auch uns besonders dadurch bekannt, daß Nearchos, der Jugendfreund Alexanders des Großen, im Herbste des Jahres 325 mit seiner Flotte vom Indusdelta herüberkam und hier in Teredon landete. Zwischen diesem Handelsplatze und Basra entstand ein Wettbewerb, aus welchem die damals noch [2] junge Khalifenstadt als Siegerin hervorging; Teredon verödete, meist wohl auch infolge der allmählichen, aber unaufhaltsamen Versandung des Flusses, während Basra als Stapelplatz der nach Bagdad bestimmten Waren zu solcher Bedeutung gelangte, daß der persische Golf das „Meer von Basra“ genannt wurde. In einer wohlangebauten Gegend liegend und unter dem besondern Schutze des Khalifen stehend, kam diese Stadt nicht nur zu großem materiellen Reichtum, sondern auch zu hohem litterarischen Ruhme, weil die hervorragendsten Dichter und Gelehrten der moslemitischen Welt sich hier zusammenfanden, besonders nachdem Ibn Risaa, der Gefeierte, da eine der ersten Gelehrtenschulen gegründet hatte. Die geistige und geistliche Bedeutung dieser Akademie war eine so hohe, daß Basra durch sie den Ehrennamen Kubbet el Islam, Kuppel des Islam, erhielt. Diese Herrlichkeit war aber nicht von langer Dauer; die Stadt ging an demselben Schicksale zu Grunde, welchem ihre einstige Rivalin Teredon erlegen war, der mit der Zeit unerbittlich fortschreitenden Austrocknung des Flusses, wozu sich auch höchst ungünstige politische Verhältnisse gesellten. Jetzt besteht die „Kuppel des Islam“ nur aus zwischen Ruinen liegenden armen Hütten und ist, obgleich Ausgangspunkt der nach Arabien bestimmten Karawanen, fast bedeutungslos. Sogar den Namen hat es eingebüßt; es wird jetzt Zobeïr genannt, nach einer kleinen Grabmoschee, welche auf der Stelle steht, wo der gleichnamige Parteigänger von Muhammeds Witwe Aïscha den Tod gefunden hat. Uebrigens ist das alte Basra auch dadurch interessant, daß Muhammed als Knabe seinen Oheim Abu Taleb auf einer Reise hierher begleitete und da mit einem christlichen Mönche Namens Dscherdschis (Georgius) zusammentraf, der sich [3] viel mit ihm beschäftigte und dann den Onkel auf die geistigen Anlagen des Neffen aufmerksam machte. Wahrscheinlich ist hier die Wurzel zu den christlichen Anschauungen zu suchen, deren Blüten so oft im Kuran zu entdecken sind. Basra liegt jetzt ungefähr zwei Meilen nordöstlich von der alten Stadt. Wer etwa infolge von „Tausend und eine Nacht“ in poetisch gehobener Stimmung ankommt, der sieht sich von einer so unpoetischen Misère umgeben, daß er schon in der ersten Stunde wünscht, den Schauplatz süßer Märchen so bald wie möglich wieder verlassen zu können. Zunächst liegt die Stadt leider nicht direkt am Flusse, sondern eine halbe Stunde davon an einem stagnierenden und darum übelriechenden Wasser. Der Ort bietet dem Auge des Besuchers nur die Zeichen des Verfalles; er steht auf versumpftem Grunde, welcher gefährliche Miasmen erzeugt. Die jahraus, jahrein hier brütenden Fieber sind so berüchtigt, daß z.B. die Versetzung eines Beamten von Bagdad nach Basra für eine Verurteilung zum sichern Tode gehalten wird. Kein einheimischer Arzt kennt ein wirksames Mittel gegen diese Fieber, und da auch unsere Medizinen sich als machtlos erweisen, so kommt auch der Europäer nur, um schnell wieder zu gehen. Die Bevölkerung, noch in den zwanziger Jahren auf wenigstens sechzigtausend geschätzt, kann jetzt kaum den zehnten Teil davon betragen, und wenn es hier nicht den Kut-i-Frengi1) [1) Landeplatz.] für die großen Seedampfer gäbe, welche den Handelsverkehr zwischen Mesopotamien und Indien vermitteln, so würde Basra an seiner jetzigen Stelle bald vergeblich zu suchen sein. Obgleich ich das alles sehr wohl wußte, war ich doch [4] mit meinem Hadschi Halef hierhergekommen, um Alt-Basra zu besuchen und dann aber ja nicht zu verweilen, sondern über den Schatt el Arab und Qarun zu setzen und dann am Ufer des Dscherrahi oder auch Ab Ergun in die Berge zu reiten, durch deren Pässe dann ein Weg nach Schiras zu suchen war. Meine Leser wissen, daß ich früher schon einmal mit Halef in Basra gewesen bin.1) [1) Siehe: Karl May „Auf fremden Pfaden“ pag. 261.] Wir hatten schon damals die Absicht, nach Persien zu gehen, waren aber auf die Pilgerstraße nach Mekka abgelenkt und dann ganz verhindert worden, diesen Vorsatz auszuführen. Was wir dabei in Alt-Basra erlebt hatten, war so interessant, daß wir jetzt diese Gegend nicht berühren wollten, ohne die Stätte wieder aufzusuchen. Heute waren wir von diesem Ritte zurückgekehrt und saßen nun unweit der Zollgebäude in dem Kahwe2) [2) Kaffeehaus.], welches neben dem Thore in der Mauer liegt. Wir hatten die Pferde in dem engen, schmutzigen Hofe stehen und warteten auf den Fährmann, der uns an das linke Ufer des Schatt el Arab bringen sollte. Der liebe Mann hatte uns abgewiesen und auf später vertröstet, weil er vorhin jemand hinübergerudert habe und sich nun erst einmal tüchtig ausruhen müsse. Dieser Zeitverlust um einer so albernen Ursache willen war ärgerlich, mußte aber ruhig hingenommen werden, da der Starrkopf unsern Einwand, daß wir selbst rudern wollten und er dabei ruhen könne, mit der Widerrede beantwortete, daß er seine Ruder nur für sich und nicht für andere Leute habe. Aber wie jede Verdrießlichkeit auch eine gute Seite hat, so sollte es sich auch in diesem Falle zeigen, daß die Verzögerung nicht ohne freundliche Folgen für uns sei. Ja, sie brachte uns eine Ueberraschung, wie wir sie uns größer und besser gar nicht hätten wünschen können. [5] Ich muß bemerken, daß die Wände des Kaffeehauses grad so wie diejenigen der Zollgebäude aus geflochtenem Rohre bestanden. Es gab zwei Räume, einen größern und einen kleinern; wir saßen ganz allein in dem letzteren und konnten durch die dünne, lückenreiche Scheidewand alles, was in dem ersteren vorging, sehen und auch alles deutlich hören, was gesprochen wurde. Bis jetzt waren einige Leute dagewesen, nun aber wieder gegangen. Der Wirt saß faul auf seinem Kissen, hatte die ausgegangene Tabakspfeife auf den Knieen liegen und sah schläfrig vor sich hin. Der junge Somali, welcher der Bedienung der Gäste obzuliegen hatte, war beschäftigt, die Tschibuks, die an der Wand hingen, einen nach dem andern herabzunehmen, um sie zu stopfen; sie waren für die rauchlustigen Gäste bestimmt. Es war sehr still hier in den Räumen, auch draußen: nur zuweilen hörten wir einen lauten Kommandoruf, welcher auf dem Verdecke des englischen Dampfers erscholl, der gegen Abend die Anker lichten wollte, um nach Karatschi und Bombay zu gehen. Dann ertönte die begrüßende Stimme einer kräftigen Schiffspfeife. Es kam ein neuer Dampfer an, ob von oben herab oder von der See herauf, das wußten wir nicht, weil wir ihn nicht sehen konnten. Dieses Schiff brachte uns die Ueberraschung, welche ich vorhin erwähnte. Es waren seit dem Pfeifensignale kaum zehn Minuten vergangen, so hörten wir, daß ein neuer Gast in das Café trat. „Sallam!“ grüßte er kurz. „Sallam aaleïkum!“ antwortete der Wirt in müdem, gleichgültigem Tone. Wir hatten gar keinen Grund, uns um die Besucher dieses Hauses zu bekümmern, aber die Langeweile des Wartens veranlaßte uns, durch die Lücken der Scheide- [6] wand einen Blick auf den Eingetretenen zu werfen. Kaum hatten wir das gethan, so wollte Halef aufspringen; er öffnete den Mund zu einem Ausrufe der Verwunderung; ich aber bedeckte ihm die Lippen schnell mit der Hand, drückte ihn auf sein Sitzkissen nieder und raunte ihm zu: „Still, ganz still, Halef! Das ist eine außerordentliche Begegnung; auch ich freue mich so darüber, daß ich laut werden möchte, aber wir wollen warten; er ist allein und ich möchte gern beobachten, wie er, der weder arabisch noch türkisch versteht, sich benehmen wird.“ Der Mann, auf den sich diese meine Worte bezogen, war eine Person, die schon an jedem Orte des Abendlandes und wie viel mehr hier in diesem Winkel des Orientes die Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte. Seine Gestalt war überaus lang und knochig. Ein hoher, grauer Cylinderhut saß auf seinem schmal ausgezogenen Kopfe. Ein unendlich breiter, dünnlippiger Mund legte sich einer Nase quer in den Weg, die zwar scharf und lang genug war, aber dennoch die Absicht verriet, sich noch weiter, bis zum Kinn hinab, zu verlängern. Wenn ich dazu bemerke, daß diese Nase von den Spuren einer einst auf ihr gesessenen Aleppobeule verschönert wurde, so wird man wohl schon jetzt erraten, wer dieser Gast des Kaffeehauses war. Der bloße, dürre Hals ragte lang aus einem sehr breiten, umgelegten und tadellos geplätteten Hemdkragen hervor; dann folgte ein graukarrierter Schlips, eine graukarrierte Weste, ein graukarrierter Rock, graukarrierte Beinkleider, graukarrierte Gamaschen und staubgraue Zugstiefeletten. Um seine Taille ging ein graukarrierter Gürtel, in welchem mehrere Revolver und Messer steckten. Von der einen Schulter bis zur andern Hüfte zog sich hinten und vorn eine schmale, graukarrierte Patronenkatze herab. Auf dem Rücken hing in einem [7] graukarrierten Ueberzuge ein ungewöhnlich großes Gewehr, und in der Hand trug er ein kleineres, welches auch in einer graukarrierten Umhüllung steckte. Dieser graukarrierte Mann ging steif und würdevoll auf eines der an den Wänden liegenden Sitzkissen zu und bog die Kniee ein, um sich in orientalischer Weise mit untergeschlagenen Beinen auf dasselbe niederzulassen, verlor dabei aber aus Mangel an Uebung und Ueberfluß an Ungelenkigkeit das Gleichgewicht und kam mit weit ausgespreizten Beinen und einem kräftigen Plumpse derart auf das Kissen nieder, wie ein regelrechter Europäer regelrecht zu sitzen hat. „Thunder-storm?“ rief er, darob zornig, aus, besann sich aber sogleich eines Bessern und rief dem Somali in befehlendem Tone das eine Wort zu: „Tschibuk!“ Der ostafrikanische Jüngling nahm eine der Pfeifen, die er gestopft hatte, schob die Spitze in den Mund, legte ein Stück glühende Holzkohle auf den Tabak, sog den letzteren in Brand und reichte dann dem Fremden den Tschibuk mit einer graziösen Bewegung hin. „Chanzir1) [1) Schwein.]!“ fuhr ihn dieser an und schlug ihm die Pfeife aus der Hand, daß sie dem Wirte vor die Füße flog. Dieser begriff den Grund dieses hier seltsamen Verhaltens und erklärte dem Nikotin-Ganymed: „Der Fremde ist ein Inglis, der den Tschibuk nicht aus deinem Maul haben will; er brennt sich den Tabak selber an.“ Infolge dieser Belehrung holte der Somali eine andere Pfeife und andere Kohle. Der Engländer griff [8] zu und that einige Züge; da machte seine Nase eine energische, sich sträubende Bewegung, worauf diese zweite Pfeife hin zur ersten flog. „Was ist's?“ fragte der Wirt. „Warum wirfst du auch diesen Tschibuk weg?“ „Duchan1) [1) Tabak.] miserabel!“ antwortete der Gefragte. „Du sprichst vom Tabak, aber ich verstehe dich nicht. Was bedeutet das andere Wort?“ „Duchan battal!“ lautete nun der ganz arabische Bescheid. „Ich habe keinen bessern. Wenn es dir bei mir nicht schmeckt, so kannst du gehen!“ „Kahwe!“ befahl hierauf der Gast, der ruhig sitzen blieb. Der Somali ging zum stets brennenden Mangal2) [2) Kohlebecken.], bereitete eine Tasse Kaffee und brachte sie ihm. Der Inglis roch daran, that versuchsweise einen kleinen Schluck, goß dann die Tasse aus und rief mit einer Gebärde des Abscheues: „Kahwe battal dschiddan3) [3) Der Kaffee ist sehr schlecht.]!“ „Wenn er dir nicht schmeckt, so kannst du gehen!“ meinte der Wirt im orientalischen Gleichmute, fügte aber vorsichtig hinzu, „nachdem du vorher bezahlt hast!“ „Kaddaisch tamano4) [4) Wieviel kostet es?]?“ erkundigte sich der Engländer. „Ischrin kurusch - - zwanzig Piaster.“ Das war eigentlich eine Prellerei und sollte eine Strafe für das beleidigende Verhalten des Gastes sein. Dieser zog gleichmütig ein Geldstück aus der Tasche und warf es hin; der Somali hob es auf und brachte es dem Wirte. Als dieser Miene machte, herauszugeben, deutete [9] der Engländer durch eine wegwerfende Handbewegung an, daß er nichts wiederhaben wolle. Den erstaunten Gesichtern der beiden andern war deutlich anzusehen, daß der zurückgewiesene Ueberschuß ein bedeutender war. Ich wunderte mich gar nicht über diese Generosität, die meinem alten, braven David Lindsay zur zweiten Natur geworden war. Lindsay - - da habe ich nun doch verraten, wer dieser graukarrierte Fremde war! Ja, man denke sich mein und Halefs Erstaunen und unsere Freude, Lord Lindsay so unerwartet hier zu sehen! Ich wußte, daß er jetzt jahrelang nicht in seinem Altengland gewesen war; er hatte sich immerwährend auf Reisen befunden und mir vor vierzehn Monaten aus der Kapstadt den letzten Brief geschrieben. Wohin er sich von dort aus wenden wolle, hatte er nicht erwähnt. Nun kam er heut plötzlich hier hereingestiegen, ganz genau in demselben eigentümlichen Habitus, in welchem ich ihn damals in Maskat, und zwar auch in einem Kaffeehause1) [1) Siehe Karl May „Durch die Wüste“ pag. 318.], zum erstenmal gesehen hatte! Und mehr noch als über diese Begegnung an sich, war ich über seine Sprache erstaunt. Wir waren damals so lange, lange Zeit durch die verschiedensten Gegenden des Orientes geritten und hatten hier und da so langen Halt gemacht, daß eine Anbequemung an die betreffenden Sprachen und Sitten doch eigentlich selbstverständlich gewesen wäre; aber es war dem „veritablen Englishman“ nicht einmal im Traume eingefallen, sich auch nur etwas von den Gewohnheiten und der Ausdrucksweise der Leute, mit denen wir zu verkehren hatten, anzueignen. Weil er Engländer war, glaubte er, in jeder Beziehung durchaus nur englisch sein zu müssen, und gab sich nicht die [10] geringste Mühe, ein türkisches, arabisches, kurdisches oder persisches Wort im Gedächtnisse zu behalten. Daß er Deutsch verstand und sprach, wäre ein Wunder zu nennen gewesen, wenn ihm diese Kenntnis nicht schon während seiner Knabenzeit von einer deutschen Verwandten mütterlicherseits beigebracht worden wäre. Er hegte die unerschütterliche Ueberzeugung, sich selbst auf dem fernsten und unbekanntesten Erdenpunkte mit englischem Wesen und ausschließlich englischer Sprache leicht und mühelos bewegen zu können, und war der Ansicht, daß auch das geringste Abweichen von dieser Gepflogenheit eine Beleidigung seiner Nation bedeute. Diese Einseitigkeit war uns oft in hohem Grade unbequem geworden. Wenn man sich mit einem Begleiter, der die Sprache und die Sitten des Landes nicht kennt und versteht, unter fremden, vielleicht gar nur halb civilisierten Völkerschaften bewegt und dabei oft das Unglück hat, in gefährliche Lagen zu geraten, so versteht es sich ganz von selbst, daß die Anwesenheit eines solchen Gefährten, und wenn er sonst der beste Mensch der Erde wäre, nicht nur hinderlich und störend, sondern unter Umständen sogar verhängnisvoll werden kann. Das aber hatte Lindsay niemals einsehen wollen, und so kann man sich mein Erstaunen denken, als ich hier in Basra auf einmal hörte, daß er plötzlich das Arabische nicht nur verstand, sondern es, freilich noch sehr fehlerhaft, auch sprach! Er hatte sich jedenfalls jahrelang und zwar mit großem Fleiße mit dieser Sprache beschäftigt, und daß er das gethan und die darauf verwendete Mühe nicht für weggeworfen gehalten hatte, das war es, was mir an ihm vollständig fremd vorkam und mich mit Verwunderung erfüllte. Hierzu kam ein Umstand, welcher mich bewog, mich über diese seine mir so überraschende [11] Sprachfertigkeit herzlich zu freuen: Wenn er mit uns nach Persien ritt, wo man sich ebensosehr der arabischen wie der Landessprache bedient, war es für uns, und besonders für mich, eine große Erleichterung, nicht jemanden bei uns zu haben, der aus Mangel an Sprachkenntnis keinen Eingeborenen verstehen konnte und dem ich also, wie das mit Lindsay früher ja der Fall gewesen war, jedes Gespräch zu übersetzen und alle nur einigermaßen wichtigen Vorkommnisse extra zu erklären hatte. Denn daß er mit uns reiten würde, das unterlag gar keinem Zweifel. Die Absichten, welche ihn hierher geführt hatten, und die von ihm getroffenen Dispositionen mochten sein, welche sie wollten, sobald er uns sah, ließ er alles andere liegen, um sich uns anzuschließen, davon war ich überzeugt. Er liebte das Ungewöhnliche, sogar die Gefahr und hing mit einer so herzlichen, aufrichtigen Zuneigung an mir, daß er ganz gewiß alle seine jetzigen Reiselaunen fallen ließ, um bei uns sein zu können. Wenn ich aufrichtig sein will, muß ich sagen, daß von seiner Begleitung voraussichtlich gar manche Schwierigkeit für mich zu erwarten war, aber er besaß andererseits auch wieder sehr günstige Eigenschaften, durch welche diese - Fatalitäten will ich es nennen, mehr als ausgeglichen wurden. Er war ein sehr mutiger und außerordentlich kaltblütiger Mann und besaß Verbindungen, welche uns nur Vorteil bringen konnten. Dazu kam sein außerordentlicher Reichtum. Ich gehöre nicht, aber auch mit keinem einzigen Aederchen, zu jener Art von Menschen, welche gern jede Gelegenheit benützen, aus der Wohlhabenheit anderer Leute Vorteile zu ziehen, aber es ist doch auf alle Fälle angenehmer, einen Begleiter zu haben, dem jeder materielle Vorteil zur Verfügung steht, als einen, welcher den Pfennig dreimal umwenden muß, [12] wenn er ihn auszugeben hat und ihn vielleicht auch dann noch wieder in die Tasche steckt. In dieser Beziehung hatten wir an Lindsay einen höchst schätzbaren Kameraden gehabt, dessen Noblesse für einen andern an meiner Stelle sehr wahrscheinlich eine gute Einnahmequelle gewesen wäre. Und schließlich war, um auch das nicht zu vergessen, seine Originalität für uns eine nie versiegende Quelle stiller Heiterkeit gewesen, und es durfte angenommen werden, daß wir nun wieder aus ihr schöpfen dürften. Wir sahen, daß er, obgleich der Wirt ihn schon zweimal zum Gehen aufgefordert hatte, in aller Behaglichkeit seinen Sitz behielt. Er schien über etwas nachzudenken, wahrscheinlich darüber, was er noch verlangen und aber auch verzehren könne, denn ihm, dem personifizierten Gentleman, war es fatal, in einem öffentlichen Lokale zu sitzen, ohne eine anständige Zeche machen zu können. Endlich war ihm ein Einfall gekommen: „Frank Kahwe!“ verlangte er. Unter Frank Kahwe oder Frank Kahwesi, fränkischem Kaffee, versteht man Schokolade. „Habe ich nicht,“ antwortete der Wirt. „Kakao!“ „Ich weiß nicht, was das ist.“ „Sherry!“ „Das verstehe ich nicht.“ Da öffnete Lindsay den Mund zu einem sperrangelweiten Gähnen. Er fühlte sich dadurch, daß er nicht bekam, was er verlangte, gelangweilt, und seine Nase blickte tief in das jetzt unter ihr gähnende, mit kräftigen Zähnen umsäumte Loch, ob nicht doch vielleicht daraus ein Wunsch erscheinen werde, der zu erfüllen sei. Und da kam er auch: [13] „Scherbet!“ erklang das erlösende Wort. Der Somali beeilte sich, das verlangte Zuckerwasser mit Fruchtsaft zu bringen, und bekam dafür ein so reichliches Bakschisch zugeworfen, daß sein Gesicht vor Freude glänzte und er sich durch eine dreimalige tiefe Verneigung bedankte. Lindsay hob das Getränk zum Munde und versuchte es; es schien ihm zu schmecken, denn er that dann noch einen tiefen Zug. Indem er das Gefäß wieder absetzte, fiel sein Blick hinein. Da wurden seine Augen noch einmal so groß; sein Gesicht nahm den Ausdruck des Entsetzens an, und seine Nase sträubte sich vor Schreck empor. „All devils!“ rief er aus, den Scherbet weit von sich streckend. „Da ist ja ein - - ein - - - ein - - - wie heißt snail auf arabisch?“ „Ich weiß wieder nicht, was du meinst,“ antwortete der Wirt. „Ist etwas in dem Scherbet? Zeig her! Ich will sehen, was es ist.“ Durch die Freigebigkeit Lindsays dienstwillig gemacht, sprang er auf, nahm ihm das Getränk aus der Hand und sah nun dasselbe, was der Englishman gesehen hatte. Ohne aber ebenso zu erschrecken, sagte er vielmehr im ruhigsten Tone: „Eine Bazzaka, eine ganz kleine Bazzaka1) [1) Schnecke.], gar nicht viel länger als mein Mittelfinger nur! Allah hat sie ebenso geschaffen, wie er uns geschaffen hat; wer könnte sich da grauen! Es wäre schade, jammerschade um die Süßigkeit. Ich werde dir einen andern Scherbet bringen lassen.“ Er nahm die Schnecke heraus, warf sie fort, trank [14] die Limonade bis auf den letzten Tropfen aus und setzte sich dann wieder auf seinen Platz. Als dann der Somali Ersatz brachte, deutete ihm Lindsay durch eine sehr entschiedene Handbewegung an, daß er das Zeug gar nicht sehen, am allerwenigsten aber trinken möge, worauf der braune Jüngling es für weltgeschichtlich notwendig hielt, das verschmähte Getränk sich in das eigene Gemüt zu dirigieren. Als er dies vollbracht hatte, trat er mit seinem nackten Fuße die Schnecke breit und zog sich dann triumphierend zu seinem Kaffeefeuer zurück. Lindsay aber machte ein Gesicht, als ob die Qualen aller an unheilbarem Weltschmerz leidenden Menschenkinder in sein Inneres eingezogen seien, und seine Nase, die bekanntlich mit ihren Regungen sich zu den Gefühlen ihres Herrn in steter Kongruenz befand, hing trauernd ihre aus Abscheu vor der Bazzaka ganz weiß gewordene Spitze nieder. Diese doppelte Betrübnis machte einen so tiefen Eindruck auf den Wirt, daß er den in seinem Innern vollständig aus dem Gleichgewichte gebrachten Gentleman fragte: „Ist dir etwa übel geworden? Dann rate ich dir, einen Araki zu trinken.“ „Araki?“ fuhr Lindsay auf. „Ja, einen Arak will ich haben, aber klein darf er nicht sein!“ „Er wird so groß sein, daß auch ich mit trinken kann.“ „Ich danke! Wenn du auch trinken willst, so laß einen für dich besonders kommen!“ „Auch so groß wie der deinige?“ „Ja.“ Da ertönte die Stimme des somalischen Mundschenken: „Für mich auch einen?“ „Meinetwegen!“ [15] „Auch grad so groß?“ „Ja!“ Da holte der Garçon die Branntweinkulle herein, goß drei ziemlich große irdene Näpfe voll und verteilte diese nach der ihm sehr geläufig scheinenden Regel, „mir einen, dir einen und ihm auch einen“. Lindsay war diesesmal so vorsichtig, dem Napfe bis auf den Grund zu sehen. Als er nichts Bazzakaähnliches entdeckte, nahm er einen Schluck, eine zweiten und sogar noch einen dritten. Seine Wangen glätteten sich; das Herzeleid verschwand aus seinen vorher so tiefbetrübten Zügen, und seine Stimme hatte einen neubelebten Klang, als er lobend sagte: „Der Araki ist gut, sehr gut!“ Das war das Zeichen für die Nase, sich auch wieder aufzurichten und ihre Spitze in holder Farbe frisch erröten zu lassen. Als der Wirt dies sah, trank er seinen Napf verständnisinnig aus und befahl seinem Untergebenen, ihn wieder voll zu machen. Dieser kam dem Befehle augenblicklich und über Erwarten nach, indem er nach seinem Herrn auch sich zum zweitenmal bedachte. Lindsay bemerkte das mit zufriedenem Lächeln, obgleich er wohl wußte, daß er der Bezahlende sein werde. Er forderte die beiden auf, soviel zu trinken, wie in ihrem Belieben stehe. Vielleicht hegte er die rachsüchtige Absicht, sie für die Schnecke in einen ganz unmuselmännischen Rausch zu versetzen. Der Wirt, welcher die Wirkungen des Raki eingehend studiert zu haben schien, fühlte sich durch die Güte seines Gastes zu der vertraulichen Mitteilung veranlaßt: „Du bist ein Inglis und kennst also die Gesetze des Islam nicht. Vielleicht weißt du aber, daß uns der Genuß des Weines verboten ist. Doch Raki ist kein [16] Wein. Raki ist ein Mah es Ssahha1) [1) Wasser der Gesundheit.], und daher pflegt man ihn zum steten Wohle des Gebers auszutrinken. Erlaube also, daß ich sage: „Sirreh mahabbehtak - auf deine Gesundheit!“ „Sirreh mahabbehtak!“ beeilte sich der Somali auch zu sagen und dabei seinen Napf ebenso zu leeren, wie der Kaffeewirt den seinigen. Dann wurden beide wieder gefüllt. Diese zwei Moslemin hatten Gurgeln wie irländische Vollmatrosen! Ich mag den Branntwein nicht leiden, und diese hastige Art des Trinkens erst recht nicht, doch wurde, wie sich später herausstellte, dieser Raki nicht nur zu Lindsays, sondern auch zu unserm wirklichen Wohle getrunken. Dabei unterhielt sich der Englishman, welcher jetzt nur zuweilen nippte, ganz ausgezeichnet mit den beiden Trinkern. Er blieb auch im Arabischen, wie er es in seiner Muttersprache gewohnt war, bei seiner eigenartigen, kurz abgerissenen Sprachweise; sie aber wurden je länger, desto redseliger und erzählten ihm eine Menge Dinge, die ihn gar nicht interessieren konnten; er hörte ihnen aber, wohl des Sprachstudiums wegen, ganz bereitwillig zu. Im Laufe des Gespräches wurden auch die in der Nähe stehenden Zollgebäude und die in ihnen beschäftigten Beamten erwähnt; dies führte die Rede auf die Steuern, den Zoll und schließlich auch auf den Schmuggel. Die Pascherei ist wohl für jedermann ein interessanter Gesprächsgegenstand; darum wurde Lindsay jetzt noch aufmerksamer, als er vorher gewesen war. Der Wirt bemerkte das und erzählte ihm, durch den Raki unvorsichtig gemacht, verschiedene Heimlichkeiten, aus denen hervorging, daß er über dieses verbotene Ge- [17] werbe mehr wußte, als er eigentlich sagen durfte. Auf den Somali hatte der Branntwein einschläfernd gewirkt; der Wirt aber war lebhaft geworden; er rühmte sich, sehr viel sagen und offenbaren zu können, wenn er nur wolle, und fügte sogar, die Hand ausstreckend, hinzu: „Sieh diesen Ring an meinem Finger! Er ist stumm; aber wenn er einen Mund hätte, könnte er dir Geheimnisse mitteilen, von denen du gar keine Ahnung hast.“ Es versteht sich von selbst, daß ich bei der Erwähnung des Ringes Ohr war. Sollte es ein Ring der Sillan sein? Ich hatte nicht auf die Hände dieses Mannes geachtet. Auch Halef hörte mit großer Spannung zu. Er schob sich, damit ihm ja kein Wort entgehen möge, so nahe an die Flechtwand, daß sie sich laut knisternd bewegte. Lindsay bemerkte das und fragte den Wirt: „Ist jemand da draußen? Ich höre ein Geräusch.“ „Allah 'l Allah!“ antwortete der Kawehdschi. „Es sind zwei fremde Männer draußen, welche Kaffee trinken; das hatte ich ganz vergessen. Ihre Pferde stehen im Hofe, so kostbare Pferde, wie ich noch keine gesehen habe.[“] „Aber doch nicht Radschi Pack1) [1) Reinstes Blut.]?“ „Echtes Radschi Pack! Willst du sie vielleicht sehen?“ „Sehr gern.“ „So will ich sie dir zeigen. Komm!“ Sie standen auf und gingen hinaus. Ein solcher Pferdeliebhaber, wie David Lindsay war, ließ sich den Anblick echter Araber sicher nicht entgehen! „Sihdi, was sagst du zu diesem großen Wunder?“ fragte jetzt Halef. „Unser Inglis ist da! Was für Augen wird der machen, wenn er uns erblickt!“ [18] Noch ehe ich antworten konnte, ertönte von der Thür her Lindsays erregte Stimme: „Ich muß die Männer sehen, unbedingt sehen! Den einen Sattel kenne ich, kenne ich ganz genau. In dem Pferde kann ich mich irren; aber es gleicht dem herrlichen Rih1) [1) „Wind“.], einem Hengste, denn ich - - -“ Er stockte mitten im Satze. Er war während dieser seiner Worte mit langen, eiligen Schritten, den Wirt hinter sich, durch den vorderen Raum gekommen und sah nun, an der Thüröffnung stehend, uns nebeneinander sitzen. Es ist mir unmöglich, sein Gesicht zu beschreiben, vollständig unmöglich! Er stand vor Ueberraschung starr vor uns, ohne Bewegung, wie eine Bildsäule. Sein Mund stand geöffnet; seine Augen waren weit aufgerissen, doch keine Lippe, keine Wimper zuckte. „Sir David,“ begrüßte ich ihn, indem ich aufstand; „welkome [welcome] wieder hier in der alten, lieben Dschesireh2) [2) „Insel“, Land zwischen Euphrat und Tigris.]! Wer hätte das geahnt!“ „Ja, willkommen, Mister Englishman!“ ließ sich auch Halef hören, der diese beiden Ausdrücke glücklich aus seinem Gedächtnisse zusammenbrachte. Und noch einige hinzufindend, fügte er hinzu: „We are vor Freude, als wir dich kommen sahen, fast ebenso starr gewesen, wie du jetzt vor uns stehst. Kommst du direkt aus deinem native country? Oder hat Allah dich aus einem andern Lande zu uns geführt?“ Man sah es dem kleinen Hadschi an, daß er unendlich stolz auf diese früher aufgeschnappten paar englischen Worte war. Jetzt begann Lindsay sich zu bewegen. Er trat Schritt um Schritt auf mich zu, hob die Arme empor, breitete sie auseinander und schlang sie [19] dann um mich, ohne dabei aber ein einziges Wort zu sagen. Ich war von diesem Beweise stummer, weil größter Freude tief, sehr tief gerührt und drückte den lieben Menschen fest an mein Herz. Da löste sich der Bann; er konnte wieder sprechen. Er sagte mit dem weichsten Tone seiner Stimme: „Mr. Kara, Ihr seid hier, Ihr?! Ich sage Euch, dieses Wiedersehen ist mir in alle Glieder geschlagen. Ich möchte am liebsten weinen und bin doch froh, so froh! Das ist wirklich ein Schulknabenstreich, den mir mein altes Herz macht!“ „Laßt ihm seinen Willen! Das meinige hat auch nicht übel Lust zu solchen Streichen. Ich glaube, es möchte am liebsten Rad schlagen.“ „Das steht ihm aber auch besser an, denn es ist viel jünger als meins, dem ich eine solche Rührseligkeit gar nicht zugetraut habe. Und da ist auch Halef, der gewaltige Scheik und Tyrann der Haddedihn! Aber mit dem muß ich arabisch reden!“ Jetzt war es eine Lust, das Gesicht des Engländers zu beobachten. Vorhin hatte seine Nase über dem weit geöffneten Munde vor Erstaunen starr emporgestanden; nun war auch in sie wieder Leben gekommen. Wie seine Augen leuchteten, seine Wangen sich belebten und das Spiel seiner Mienen in reichem Wechsel arbeitete, so bekam auch sie wieder Farbe, und so zeigte auch sie jetzt eine Munterkeit der Bewegung, welche jeden, der so etwas noch nicht gesehen hatte, in lachendes Erstaunen setzen mußte. Sprach er mit Halef, so neigte auch sie sich der Seite zu, auf welcher der Hadschi stand; wendete er sich zu mir, so schwenkte sie auch nach mir herüber. Lachte er, so geriet sie in heitere Zuckungen, und gab er seiner Freude einen sinnig ernsten Ausdruck, so stand sie an- [20] dächtig lauschend still. Der Wirt, welcher dieser Scene beiwohnte, hatte keinen Blick für uns, sondern seine Augen nur für diese wunderbare Nase, welche mit den Gedanken und Gefühlen ihres Besitzers stets vollständig übereinstimmte und nicht, wie andere Nasen, sich erlaubte, zuweilen eigenmächtige Stimmungen oder gar katarrhalische Besonderheiten zu haben. Nur damals, als sie an der Aleppobeule laborierte, hatte sie sich gegen seinen Willen eine Extravaganz erlaubt, die ihr aber auch nicht gut bekommen war und zur Strafe ein für das ganze Leben bleibendes Andenken zurückgelassen hatte. Während der ersten Aufregung des Wiedersehens waren die Eigenheiten des Lords nicht hervorgetreten, doch sobald er sein inneres Gleichgewicht nur einigermaßen wiedergefunden hatte, machte sich zunächst seine abrupte Ausdrucksweise geltend. Wir hatten uns noch nicht wieder niedergesetzt, als er in derselben zu mir sagte: „Ist eigentlich ein Festtag, ein großer Festtag heut. Möchte einen Vorschlag machen.“ „Welchen?“ fragte ich, nun auch kurz. „Müssen ihn feiern, unbedingt feiern.“ „Wodurch?“ „Durch einen Willkommentrunk.“ „Hier? Wo man nichts bekommen kann!“ „Nichts? Ist großer Irrtum. Habe einen Gedanken, einen famosen Gedanken!“ „Den möchte ich hören!“ „Entweder Grog oder Punsch. Arak ist da, Wasser, Zucker und Feuer auch. Citronen wird der Wirt dazu schaffen können. Einverstanden?“ „Ja, doch nur unter der Bedingung, daß wir ihn selber brauen!“ „Natürlich! Werde den Koch machen. Habe an der [21] einen Bazzaka genug gehabt; mag keine wieder. Habt es wohl gesehen?“ „Ja.“ „Und mich ausgelacht?“ „Ein wenig.“ „Pfui! War schauderhaft! Werde lebenslang daran denken. Nun aber der Punsch!“ Er wendete sich zu dem Wirte und erfuhr, daß er alle zu dem gewünschten Getränke nötigen Bestandteile haben könne und auch selbst kochen dürfe. Es war eigentlich eine kühne Idee, hier im Süden einen Grog brauen zu wollen, aber sie wurde ausgeführt. Während Lindsay sich als Küchenchef in seiner vollen Glorie zeigte und der Somali ihm die dabei nötigen Handreichungen leistete, sah der Wirt, auf seinem Kissen sitzend, ihm mit fachmännischer Neugierde zu. Ich betrachtete seine Hände und bemerkte da freilich einen Ring. Er war von Silber und die Platte schien auch wirklich achteckig zu sein; genau konnte ich es aus der Entfernung nicht erkennen; ich mußte auf eine Gelegenheit warten, der Hand näher zu kommen. Als der Grog fertig war, gab es keine Gläser. Da stand Kahwedschi auf, um andere passende Gefäße herauszugeben. Er brachte thönerne Becher aus einem Kasten, und ich trat schnell hin, sie ihm abzunehmen. Ich konnte dabei den Ring unauffällig betrachten. Ja, die Platte hatte acht Ecken und trug die bekannten Zeichen, ein Sa mit einem Lam verbunden, worüber das Verdoppelungszeichen stand. Der Mann gehörte also der geheimen Gesellschaft an; er war ein Sill. Das Getränk war dem Lord vortrefflich gelungen; er bot in seiner freigebigen Weise dem Wirte und dem Somali auch ihr Teil, und als er sah, wie entzückt sie von dem ihnen bisher unbekannten Labsal waren, er- [22] laubte er ihnen, sich auf seine Rechnung eine neue Auflage zu bereiten; wie es gemacht wurde, hatten sie ja gesehen. Wir aber begaben uns, um von etwa jetzt kommenden Gästen nicht gestört zu werden, wieder in die kleine, abgesonderte Stube. Sobald wir dort beisammen saßen, that Lindsay einen tiefen Zug aus seinem Becher und sagte, zu meiner Genugthuung in arabischer Sprache, doch auch in seiner kurzen Weise, die ich deutsch wiederzugeben suche: „Muß Euch zunächst ein Rätsel aufgeben. Wollt Ihr raten?“ „Ich nicht,“ antwortete Halef schnell. „Warum nicht?“ „Weil Allah mir die Vorzüge meines Geistes und die Vortrefflichkeiten meiner Seele nicht dazu verliehen hat, erst lange und ganz unnötigerweise nach etwas zu suchen, was ein anderer schon weiß und mir also doch lieber gleich sagen kann.“ „Schön! Aber du?“ Diese Frage war an mich gerichtet. Der Lord nannte mich, da er arabisch sprach, natürlich du. Ich antwortete: „Muß es denn geraten sein? Und warum Rätsel jetzt, wo wir doch wohl Besseres und Nötigeres zu reden haben?“ „Rätsel ist auch nötig, wirst es aber wohl nicht lösen können; ist zu schwer.“ „Na, da will ich es doch einmal hören!“ „Gut! Es heißt: Wo komme ich her?“ „Das ist kein Rätsel, sondern nur eine Frage.“ „Mir auch recht. Aber kannst du sie beantworten?“ „Nein, denn ich bin nicht allwissend.“ „Well! So will ich es sagen: Ich war bei dir.“ [23] „Bei - - mir - -?“ sagte ich erstaunt. „Bei dir; das heißt, in deiner Wohnung.“ „Wann?“ „Vor kurzem.“ „So kommst du aus Deutschland?“ „Yes.“ „Das ist interessant! Suchtest Du mich dort?“ „Yes.“ „In bestimmter Absicht?“ „Natürlich! Wollte mit dir reisen. Letzter Brief von dir wurde mir aus Capstadt nachgeschickt. Stand drin zu lesen, daß du zu Halef und nach Persien wolltest. Wünschte auch, Halef wiederzusehen, nach Teheran, Isfahan, Schiras zu gehen. Kam, als damalige Reise beendet war, nach Deutschland. Wollte dich abholen; warst aber schon fort.“ „Ach, nun errate ich! Du bist mir schleunigst nach?“ „Nicht eigentlich nach. Kannte deinen Weg ja nicht. Dummer Kerl, dein Wirt; konnte mir nicht sagen, welche Route!“ „Er ist nicht mein Vertrauter!“ „Well! Mußte also eigenen Weg nehmen: Wien, Triest mit Bahn; Triest, Suez, Bombay mit Schiff; Bombay, Buschehr, Bagdad wieder mit Schiff; dann Haddedihn suchen und nach dir fragen.“ „Das ist ja außerordentlich kühner Plan!“ „Kühn! Pshaw!“ sagte er wegwerfend. „Ja, doch kühn! Von Bagdad zu den Haddedihn, deren Weideplätze man erst suchen muß, ist's ein gefährlicher Weg.“ „Bin kein Kind!“ „Das weiß ich; aber ob Mann oder Kind, die Gefahr ist doch da. Es ist auf alle Fälle ein Glück, daß [24] wir uns hier auf eine so fast wunderbare Weise getroffen haben!“ „Well! Dampfer legte für fünf Stunden hier an. Habe Bord verlassen, weil es dort zu langweilig ist.“ „Ja, hier im Kahwe ist es bei Raki und Bazzaka kurzweiliger gewesen!“ „Bitte, still! Mag von Schnecke kein Wort hören. Ihr seid unterwegs?“ „Ja.“ „Nach Persien?“ „Ja.“ „Well! Ich gehe mit!“ „Ich denke, du willst nach Bagdad und dann zu den Haddedihn!“ „Mach keine schlechten Witze! Doch, ah, ich verstehe; habe nicht gefragt, ob Ihr mich wollt! Werde es also nachholen. Darf ich mit?“ „Ja,“ antwortete ich in der von ihm gewünschten Kürze. „Welches die erste persische Stadt?“ „Schiras.“ „Wann von hier fort?“ „Jetzt, nachher, sobald der Fährmann kommt.“ „Fährmann? Hm! Wartet! Bin gleich wieder da!“ Er sprang auf und ging so eilig fort, daß ich gar keine Zeit fand, ihn zu fragen, wohin er wolle. Jedenfalls nach seinem Dampfer, um die Fahrt abzubrechen und sein Gepäck zu holen. „Sihdi, der macht es kurz,“ lachte Halef. „Fast hätte er gar nicht erst gefragt, ob wir ihn gern mitnehmen oder nicht. Wer weiß, ob er, wenn er uns nicht getroffen hätte, bis zu den Haddedihn gekommen wäre! Er glaubt nicht an die Gefahren, welche zu beiden Seiten [25] dieses Weges lauern. Sag mir aufrichtig, ob es dir lieb ist, daß wir ihn mitnehmen sollen.“ „Wenn ich ehrlich sein will, muß ich gestehen, daß ich mich in den Gedanken eingelebt habe, nur dich allein bei mir zu haben.“ „Ich danke dir, Effendi! Ich wollte, er wäre in seinem native country geblieben.“ „In dieser Weise will ich es doch nicht meinen. Du mußt bedenken, er ist ein sehr vornehmer Herr und seine Freundschaft eine sehr ehrenvolle Auszeichnung. Auch sind die Vorzüge seines Geistes und seines Herzens hoch anzuschlagen, und was die Hauptsache ist, ich habe ihn lieb. Ich gebe zu, daß infolge seiner Begleitung wohl manches anders werden wird, als es sich ohne ihn gestalten würde. Wir werden oft Rücksicht auf ihn und seine Eigenheiten zu nehmen haben; aber das wird alles ausgeglichen durch die vortrefflichen Eigenschaften, welche ihm unsere Achtung und Zuneigung erworben haben. Ich will also, Für und Wider gegeneinander abgewogen, sagen, daß es sich gleich bleibt, ob wir zu Zweien oder zu Dreien sind.“ „Wenn du so sprichst, will ich mich darein finden, nicht dein einziger Gefährte sein zu dürfen. Horch, Effendi, was Euer Raki mit heißem Zuckerwasser für eine fromme Wirkung hat!“ Der Wirt sang draußen in einem fort „Allahhu, Allahhu, Allahhu!“ Er ahmte die heulenden Derwische nach, und der traute Ostafrikaner schrillte in den höchsten Fisteltönen allerlei dummes Zeug dazu. Es war ohrenzerreißend und nervenzersägend, aber hier an den vereinigten Wassern des Euphrat und Tigris schatt-el-arabisch schön! Als ich dem Hadschi jetzt mitteilte, daß der Wirt [26] den Ring der Sillan am Finger trage und also wohl zur geheimen Bruderschaft der „Schatten“ gehöre, sagte er schnell: „So erlaube, daß ich meinen Ring auch anstecke und ihn diesem Manne wie zufällig sehen lasse! Ich möchte sehr gern wissen, was er dann thun oder sagen wird.“ „Hm, wir dürfen mit diesen Ringen nicht spielen, lieber Halef!“ „Das weiß ich gar wohl; aber du hörst ja, daß er betrunken ist; es ist also gar keine Gefahr dabei, denn wenn er wieder nüchtern geworden ist, wird er nichts mehr wissen. Vielleicht erfahren wir etwas.“ „Das ist freilich möglich. Nur darf ich mich nicht für einen Sill ausgeben, weil er uns vorhin zugehört hat und also wahrscheinlich weiß, daß ich ein Europäer bin.“ „Genügt es denn nicht, daß ich mit ihm spreche? Mich kann er für keinen Franken halten.“ „Wenn du vorsichtig wärst, ja, dann!“ „Das werde ich sein, Sihdi. Darf ich?“ „Gut, ich denke auch, daß die Sache für uns ganz unbedenklich ist, und will dir den Spaß nicht verderben. Er hat einen Rausch und könnte uns auch ohnedies nichts schaden, weil wir diese Gegend ja heut verlassen und dann über die Grenze gehen. Aber wenn du sagst, du seiest ein Sill, so darf er ja nicht denken, daß ich oder Lindsay als deine Gefährten etwas davon wissen. Verstanden?“ „Ja. Ich werde so geheimnisvoll thun, als ob ich in Wirklichkeit ein Mitglied dieser Verbindung sei. Wann soll ich zu ihm gehen? Jetzt?“ „Nein, sondern erst dann, wenn Lindsay zurückgekehrt ist. Jetzt würde es auffallen, daß du mich allein [27] lässest und hinter meinem Rücken mit ihm von Dingen plauderst, die ich nicht wissen darf.“ „Hoffentlich kommt der Inglis bald wieder, denn wenn der Fährmann erscheint, müssen wir bereit sein, sonst bekommt er das Bedürfnis, noch einmal auszuruhen. Hattest du eine Ahnung, daß Lindsay dich in deiner Heimat aufsuchen werde?“ „Nein. Er hat mich nicht davon benachrichtigt. Ich schrieb ihm, daß ich die Absicht hätte, nach Persien zu gehen und dich mitzunehmen. Da ist in ihm der Wunsch erwacht, sich uns anzuschließen. Daß wir damit einverstanden sein würden, hat er für ganz selbstverständlich gehalten. Solche Herren leben ja immer in dem Glauben, daß alles, was sie sprechen, thun und wollen, von anderen Leuten als Gesetz betrachtet wird. Er kennt meine Wohnung, die ich behalte, selbst wenn ich jahrelang auswärts auf Reisen bin, und ist gekommen, um mir ganz einfach zu sagen, daß er mich begleiten werde. Da ich schon fortgewesen bin, ist er auf dem kürzesten Wege oder vielmehr mit der schnellsten Gelegenheit hierher gefahren, um mich aufzusuchen. Sich vorher zu fragen, ob mir das lieb sein werde oder nicht, das ist ihm gar nicht in den Sinn gekommen. Das gesellschaftliche Leben aller Länder und Völker wird von einem Paragraphen beherrscht, welcher lautet: Vornehme Leute stören nie! Wenn du das noch nicht weißt, so merke es dir!“ „Das habe ich nicht nötig, denn als oberster Scheik der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar gehöre ich selbst ja auch zu den vornehmsten Personen vom Aufgang bis zum Niedergang der Sonne, so daß kein englischer Lord sich einbilden darf, höher zu stehen als ich, der ich ein freier und unumschränkter Beherrscher [28] freier Männer bin. Ich gehöre also selbst zu denjenigen Personen, welche niemals stören. Wem Allah die hohe und unschätzbare Gabe verliehen hat, eine so große Menge tapferer Beduinen zu beherrschen, der kann sich getrost an die Seite der Kaiser, Könige und sonstigen allerhöchsten Regenten stellen, und ich bin der Ueberzeugung - - -“ Hier unterbrach ich ihn mit irgend einer Bemerkung, denn wenn er auf dieses Thema geriet, so mußte man ihm den Faden der Rede schnell zerschneiden, sonst spann er ihn bis in die Unendlichkeit hinein. Er ging zwar über meinen Einwurf rasch hinweg und griff den Faden wieder auf, aber glücklicherweise kehrte Lindsay jetzt zurück, wodurch Halef zu seinem Leidwesen gezwungen wurde, vom Thema seiner unzählbaren Vorzüglichkeiten abzulassen. Da der Lord, einen Mantel abgerechnet, den er am Arme hängen hatte, gerade so wieder kam, wie er gegangen war, so fragte ich ihn nach seinem Gepäck. „Gepäck?“ antwortete er. „Habe keins.“ „Wirklich keins?“ „Yes. Bin früher so dumm gewesen, mich mit einer Menge von Sachen zu schleppen, und habe mich trotzdem für einen tüchtigen Globetrotter gehalten. Habe aber von dir gesehen, wie man es machen muß. Mache es nun ebenso: Anzug auf dem Leibe, Mantel, Waffen, Geld, weiter nichts.“ „Aber wie steht es mit dem Pferde?“ „Habe keins.“ „So müssen wir hier eins kaufen.“ „No!“ „Nicht? Warum? Basra hat Pferdeausfuhr nach Indien. Es giebt also hier eine ganz gute Gelegenheit, dem Mangel abzuhelfen.“ [29] „Mag keins von hier; will persische Rasse; diese einmal versuchen. Werde also erst kaufen, wenn wir drüben sind.“ „Das geht aber nicht. Du kannst doch nicht neben uns herlaufen. Und selbst wenn du dir diese Absonderlichkeit leisten wolltest, würdest du es nicht aushalten. Der Weg über das Gebirge hinüber ist weit und sehr beschwerlich.“ „Welches Gebirge?“ „Ich meine da hier hinüber die Berge von Chusistan.“ „Chusistan? Haben nichts mit Chusistan zu thun!“ „Wiefern?“ „Werden überhaupt nicht reiten!“ „Wer sagt das?“ „Ich. Werden fahren.“ „Fahren? Womit? Hier giebt es keine Postchaisen.“ „Schlechter Witz! Werden per Schiff fahren.“ „Ah - - - so?!“ „Yes. Liegt ja ein Dampfer draußen. Geht gegen Abend ab, nach Bombay. Wird uns in Buschehr absetzen.“ „Wer sagt das?“ fragte ich wieder. „Ich - -“ antwortete er. „Habe bereits drei Plätze bezahlt. Mit Kapitän gesprochen. Alles abgemacht!“ „Wer hat dich dazu beauftragt?“ „Beauftragt?“ fragte er, mit dem Kopfe hoch emporfahrend, die Stirn in Falten ziehend und mich aus zusammengezogenen Augen erstaunt ansehend. „Denke nicht, daß es einer besonderen Beauftragung bedurfte, sondern glaubte, es so ganz richtig zu machen! Wolltet ihr denn nicht per Schiff nach Buschehr hinunter?“ „Nein.“ „Well, hätte das wissen sollen!“ „Du konntest es erfahren, indem du uns fragtest!“ [30] „Yes, ist richtig; aber unter Reisegefährten rechnet man nicht so genau. Da die Plätze bezahlt sind, werden wir fahren.“ „Ist das wirklich so bestimmt, wie du meinst?“ „Yes.“ „Wenn ich nun nicht darauf eingehe?“ „Ist gar nicht möglich. Würde eine Beleidigung für mich sein. Was sagt Halef dazu?“ „Ich thue das, was mein Effendi thut,“ antwortete der kleine Hadschi. „Well, so fahren wir. Werde doch nicht unnötig bezahlt haben sollen!“ Da er mich bei diesen Worten fragend ansah, gab ich den Bescheid: „Gut, gehen wir also per Dampfer nach Buschehr. Der Weg von dort nach Schiras ist ja auch ganz interessant. Wenn du mit dem Wirte sprechen willst, Halef, jetzt ist es Zeit.“ „Ja, ich gehe jetzt hin,“ nickte er, „und werde mich so verhalten, daß ich deine Zufriedenheit erlange, Sihdi. Du weißt, eine Dummheit sage ich nicht!“ Ja, das wußte ich freilich. Unüberlegt zu handeln, das fiel ihm gar nicht schwer, aber im Gebrauche der Zunge besaß er eine desto größere Meisterschaft. Als er sich entfernt hatte und ich längere Zeit schweigend vor mich hingeblickt hatte, fragte Lindsay, und zwar in englischer Sprache: „Warum redet Ihr nicht? Habt wohl schlechte Laune? Was?“ „Bitte, Launen habe ich nie!“ „Woher dann aber dieses Gesicht und diese Augen? Möchte wetten, daß Ihr etwas gegen mich habt.“ „Diese Wette würdet Ihr freilich gewinnen. Aber [31] eine „Laune“ ist es nicht. Ich kann überhaupt launenhafte Menschen nicht leiden. Wenn mich etwas verdrießt, sage ich es frei und ehrlich vom Herzen herunter, und dann ist es wieder gut.“ „Well! Also herunter damit! Was ist's?“ „Diese Frage sollte eigentlich gar nicht notwendig sein. Ihr müßtet auch ohne jedes Wort von mir wissen, was ich gegen Euch habe.“ „Kann es mir aber doch nicht denken. Sollte es sein, weil ich die Schiffsplätze genommen habe?“ „Natürlich ist es das!“ „Aber Ihr seid doch darauf eingegangen, ohne darüber zu räsonieren!“ „Dazu hatte ich zwei Gründe. Erstens waren die Plätze bezahlt; man bekommt das Geld nicht wieder; es gab also an der Sache nichts zu ändern. Und zweitens wollte ich Euch nicht vor Halef blamieren.“ „Blamieren? Oho! Das ist ein sehr kräftiges Wort, Mr. Kara!“ „Aber das richtige. Ich halte es für notwendig, Klarheit zwischen uns zu schaffen. Ich liebe es nicht, wenn ohne mein Wissen über mich disponiert wird. Ich bin weder ein Bedienter, über dessen Person man nach Belieben verfügen kann, weil man ihn bezahlt, noch eine Puppe, die sich an Fäden ziehen läßt. Ich will gefragt sein. Das müßt Ihr Euch ein für allemal merken!“ Da zog er die Brauen hoch empor, welcher Bewegung seine erstaunte Nase sofort folgte, und sagte: „Sollte ich erst hierher laufen, um wie ein Knabe um Erlaubnis zu bitten?“ „Das sind sehr unpassende Worte, Sir. Ihr kennt meine Art, zu reisen. Ich bewege mich nicht auf den breitgetretenen, ungefährlichen Wegen Anderer, denn ich [32] will die Bücher, welche ich schreibe, nicht mit den Resultaten wohlfeiler Erkundigungen füllen, sondern nur das erzählen, was ich selbst erlebt, geprüft und gesehen habe. Ich bin keiner der subventionierten Herren, welche unter hohem Schutze mit großem, Aufsehen erregendem Trosse bequeme Pfade ziehen und dann, wieder heimgekehrt, einen Vortrag auswendig lernen, um mit ihm, Stadt für Stadt abklopfend, Geld zu machen. Ich reise, um allüberall, im Urwalde, in der Steppe, der Wüste, im Leben der Verachteten und Bedrängten, im Herzen des sogenannten Wilden die Spuren Gottes, die Wahrzeichen und Beweise der ewigen Liebe und Gerechtigkeit zu suchen, denn meine Bücher sollen zwar Reisebeschreibungen, aber in dieser Form Predigten der Gottes- und Nächstenliebe sein. Darum gehe ich meine eigenen Wege und bewege mich in meiner eigenen Weise; ich lebe und reise von meinen eigenen Mitteln, verlasse mich nächst Gottes Schutz auf meine eigene Kraft und lasse mich von keinem andern Willen als meinem eigenen dirigieren. Wer sich mir anschließt, hat sich in diese meine Eigenheit zu finden, sonst kann ich ihn nicht brauchen. Ich mag nicht das am Zügel gelenkte Pferd, sondern ich will der Reiter sein, und wer da glaubt, wie vorhin Ihr, mich durch ein Fait accompli willenlos und ihm gefügig zu machen, der mag diese Probe nicht zum zweitenmal versuchen; er würde sich in mir täuschen! Ich bin gewohnt, selbständig zu handeln und werde selbst dem besten Freunde nie gestatten, ohne meine Erlaubnis über mich zu verfügen.“ Lindsay machte ein sehr verlegenes Gesicht. Die Falten seiner Stirn bildeten längst schon keine hohen Bogen mehr; er hatte den Kopf gesenkt und die vorher so stolz erhobene Nase war tief zerknirscht zusammengesunken. [33] „Es war aber ja ganz gut gemeint!“ entschuldigte er sich. „Das weiß ich wohl; darum habe ich in Halefs Gegenwart geschwiegen und Euch nun jetzt unter vier Augen meine Meinung gesagt. Ihr habt Euch früher stets nach mir gerichtet und müßt zugeben, daß dies stets zu Eurem Vorteile war. Seit jener Zeit seid Ihr als selbständiger Mann gereist und habt Euch angewöhnt, zu handeln, ohne andere zu fragen. Das ist der leicht erklärliche Grund Eurer Eigenmächtigkeit, und darum sage ich Euch meine Meinung nicht in zornigen, sondern in ganz ruhigen Worten. Jetzt aber seid Ihr nicht mehr Euer eigener Herr; ich bin nicht Euer, sondern Ihr seid mein Begleiter; das gebe ich Euch zu bedenken.“ „Soll das heißen, daß ich gar keinen Willen haben darf?“ „Nein; aber wenn drei Personen eine weite, beschwerliche und wohl auch oft gefährliche Reise zusammen unternehmen, so versteht es sich ganz von selbst, daß keiner von ihnen ohne Wissen der andern wichtige Bestimmungen treffen darf; es muß alles einmütig geschehen; das ist es, was ich wünsche. Ihr sagtet vorhin, daß man unter Reisegefährten nicht so genau zu rechnen brauche; das ist grundfalsch; ich halte es vielmehr für sehr notwendig, daß jeder Gefährte die Rechte der andern sehr genau beachte und auf sie Rücksicht nehme. Ihr behauptet ferner, es würde eine Beleidigung für Euch sein, wenn wir uns Eurer Anordnung nicht fügten. Ich sage Euch dagegen, daß es eine Beleidigung für uns war, diese Anordnung ohne unser Wissen zu treffen!“ „Well, hm, mag wahr sein! Will es also nur sagen: Ihr solltet nicht zu zahlen brauchen!“ [34] „Das weiß ich ja; aber ist grad der Punkt, wohin ich mein Fragezeichen setze, weil ich nicht wünsche, daß ein Ausrufezeichen daraus werde. Ihr kennt mich da von früher her. Ich will vor allem auch in dieser Beziehung mein eigener Herr sein und teile Euch darum ganz aufrichtig meine Ansicht mit, daß pekuniäre Unselbständigkeit fast sicher auch andere Arten von Abhängigkeit nach sich zieht.“ „Aber, Mr. Kara, ich bin reich, tausendmal reicher als Ihr! Soll ich da nicht das Vergnügen haben, Euch dann und wann etwas zu ermöglichen oder wenigstens zu erleichtern, was Euch sonst schwer fallen oder gar unmöglich sein würde? Es ist das für mich ja eine Kleinigkeit, grad so, wie wenn ein Pferd beim Füttern einige Körner verliert, die von einem Sperling aufgetippt werden.“ „Danke herzlich für diesen vortrefflichen Vergleich!“ lachte ich. „War nicht so, sondern anders gemeint! Sehe ein, daß ich auch ein aufrichtiges Wort bringen muß. Hört mich ruhig an!“ „Sehr gern!“ „Wenn ich in meine volle Tasche greife, um einige armselige Piaster für Euch auszugeben, so wollt Ihr mir das nicht gestatten. Ich aber soll es mir ruhig gefallen lassen, daß Ihr in Euern Kopf, in Eure Kenntnisse, in Eure reichen Erfahrungen greift und für mich mit Eurer geistigen, intellektuellen Münze nur so um Euch werft! Münze ist Münze; ob aus den Schätzen Eures Verstandes oder aus unserer Bank von England entnommen, das bleibt sich gleich. Soll ich welche von Euch annehmen, so muß auch ich von der meinigen ausgeben dürfen, wenn [35] ich mich nicht als armer Almosenempfänger fühlen soll; das müßt Ihr doch einsehen! Oder nicht?“ „Ich will zugeben, daß das, was Ihr da gesagt habt, nicht ohne einige Berechtigung ist, und will, so wie ich es früher nicht war, auch jetzt nicht dagegen sein, daß Ihr zuweilen einmal in Eure wohlgefüllte Tasche greift; aber Ihr dürft damit nicht die Ansicht verbinden, daß dies ohne unser Wissen geschehen kann und gar vielleicht Euch die Berechtigung verleiht, uns wie heut, mit vollendeten Thatsachen, denen wir nicht zugestimmt hätten, zu überraschen. Für diesesmal sollt Ihr unsere nachträgliche Zustimmung erhalten; bei einer Wiederholung dieses Falles aber würdet Ihr nur den Erfolg haben, ohne unsere Gesellschaft auf Eurer Thatsache sitzen zu bleiben. So, nun mag diese heikle Angelegenheit abgethan sein. Ihr habt es gut gemeint und ich meine es mit meinem Tadel auch nicht schlecht, denn ich habe ihn nur ausgesprochen, um späteren Unannehmlichkeiten zu begegnen. Wo habt Ihr denn eigentlich Eure überraschende Kenntnis der arabischen Sprache her?“ Da hellte sich sein verdüstertes Gesicht schnell auf; die Nase machte einen frohen Seitensprung, und er antwortete: „Nicht wahr, das hat Euch überrascht?“ „Außerordentlich!“ „Habt mir's gar nicht zugetraut?“ „Aufrichtig gesagt, nein.“ „Well! Habe mich auch riesig auf Eure Verwunderung gefreut! Meine Reise damals mit Euch war die schönste und interessanteste von allen, die ich unternommen habe. Ist mir nie aus der Erinnerung gekommen. Sehnte mich förmlich, alle die Orte einmal wiederzusehen. Nahm [36] mir also vor, den ganzen Weg noch einmal zu machen. Dazu gehörte aber die Sprache, die ich nicht verstand. Beschloß darum, sie zu erlernen. Wandte mich nach Oxford, Universität; verschrieb mir einen Lehrer. Mußte mich begleiten, auch während der Reise unterrichten. War ein tüchtiger Kerl und hat sich viel Mühe gegeben. Habe aber auch gearbeitet wie ein Stier, Tag und Nacht! Wundere mich, daß mein Kopf noch ganz ist, keine Löcher und Sprünge bekommen hat! Ist eine heidenmäßig schwere Sache, diese arabische Sprache. Bin sehr oft ganz konfus gewesen; habe Flinte tausendmal wegwerfen und ausreißen wollen. Bin in Wut geraten, ganz verzweifelt gewesen, habe nicht essen, nicht schlafen können. Riesige Kopfschmerzen, schlechte Verdauung, Augenflimmern, Ohrensausen; habe mich ganz elend gefühlt, unendlich jämmerlich. Dachte aber an Euch, an Eure Ausdauer, Energie; malte mir aus, Ihr säßet bei mir und nicktet mir aufmunternd zu. Das half. Bin mit jedem Tag arabischer geworden, bis mir sogar einmal träumte, ich sei ein Beduinenscheik und zähle meinen Schafen und Kamelen das große Einmaleins arabisch vor. Da schriebt Ihr mir, Ihr wolltet hierher. War natürlich sofort fest entschlossen, mitzumachen, und lernte nun mit doppelter Wut, wie eine Windmühle im Sturme oder eine Maus, hinter der die Katze ist. War riesenhaft stolz auf den Erfolg. Habe mir tausendmal Euer Gesicht ausgemalt, wenn Ihr hören würdet, was ich leiste. Fand Euch leider nicht daheim, bin also hierher. Habe Euch hier getroffen; aber anstatt mich an Eurem Staunen weiden zu können, habe ich Vorwürfe zu hören bekommen. Ganze Freude ist in das Wasser gefallen und total ertrunken! Sehe aber ein, daß ich selbst schuld bin. Hätte Euch erst fragen sollen, welchen Weg Ihr nehmen [37] wolltet. Wird nicht wieder vorkommen; gebe Euch mein Wort darauf!“ Da reichte ich ihm die Hand und sagte: „Diese Freude habe ich Euch natürlich nicht verderben wollen. Ich war außerordentlich überrascht und wollte meinen Ohren nicht trauen, als ich Euch so fließend arabisch sprechen hörte. Ich weiß am besten, wie groß die Mühe gewesen ist, die Ihr darauf verwendet haben müßt, und es kann mir nicht einfallen, Euch die wohlverdiente Anerkennung vorzuenthalten. Ihr müßt ja geradezu wie ein Pferd gearbeitet haben!“ „Pferd? Ist viel zu wenig gesagt!“ verbesserte er, indem infolge meines Lobes sein ganzes Gesicht vor Wonne strahlte und seine Nase eine vergnügt horchende Lage einnahm. „Habe mit dem Kopf gearbeitet. Muß also nicht Pferd sondern Ochse heißen! Darf also annehmen, daß Ihr zufrieden mit mir seid?“ „Sehr zufrieden!“ „Gute Leistung von mir?“ „Großartige Leistung sogar!“ „Well! Damit ist alles gut, alles wieder gutgemacht! Wenn Kara Ben Nemsi meine Leistung großartig nennt, so ist das die beste Belohnung, die ich finden kann. Möchte diese Heidenarbeit aber nicht zum zweitenmal machen. Würde ganz gewiß überschnappen! Habe meinen armen Kopf sehr oft für eine alte Pauke gehalten. Was hat da alles hineingemußt! Sukuhn, Hamza, Teschdid, Madd, Singular, Dual, äußerer Plural, innerer Plural, ana, inte, huwa, ihna, intu, huma, wahid, marra, auwal, dreiradikaliges Verbum, vierradikaliges Verbum, massives Verbum, konkaves Verbum, defektes Verbum - - - wer da den Verstand nicht verliert, der hat entweder sehr viel oder gar keinen Geist! [38] Fühle mich aber auch wie neugeboren, daß ich das alles glücklich überwunden habe. Nun sagt mir doch auch einmal, ob ich gut oder fehlerhaft spreche!“ „Welcher Meinung war Euer Lehrer über diesen Punkt?“ „Dummer Kerl! Lachte mich aus!“ „Ihr habt ihn vorhin aber doch einen sehr tüchtigen Kerl genannt!“ „War er auch; nur in dieser Beziehung nicht! Sagte immer, ich spräche englisch mit schlecht gewählten arabischen Worten. Behauptete auch, ich würfe zu viel englische Partikel hinein. Was soll ich aber denn mit meinen Partikeln machen, wenn ich sie einmal habe? Das war doch unrecht von ihm. Nicht?“ „Recht wird wohl der haben, der da weiß, daß kein Meister vom Himmel gefallen ist. Man darf nicht denken, daß man fertig sei, sondern man muß sich üben, immerfort weiterüben.“ „Das thue ich auch! Habe mich sogar heut geübt, mit dem Wirte da draußen. Wollte einmal hören, wie die Sprache des Arabers klingt, wenn er betrunken ist.“ „Außerordentlich löbliches Unternehmen!“ „Mag sein! Nehmt Ihr es mir übel?“ „Nein. Vielleicht ist es sogar vorteilhaft für mich, daß Ihr ihm einen Haarbeutel aufgesetzt habt.“ „Wieso?“ „Davon werden wir später sprechen; es gehört eine lange, aber sehr interessante Erzählung dazu. Wir haben nämlich schon sehr viel erlebt, und zwar Dinge, welche wahrscheinlich noch gar nicht zu Ende sind. Halef wird Euch alles berichten, und ich glaube, daß Ihr den Faden dann mit uns weiterspinnen werdet. Für jetzt ist es not- [39] wendig, zu wissen, ob Ihr wirklich die Absicht habt, Euch erst drüben in Persien ein Pferd anzuschaffen?“ „Ja; eher nicht.“ „Wo?“ „Vielleicht Schiras.“ „Aber wir müssen doch von Buschehr bis Schiras reiten!“ „Nehme ein Mietspferd.“ „Das ist für uns unbequem; aber da Ihr es einmal wollt, müssen wir Euch Euern Willen lassen.“ „Wenn ich hier eins kaufte, müßte ich es per Schiff hinübertransportieren lassen wie Ihr die eurigen. Das kann ich umgehen.“ „Das ist freilich wahr. Hoffentlich bekommt Ihr dort etwas Preiswürdiges. Da wir echtes Blut reiten, dürft auch Ihr nicht schlecht beritten sein, sonst kommt Ihr nicht mit uns fort.“ „Habt keine Sorge! Kaufe nichts Schlechtes. Geld ist da! Wer ist der Kerl?“ Diese Frage galt dem Fährmann, welcher jetzt endlich kam, um uns zu benachrichtigen, daß er nun bereit sei. Wir hatten ihm gesagt, daß er uns im Kahwe finden werde. Nun brauchten wir ihn nicht. Es war vorauszusehen, daß er in echt orientalischer Weise eine Entschädigung dafür verlangen werde; darum antwortete ich, als er seine Aufforderung, jetzt mitzukommen, ausgesprochen hatte: „Hast du dich denn schon ausgeruht?“ „Ja,“ nickte er. „Aber wir noch nicht. Wir waren noch viel müder als du und müssen also noch länger sitzen bleiben.“ „Aber ich habe grad jetzt Zeit!“ „Wir noch nicht!“ [40] „Ihr könnt auf der Fähre ebenso ruhig sitzen wie hier!“ „Ganz dasselbe haben wir dir vorhin auch gesagt. Wir wollten rudern, und du solltest dich pflegen; das beliebte dir aber nicht. Jetzt sind wir es, denen es nicht paßt.“ „Später fahre ich Euch nicht!“ „So lässest du es bleiben!“ „Ihr habt mir ein Bakschisch für das Warten zu zahlen!“ „Sehr gern! Wieviel verlangst du?“ „Fünf Piaster. Ich denke, daß Ihr das sehr billig finden werdet!“ „Es ist billig; ich hätte mehr verlangt. Gieb also die fünf Piaster her!“ „Ich?“ fragte er erstaunt. „Ja.“ „Euch?“ „Natürlich!“ „Du sprichst ja ganz verkehrt! Wer ist es denn, der zu bezahlen, und wer, der zu bekommen hat?“ „Zu bezahlen hast du. Wer sonst?“ „Doch Ihr!“ „Wenn du das behauptest, bist du es, der verkehrt redet. Du bist eine einzelne Person und hast auf uns gewartet. Dafür verlangst du von uns eine Entschädigung von fünf Piastern?“ „Ja.“ „Schön! Wir sind zwei Personen, die du hinüberfahren solltest; wir haben auf dich gewartet; das macht zehn Piaster; folglich hast du uns fünf herauszuzahlen.“ „Allah w'Allah!“ rief er erstaunt. „Sollte man so [41] etwas für möglich halten? Ich höre, daß du mich um mein wohlverdientes Geld betrügen willst!“ Ich kam nicht dazu, ihm auf diese Worte eine Antwort zu geben, denn Halef that dies an meiner Stelle. Seine Unterredung mit dem Wirte war zu Ende. Er war hinter dem Fährmann hergekommen, stand nun in seinem Rücken an der Thür und hatte seine Forderung und meine Antwort gehört. Jetzt schob er ihn schnell zur Seite, trat vor und sprach ihn zornig an: „Betrügen? Mensch, wie darfst du es wagen, diesen weltberühmten und mächtigen Emir einen Betrüger zu nennen! Er ist so gnädig gewesen, mit deinen armseligen fünf Piastern einverstanden zu sein; er hat dir deutlich und bis zur vollsten Ueberzeugung bewiesen, daß du dieses Geld für deine Faulheit herauszugeben hast, und nun du uns darum betrügen willst, bist du so frech, den Betrug ihm in das Gesicht zu werfen. Ich frage dich, ob du sie sofort bezahlen willst oder nicht?“ Er griff mit der Hand nach seiner im Gürtel steckenden Peitsche. „Ich habe nicht zu bezahlen, sondern zu bekommen,“ behauptete der Mann, der die Schnellfertigkeit Halefs nicht kannte und also gar nicht ahnte, was für ein Gewitter drohend über ihm stand. „Zu bekommen? Schön! Du sollst erhalten, was du verdienst, und zwar sogleich! Hier hast du es, hier - - hier - - da - - da und da!“ Die Peitsche flog heraus und knallte dem Manne so kräftig auf den Rücken, daß er sich mit einem Schrei des Schmerzes zur Flucht wendete. Halef eilte hinter ihm drein und versetzte ihm Hieb auf Hieb, bis er ihn zur vorderen Thür hinausgetrieben hatte; dann kehrte er zu uns zurück und sagte, vor Vergnügen strahlend: [42] „Das ist die einzig richtige Sprache, in welcher man mit solchen Menschen zu reden hat! Fünf Piaster für seinen Schlaf und unser Warten verlangen und auch noch vom Betruge sprechen! Sihdi, deine Berechnung war sehr schlau; aber meine Bezahlung war noch besser!“ „Wie aber, wenn er sich bei der Behörde über dich beschwert?“ warf Lindsay ein. „Bei der Behörde? Wie würde ich mich freuen, wenn sie käme! Sie würde die Fortsetzung des Anfanges bekommen, den ich ihm zu schmecken gegeben habe. Sihdi, bist du mit mir einverstanden?“ „In diesem Falle, ja. Die Hiebe waren ganz gut angebracht.“ „Hamdulillah! Endlich giebst du dich einmal als wahren Freund meiner Nilpferdhaut zu erkennen. Das bringt dir den Glanz meiner Achtung und die Fülle meiner Ehrerbietung ein. Deine Zufriedenheit ist mir eine wahre Wonne!“ „Hoffentlich brauche ich sie dir auch in Beziehung auf dein Gespräch mit dem Wirte nicht vorzuenthalten?“ fragte ich mit gedämpfter Stimme. „Du brauchst nicht zu flüstern, sondern kannst so laut sprechen, wie es dir beliebt, Sihdi.“ „Wo ist er jetzt?“ „Er ruht in den Armen des heißen Zuckerwassers und hat den hineingegossenen Raki als Kissen unter den Kopf genommen.“ „Und sein Gehilfe, der Somali?“ „Bei dem ist's umgekehrt: Er liegt im Raki und hat das Zuckerwasser als Ruhekissen. Ihre Seelen lustwandeln in dem Lande der Träume, und aus ihren Kehlen erschallt die Musik aller Himmel Muhammeds. Horch!“ [43] Als wir still waren, hörten wir ein kräftiges, sägeartiges Schnarchen. „Das ist der Somali,“ erklärte Halef. „Er liegt mit dem Kopfe in der Holzkohlenasche und schneidet mit dem Minschar1) [1) Säge.] seines Gaumens Baumstämme auseinander.“ „Und der Kahwedschi?“ „Der ruht am Ufer des Flusses und war um keinen Preis dazu zu bewegen, herunter in das Wasser zu steigen; dann schlief er ein.“ „Am Flusse? Er hat das Haus verlassen?“ „Nein. Er stieg mit mir, um mir dort etwas zu geben, die unter das Dach führende Leiter hinan. Bei der Rückkehr sank er in Frieden neben der Leiter hin und sagte, wenn ich ertrinken wolle, möge ich allein hinunterspringen, er aber werde vorsichtig auf dem Trockenen bleiben. Wenn du ihn sehen willst, will ich dir ihn zeigen.“ „Was hat er dir gegeben?“ „Einen Brief.“ „An wen?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wer hat ihn geschrieben?“ „Auch das ist mir unbekannt.“ „Ist er nicht mit einer Adresse versehen?“ „Es stehen die Zeichen des Ringes darauf. Hier ist er.“ Er zog ein viereckig zusammengefaltetes und mehrfach versiegeltes Papier aus der Tasche und gab es mir. Man hatte sich eines gewöhnlichen Geldstückes als Petschaft bedient. Auf der Adreßseite sah ich ein mit Tinte [44] geschriebenes Sa, welches mit einem Lam verbunden war; darüber stand das Verdoppelungszeichen. „Er muß dir aber doch gesagt haben, für wen dieser Brief bestimmt ist,“ sagte ich. „Das hat er auch gethan.“ „Nun?“ „Der Mann, der ihn bekommen soll, heißt Ghulam.“ „Was ist er?“ „Das weiß ich nicht.“ „Wo wohnt er?“ „Auch das weiß ich nicht.“ „Höre, lieber Halef, du scheinst in dieser Angelegenheit nichts weniger als allwissend zu sein!“ „Dafür kann ich nicht, Sihdi, sondern das heiße Zuckerwasser mit Raki ist schuld. Der Kahwedschi wollte mir so sehr viel sagen, konnte sich aber auf nichts besinnen, weil sein ganzes Gedächtnis in dieser süßen Flüssigkeit ertrunken war und alle meine Wiederbelebungsversuche nichts mehr fruchteten.“ „So hast du dich ganz vergeblich bemüht; dieser Brief, der uns vielleicht von großem Vorteile sein könnte, wird uns keinen Nutzen bringen. Oder hast du es daran mangeln lassen, den Kahwedschi in der richtigen Weise auszufragen?“ „Nein, gewiß nicht, ganz gewiß nicht, Sihdi. Du kennst mich da nur zu wohl und weißt, daß ich den Mund auf der Stelle habe, wo er sitzen muß, wenn man jemandem ein Geheimnis abzulocken hat; aber die Geheimnisse dieses Mannes waren infolge seiner Betrunkenheit so außerordentlich geheim, daß er sie selbst nicht mehr kannte. Da war alle meine Mühe umsonst. Wenigstens glaube ich nicht, daß du, wenn du [45] an meiner Stelle gewesen wärest, mehr als ich erfahren hättest.“ „Möglich! Erzähle mir richtig der Reihe nach, was du mit ihm gesprochen hast! Wir sind in Bagdad übereingekommen, daß du einen Ring der Sillan stets bei dir haben sollst. Ich brauchte dir ihn heut' also nicht erst zu geben. Als du hier von uns fortgingst, saß der Kahwedschi da draußen im Vorraume auf seinem Kissen. Der Somali war bei ihm, schnarchte aber schon. Wir haben uns hier absichtlich laut und angelegentlich unterhalten, als ob wir gar keine Zeit hätten, zu bemerken, daß du so lange Zeit nicht bei uns warst. Nun weiter!“ „Weiter Sihdi? Ich habe ja noch gar nicht angefangen! Ich steckte den Ring an den Finger und schlenderte hinaus zu dem Kahwedschi hin. Ich war ihm sehr willkommen, und er fing sofort selbst mit mir an, denn er war sehr neugierig, zu erfahren, wer Ihr seid.“ „Jedenfalls hast du da den Mund sehr voll genommen!“ „Warum soll ich das nicht? Wenn ich einmal etwas in den Mund nehme, so muß es etwas Ordentliches sein, damit ich auch wirklich einen Genuß davon habe. Ich gab dich für den Minister des Sultans von Sitschilia1) [1) Sicilien.] und Mr. Lindsay für den obersten Sterndeuter des Kaisers von Antakijeh2) [2) Antiochien.] aus. Von mir selbst sagte ich, daß ich ein Montefik-Beduine bin und von Euch gemietet sei, Euch nach Buschir und Schiras zu begleiten. Sobald mir dies über die Lippen gegangen war, glaubte ich, einen Fehler gemacht zu haben, denn [46] der Kahwedschi brauchte doch nicht zu wissen, wohin wir wollen. Aber es waren mir nicht gleich andere Namen in den Mund und andere Gegenden in den Kopf gekommen, und es stellte sich nachher heraus, daß grad diese beiden Städte mir sein Herz geöffnet hatten. Er lud mich ein, mich zu ihm zu setzen, und als ich das gethan hatte, sprachen wir zunächst von den unendlichen Vorzügen des heißen Zuckerwassers, welches die eigentliche und richtige Weihe seines Vorhandenseins erst durch einen Zuguß von Araki bekommt. Dabei hielt und bewegte ich die Hand in der Weise, daß er den Ring sehen mußte. Es dauerte das zwar ziemlich lange, denn der Araki hatte die Zahl seiner Augen so vermehrt, daß er, wie er mir gestand, mich fünfzigmal sah und meine Hände sogar über zweihundertmal erblickte. Er schien also zweitausend Finger vor sich zu haben, was ihn so in Anspruch nahm, daß er für den Ring zunächst keine Spur von Aufmerksamkeit besitzen konnte. Aber als er ihn erst einmal entdeckt hatte, war der Eindruck, den er von ihm bekam, auch um so größer. Er bat mich, ihn betrachten zu dürfen. Natürlich erlaubte ich es ihm. Er gab mir die Hand und begrüßte mich als Sill, als „Schatten“, als Verbündeten, als heimlichen Kameraden. Er hielt mir eine große Rede, die aber so wenig Sinn hatte, daß sie nicht einmal als Unsinn bezeichnet werden kann. Ich konnte von hundert Worten, welche er sprach, kaum zehn verstehen, denn sein Mund glich einer mit Riri1) [1) Leim, Kleister.] gefüllten Tandschara2) [2) Topf.], in welcher sich die Zunge wie ein Quirl bewegte. Er erkundigte sich immer wieder, ob ich wirklich nach Buschehr und Schiras gehen werde, und als ich dies oft genug bejaht hatte, fragte [47] er mich, ob ich da wohl der Sill sei, der den Brief abholen solle, welcher an Ghulam abzugeben sei. Es versteht sich ganz von selbst, daß ich vorgab, dieser Mann zu sein und die beiden Fremden, den Minister und den Sterndeuter, nur aus dem Grunde in dieses Kaffeehaus geführt zu haben, um die Gelegenheit zu finden, den Brief in Empfang zu nehmen.“ „Das war richtig, lieber Halef. Aber hast du denn nicht herausbringen können, wer und was dieser Ghulam ist?“ „Nein. Ich sage dir, ich habe meinen ganzen Scharfsinn zusammengenommen; aber erstens war der Kahwedschi so betrunken, daß er alles vergessen hatte und sich auf nichts besinnen konnte, und zweitens mußte er doch annehmen, daß ich diesen Ghulam wenigstens ebenso gut kenne wie er. Eine unvorsichtige Frage hätte mich verraten; sie wäre das Eingeständnis gewesen, daß ich der Sill nicht sei, für den ich gelten wollte. Du siehst ein, daß ich mich sehr in acht zu nehmen hatte und keine Erkundigung, die ihm auffallen mußte, aussprechen durfte. Ich setzte zwar die Worte so, daß sie ihn eigentlich hätten zwingen müssen, sich über Ghulam auszusprechen, aber der Raki hatte ihm nur den hundersten Teil seines an und für sich schon armselig kleinen Verstandes übrig gelassen, und so redete er alles herüber und hinüber, herunter und hinauf, und brachte aber grad das nicht, was ich haben wollte.“ „Das ist fatal!“ „Vielleicht erfahren wir es unterwegs!“ „Schwerlich. Die Mißlichkeit liegt in dem Umstande, daß Ghulam zwar ein Name ist, aber auch einen Stand bedeutet. Ghulam kann jeder Mensch heißen; dieses Wort kommt im Persischen ebenso oft vor wie der [48] Name Halef im Arabischen. Ghulam ist aber auch ein Diener; besonders werden berittene Diener so genannt, und unter Ghulam Pätschä versteht man den Pagen, den jungen Leibdiener eines hohen Herrn. Du siehst also, daß wir uns in einer Ungewißheit befinden, die uns in Verlegenheit bringen kann.“ „Vielleicht könnte uns der Inhalt des Briefes Aufschluß geben?“ „Möglich!“ „So öffne ihn doch!“ „Ich gehöre nicht zu den Leuten, denen das Briefgeheimnis nicht heilig ist.“ „Briefgeheimnis? Erlaube, Sihdi, daß jeder Brief geschrieben wird, um gelesen zu werden. Dieser ist an Ghulam gerichtet, der ihn lesen soll. Weil wir aber nicht wissen, wer, was und wo dieser Ghulam ist, wird er ihn nicht bekommen, außer wir öffnen das Schreiben, um zu erfahren, wo und an wen wir es abzugeben haben. Das Oeffnen des Briefes ist also keine verbotene Handlung, sondern eine Notwendigkeit, und wenn wir ihr Gehorsam leisten, muß uns Ghulam dafür dankbar sein.“ „Wie schön du das zu sagen weißt, lieber Halef! Du bist immer der Schlaue!“ „Ja, der bin ich! Wenn die Länge deines Verstandes nicht ausreicht, so muß ich dir mit der Breite des meinigen zu Hilfe kommen. Das weißt du doch schon längst.“ „Leider aber gilt hier diese ganze Breite mit allen ihren Finessen nichts. Wenn wir den Adressaten des Briefes nicht kennen, haben wir uns bei dem, der dir das Schreiben übergeben hat, nach ihm zu erkundigen, also beim Kahwedschi. So ist die Sache.“ [49] „Das dürfen wir aber doch nicht!“ „So müssen wir den Brief zurückgeben.“ „Das fällt uns gar nicht ein! Sihdi, ich würde den Brief öffnen, ohne zu denken, daß ich dadurch einen Platz in der Hölle bekomme. Dein Gewissen aber ist nicht so kräftig wie das meinige, sondern im höchsten Grade tschapuk kydschyklanyr1) [1) Kitzlich.], was unter Umständen, wie der jetzige, tief zu beklagen ist. Gieb mir den Brief wieder! Ich werde ihn aufmachen, und dann kannst du ihn lesen, ohne dir Vorwürfe darüber machen zu müssen.“ „Ich halte das noch nicht für notwendig; wir haben ja Zeit zum Ueberlegen. Erzähle weiter!“ „Der Kahwedschi war bereit, mir den Brief anzuvertrauen, und da dies aber niemand sehen sollte, wollte er dies heimlich thun, denn auch der Somali durfte nichts davon wissen. Er bat mich darum, mit ihm hinauf unter das Dach zu steigen, wo er ihn versteckt hatte.“ „Vielleicht befindet sich da oben überhaupt ein Versteck für Dinge, welche sich auf die geheime Verbrüderung der Sillan beziehen?“ „Das ist möglich, Sihdi.“ „Hast du nichts bemerkt?“ „Nein.“ „Der Kahwedschi scheint als Postbeamter dieser Verbindung thätig zu sein; da ist es denkbar, daß man außer Briefen auch andere Dinge bei ihm niederlegt. Wo hatte er das Schreiben versteckt?“ „Das werde ich dir gleich sagen, sobald ich an die betreffende Stelle komme. Wir gingen in den Hof, wo die Leiter steht. Ich mußte ihn führen, denn er wankte [50] unausgesetzt zwischen dem Orient und dem Occident herüber und hinüber und knickte bei jedem Schritte zusammen, als ob er zehn übermäßige Kamellasten auf dem Rücken trage. Wie ich mit ihm die vielen Sprossen hinaufgekommen bin, das kann ich dir gar nicht sagen. Endlich oben angekommen, setzte er sich gleich nieder und wollte schlafen; er hatte alles, auch den Brief, vollständig vergessen, und ich mußte sehr lange in ihn hineinsprechen, ehe er sich besann, in welcher Absicht wir so mühsam heraufgeklettert waren.“ „Wie war der Raum beschaffen?“ „Er war so lang und breit wie das an vielen Stellen offene Rohrdach, aber so niedrig, daß man nicht aufrecht stehen konnte. Es lag da überall altes, wertloses Gerümpel herum, für welches ich nicht einen einzigen Piaster geboten hätte. Der Brief war in einen Lappen eingeschlagen und steckte in einer Ritze der Wand.“ „War diese Ritze groß?“ „Nein.“ „Steckte er allein darin?“ „Ja.“ „So bildete sie kein Sammelversteck und war bestimmt, nur ihn zu verbergen. Es ist mir das ein Beweis, daß es da oben überhaupt keine heimliche Stelle giebt, welche dem Sillan als Aufbewahrungsstätte dient. Es wird also wohl so sein, daß dem Kahwedschi nur zuweilen ein Brief zur Uebergabe an den Boten anvertraut wird. Wäre ein geheimes und regelmäßig benutztes Versteck vorhanden, so hätte der Wirt den Brief dahinein und nicht in die Wandritze gethan. Was hat er gesagt, als er dir ihn gab?“ „Auch wieder allerlei unverständliches Zeug. Als [51] ich ihn eingesteckt hatte und wir wieder an die Leiter kamen, um herabzusteigen, weigerte er sich, dies zu thun. Er glaubte plötzlich, am Flusse zu sein; er sah die Wogen fließen und hörte ihr Rauschen; darum setzte er sich nieder und war nicht zu bewegen, den Fuß auf die Leiter zu setzen. Er wollte nicht ersaufen, sagte er; dann fiel er vollends um und schlief sofort ein. Das ist alles, was ich dir sagen kann. Weiter habe ich nichts gesehen und nichts erfahren können.“ „So möchte ich einmal zu ihm gehen.“ „Versuche, ob du mehr erfährst als ich. Ich glaube aber nicht, daß es dir gelingt. Soll ich dir zeigen, wo er ist?“ „Ich finde ihn selbst; zeigen ist also nicht notwendig; aber mitgehen kannst du doch.“ Als wir durch den Vorderraum kamen, sah ich den Somali. Es war so, wie Halef gesagt hatte: Er hatte den Mangal umgerissen und lag mit dem Kopfe in der Holzkohlenasche. Sein überlautes Schnarchen klang wie das Sägewerk einer im Gang befindlichen Schneidemühle. Draußen im Hofe sah es fürchterlich aus. Gut, daß wir schon getrunken hatten. Dem Europäer, der nur einen kurzen Blick auf diesen Schmutz warf, war es gewiß unmöglich, drin im Kahwe auch nur einen einzigen Schluck zu genießen! Die Leiter lag an; ich stieg, von Halef gefolgt, hinauf und mußte in ein enges Loch kriechen, an dessen Rande der Wirt lag. Er hatte den Mund weit offen; sein Atem war unhörbar. Sein Zustand schien mehr Betäubung als Schlaf zu sein. Punsch und Grog sind eben nur für kalte Länder, nicht für den heißen Orient. Ein forschender Blick durch den niedrigen, von Unrat starrenden Raum sagte mir, daß hier kein Platz zu [52] einem wichtigen Verstecke sei. Ich steckte den goldenen Ring der Sillan als Erkennungszeichen an den Finger und rüttelte dann den Mann. Er wollte die Augen öffnen, brachte sie aber bei diesem ersten Versuche nicht auf. Ich rüttelte ihn stärker. „Laß mich in Ruh!“ knurrte er und wälzte sich auf die andere Seite, so daß er durch das Loch hinabgefallen wäre, wenn ich ihn nicht weggeschoben hätte. Da nahm ich ihn bei den Schultern, setzte ihn auf und schüttelte ihn so lange, bis er die Augen vollständig offen hatte. Er starrte mich an, sagte aber nichts. „Bist du wach? Kannst du sprechen?“ fragte ich ihn. „Spre - - - chen,“ wiederholte er mein letztes Wort mechanisch. „Kennst du mich?“ „Du - - mich - - -?“ „Weißt du, wer du bist?“ „Du - - bist - - -?“ Da hielt ich ihm den Ring vor die Augen und forderte ihn im strengsten Tone auf: „Schau diesen Ring an! Er sagt dir, wer und was ich bin.“ Er richtete sein Auge zunächst gleichgültig auf meine Hand. Sobald er aber den Ring erblickte, wurde er aufmerksamer. Er faßte die Hand und zog sie näher an sich, um Gestalt und Schrift des Ringes zu betrachten. Dann ging es wie Schreck über sein Gesicht. Er versuchte, sich aufzurichten, brachte es aber nicht fertig. „Hazret1) [1) Ew. Hochgeboren.] - - Hazret - - Hazret - -!“ stammelte er. Weiter brachte er kein Wort hervor. „Wach doch vollends auf, Mensch! Ermanne dich, und nimm dich zusammen! Du bist betrunken!“ [53] „Be - - trun - - ken - -?!“ Die Bedeutung dieses Wortes schien ihm nicht gleich gegenwärtig zu sein; er sann darüber nach. „Ja, betrunken bist du, vollständig betrunken!“ wiederholte ich. Da kam es wie eine Spur von Erkenntnis in sein Auge. Er schüttelte den Kopf und antwortete: „Nicht - - betrunken - - nicht! Ich kann - - kann - - ‚Die Ungläubigen‘ sagen, kann - - - sie sagen. Soll - - - soll ich?“ „Ja, sprich sie mir einmal vor, aber ohne Fehler!“ forderte ich ihn auf. „Die Ungläubigen“, das ist nämlich die Ueberschrift der hundertneunten Sure des Koran. Sie lautet: „Sprich: o ihr Ungläubigen, ich verehre nicht das, was ihr verehret, und ihr verehret nicht, was ich verehre, und ich werde auch nie verehren das, was ihr verehret, und ihr werdet nie verehren das, was ich verehre. Ihr habt eure Religion, und ich habe die meinige.“ In der deutschen Uebersetzung bietet dieser Text ja gar keine Schwierigkeiten; aber um so mehr muß derjenige aufpassen, der das arabische Original recitieren will. Ein Betrunkener bringt das gar nicht fertig; darum wird dieses Kurankapitel als Sura el Imtihan1) [1) Sure der Prüfung.] bezeichnet und auch sehr oft angewendet. Man fordert den Betrunkenen, welcher leugnet, betrunken zu sein, auf, diese Sure herzusagen. Bringt er das fehlerlos fertig, so hat er bewiesen, daß er nüchtern ist; verspricht er sich aber dabei, so ist sein Zustand zweifellos die Folge übermäßigen Trinkens. Jeder Muhammedaner kennt diese Eigenschaft und diese Anwendung der hundertneunten Sure, und auch dem Kah- [54] wedschi war sie bekannt. Kaum hatte ich das Wort betrunken ausgesprochen, so bot er mir an, durch diese Sure zu beweisen, daß er es nicht sei. Nachdem ich ihm meine Zustimmung dazu erteilt hatte, nahm er sich zusammen und begann: „Sprich, o - - - o ihr Un - - Ungläubigen, ich verehre, verehre - - nicht euch, und ihr was mich, was euch, was mir; ihr verehret mich und ich euch, und ihr - - - ihr habt - - - habt meine Religion - - - Religion - - ich habe eure - - - und ich - - - ich verehre - - - verehre mich nicht!“ „Dazu hast du auch ganz und gar keine Veranlassung!“ lachte ich, denn im Arabischen war die von ihm angerichtete heillose Verwirrung noch viel lächerlicher als in der deutschen Uebersetzung, welche ich hier gebe. „Du kannst die Sure nicht richtig sagen und bist also betrunken!“ „Be - - be - - be - -“ stammelte er. „O Hazret - - - der Raki - - Raki - - und hei - - heißes Zucker - - - Zuckerwasser - - - wasser!“ „Und nun du betrunken bist, weißt du nicht, was ich bin!“ warf ich ihm vor. „Was - - was - - - o, ich weiß - - - weiß sehr gut! Hazret bist - - - bist Sill - - - Sill - - - hoher Sill - - - sehr, sehr hoher Sill!“ „Das ist dein Glück, daß du wenigstens das noch siehst. Weißt du aber auch, daß du hier diesem Sill“ - ich deutete bei diesen Worten auf Halef - „den Brief gegeben hast, welchen Ghulam bekommen soll?“ „Brief - - ? Nein - - nein - - - nicht gegeben; habe noch!“ „Weißt du, von wem er ist, dieser Brief?“ [55] „Von - - von Esara el - - - el Awar1) [1) Esara, der Einäugige.], der ihn geschrieben und - - - und mir - - - mir gegeben hat.“ „Wo ist Esara jetzt?“ „Nach Kor - - - Korna, wo - - - wo er wohnt.“ „Und weißt du wirklich ganz gewiß, für wen der Brief bestimmt ist?“ „Für - - für Ghulam el - - el Multasim2) [2) Ghulam, der Pächter, Staatspächter.].“ „Und wo Ghulam sich jetzt befindet?“ „In - - in - - Straße nach - - ah - - ah!“ Da war es mit seiner Beherrschung zu Ende. Er fiel um, schloß die Augen und lag nun wieder so betäubt wie vorher. „Es ist aus, Sihdi,“ sagte Halef. „Du wirst nun nichts mehr von ihm erfahren, denn er hat - - -“ „Still!“ unterbrach ich ihn. „Komm wieder mit hinunter!“ Wir stiegen die Leiter hinab und kehrten zu Lindsay zurück, welcher sich erkundigte, ob wir noch etwas erfahren hätten. Halef antwortete: „Ich hätte es nicht für möglich gehalten, daß aus dem Betrunkenen noch etwas herauszubringen sei; dem Effendi ist es aber doch geglückt. Freilich, ich hätte mir die Fragen nicht getraut, die er ausgesprochen hat.“ „Warum nicht?“ erkundigte ich mich. „Weil ich sie für unvorsichtig gehalten hätte. Der Kahwedschi mußte doch hören, daß du nichts wußtest, und daraus schließen, daß du dich zwar für einen Sill ausgiebst, aber keiner bist.“ „Er mußte das hören? Mußte er das wirklich?“ [56] „Ja.“ „Er hat es aber nicht gehört. Und noch viel weniger hat er einen Schluß gezogen; sein Zustand war ja ein solcher, daß er gar nicht folgerichtig denken konnte. Er erkannte nicht einmal seinen Gast in mir!“ „Das weißt du jetzt, wußtest es aber nicht vorher!“ „Sei gnädig gegen mich, lieber Halef! Ich gönne dir es zwar ganz gern, mir auch einmal einen Fehler, eine Unvorsichtigkeit nachweisen zu können, aber dieses Mal befindest du dich im Irrtume. Schon ehe ich den Betrunkenen zu Worte brachte, sah ich es ihm an, wie weit ich gehen könne. Sodann sprach ich im Tone eines Vorgesetzten, der hören will, wie weit der Untergebene unterrichtet und ob er bei Besinnung ist. Meine Fragen hätten den Kahwedschi, selbst wenn er weniger betrunken gewesen wäre, gewiß nicht auf den Gedanken gebracht, daß ich nicht zu den Sillan gehöre. Er hatte ja schon vollständig vergessen, dir den Brief gegeben zu haben. Grad so wird er, wenn er aus seiner Betäubung erwacht, gar nicht mehr wissen, daß ich bei ihm gewesen bin und mit ihm gesprochen habe. Ich werde meinen Ring, zufrieden mit dem Resultate, jetzt wieder in die Tasche stecken.“ „Bist du wirklich zufrieden?“ „Ja.“ „Ich aber hätte doch noch sehr gern gehört, wo Ghulam zu finden ist. Es ist schade, daß er grad dabei wieder in den bewußtlosen Mangel an Besinnung zurückkehrte, aus welchem du ihn vorher zum mangelhaften Hersagen der Sure der Ungläubigen aufgeweckt hattest!“ „Ich verlange nicht mehr, als er geben konnte. Wir haben den Namen und den Wohnort des Absenders erfahren und wissen sogar, daß er einäugig ist, was uns [57] unter Umständen von Vorteil sein kann. Und wir wissen nun, daß Ghulam bloß ein Name und keine Standesbezeichnung ist. Der Mann heißt Ghulam el Multasim. Multasim bedeutet Pächter im allgemeinen und auch einen Staatsgutspächter im besonderen. Da in Persien die Zölle verpachtet sind, so ist dieser Ghulam wahrscheinlich ein Zollpächter.“ „Ja, Sihdi, wenn du aus seiner verworrenen Rede so bestimmte Schlüsse ziehst, so können wir, falls diese richtig sind, allerdings zufrieden sein.“ „Ich bin überzeugt, daß meine Vermutungen mich nicht irre führen. Vielleicht hat das, was wir hier erfahren haben, gar keine Folgen, keine Bedeutung für uns, aber da wir einmal schon so tief in die Geheimnisse der Sillan eingedrungen sind, so wollte ich auch die jetzige Gelegenheit benützen, etwas, und sei es noch so wenig, zu erfahren. Man weiß nicht, wozu es nützen kann.“ Da ergriff Lindsay das Wort: „Nun redet doch endlich auch einmal eine Silbe mit mir! Sitze da, wie ein Waisenknabe, um den sich kein Mensch bekümmert, und verstehe nichts von alledem, was da gesprochen wird.“ „Sobald wir auf dem Schiffe sind, wird Halef alles erzählen,“ tröstete ich ihn. „Well! Bin schrecklich neugierig darauf. Ist übrigens nun Zeit, an Bord zu gehen. Wollen wir?“ „Ja. Aber wir müssen bezahlen, und der Wirt wird schwer aufzuwecken und dazu zu bringen sein, uns richtig zu sagen, was wir ihm schulden.“ „Ist ganz leicht abzumachen. Schreiben auf einen Zettel, was wir bekommen haben, schätzen das nach unserer Weise ab, wickeln das Geld in den Zettel und stecken es ihm in die Tasche. Nicht?“ [58] „Ich halte das auch für das beste und kürzeste.“ „Well, werde das also machen. Ich zahle, Ihr nicht!“ Er riß ein Blatt aus seinem Merkbuche, notierte die Getränke darauf und wickelte das, was er dafür geben wollte und was jedenfalls nicht zu wenig war, hinein. Dann gingen wir in den Hof zu unsern Pferden, und er stieg die Leiter hinan, um dem Wirte den Betrag in die Tasche zu stecken. Während er das that, führten wir beiden andern unsere Pferde vor das Haus, um uns dann nach dem Dampfer zu begeben, der ein Engländer mit vollständig englischer Bemannung war. Da traten zwei Männer durch das Mauerthor und kamen auf uns zu. Es war ihnen gleich beim ersten Blicke anzusehen, daß sie echte Söhne Old Englands seien. Beide hatten sonnverbrannte Gesichter. Den einen hielt ich sogleich für einen Seemann. Der andre war in neuwaschen glänzendes Weiß gekleidet, trug einen hellen Tropenhelm mit blauseidenem Schleier auf dem Kopfe, hellbraune Glacéhandschuhe an den Händen und an einer auffallend starken, goldenen Kette einen Klemmer auf der Nase. Diesem war die Zufriedenheit mit sich selbst sofort beim ersten Blicke anzusehen. Sie blieben vor unsern Pferden stehen. „Herrliche Tiere!“ meinte der Seemann. „Araber,“ sagte der andere. „Unkultiviertes Geschlecht! Nur der Engländer weiß, was aus edlem Blute zu machen ist.“ „Sind diese nicht Rasse?“ „Freilich wohl, doch nicht von wohlüberlegter Zucht. Man sieht und kennt das ja! Alles Natur, aber eben bloß Natur. Kein Einfluß kennerischen Denkens. Wir Kavalleristen bemerken das sofort.“ [59] Sie sprachen selbstverständlich englisch. Halef verstand nicht, was sie sagten, aber er sah dem weißen Gentleman an, daß seine Worte kein Lob enthielten. Sein Gesicht verfinsterte sich. Da wendete sich dieser kurz und befehlend in arabischer Sprache an uns: „Wer seid ihr?“ Er erhielt keine Antwort. „Wer ihr seid, habe ich gefragt!“ wiederholte er, indem seine Brauen sich zusammenzogen. Und als wir auch jetzt still blieben, wendete er sich direkt an den kleinen Hadschi: „Seid ihr stumm? Alle beide? Wie ist dein Name?“ Das geschah in so verweisendem Tone, von oben herab und geringschätzig, daß der Gefragte ihm auch jetzt nicht antwortete, aber zu mir sagte: „Ja istiksa - welch eine Neugierde! Wer ist dieser Mensch, der nur den Stolz aber keinen Gruß auf den Lippen hat?“ Der Englishman schien das Arabische besser zu verstehen, als er es sprach. Er trat nahe an Halef heran, hob die Hand empor und rief: „Mensch nennst du mich? Kerl, ich bin General! Soll ich dir meinen Gruß hinter die Ohren schreiben?“ „Lerne erst richtig reden, ehe du zu drohen wagst!“ antwortete der Hadschi. „Kleine, freche Kröte!“ Da riß Halef die Peitsche aus seinem Gürtel, und es hätte wohl eine unangenehme Scene gegeben, wenn unsere Aufmerksamkeit nicht grad in diesem Augenblicke abgelenkt worden wäre: „Bill! Du, du, Bill, hier in Basra?!“ erklang es hinter uns. Wir drehten uns um. Da stand Lindsay und starrte [60] den General mit einem Erstaunen an, welches unmöglich größer sein konnte, als es sich sowohl in seiner Haltung als auch in seinem Gesicht aussprach. „Ich denke, du bist in Kalkutta!“ fügte er hinzu. „Davy! Alter Davy!“ rief der Offizier. „Ist es möglich? Ich habe geglaubt, du seist daheim!“ Sie nannten sich du. Sie waren also bekannte Freunde, vielleicht gar Verwandte. Wer aber geglaubt hätte, daß nun eine herzliche Begrüßung erfolgen werde, der wäre außerordentlich vom Irrtum befangen gewesen. Sie gingen auf einander zu, reichten sich die Hände, und damit war dem gutgeschulten Herzen wenigstens des einen volle Genüge geschehen. „Du, du also bist der Gentleman!“ meinte hierauf der General. „Welcher Gentleman?“ fragte Lindsay. „Der drei Plätze auf dem Steamer des Kapitäns hier genommen hat.“ „Der bin ich allerdings.“ „Mußt mir zwei abtreten!“ „Unmöglich, Bill!“ „Pshaw! Wollte eigentlich alle drei haben. Da du es aber bist, sollst du einen behalten. Die beiden andern jedoch muß ich unbedingt haben!“ „Geht nicht!“ „Muß gehen! Bin zu spät von Kut herabgekommen. Wurde vom Konsul aufgehalten. Bin in geheimer, wichtiger Mission hier. Wurde dazu gewählt wegen meiner Erfahrungen und weil ich arabisch sprechen kann. Weißt du: Maskat - - russische und französische Einflüsse - - Landverbindung zwischen Konstantinopel und Bagdad bis Schatt el Arab - - Beherrschung des persischen Golfes - - - habe schwierige Instruktionen [61] - - jede andere Rücksicht muß sich unterordnen - - kam den Tigris herab - - - war in Bagdad - - muß nach Buschihr - - von da nach Schiras und das Innere von Persien - - -“ „Das ist ja auch unsere Route!“ unterbrach ihn Lindsay. „Können uns also zusammenschließen!“ „Du? Auch nach Persien? Well! Nehme grad dich unendlich gern mit. Hörte in Kut von dem englischen Steamer, welcher nach Bischihr geht. Bin sogleich herab; hörte, daß ein vornehmer Gentleman die drei Kabinen genommen habe. Er sei hier im Kaffeehause. Habe sie natürlich für mich belegt. Alles muß zurücktreten! Ging aber, da er als vornehm bezeichnet wurde, hierher, aus Höflichkeit, es ihm selbst zu sagen. Finde zu meiner Freude, daß du es bist, old Davy. Sollst einen der drei Plätze behalten dürfen. Werde mich einschränken - - nur dir zu liebe!“ „Aber, das ist ja unmöglich, lieber Vetter!“ behauptete Lindsay im Tone der Verlegenheit. „Warum?“ „Weil die drei Plätze für mich und diese meine beiden Freunde sind.“ Er deutete bei diesen Worten auf Halef und mich. Der General hielt es gar nicht für nötig, uns sein Auge wieder zuzuwenden, und sagte, indem er seine Hand zum Ausdrucke unendlicher Geringschätzung hinter sich bewegte: „Freunde? Yes ! Ich kenne dich. Wieder einmal deine alte, wohlbekannte Humanitätsbetrunkenheit! Hast ganz vergessen, welche Entfernungen zwischen Mensch im niedern und Mensch in höherm Sinne liegen! Wirst dich daheim noch ganz unmöglich machen! Wer sind denn diese Leute? Besonders der Kleine, der Knirps, dem ich soeben eine Ohrfeige geben wollte!“ [62] „Ohrfeige?“ fiel da Lindsay rasch und erschrocken ein. „Daran denke ja nicht! Das wäre dein Tod!“ „Tod? Bist du bei Sinnen?!“ „Sehr! Dieser Araber würde eine solche Beleidigung augenblicklich mit der Kugel oder dem Messer beantworten!“ „Pshaw!“ „Gewiß! Versuche so etwas auf keinen Fall! Er ist Hadschi Halef, der Scheik der Haddedihn, ein weitberühmter Krieger, der nicht mit sich spaßen läßt!“ „Spaßen? Ist mir auch gar nicht in den Sinn gekommen! Wenn ich Ohrfeigen gebe, so thue ich das im Ernst. Und Scheik? Kann nicht imponieren. Orang bleibt Orang, und wenn er der Anführer anderer Orangs ist! Und der zweite Kerl, für den ich gar nicht vorhanden zu sein scheine? Impertinentes Gesicht!“ „Ist Hadschi Kara Ben Nemsi.“ „Araber?“ „Nein, Deutscher.“ „Das ist nicht viel anders! Diese Sorte treibt sich überall herum. Ist jedem wahren Gentleman im Wege!“ „Bitte! Er spricht und versteht das Englische!“ „Mir gleichgültig!“ „Aber mir nicht, lieber Bill! Wiederhole dir, daß diese Männer meine Freunde sind, mit denen ich nach Persien will. Die beiden Plätze gehören ihnen, und ich bin überzeugt, daß es ihnen nicht einfällt, sie dir abzutreten.“ „Gar keine Frage! Das ist abgemacht! Sie mögen sich bei dem Gepäck unterbringen lassen. Dahin gehören sie, nicht zu uns!“ „Bringst mich in Verlegenheit! Unendliche Verlegenheit! Wollen doch erst noch einmal an Bord. Muß [63] gleich nachsehen, ob das nicht noch anders zu arrangieren ist!“ „So komm!“ Er nahm Lindsay beim Arme und zog ihn fort. Dieser ging eine kleine Strecke mit, machte sich dann von ihm frei, kam zu uns zurück und sagte: „Habt alles mit angehört? Fatale Lage für mich! Ist nahe verwandt mit mir. Hochbedeutender Mann! Vortrefflicher Offizier und Diplomat! Steht in Indien. Hat jedenfalls bedeutende Vollmachten. Muß mich fügen. Was sagt ihr dazu?“ Der gute David that mir unendlich leid. Der reine Mensch kam in ihm mit dem Menschen von Old England in Konflikt. Aber ich konnte ihm doch nichts anderes als nur die Wahrheit sagen: „Mag dieser Steamer noch so groß sein, für ihn und uns zu gleicher Zeit giebt es keinen Platz an Bord. Ein Zusammenstoß wäre gar nicht zu vermeiden. Orang-Utans verhalten sich nicht immer so zurückhaltend, wie es jetzt und hier geschehen ist!“ „Richtig! Miserabler Ausdruck von ihm! Bin euch dankbar, unendlich dankbar, daß ihr stillgeblieben seid! Gehe natürlich mit euch viel lieber als mit ihm. Muß ihm aber doch nach! Werde ihm alles genau sagen und vorstellen. Ihr tretet die Plätze also nicht ab?“ „Nein!“ „Well! Habe ihm das klar zu machen. Wartet hier, bis ich wiederkomme. Werde es so kurz wie möglich machen!“ Er eilte den beiden Gentlemen nach. „Hast du alles verstanden, Sihdi?“ fragte Halef nun. „Ja.“ „Was wurde gesprochen?“ [64] Ich gab ihm kurze Antwort. Die Beleidigungen verschwieg ich natürlich. Dann meinte er: „Dieser Inglis erhob die Hand gegen mich. Er ahnte nicht, was er dabei wagte. Du sagst mir, daß er ein Verwandter unsers Freundes sei. Darum will ich nicht weiter über ihn sprechen, sondern schweigen. Komm, laß uns von hier fortgehen, durch das Thor, damit wir Lindsay schon von weitem sehen, wenn er kommt!“ Wir entfernten uns, die Pferde natürlich mitnehmend, so weit von dem Kaffeehause, daß wir den Steamer liegen sahen. Dort setzten wir uns auf die Steine nieder, um zu warten. Es war für den Dampfer noch nicht Zeit, abzugehen, doch ließ er schon nach wenigen Minuten die Pfeife dreimal hören, und wir sahen, daß er sich in Bewegung setzte. „Geht er fort?“ fragte Halef. „Wie es scheint.“ „Mit Lindsay. Der hat ihn doch noch nicht verlassen!“ „Allerdings sonderbar! Komm, laß uns sehen!“ Wir stiegen auf die Pferde und ritten schnell die kurze Strecke hinab, bis wir uns dem Steamer gegenüber befanden. Er hatte schon das tiefe Fahrwasser gewonnen. Am Regeling stand Lindsay, der nach uns ausschaute. Als er uns sah, rief er uns zu: „Kann nichts dafür! Bin überlistet worden! Soll ich in das Wasser springen und zu euch an das Ufer schwimmen?“ „Nein,“ antwortete ich. „Well! Lebt einstweilen wohl! Werde in Schiras auf euch warten. Darf ich?“ „Wie es Euch beliebt.“ „Will es thun. Auf Wiedersehn!“ [65] Da trat der General zu ihm und zog ihn mit sich fort. „Ist das Schiff abgegangen?“ fragte Halef. „Ja. Man hat Lindsay nichts davon gesagt. Nun muß er mit.“ Da schlug Halef die Hände froh wie ein Kind zusammen und rief aus: „Alhamdulillah!1) [1) Allah sei Dank.] Ich wollte es nicht gern eingestehen, Sihdi; aber mein Herz war tief betrübt, dich nicht mehr ganz allein zu haben! Dieser Inglis ist mir lieb; aber daß ich dich mit ihm zu teilen hatte, das raubte mir die Ruhe meines Innern. Wie freut es mich, daß du mir nun ganz zurückgegeben bist! Allah sendet zuweilen Augenblicke des Verzichtes, damit wir sehen und erkennen sollen, wie hoch der Wert dessen ist, was er uns beschieden hat. - Was aber thun wir nun? Noch eine Nacht in Basra bleiben?“ „Nein. Wir müßten am Kanale hin, nach der alten Stadt zurück, um unsere dumpfe Wohnung aufzusuchen.“ „Das war ein altes, stinkendes Loch, und doch sollte es die beste Wohnung sein, die es gab. Es hat mich vor dem Moderduft gegraut und vor dem faulen Wasser, welches wir zu trinken bekamen. Das Fieber brütet hier an jeder Stelle. Am liebsten möchte ich weit vom Flusse fort!“ „Ich bin einverstanden. Fahren wir noch über!“ „Mit demselben Fährmanne?“ „Ja. Ich vermute, daß er deine Peitsche noch nicht vergessen hat.“ „Schau, wie du plötzlich mit ihr einverstanden bist!“ „Einverstanden ist nicht das richtige Wort, lieber [66] Halef, du wirst mich in dieser Beziehung schon noch begreifen lernen. Komm!“ „Ja, komm, Sihdi! Wollen dem Inglis eine gute Reise wünschen; uns aber auch! Wir waren zwar nur kurze Zeit hier; aber ich habe etwas in mir, was überflüssig ist. Wie ich es nennen soll, das weiß ich nicht, doch fühle ich ganz deutlich, daß es da ist. Hoffentlich werde ich diese Empfindung auf den freien, lichten Höhen des Gebirges wieder los!“ Wir ritten nach der Fähre. Der Mann saß da und schlief. Seine beiden Gehilfen lagen in seiner Nähe und - - schliefen auch. Als wir die Schläfer weckten, wollte der Gebieter des Fahrzeuges grob werden; er hatte die Augen noch nicht ganz offen. Sobald sie aber geöffnet waren und er uns erkannte, sprang er auf und war zur Arbeit bereit. Es wurde der Preis ausgemacht, wobei er sich sehr gefügig zeigte. Als wir ihn dann am andern Ufer bezahlten und er ein kleines Extrageschenk erhielt, war er des Lobes unserer Güte voll. Halef lächelte über diesen Erfolg seiner Peitsche still in sich hinein. Wir ritten so lange, als es hell blieb, über die jenseitige Ebene. Als es dunkelte, machten wir bei einem wilden Dattelgestrüpp Halt, um da zu übernachten, weil es reichlich und gutes Gras für die Pferde gab. Wir befanden uns zwar auch hier noch auf feuchtem Stromgebiete, doch war die Luft eine andere als in der dumpfen, arg verpesteten Stadt, und wir thaten einen so festen und ununterbrochenen Schlaf, daß wir erst erwachten, als die Sonne längst schon aufgegangen war. - - - [67] Zweites Kapitel. Ueber die Grenze. „Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“ Wir waren stundenlang schweigsam nebeneinander her geritten, und nun erklang diese Frage so plötzlich, so unerwartet, so unmotiviert, daß ich den Sprecher erstaunt ansah und keine Antwort gab. Das arabische Wort Sihdi bedeutet „Herr“. So pflegte mich Halef noch immer zu nennen, obgleich wir schon längst nicht mehr Herr und Diener, sondern Freunde waren. „Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“ wiederholte er seine Frage, als ob er annehme, daß ich ihn nicht verstanden habe. „Du kennst ja meine Ansicht über den Tod,“ antwortete ich nun. „Er ist für mich nicht vorhanden.“ „Für mich auch nicht. Das weißt du wohl. Aber ich habe dich nicht nach dem Tode, sondern nach dem Sterben gefragt. Dieses ist da, kein Mensch kann es wegleugnen!“ „So sage mir zunächst, wie du zu dieser Frage kommst! Mein lieber, heiterer, stets lebensfroher Hadschi [68] Halef spricht vom Sterben! Hast du etwa einen besonderen Grund zu dieser deiner Frage?“ „Nein. Von meiner Seele, meinem Geiste, meinem Verstande wurde sie nicht ausgesprochen, sondern sie ist mir aus den Gliedern in den Mund gestiegen.“ Das klang wohl sonderbar; aber ich kannte meinen Halef. Er pflegte mit dergleichen, für den ersten Augenblick auffälligen Ausdrücken immer den Nagel auf den Kopf zu treffen. Darum wiederholte ich seine Worte: „Aus den Gliedern? Fühlst du dich vielleicht nicht wohl?“ „Es fehlt mir nichts, Sihdi. Ich bin so gesund und so stark wie immer. Aber es ist etwas in mich hineingekrochen, was nicht hinein gehört. Es ist etwas Fremdes, etwas Ueberflüssiges, was ich nicht in mir dulden darf. Es steckt in meinen Gliedern, in den Armen, in den Beinen, in jeder Gegend meines Körpers. Ich weiß nicht, wie es heißt und was es will. Und dieses unbekannte, lästige Ding ist es, welches dich über das Sterben gefragt hat.“ „So wird es wohl wieder verschwinden, wenn wir es gar nicht beachten, ihm gar keine Antwort geben.“ „Meinst du? Gut; wollen das versuchen!“ Er kehrte nach diesen Worten in sein früheres Schweigen zurück. Der liebe, kleine, so gern lustige Hadschi war seit gestern oder wohl schon seit vorgestern ungewöhnlich ernst und in sich gekehrt gewesen, bei ihm eine Seltenheit. Ich hatte angenommen, daß ihn irgend ein Gedanke innerlich beschäftige; nun aber wußte ich, daß dies nicht der Fall gewesen sei. Es war eine körperliche Indisposition vorhanden, von der ich annahm, daß sie bald vorübergehen werde. [69] Wir waren von Basra über Muhammera und Doraq an den um diese Zeit ziemlich wasserreichen Dscherrahi gekommen und hatten uns von ihm in die Berge des südlichen Luristan führen lassen. Nun war der Fluß längst verschwunden, und wir befanden uns in einem wasserarmen Gebiete, wo der Regen höchst selten und dann nur als kurzes, aber verheerendes Gewitter aufzutreten pflegt. Die Höhen ragten schroff und steil empor. Ihre Hänge waren kahl. Man sah keinen Baum, nur hie und da einen durstigen Strauch. Die Sonne brannte am Tage heiß hernieder; die Nächte hingegen waren empfindlich kalt, und wo es in den Schluchtentiefen mit Gras bewachsene Stellen gab, da hatte dieses Grün sein Dasein nur dem Tau der kalten, wunderbar sternenhellen Nächte zu verdanken. Wir glaubten, morgen den obersten Zufluß des Quran zu erreichen. Dort, wo es Wald und Wasser gab, wollten wir uns ausruhen und unseren Pferden einige Tage Zeit lassen, sich von der jetzigen Anstrengung zu erholen. Jetzt war es Nachmittag. Wir strebten einem Höhenkamm zu, dessen Erklimmen die Kräfte unserer Pferde so in Anspruch nahm, daß wir, als wir endlich oben angekommen waren, für einige Zeit anhielten, um sie verschnaufen zu lassen. Tief unter uns sahen wir das leere, wild zerrissene Bett eines Regenbaches, dem wir zu folgen hatten, wenn wir den jenseitigen Gebirgszug erreichen wollten. Ich sprach die Hoffnung aus, daß sich dort ein zum Uebernachten geeigneter Ort finden lassen werde. Aber Halef ging nicht, wie ich geglaubt hatte, auf diesen Gedanken ein, sondern er sagte: „Sihdi, ich habe es versucht, doch vergeblich. Die Frage kommt immer wieder. Wie denkst du über das Sterben? Antworte mir; ich bitte dich!“ [70] „Lieber Halef, meinst du nicht, daß es besser wäre, von etwas anderem zu sprechen?“ „Besser oder nicht besser; ich kann jetzt an nichts anderes denken. Es ist, wie ich schon sagte, nicht der Tod, den ich meine. Den habe auch ich früher für etwas Wahres gehalten, jetzt aber weiß ich, daß er nichts als Täuschung ist. Wenn wir von ihm sprechen, so meinen wir eben das Sterben, welches doch kein Tod ist. Hast du schon darüber nachgedacht?“ „Natürlich! Jeder ernste Mensch wird das thun. Warum fragst du denn nicht dich selbst? Du hast doch ebenso wie ich schon Menschen sterben sehen?“ „Nein, noch keinen!“ „Wieso? Ich habe doch mit dir vor Sterbenden gestanden!“ „Allerdings. Aber sterben sehen habe ich trotzdem noch keinen Einzigen. Man legt sich hin; man schließt die Augen; man röchelt; man hört auf zu atmen; dann ist man gestorben. Aber was ist dabei geschehen? Hat etwas aufgehört? Hat etwas angefangen? Hat sich etwas fortgesetzt, nur in anderer als der bisherigen Weise? Kannst du mir das sagen?“ „Nein, das kann ich nicht. Das kann überhaupt kein Lebender. Und wenn die Gestorbenen wiederkommen und zu uns sprechen könnten, wer weiß, ob sie es vermöchten, deine Frage zu beantworten. Sie würden vielleicht auch nichts weiter sagen können, als daß im Sterben die Seele von dem Leib geschieden wird.“ „Von ihm geschieden! Wo kam sie her? Wurde sie ihm gegeben? Ist sie in ihm entstanden? Was hat sie in ihm gewollt? Geht sie gern von ihm? Oder thut ihr das Scheiden von ihm weh?“ „Lieber Halef, ich bitte dich, von diesem Gegenstande [71] abzubrechen! Was Gott allein wissen darf, das soll der Mensch nicht wissen wollen!“ „Woher weißt du, daß nur Allah es wissen darf? Das Sterben ist ein Scheiden. Ich darf ja wissen, wohin mich dieses Scheiden führen soll, nämlich in Allahs Himmel. Warum soll es mir verboten sein, zu erfahren, in welcher Weise dieser Abschied vor sich geht? Höre, Sihdi, während du in der vergangenen Nacht schliefest, habe ich darüber nachgedacht. Soll ich dir sagen, was mir da in den Sinn gekommen ist?“ „Ja. Sprich!“ „Ich bin der Scheik der Haddedihn, ein in der Dschesireh sehr reich gewordener Mann. Worin besteht mein Reichtum? In meinen Herden. Da sendet mir der Sultan einen Boten, durch welchen er mir sagen läßt, daß ich nach drei oder fünf Jahren in die Gegend von Edreneh ziehen soll, um Rosen zu züchten, welche mir den Duft ihres Oeles zu geben haben. Was werde ich thun? Kann ich meine Herden mitnehmen? Nein. Ich werde sie nach und nach aufgeben, um mir an ihrer Stelle anzueignen, was mir dort in Edreneh von Nutzen ist. Und wenn ich das gethan habe, so kann ich, wenn die Zeit gekommen ist, aus meinem bisherigen Lande scheiden, ohne mitnehmen zu müssen, was im neuen Lande mir nur hinderlich sein würde. So ist es auch beim Sterben. Ich wohne in diesem Leben, doch Allah hat mir seine Boten gesandt, welche mir sagen, daß ich für ein anderes bestimmt bin. Nun frage ich mich, was ich in jenem anderen Leben brauchen werde. Früher glaubte ich, es sei nichts weiter nötig, als nur der Kuran und seine Gerechtigkeit. Aber ich lernte dich kennen und erfuhr, daß diese Gerechtigkeit bei Allah nicht einen Para Wert besitzt. Ich weiß jetzt, was ich hier hinzu- [72] geben und was ich mir dafür für dort einzutauschen habe. Ich will Liebe anstatt des Hasses, Güte anstatt der Unduldsamkeit, Menschenfreundlichkeit anstatt des Stolzes, Versöhnlichkeit anstatt der Rachgier, und so könnte ich dir noch vieles andere sagen. Weißt du, was das heißt, und was das bedeutet? Ich habe aufzuhören, zu sein, der ich war, und ich habe anzufangen, ein ganz Anderer zu werden. Ich habe zu sterben, an jedem Tage und an jeder Stunde, und an jedem dieser Tage und an jeder dieser Stunden wird dafür etwas Neues und Besseres in mir geboren werden. Und wenn der letzte Rest des Alten verschwunden ist, so bin ich völlig neu geworden; ich kann nach Edreneh, nach Allahs Himmel gehen, und das, was wir das Sterben nennen, wird grad das Gegenteil davon, nämlich das Aufhören des immerwährenden bisherigen Sterbens sein!“ Nachdem er dies gesagt hatte, sah er mich erwartungsvoll an. Ich war nicht nur erstaunt, ich war sogar betroffen. War es denn möglich, daß mein Hadschi derartige Gedanken hegen und solche Worte sprechen konnte?! „Halef, sag mir aufrichtig: „Bist du krank?“ fragte ich ihn. „Krank?“ lächelte er. „Du meinst im Kopfe? Ist das, was ich gesagt habe, so thöricht gewesen?“ „Nein. Unklar zwar, aber so gut, so gut! Ich meine körperlich krank.“ „Ich sagte dir doch schon, daß ich gesund bin. Ein klein wenig matt bin ich seit gestern, und heut drückt etwas gegen meine Stirn. Die Sonne schien an diesen beiden Tagen gar so heiß. Das ist der Grund. Zu sagen hat es nichts.“ „Und anstatt zu schlafen, hast du deinen Gedanken [73] nachgehangen. Wir werden heut eher als gewöhnlich Rast machen. Dir ist Ruhe nötig. Komm; reiten wir weiter!“ Es ging nur langsam in das Thal hinab, und dann folgten wir dem Regenbette, dessen Windungen uns wieder aufwärts führten. An einer schmalen Stelle ritt ich voran, als hinter mir ein lautes, zitterndes „Huh u uh!“ erklang. „Was war das?“ fragte ich, indem ich mich umdrehte. „Mich fror ganz plötzlich,“ antwortete Halef. Ich sagte nichts, aber ich begann, besorgt um ihn zu werden. Der wackere Hadschi besaß eine fast ebenso eiserne Gesundheit wie ich selbst, doch war es sehr leicht möglich, daß er während unseres Aufenthaltes in dem höchst ungesunden Basra einen Ansteckungsstoff in sich aufgenommen hatte, der nun in ihm zu wirken begann. Als wir höher kamen, erhob sich ein scharfer Wind. Die Nacht versprach sehr kalt zu werden, und das Gesicht Halefs zeigte eine Entfärbung, die mir nicht gefiel. Ich wünschte sehr, baldigst an eine vom Zuge freie Stelle zu kommen, wo wir zur Nacht bleiben konnten. Dieses Verlangen wurde auch sehr bald erfüllt, wenn auch in anderer Weise, als ich erwartet hatte. Wir erreichten das Ende oder vielmehr den Anfang des Regenbaches. Zwei Bergeshänge stießen zusammen und bildeten ein Becken, dessen undurchlässiger Felsengrund das Wasser angesammelt hatte. Es gab infolge der Feuchtigkeit da allerlei Gesträuch, mit Hilfe dessen man sich ein wärmendes Lagerfeuer gestatten konnte. Das war uns beiden natürlich sehr willkommen. Weniger erfreulich aber war, daß wir die Stelle schon besetzt fanden. Es lagen ein Dutzend Männer da, deren abgesattelte [74] Pferde am Wasser grasten. Die Leute sprangen auf, als sie uns kommen sahen. Ihre zurücktretenden Stirnen und hohen Hinterköpfe ließen mich vermuten, daß sie Luren waren. Bewaffnet waren sie nicht besser und nicht schlechter als alle diese Bergbewohner. Ihre Kleidung war die gewöhnlicher armer Nomaden, und auch unter ihren Pferden gab es keines, welches einen besonderen Wert gehabt hätte. Ob wir in ihnen ehrliche oder unehrliche Leute vor uns hatten, das wußten wir natürlich nicht, doch waren wir gewohnt, vorsichtig zu sein. Daß sie uns mit neugierigen und unsere Pferde mit bewundernden Blicken betrachteten, konnte uns nicht auffallen. Und ebensowenig erregte es unser Bedenken, daß sie unseren Gruß nicht abwarteten, sondern uns in jenem Gemisch von Arabisch, Persisch und Kurdisch willkommen hießen, welches man in diesem Grenzgebiete so oft zu hören bekommt. Es gab unweit des Wassers einen alten Mauerrest, der gegen den Wind schützte; jedenfalls die beste Lagerstelle hier an diesem Platze. Sie wurde uns sofort und freiwillig angeboten, und wir machten von dieser Zuvorkommenheit recht gern Gebrauch. Man fragte uns nicht nach Namen, Stand und Herkommen, auch nicht nach der Religion, was hier, wo Sunniten und Schiiten einander stets feindlich gegenüberstehen, eine Seltenheit war. Auch gab es keine der gewöhnlichen Aufdringlichkeiten, denen man bei dem Zusammentreffen mit derartigen Leuten fast stets ausgesetzt ist. Kurz, wir fanden keinen Grund, wegen der Anwesenheit dieser Männer um uns besorgt zu sein. Selbst als wir unsere Pferde abgesattelt hatten, belästigten sie weder die Tiere noch gaben sie ihre Urteile über sie in jener lauten, lärmenden Weise ab, welche zu- [75] dringlich ist. Auch unsere, besonders meine Waffen fielen ihnen auf; das sahen wir ja, aber sie gestatteten sich nicht, uns nach ihnen zu fragen oder gar sie zu berühren und zu untersuchen. Wir waren in ihren Augen vornehme Fremde, denen sie mit Achtung und Rücksicht zu begegnen hatten. Diesen Eindruck machten sie auf uns. Sie gingen nur ein einziges Mal aus ihrer höflichen Zurückhaltung heraus. Nämlich als Halef Holz zu sammeln begann, um für uns ein Feuer anzuzünden, leisteten sie ihm bereitwilligst Hilfe; dann aber hielten sie sich wieder so entfernt von uns wie vorher. Trotz allem beschloß ich, zu wachen, während der Hadschi schlafen würde. Die Ruhe that ihm not. Ich nahm von unseren Datteln und aß. Halef versicherte, weder Hunger noch Appetit zu haben. Das hörte ich nicht gern. Dann sah ich wiederholt, daß er in sich zusammenschauerte. „Friert dich wieder?“ fragte ich ihn. „Ja,“ antwortete er. „Aber es ist wie ein Frieren ohne Kälte. Ich möchte gern etwas recht Heißes trinken. Meinst du, daß ich diese Leute hier um etwas Kaffee bitten dürfte?“ Die Nomaden hatten nämlich auf ihrem Feuer ein großes Blechgefäß stehen, in welchem sie Kaffee kochten. Der Geruch dieses Getränkes verfehlte auch auf mich seine Wirkung nicht. Ich ging also hin zu ihnen und brachte unser Anliegen vor. Ich sah ganz deutlich, daß man sich herzlich darüber freute, uns diesen Gefallen erweisen zu können. Der, welcher ihr Anführer zu sein schien, sagte: „Herr, Ihr steigt in großer Güte zu uns nieder. Wir sind arme Leute, und dieser Kaffee wurde so bereitet, wie er sich für uns ziemt. Ihr aber sollt einen [76] anderen, viel besseren haben, der Euer würdig ist. Habt nur einige Minuten Geduld; dann wird er fertig sein.“ Wir hätten ihn ja auch so genommen, wie sie ihn hatten; aber wenn man an Stelle des weniger Guten etwas Besseres bekommen kann, so wäre man ein Thor, es abzulehnen. Uebrigens pflegt man in jenen Gegenden dem Kaffee Gewürz beizumischen, welches nicht hinein gehört. Der, welchen sie jetzt tranken, duftete ziemlich stark nach Cardamomen, und das war weder nach meinem noch nach Halefs Geschmack. Ich erlaubte mir, ihnen dies zu sagen. Der Mann antwortete so schnell und bereitwillig, daß es mir unter anderen Umständen ganz gewiß aufgefallen wäre: „Wir werden den Eurigen nicht würzen, Herr. Aber unsere Bohnen haben einen etwas bitteren Beigeschmack, der Euch ohne Gewürz mehr auffallen wird. Sie werden beim Händler in der Nähe einer bitteren Sache gestanden haben. Uns thut das nichts; Euch aber wird es ungewöhnlich sein.“ Die Verhältnisse in den Kaufläden des Orients sind so mangelhafte, daß es gar kein Wunder ist, wenn irgend eine Sache den Geruch oder Geschmack einer anderen „anzieht“. Daß der Kaffee ein wenig bitter schmecken werde, konnte also keinen irgend welchen Verdacht in uns erwecken; aber der Eifer, mit dem es mir gesagt wurde, hätte meine Aufmerksamkeit erregen sollen. Diese Leute hatten, wie wir später erfuhren, uns schon lange Zeit, bevor wir sie bemerkten, von der jenseitigen Höhe herabkommen sehen und sich aus ganz bestimmten Gründen bei unserer Annäherung so gestellt, als ob sie keine Ahnung von uns gehabt hätten. Zu dem Plane, den sie ausführten, gehörte ganz besonders auch der Kaffee, [77] den sie uns angeboten hätten, wenn ich nicht von selbst mit meiner Bitte gekommen wäre. Das Frostgefühl Halefs nahm zu. Es schüttelte ihn, und darum war es wohl begreiflich, daß er, als wir das heiße Getränk bekamen, einen großen Becher voll auf einmal leerte und ihn sich auch gleich wieder füllen ließ. Ich genoß meinen Teil langsamer. Er war stark, sehr stark. Ich nahm freilich an, daß die Ursache dieser Uebertreibung nur darin liege, daß wir für vornehme Leute gehalten wurden. Bitter war er allerdings auch, aber man hat in den fernen, einsamen Grenzbergen zwischen Khusistan und Luristan keine Ursache, den Feinschmecker herauszukehren, und so trank ich nach und nach ebenso viel wie der Hadschi - - drei große Becher voll. Ich that dies besonders in der Absicht, dadurch zum Wachen angeregt zu werden. Wir pflegten, abwechselnd zu wachen; heut aber hatte ich mir im stillen vorgenommen, Halef nicht aus dem Schlafe zu wecken. Unsere Pferde grasten ganz in unserer Nähe. Sie waren gewohnt, sich nicht von uns zu entfernen. Und ebenso gehörte es zu ihrer Eigenart, daß sie sich nur gezwungener Weise zu anderen Pferden gesellten. Sie hatten ihre „Geheimnisse“. Was das heißt, habe ich an anderen Orten wiederholt gesagt. Hierzu muß noch erwähnt werden, daß sie von Halef dressiert worden waren, auf den zweimaligen Zuruf des Wortes „Litath“1) [1) „Herunter!“] und einen dazwischen tönenden Pfiff jeden fremden Reiter abzuwerfen. Der Beduine liebt dergleichen Dinge und hat auch Zeit genug, sie seinen Pferden beizubringen. Sie können unter Umständen von großem Nutzen sein. Mein Assil Ben Rih war gewöhnt, daß ich ihm [78] des Abends, ehe ich mich schlafen legte, die Sure „Abu Laheb“ langsam und deutlich in das Ohr sagte. Er hätte keinem Menschen Gehorsam geleistet, der dies nicht wußte und also unterließ. Ich that dies auch heut und streckte mich dann, in meine Decke gehüllt, neben Halef aus, obwohl es nicht meine Absicht war, einzuschlafen. Zunächst machte ich die Bemerkung, daß mich der starke Kaffee nicht nur an-, sondern sogar aufgeregt hatte. Meine Denkkraft war in die schnellste Bewegung gesetzt. Es jagte eine Vorstellung die andere; ich konnte keine Idee festhalten. Dabei war diese innerliche Ruhelosigkeit keineswegs von der äußeren begleitet. Ich bewegte mich nicht. Es fiel mir gar nicht ein, auch nur ein Glied zu rühren. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich überhaupt nicht mehr bewegen könne, aber zum festen, klaren Bewußtsein wurde es mir nicht. Zuerst sah ich die sich hetzenden Gedanken trotz ihrer Schnelligkeit deutlich an und in mir vorüber fliegen. Nach und nach verloren sie ihre Bestimmtheit; sie wurden verschwommen; dann konnte ich sie überhaupt nicht mehr voneinander unterscheiden, und schließlich wußte ich von ihnen gar nichts mehr; aber auch ich selbst war mir verschwunden, vollständig verschwunden. Später war es mir, als ob ich einigemale halb aufgewacht, aber sofort wieder eingeschlafen sei. Das wiederholte sich, bis mir irgend ein Etwas in mir zuflüsterte, daß ich in einem unnatürlich tiefen Schlaf liege, den ich unbedingt zu besiegen habe. Dieses Etwas war ich selbst; ich hatte mich wiedergefunden. Und nun begann ein Ringen mit den widerstrebenden Augenlidern und der bleiernen Gliederschwere, die mich fest und unbeweglich an dem Boden halten wollte. Dazwischen hinein war es mir, als ob ich das Krachen des Donners höre. Das [79] Rauschen des Windes und des Regens drang mir wie aus weiter Ferne an das Ohr, und dann kam es mir vor, als ob ich in kalter Nässe liege, welche den ganzen Körper durchdrang und ihn aber glücklicherweise auch endlich, endlich wieder bewegungsfähig machte. Ich strengte meinen ganzen Willen an, und da gelang es mir, den Oberkörper aufzurichten und die Augen zu öffnen. Was aber sah ich da! Der Himmel war verschwunden. Ein fürchterliches Gewitter tobte. Ein Blitz zuckte nach dem anderen. Der Donner schien keine Pause zu kennen. Es ging Krach auf Krach und Schlag auf Schlag. Der Regen fiel wie eine kompakte Masse nieder. Er hatte das Felsenbecken, dessen Boden vorher nur bedeckt gewesen war, fast ganz bis oben angefüllt. Vor mir saß Halef, mit dem Rücken am Gemäuer lehnend. Seine Augen waren geschlossen. Er regte sich nicht. Seine Kleidung bestand nur aus Hose, Weste, Hemd und Stiefeln. Der Regen troff von diesen vollständig durchnäßten Stücken. Das lenkte meinen Blick auf mich selbst. Auch ich hatte nur Hose, Weste, Hemd und Stiefel, ganz so wie Halef, weiter nichts, alles andere fehlte. Kein Mensch außer uns beiden rinsumher! Die Nomaden waren fort, mit ihnen unsere Pferde, unsere Waffen und alles, was wir sonst noch besessen hatten. Ein Griff in meine Taschen zeigte mir, daß sie vollständig leer waren. Man hatte uns ausgeraubt, und wir mußten noch froh sein, daß wir nicht vollständig ausgezogen worden waren. Ich kann nicht sagen, daß ich über diese Entdeckung erschrak. Selbst wenn ich ein schreckhafter Mensch wäre, so würde der Zustand der Betäubung, dem ich mich doch noch nicht ganz entrungen hatte, eine so energische Regung, wie der Schreck ist, gar nicht zugelassen haben. Ich rieb [80] mir die Stirn, und es gelang mir, zwei Gedanken herauszureiben. Der erste war, daß wir in dem Kaffee Opium oder etwas dem Aehnliches getrunken hatten. Opiate sind ja in Persien, ihrem Erzeugungslande, von jedermann sehr leicht zu haben. Und zweitens sagte ich mir, daß uns jetzt nichts so sehr wie ruhige Ueberlegung geboten sei. „Halef!“ rief ich dem Gefährten zwischen zwei Donnerschlägen zu. Er antwortete nicht. Ich wiederholte seinen Namen und schüttelte ihn am Arme. Die Wirkung war eine höchst sonderbare: „Litaht!“ rief er fast überlaut. Dann steckte er, ohne die Augen zu öffnen, den Zeigefinger krumm in den Mund, brachte einen schrillen Pfiff hervor und schrie dann das Wort zum zweitenmale. Das war das Zeichen für die Pferde, Fremden nicht zu gehorchen, sondern sie abzuwerfen. Warum jetzt dieses Zeichen? Es war gewiß ein Zusammenhang der Ideen oder der Umstände, welcher ihn veranlaßte, es zu geben. Ich rüttelte ihn stärker und so lange, bis er die Augen aufschlug. Er starrte mich wie abwesend an. „Halef, weißt du, wer ich bin?“ fragte ich. Da trat das Bewußtsein in seinen Blick, und er antwortete: „Mein Sihdi bist du. Wer denn sonst?“ „Wie befindest du dich? Wie ist dir jetzt?“ „Warm, sehr warm,“ lächelte er. Wie? Warm? Mich, den Gesunden, durchdrang eine eisige Kälte, und er, dessen Zustand mir Besorgnis eingeflößt hatte, fühlte sich warm, sogar sehr warm! Wenn ich richtig vermutet hatte und eine Krankheit bei ihm im Anzuge war, so konnte die jetzige Durchnässung ihm im höchsten Grade gefährlich werden. Und da fühlte er sich [81] warm! War es etwa das Fieber, welches hier einmal als Wohlthäter auftrat und ihm das Leben rettete? „Weißt du, wo wir sind und was geschehen ist?“ fragte ich ihn weiter. Er schloß die Augen, wie um nachzusinnen, und antwortete nicht gleich. Dann öffnete er sie wieder, sprang mit einem einzigen Rucke in die Höhe und rief aus: „Sihdi, du bist stets gegen den Gebrauch der Peitsche; aber hier ist sie es, welche das Wort zu sprechen hat! Es waren zwölf Mann. Sobald wir sie erwischt haben, bekommt ein jeder hundert Hiebe; das macht zusammen zwölfhundert Hiebe. Welche Seligkeit für mich!“ Er stand da, stolz und gerade aufgerichtet, als ob ihm nichts, aber auch gar nichts fehle. Bis auf das Hemd ausgeraubt, vollständig mittellos, sprach er doch genau so, als ob er der Beherrscher der Situation sei. Darum sagte ich: „Rede mit Ueberlegung, lieber Halef! Schau dich und mich an! Wir sind Bettler; wir sind ganz ohnmächtige Menschen!“ „Bettler? Ohnmächtig? Was fällt dir ein! Wenn du nicht mein Sihdi wärest, so würde ich dir sagen, daß du dich schämen solltest, so ohne Selbstvertrauen zu sein! Kennst du denn dich und mich nicht mehr? Hast du vergessen, was wir alles erlebt und erzwungen haben? Bettler und ohnmächtig! Du bist der klügste Mann des Abend- und ich bin der pfiffigste Halef des ganzen Morgenlandes! Grad daß wir vollständig ausgeraubt und scheinbar ohne Mittel und ohne Hilfe sind, muß uns willkommen sein! Denn das giebt uns Gelegenheit, zu zeigen, was wir können! Laß mich nur machen! Ich werde überlegen. Ich habe nicht immer geschlafen; ich bin auch aufgewacht; aber bewegen konnte ich mich leider [82] nicht. Ich habe gesehen, und ich habe gehört. Was? Darüber will ich nachdenken.“ Er setzte sich wieder nieder, obgleich die Stelle naß wie jede andere war. Den Kopf in die Hände legend, sah er auf die Erde. Dabei sagte er, indem er zwischen den einzelnen Worten oder Sätzen längere oder kürzere Pausen machte: „Ich wurde hin und her gewälzt, wachte aber nicht auf. - Ich fühlte fremde Hände in meinen Taschen, konnte mich aber nicht wehren. - - - Man hatte uns schon drüben auf dem Bergkamme stehen sehen, wo wir die Pferde ausruhen ließen. - - - Man beschloß, uns nicht zu überfallen und nicht zu töten, sondern mit Esjuhn1) [1) Opium.] wehrlos zu machen. - - - Dann war es Tag geworden. Ich hörte die Hufe der Pferde und dachte an unsere Hengste. Das gab mir Kraft, die Augen aufzuschlagen. Ich sah, daß die Diebe fort wollten. Eben schwangen sich zwei auf unsere Rappen. Der Grimm darüber machte mich sofort gesund, leider nur für einen Augenblick. Ich rief zweimal das Wort und gab den Pfiff. Die Hengste gehorchten sofort. Sie gingen in die Luft, und die beiden Kerle flogen in weitem Bogen auf die Erde nieder. Der eine stand wieder auf. Der andere aber konnte das nicht thun; er mußte aufgehoben werden. Allah gebe, daß er ein Bein gebrochen hat, noch besser aber alle beide! - - - Dann schlief ich wieder ein, doch nicht auf lange Zeit, denn ich sah sie fortreiten, da grad hinauf; jenseits verschwanden sie. Die helle Morgensonne schien. Nun aber kam der tiefste Schlaf, aus welchem mich der Donner weckte. Ich setzte mich auf und lehnte mich hierher. Mehr zu thun, hatte ich [83] nicht die Kraft. - - - Ich träumte allerlei, bis ich von dir aufgerüttelt wurde. - - - Das, Sihdi, ist es, was ich dir sagen kann, weiter nichts!“ Wie kam es wohl, daß er nicht so tief wie ich geschlafen hatte? Hatten die in seinem Körper thätigen Krankheitserreger die Wirkung des Opiums abgeschwächt? Wohl möglich! Da umzuckte uns ein Blitz, als ob wir mit der Umgebung in einer einzigen Flamme ständen; es folgte ein betäubender Donnerschlag, und dann gab es plötzlich keinen Tropfen Regen mehr. Das Wetter war vorüber; die Wolken verschwanden schnell, und hierauf schien die Sonne erwärmend und trocknend auf uns hernieder. Ihr Stand sagte uns, daß es Nachmittag gegen drei Uhr sei. Uhren hatten wir nicht mehr. Es war, als ob uns mit der Sonne die volle Lebenskraft zurückgegeben worden sei. Halef behauptete, er sei vollständig gesund und wohl und fühle nicht das geringste Unbehagen. Er wurde, wie sich später herausstellte, getäuscht. Ich hatte Kopfschmerzen und vermißte sowohl die körperliche als auch die geistige Elastizität. Das konnte mich aber nicht hindern, zu thun, was nötig war. Zu überlegen gab es nichts. Wir konnten nichts anderes thun, als den Dieben folgen. Der Regen hatte zwar alle ihre Spuren weggewischt, aber wir wußten doch, nach welcher Richtung sie sich entfernt hatten. Eigentlich war es lächerlich, daß wir ohne alle Waffen und zu Fuße wohlbewaffnete Reiter verfolgen wollten, um ihnen ihren Raub wieder abzunehmen; aber sie konnten doch nicht wochenlang in einer Tour fortreiten. Sie mußten einen Ort haben, an welchem sie wohnten, und dieser konnte nicht wohl jenseits der Grenzen dieser Berge liegen. Wir mußten uns auf unsern Scharfsinn verlassen und unserem alten, guten Glück Vertrauen schenken. Die größte Miß- [84] lichkeit unserer Lage bestand darin, daß wir ohne Lebensmittel waren. Aber verhungern konnten wir nicht, denn nur eine Tagesreise von hier gab es am oberen Quran bewohntes Land, wo wir wohl bekommen würden, was uns nötig war. Uebrigens trug ich auf der Brust die Brieftasche mit den Geldwerten, welche mich gegen jeden späteren Mangel sicher stellten. Es fiel mir nicht im geringsten ein, gleich von vornherein an unserem Erfolge zu verzweifeln. Wenn Halef munter blieb, konnte sich sehr wohl ein guter Ausgang einstellen. Er behauptete, bereit zu sein, und so traten wir in dem scheinbar hilflosen Zustande, in welchem wir uns befanden, an eine Aufgabe heran, zu deren Lösung mehr, viel mehr gehörte, als uns zur Verfügung stand. Das Trocknen unserer höchst mangelhaften Anzüge ganz einfach der Sonne überlassend, verließen wir das Wasserbecken und stiegen in der Richtung bergan, in welcher sich die Nomaden entfernt hatten. Es war eine Art Bergsattel, auf dessen anderer Seite sie verschwunden waren. Gebahnte Wege gab es natürlich nicht. Jeder konnte die ihm beliebige Richtung einschlagen; aber es verstand sich ganz von selbst, daß er sich den bequemsten Ab- oder Aufstieg suchte. Wenn das Terrain mehrere bequeme Richtungen bot und es keine Spuren gab, so war es freilich für uns schwer, zu bestimmen, wohin die Gesuchten sich gewendet hatten. Das war hier oben der Fall. Gegenüber lagen nackte Höhen, hinter denen im Osten Berge emporstiegen, welche bewaldet oder doch wenigstens mit Gebüsch bestanden zu sein schienen. Es war anzunehmen, daß die von uns Verfolgten dorthin geritten seien. Gerade vor uns ging ein breiter, sanft geneigter Felsenhang hinab, an dessen Fuße drei verschiedene, nach Osten gehende Thäler mündeten. Welches [85] von diesen dreien war gewählt worden? Das wußten wir nicht. Jammerschade, daß der Regen jede Spur verwaschen hatte. Wir stiegen hinab und begannen, das Terrain abzusuchen, obgleich wir keine Hoffnung auf Erfolg hatten. Aber das Glück, von dem ich vorhin sprach, war uns günstig. Das mittlere dieser Thäler war das breiteste und, wie es schien, bequemste. Darum gingen wir zunächst eine Strecke weit in dasselbe hinein. Da sahen wir den zwei Finger starken Ast eines Strauches liegen. Er war gewiß erst heut früh abgeschnitten und gehörte derselben Buschgattung an, welche oben am Wasser gestanden hatte. Er war an dem einen Ende zersplittert und zwischen diesen Splittern hingen zwei lange schwarze Pferdehaare. Er lag ganz nahe an einem hoch und glatt aufragenden Felsenstück, dessen Vorderseite fast ganz trocken war, weil der Wind den Regen von Süden her gebracht hatte. Es gab da in fast Manneshöhe eine feuchte, rote Stelle am Gestein, und unten auf dem Erdboden war ein mehrere Hände großer Flecken geronnenen Blutes zu sehen, welches der Regen nicht getroffen und also auch nicht aufgelöst hatte. „Ob das ein Beweis ist, daß unsere Spitzbuben hier gewesen sind?“ fragte Halef. „Ja. Und zwar ein sicherer Beweis,“ antwortete ich. „Um welches von unseren Pferden es sich handelt, das weiß ich nicht; aber man hat eines von ihnen hierher an den Felsen gedrängt, um es zu zwingen, sich besteigen zu lassen. Es hat sich gewehrt und ist dafür mit diesem Aste gezüchtigt worden. Man hat ihn an dem edlen Tiere in Splitter geschlagen und diesem dabei diese Haare aus dem Schwanze gerissen. Aber der Hengst hat die Missethat sofort vergolten und den Betreffenden so [86] getroffen, wahrscheinlich an die Brust, daß aus seiner Lunge ein Bluterguß erfolgt ist. Sie sind also in diesem Thale aufwärts geritten, und wir wissen nun, welche Richtung wir einzuschlagen haben, wenn wir ihnen folgen wollen.“ „Wie? Was?“ fragte Halef zornig. „Unseren Barkh oder unseren Assil Ben Rih geschlagen? Mit diesem Knüppel hier? Das muß hundertfach gerochen werden! Das erste Gebot für uns ist, Allah zu lieben; das zweite ist, die Menschen zu lieben, und das dritte ist, die Tiere und überhaupt alle Geschöpfe zu lieben, welche uns dienen sollen, weil Allah sie uns anvertraut hat. Wer gegen eines dieser drei Gebote handelt, der ist ja gar nicht wert, daß sie ihm gegeben worden sind! Ich will nicht etwa sagen, daß das Schlagen überhaupt verboten sei, denn warum hätte man sonst die Peitsche erfunden, und wozu wäre da ganz besonders auch meine eigene Kurbatsch1) [1) Peitsche aus Nilpferdhaut.] vorhanden, welche in diesem Augenblick allerdings nicht mehr vorhanden ist? Ich hoffe aber, daß ich sie sehr bald wiederbekomme, um die Hiebe, mit denen die edle Haut unseres Pferdes entweiht worden ist, mit Zinsen und wieder Zinseszinsen von diesen Zinsen zurückgeben zu können! Wer ein Pferd schlägt, durch dessen Adern reines Blut und edler Wille fließt, der ist ein Schuft, ein Schurke, ein elender Taugenichts, der die größte Verachtung verdient. Und wenn er gar das Pferd vorher gestohlen hat und mit dem Knüppel also eine Stelle bearbeitet, welche gar nicht sein rechtmäßiges Eigentum ist, so - - so - - so fehlen mir überhaupt die Worte, dir zu erklären, wie unendlich tief der Abgrund der Niederträchtigkeit ist, in dem er diese mir ganz unbegreifliche That begangen hat!“ [87] Das war so recht die Gesinnung und die Ausdrucksweise meines kleinen Hadschi. Er stand mit geballten Fäusten vor mir. Seine Augen blitzten, und sein Gesicht zeigte den Ausdruck des höchsten Zornes. Ein Vollblutpferd mit dem Stocke zu bestrafen, das ging ihm über alle menschenmöglichen Begriffe. Er riß mir den Ast aus der Hand und fuhr fort: „Gieb ihn mir! Ich sehe den Rücken schon von weitem, auf welchem ich dieses Werkzeug der Missethat vollends zersplittern werde!“ „Sei ruhig, Halef,“ fiel ich ein. „Schau hier das Blut! Die That ist ja schon gerächt worden, und zwar viel strenger, als du sie rächen könntest.“ „Meinst du! Hm! Ja! Der Haupttäter hat seinen Lohn bekommen. Aber es waren elf andere dabei, welche die Mißhandlungen geduldet haben. Traust du mir etwa zu, daß ich sie begnadige?“ Diese Frage war so ernst gemeint, daß ich über sie lächeln mußte. „Warum lachst du?“ fragte er. „Willst du etwa meinen Grimm vergrößern? Soll ich nun auch noch auf dich zornig werden?“ „Nein; das wünsche ich nicht, lieber Halef. Aber schaue dich an, und schenke auch mir einen Blick! Wie stehen wir da! Wie sehen wir aus! Worin besteht unser Besitz und unsere Macht? Und da sprichst du von Begnadigung?“ „Warum soll ich das nicht?“ fragte er im Tone des Erstaunens. „Werden wir etwa so, wie wir jetzt aussehen, hier stehen bleiben? Haben wir nicht soeben die Spur derer entdeckt, welche wir suchen? Werden wir ihnen denn nicht alles wieder abnehmen, was sie uns gestohlen haben? Und sind sie dann nicht ganz und gar [88] in unsere Hände gegeben? O, Sihdi, von dir habe ich gelernt, an mich und dich zu glauben, und nun bist grad du es selbst, der keinen Glauben hat! Was soll ich von dir denken! Selbst wenn es aus allen anderen Gründen unmöglich wäre, an diesen Schurken Vergeltung zu üben, so ist doch diese eine Unthat, unser Pferd geschlagen zu haben, so ungeheuerlich, daß sich das Kismet1) [1) Schicksal.] gezwungen sehen muß, uns diese Kerle auszuliefern! Also zweifle nicht! Ich weiß, was kommen wird. Paß auf, was ich jetzt thue!“ Er schleuderte den Ast weit von sich und fügte dann hinzu: „So wie ich dieses Werkzeug des Verbrechens wegwerfe, so werde ich alle meine Güte und Gnade von mir werfen, wenn diese Spitzbuben mich um Schonung bitten! Sei so gut und komme mir dann ja nicht mit deiner wohlbekannten ‚Menschenliebe‘, mit welcher du mir schon so manche unbezahlte Rechnung ausgestrichen hast! Ich will und werde mich rächen, und zwar so, wie ich mich noch nie gerächt habe. Jetzt komm! Wir wollen fort von hier! Wir dürfen keine Zeit versäumen, um Gericht zu halten über alle, die uns beraubt, belogen, betrogen und beleidigt haben!“ Wir gingen, um dem Thale zu folgen, in welchem wir uns befanden. Mein Gesicht schien jetzt einen Ausdruck zu haben, der Halef nicht gefiel, denn dieser sah mich, während wir neben einander gingen, forschend an und sagte dann: „Du lächelst abermals und doch ist es kein Lächeln. Du lächelst zwar sehr deutlich, aber innerlich. Habe ich recht?“ [89] „Ja,“ nickte ich. „So sag: Was kommt dir spaßhaft vor?“ „Deine Ungnade.“ „Die ist ganz und gar nicht lächerlich. Ich meine doch, daß du mich kennst, Sihdi!“ „Ja, ich kenne dich!“ „Nun? Weiter? Was willst du sagen?“ „Dein Grimm will oft die ganze Welt verschlingen. Dann aber schleicht sich heimlich und leise dein gutes Herz heran, um diese ganze Welt verzeihend zu umarmen!“ „So! Also so stark und so schwach bin ich in deinen Augen?“ „Ja, aber nicht so, wie du es meinst, sondern umgekehrt: schwach im Grimme und stark in deiner Güte.“ „Höre, Sihdi, ich will nicht mit dir streiten. Ich streite ja überhaupt nie mit dir, weil ich dir sonst zeigen müßte, daß du immer und immer unrecht hast. Und diese Kränkung will ich dir ersparen, denn ich bin dein wahrer Freund, und liebe dich. Aber dieses Mal muß ich dir doch sagen, daß du dich in mir täuschest. Es wird meinem Herzen nicht einfallen, geschlichen zu kommen, um hinter meinem Rücken meinen Grimm in Liebe zu verwandeln. Du denkst nie so scharf und empfindest nie so tief wie ich! Ich habe vorhin mit ganz besonderer Absicht gesagt: beraubt, belogen, betrogen und sogar auch noch beleidigt. Diese Beleidigung kannst du freilich nicht so ganz unten in der tiefsten Tiefe des Zornes fühlen wie ich, denn du bist ein Abendländer aus Dschermanistan1) [1) Deutschland.], wo man es für höflich hält, das Heiligtum des Hauptes preiszugeben. Ihr grüßt, indem ihr dem Kopfe das [90] nehmt, was an jedem Kopfe das Allerwichtigste ist, nämlich die Bedeckung. Ich aber bin ein Scheik des Morgenlandes aus der Dschesireh1) [1) Gegend zwischen Euphrat und Tigris.], wo man es für eine Schande hält, die ehrenvolle Würde des Scheitels zu entblößen. Wer mich zwingt, unbedeckten Hauptes zu erscheinen, der hat schlimmer an mir gehandelt, als wenn er mir hundert Ohrfeigen oder tausend Stockhiebe gegeben hätte. Er hat ein Verbrechen an mir begangen, welches ihm zu verzeihen mir ganz unmöglich ist. Nun schau mich an! Was siehest du? Oder vielmehr, was siehest du nicht?“ „Das Allerwichtigste, was es an deinem Kopfe giebt,“ antwortete ich. „Halt! Lächle nicht etwa schon wieder! Diese Kerle haben mir nicht nur den Fez geraubt, sondern auch das Turbantuch, mit welchem man den obersten und höchsten Teil des Morgenlandes schmückt. Ich bin der hervorragendste Punkt des berühmten Volkes der Haddedihn vom großen Stamme der Schammar. Und dieser Punkt ist unbedeckt, der Luft, der Sonne, dem Regen und jedem Auge preisgegeben! Verstehest du das? Kannst du mir das nachfühlen, wenn ich mir Mühe gebe, es dir so deutlich wie möglich vorzuempfinden? Ist es dir möglich, die Größe der Schande zu ermessen, welche mir angethan worden ist? Oder ist es nötig, die Thätigkeit deines Begriffsvermögens durch ein erklärendes Beispiel zu unterstützen?“ „Laß mich dieses Beispiel hören!“ forderte ich ihn auf, denn wie ich ihn kannte, war jetzt eine seiner Uebertreibungen, also etwas Drolliges zu erwarten. „So höre, was ich dir sage! Ihr entblößt aus Höflichkeit das Haupt, wenn aber wir höflich sein wollen, [91] so ziehen wir die Pantoffeln aus. Wieviel Menschen giebt es in eurem Abendlande?“ „Viele, viele Millionen.“ „Aber ist auch nur ein einziger Scheik der Haddedihn dabei?“ „Nein; keiner.“ „So wirst du einsehen, was für eine seltene und wichtige Person ich bin! Also vernimm nun den Vergleich: Daß man mir den Fez und das Turbantuch gestohlen hat, ist eine noch viel größere Missethat, als wenn allen deinen abendländlichen Millionen ihre sämtlichen Pantoffeln gestohlen worden wären. Das siehst du doch wohl ein?“ „Hm!“ „Ich will dieses ‚Hm!‘ nicht hören, weil es mich an deiner Einsicht zweifeln läßt! Ich hoffe, es ist dir nun klar geworden, daß ich die Rache für diese Beleidigung unmöglich den Händen meines guten Herzens anvertrauen - - - höre, Sihdi, was hast du schon wieder zu lächeln?“ unterbrach er sich. „Ich wundere mich über die ‚Hände‘ deines Herzens, lieber Halef.“ „So! Ah - - hm - - - Hände! Du willst die schöne, geläufig fließende Sprache meines Mundes mit Fehlern belasten, daß sie stecken bleiben möge? O, Sihdi, verdoppele ja nicht meinen Zorn, denn er ist auch ohnedies schon so groß, daß er, wenn er dich träfe, dich vollständig vernichten würde. Ich will dich aber schonen und darum werde ich schweigen!“ Er rückte um einige Schritte von mir ab, um mir zu zeigen, daß er mit mir schmolle. Das that er immer, wenn ich es für nötig hielt, gegen seine Eigenart eine leise Verwahrung einzulegen; doch war seine Indignation [92] nie von langer Dauer. Er konnte es nicht aushalten, einen trennenden Gedankenstrich zwischen sich und mir zu wissen. Wir waren noch nicht weit vorwärts gekommen, so hatten wir Veranlassung, wieder stehen zu bleiben. Das Thal stieg hier in fast schnurgerader Richtung nach oben, und es war uns also ein ziemlich weiter Blick in den vor uns liegenden Teil desselben gestattet. Da sahen wir eine Schar berittener Männer, welche uns entgegenkamen und, als sie uns bemerkten, halten blieben, um uns zu beobachten. „Schau, Sihdi, da kommt Rettung!“ rief Halef, schnell seinen Groll vergessend. „Siehst du sie?“ „Rettung?“ fragte ich. „Abwarten!“ „Da ist gar nichts abzuwarten! Genommen kann uns nichts werden, denn wir haben ja nichts mehr. Und wer uns nichts Böses thun kann, der muß uns doch Gutes thun. Es sind acht Personen, aber elf Pferde. Wie fangen wir es an, um zwei von den ledigen Tieren zu bekommen? Ich weiß es!“ „Nun, wie?“ „Auf Kredit. Wenn sie hören, wer ich bin, werden sie bereit sein, uns mit zwei Pferden auszuhelfen!“ „Wollen es versuchen. Komm!“ Wir gingen also weiter. Als die Retter dies sahen, setzten auch sie sich wieder in Bewegung. Nach zwei Minuten hielten sie an, und wir standen vor ihnen. Sie waren schwarzhaarige, dunkelgefärbte Männer mit Gesichtszügen, die an Kurdistan gemahnten. Bei derartigen Begegnungen richtet man den ersten Blick auf die Reiter, den zweiten auf die Pferde. Wir sahen, daß wir von diesen Fremden nicht unfreundlich betrachtet wurden. Ihr Pferdematerial war ein mittelmäßiges. Dem ent- [93] sprachen auch ihre Anzüge und die Waffen, welche sie trugen. Zwei von den ledigen Pferden waren zum Reiten gesattelt. Auf dem Packsattel des dritten sahen wir ein in eine alte, schlechte Decke gewickeltes Bündel festgeschnallt. Der Anführer, ein stark gebauter, vollbärtiger Mann, wartete nicht, bis wir ihn grüßten, sondern er hob seine Rechte bis in die Gegend des Herzens und sagte in höflichem Tone: „Ni, vro'l ker!“ Das war der gewöhnliche kurdische „Gutentag“-Gruß. Er enthielt keine übertreibende Höflichkeit und klang ebenso aufrichtig, wie er einfach war. Das gefiel uns. Wenn wir bedachten, wie wir vor diesen Leuten standen, so war gewiß anzuerkennen, daß ihr Anführer uns den Gruß zuerst gegeben hatte. Wir dankten ihm mit gleicher Höflichkeit; dann nannte er uns, ohne von uns gefragt worden zu sein, aus eigenem Antrieb seinen Namen: „Ich bin Nafar Ben Schuri, der Scheik der Dinarun. Wir befinden uns auf der Jagd. Unser Lager ist gegen Osten eine Stunde weit von hier.“ Wir sahen, daß er nun unsere Antwort erwarte. Ich ließ es geschehen, daß Halef sie gab. Er that dies natürlich in der ihm geläufigen Weise, auf welche er grad unter den gegenwärtigen, für uns so mißlichen Umständen am allerwenigsten verzichtet hätte. Was unserer persönlichen Erscheinung mangelte, das mußte unbedingt durch klingende Worte ergänzt werden. „Ich bin Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Ich hoffe, daß dir dieser Name nicht unbekannt ist!“ Es war allerdings, als der Anführer diesen Namen [94] hörte, wie eine Art von Leuchten über sein Gesicht gegangen. Nun antwortete er: „Ich habe von dir gehört. Einige meiner Leute sind vor mehreren Tagen von Basra heimgekehrt. Sie haben dich gesehen und mir von dir erzählt.“ Das war Wasser auf Halefs Mühle. Er reckte seine kleine Gestalt so hoch wie möglich empor und fiel in stolzem, selbstbewußtem Tone ein: „Von meinen Thaten auch? In der Sahara? In Aegypten? In Arabien? In Kurdistan?“ „Alles nicht, aber vieles,“ lächelte Nafar Ben Schuri. „Wenn Allah will, werde ich noch mehr von dir selbst erfahren.“ „Er wird es wollen, hoffe ich! Aber sieh hier diesen anderen Mann, meinen Freund und Begleiter, an! Sein Name ist eigentlich noch viel, viel länger als der meinige; aber er liebt es nicht, daß derselbe von Anfang bis zum Ende vorgetragen wird. Darum will ich ihn einstweilen nur Kara Ben Nemsi aus Dschermanistan nennen. Was ich erlebt habe, hat er fast alles miterlebt. Ich will dir nur die allerwichtigsten unserer Thaten aufzählen, denn wenn ich dir alle nennen wollte, so - - -“ Er hielt mitten in der Rede inne, denn ich hob die Hand auf, um ihm Einhalt zu thun. Grad die sogenannten „großen Thaten“ waren es ja, die er mit den buntesten Blumen auszuschmücken pflegte. Den orientalischen Zuhörern konnte seine überschwengliche Ausdrucksweise freilich nicht auffallen, weil sie meist selbst keine andere gewöhnt waren; aber ich liebte sie nicht und suchte sie darum, so oft dies möglich war, in die richtigen Grenzen zurückzuleiten. So auch jetzt. Er gehorchte zwar sogleich, warf mir aber die bedauernde Bemerkung zu: [95] „Sihdi, winke mir doch nicht immer grad dann zu, wenn ich spreche! Du weißt ja, daß mich das stört! Winkst du mir, wenn ich schweige, so habe ich ja viel mehr Zeit, deinen Wink zu beachten. Das wirst du wohl einsehen!“ Sich hierauf dem Anführer wieder zuwendend, fuhr er fort: „Die letzte und allergrößte unserer Thaten geschieht eben jetzt, indem wir dir begegnen. Wir stehen grad im Begriffe, zwölf Schurken, welche uns ausgeraubt haben, zu verfolgen, zu ergreifen, zu richten und zu bestrafen!“ Nafars Gesicht zeigte einen zwar undefinierbaren, aber leicht erklärlichen Ausdruck, als er hierauf fragte: „Man hat euch ausgeraubt?“ „Ja. Das siehst du doch!“ „Ihr habt keine Pferde?“ „Nein. Oder siehst du welche?“ „Waren die Räuber beritten?“ „Ja.“ „Und dennoch wollt ihr sie verfolgen?“ „Natürlich! Es kann uns doch gar nicht einfallen, sie entkommen zu lassen.“ „Und ihr glaubt, sie einholen zu können?“ „Ganz gewiß!“ „Etwa mit euren Beinen? Auf diesen euren Füßen?“ „Fällt uns auch nicht ein!“ „Wie denn?“ „Ganz selbstverständlich auf den Füßen eurer Pferde!“ „Maschallah1) [1) Gottes Wunder.]! Ihr glaubt, daß wir euch helfen werden?“ „Es wäre uns wohl lieb, wenn ihr es thätet, aber unbedingt notwendig ist es nicht. Wir brauchen zwei [96] Pferde, zwei Gewehre, zwei Messer, zwei Fez', zwei Haïks1) [1) Mäntel.] und Pulver und Blei. Das kaufen wir euch ab.“ „Du sprichst sehr kurz und bestimmt. Könnt ihr denn dies alles bezahlen?“ „Sogleich freilich nicht; aber ich bin Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, und wenn ich mein Wort gebe, daß ich sogar den doppelten Preis zahlen werde, so frage ich: Wer wagt es, zu behaupten, daß ich es nicht halten werde? „ „Niemand. Ich glaube dir. Aber ich habe euch noch nie gesehen, und ich besitze keinen Beweis, ob ihr wirklich die berühmten Männer seid, deren Namen du genannt hast. Es ist also ein ganz besonderer Handel, auf den ich mit dir eingehen soll. Erlaube uns, o Scheik der Haddedihn, daß wir von unseren Pferden steigen, um uns von dir erzählen zu lassen, von wem und in welcher Weise der Raub an euch begangen worden ist!“ Das klang so vernünftig und so hilfsbereit. Daß er vorher gesprächsweise prüfen wollte, konnten wir ihm nicht im geringsten übelnehmen. Die Dinarun stiegen von ihren Tieren und setzten sich, einen Halbkreis bildend, nieder. Wir nahmen vor ihnen Platz, und dann begann Halef zu erzählen. Er that dabei alles mögliche, unsere Unvorsichtigkeit zu entschuldigen und die an uns begangene Missethat ins grellste Licht zu stellen. Als er geendet hatte, richtete der Anführer die Frage an ihn: „So wißt ihr also nicht genau, wer diese Menschen gewesen sind?“ „Nein,“ antwortete Halef. „Auch nicht, wo sie wohnen?“ „Auch nicht.“ [97] Da ging ein breites, frohes Lächeln über das dunkle, bärtige Gesicht Nafars, und er sagte: „Wie gut für euch, daß ihr uns begegnet seid! Was ihr nicht wißt, das könnt ihr von uns erfahren.“ „Von euch?“ fragte Halef schnell. „Wißt ihr denn etwas über diese Halunken?“ „Ja,“ nickte der Anführer. „Was und woher?“ „Wir sind ihnen ja begegnet!“ „Ihr? Ihnen? Begegnet?“ rief Halef aus, indem er aufsprang. „Hamdulillah! Das ist ja ganz so gut, als ob wir sie schon hätten! Wo und wann ist das geschehen?“ „Um die Mittagszeit, im Nordosten von hier. Ich weiß die Stelle ganz genau. Und da ihr Hadschi Halef und Kara Ben Nemsi seid, so bin ich gern erbötig, euch die Hilfe unseres ganzen Lagers anzubieten. Ja, es stimmt: Es waren zwölf Personen, aber zwei von ihnen schienen krank oder verwundet zu sein - - -“ „Der vom Pferde Abgeworfene und der vom Pferde Geschlagene!“ unterbrach ihn Halef. „Eure beiden Rappen wurden an den Zügeln geleitet. Es saß niemand auf ihnen, und erst jetzt fällt es mir ein, daß sie sehr aufgeregt zu sein schienen.“ „Habt ihr mit den Leuten gesprochen?“ „Nein. Sie schienen das nicht zu wünschen und ritten, nur kurz grüßend, an uns vorüber. Später sahen wir einen zusammengebundenen Gegenstand an der Erde liegen. Es ist möglich, daß sie ihn verloren haben, aber keineswegs gewiß, denn wir haben nicht auf ihre Fährten geachtet und wissen also nicht, ob er auf ihren Spuren lag. Nachdem wir aber euch hier getroffen und erfahren haben, was euch geschehen ist, so vermute ich, daß die darin be- [98] findlichen Sachen euch gehören. Wir öffneten natürlich das Paket und haben also gesehen, was es enthält. Es scheint alles zu sein, was euch an eurer Kleidung fehlt.“ Er winkte einem seiner Leute, welcher das Bündel vom Packsattel löste, um es herbeizubringen, zu öffnen und dann den Inhalt vor uns auszubreiten. Es war zu unserer gewiß nicht unangenehmen Ueberraschung so, wie er gesagt hatte: Da lagen unsere Decken, die Haïks, die Fez', die Turbantücher, die Jacken und auch die kleineren, unwichtigen Gegenstände, welche zu unseren Anzügen gehörten. Es fehlte nichts; es war, als ob man mit besonderer Aufmerksamkeit darauf bedacht gewesen sei, gerade diese Kleidungsstücke von den anderen uns geraubten Sachen in der Weise abzusondern, daß ein glücklicher Umstand sie uns vollständig zurückzugeben habe. Später sahen wir freilich ein, daß uns dies hätte auffallen müssen; zunächst aber erregte der willkommene Fund nicht das geringste Bedenken in uns, zumal die Taschen leer waren und es keinen Grund für uns gab, auf irgend eine Absichtlichkeit zu schließen. Das Paket war schlecht festgebunden gewesen. Man hatte es also während des Rittes verloren und dies nicht sogleich bemerkt. Freilich lag die Frage nahe, warum man nicht umgekehrt war, es zu suchen, als man endlich doch gewahrte, daß es abhanden gekommen sei. Das war aber nicht schwer zu erklären: Wer einen Raub begangen hat, der sucht zunächst, sich möglichst weit zu entfernen; zur Umkehr müssen wichtige Gründe vorliegen, und der Wert dieser Kleidungsstücke war doch nicht ein so hoher, daß man ihretwegen eine Zeit von vielleicht mehreren Stunden hätte versäumen mögen. Dazu kam die Begegnung der Diebe mit den Dinarun. Die ersteren mußten sich, sobald sie den Verlust bemerkten, sagen, daß die letzteren [99] das Paket gefunden haben und, wenn man es von ihnen zurückverlangte, gewiß nach der Berechtigung dazu fragen würden. Das konnte sehr leicht zu unangenehmen Forschungen und Weiterungen führen - - - kurz und gut, es war weder für mich noch für Halef unbegreiflich, daß wir unsere Sachen so hübsch bei einander vor uns liegen sahen. Freilich an den Umstand, daß es für mich überhaupt keinen Zufall giebt, dachte in diesem Augenblick keiner von uns beiden. Halef, der stets Schnellerfertige von uns, rief, als er die Sachen sah, voller Freude aus: „Maschallah! Was erblicken meine Augen! Da liegt ja die ganze Ehre unserer Häupter und die ganze Zierde unserer Glieder vor uns ausgebreitet! Ich sehe nicht ein einziges Stück, welches sich nicht dabei befindet, sondern es ist alles, alles da! Sihdi, ich fordere dich auf, im Verein mit meinem Munde zu erklären, daß das Kismet ehrlicher und gerechter ist, als diese Spitzbuben es gewesen sind! Das gütige Fatum zeigt uns hier wieder einmal, daß wir in die vorderste Reihe seiner Lieblinge gehören. Und weißt du, warum es uns zunächst die geraubte Kleidung zurücksendet?“ „Nun, warum?“ fragte ich. „Weil wir sie nötiger als alles andere haben und damit wir hieraus erkennen sollen, daß wir auch das, was noch fehlt, zurückbekommen werden. Was sitzest du da und regst dich nicht! Folge doch meinem Beispiele; die Sachen gehören doch uns!“ Er war nämlich aufgesprungen und nun eifrig damit beschäftigt, die Kleidungsstücke so eilig anzulegen, als ob sein ganzes Heil in der vollständigen Umhüllung seines kleinen, schmächtigen, aber außerordentlich sehnen- und nervenstarken Körpers bestehe. Ich folgte nun seinem [100] Beispiele, wenn auch in langsamerer und bedächtigerer Weise. „So!“ sagte er, als er fertig war. „Jetzt bin ich wieder Hadschi Halef Omar, aber weiter nichts. Der berühmte Krieger und Scheik der Haddedihn werde ich erst dann wieder sein, wenn ich mein Pferd und meine Waffen wieder habe. Aber wehe dann allen denen, welche fähig gewesen sind, einen solchen Verrat und Bruch der Gastfreundschaft an uns zu verüben! Ich werde über sie Gericht halten wie der Erzengel Midschaïl1) [1) Michael.], dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Ich werde weder Gnade noch Güte walten lassen! Ich werde so hart sein wie der Kieselstein am Ufer des Tigris und so unnachgiebig wie der Grimm, der sich im Magen eines hungrigen Löwen regt. Ich werde sie packen, wie der schwarze Panther seine Tatzen in das Genick der Kameelstute schlägt, und ich werde sie festhalten, wie das Krokodil seine Beute nie aus den Zähnen läßt! Ihre Qualen werden größer sein als die Qualen aller Höllen, die es giebt, und wenn sie vor Schmerzen stöhnen, wie der Hammel unter der Hand des Schlächters stöhnt, so werde ich lächelnden Mundes dabeisitzen und mich freuen, daß sie der wohlverdienten Strafe nicht entgangen sind!“ Das klang schrecklich genug. Wer ihn nicht kannte, der konnte allerdings glauben, daß er in voller Ueberzeugung spreche. Die Dinarun warfen einander heimlich sein sollende Blicke zu. Das war nicht zu verwundern, wenn man unsere Lage mit den Worten des Hadschi verglich. Nafar blieb ernst, doch hatte seine Stimme einen ungewöhnlich freundlichen, teilnehmenden Ton, als er jetzt sagte: [101] „Ich sehe, daß diese Sachen allerdings euer Eigentum sind. Wir haben sie gefunden, geben sie euch aber gern. Es freut mich, daß ihr nun als Männer vor mir steht, denen man ansieht, daß sie gewohnt sind, zu befehlen, nicht aber, zu gehorchen. Wir sind bereit, euch Hilfe zu erweisen. Ihr könnt einstweilen diese beiden Pferde, dann aber auch noch bessere bekommen, wenn ihr einwilligt, unsere Gäste zu sein und uns nach unserem Lager zu begleiten. Auch Gewehre, Messer und Pulver werden wir euch geben. Und wenn ihr es für nützlich haltet, bin ich sogar bereit, euch mit einer Anzahl meiner Leute zu begleiten, um den Dieben nachzueilen und ihnen abzunehmen, was sie euch entwendet haben.“ Konnten wir willkommenere Worte hören? Gewiß nicht! Ich wollte ihm sagen, daß ich bereit sei, sein Anerbieten dankbar anzunehmen, doch Halef kam mir zuvor. Er rief begeistert aus: „Wie glücklich ist der Stamm, dem du angehörst, o Nafar Ben Schuri. Die Weisheit spricht aus deinem Munde, und von deinen Lippen klingen die Töne des Verstandes! Die Großväter deiner Ahnen und Urahnen sind die klügsten Leute ihres Volkes gewesen, und die Urenkel deiner spätesten Nachkommen werden berühmt in allen Ländern und Gegenden des Erdkreises sein. Wir sind gekommen, das Glück deines guten Herzens zu erhöhen, indem wir annehmen, was du uns bietest. Wir werden innige Freundschaft und ein ewiges Bündnis mit dir schließen. Wir sind bereit, dich sofort nach deinem Lager zu begleiten, und ich verspreche dir - - -“ „Halt!“ unterbrach ich ihn, denn er wäre in seiner Freude fähig gewesen, Zugeständnisse zu machen, denen nachzukommen uns später nicht möglich war. [102] „Was?“ fragte er. „Bist du etwa mit dem, was ich sage, nicht einverstanden, Sihdi?“ „Darin, daß wir die uns angebotene Hilfe annehmen, stimme ich dir bei, Halef. Aber nach dem Lager können wir nicht gleich mit.“ „Warum?“ „Es ist nur noch kurze Zeit bis zum Untergang der Sonne. Dann werden die Diebe Halt machen. Ich möchte womöglich erfahren, wo sie die Nacht zubringen. Gelingt uns das, so können wir bis früh schon wieder im Besitze unserer Pferde sein. Wir können also nur eins thun, nämlich jetzt sogleich ihren Spuren folgen.“ „Das ist wahr!“ gab er zu. „Ja, das ist richtig!“ stimmte auch Nafar bei. „Und damit ihr seht, daß ich es wirklich freundlich mit euch meine, erkläre ich, daß wir euch begleiten werden. Ihr werdet aber einsehen, daß ich einen Boten in das Lager senden muß!“ „Natürlich! Er hat Nachricht zu geben, daß und warum ihr heut nicht zurückkehrt,“ sagte ich. „Noch mehr!“ „Was?“ „Wir sind nicht so berühmte Krieger, welche, so wie ihr, ohne Waffen und fast in der Minderzahl einen Feind verfolgen, der gezeigt hat, daß er zu allem fähig ist. Ich bin es meinen Leuten schuldig, Vorsicht walten zu lassen, und so - - -“ „Vorsicht?“ fiel da Halef schnell ein. „Minderzahl? Wir waren nur zwei, und wie sahen wir aus - - und doch sind wir hinter den Dieben her! Ihr seid acht, mit uns zehn, genau so viel, wie die Feinde zählen, von denen zwei krank sind!“ „Aber ihr habt noch keine Waffen!“ [103] „Die haben wir!“ „Wo?“ „Da - - dort - - - bei den Spitzbuben! Die haben ja unsere Gewehre, und die holen wir uns!“ Da ging ein eigenartiges Lächeln über das Gesicht des Anführers. Er strich sich mit der Hand über den dunklen Bart und sagte in bedächtigem Tone: „Ja, es ist alles wahr, was ich von Hadschi Halef Omar, dem Scheik der Haddedihn, vernommen habe. Deine Gedanken haben die Schnelligkeit des Blitzes; hierauf folgt sofort der Donner deiner Worte, und wie der Regenguß kommt dann die schnelle That. Aber wir wissen zwar, was jetzt ist und wie es ist, doch wie es sein wird und was noch kommen kann, das wissen wir nicht. Wenn zehn Männer gegen andere zehn Männer stehen und man aber leicht eine größere Schar haben kann, so soll man nicht auf diesen Vorteil verzichten. Habe ich recht oder nicht, Sihdi?“ Diese Frage war an mich gerichtet, und so antwortete ich: „Ich stimme dir bei, falls dieser Zuwachs an Kriegern nicht mit Verlusten andererseits verbunden ist.“ „Welche Verluste könnten das wohl sein?“ „Ich meine vor allen Dingen die Zeit, welche wir dadurch verlieren könnten.“ „Wir haben keinen Augenblick zu opfern, Sihdi, denn wir folgen ja sofort der Spur der Diebe, während sich nur ein einziger Mann von uns trennt, um nach dem Lager zu reiten und mehr Leute zu holen.“ „Wie folgen uns diese? Auf unserer Fährte?“ „Nein. Denn wenn sie dies thäten, so müßten sie erst wieder hierher, und dann kämen sie freilich zu spät. [104] Sie könnten dann unsere Spuren nicht mehr sehen, weil es inzwischen dunkel werden muß.“ Er sann einige Augenblicke nach und fuhr dann fort: „Die Reiter hatten die Richtung nach dem Dschebel Ma; das ist der ‚Berg des Wassers‘, weil es dort eine Quelle giebt. Ich bin überzeugt, daß sie dort in der Nacht lagern werden. Ich lasse dreißig oder vierzig Krieger holen, welche vor diesem Berge an einer Stelle, wo wir auf sie warten werden, auf uns zu treffen haben. Meinst du nicht, daß dies richtig sein wird?“ Es war ein Glück für uns, diesem Scheik der Dinarun und seinen Leuten begegnet zu sein. Ich hätte freilich gern eine andere Disposition getroffen, fühlte mich ihm aber zu Dank verpflichtet und durfte es nicht zu einer vielleicht möglichen Verstimmung zwischen ihm und mir kommen lassen. Darum erklärte ich: „Wir kennen diese Gegend nicht; euch aber ist sie wohlbekannt; darum bin ich überzeugt, daß dein Rat der beste ist, der uns gegeben werden kann. Wir werden ihn befolgen.“ „Ich danke dir, Sihdi! Du wirst die Erfahrung machen, daß sich niemand täuscht, der mir vertraut. Wir kehren also mit euch beiden um.“ Er gab einem seiner Leute die nötigen Befehle, und als dieser im Galopp fortritt und das ledige Packpferd mitnahm, stiegen wir auf und schlugen die Richtung ein, aus welcher die Dinarun gekommen waren. „Brrr!“ schüttelte sich Halef, als wir kaum einen Kilometer zurückgelegt hatten. „Friert dich wieder?“ fragte ich ihn. „Ja. Aber es ist auch noch etwas anderes.“ „Was?“ „Mein jetziges Pferd! O, Sihdi, welch eine Wonne [105] des Paradieses ist es, auf meinem Barkh zu sitzen! Ja, es sind sogar zwei, drei, vier oder fünf solche Wonnen! Aber so ein Gaul wie dieser! Sihdi, bist du einmal auf einem Ziegenbock geritten?“ „Nein.“ „Ich auch nicht; aber ich leide jetzt dieselben Qualen, die man eigentlich nur auf dem Rücken einer Ziege suchen darf. Ich weiß nicht, ist das Pferd schuld, oder giebt es eine andere Ursache: Ich werde schwindelig; mein Herz klopft überschnell.“ „Halef, du bist krank, ernstlich krank!“ rief ich besorgt aus. „Krank? O nein! Wie könnte ich krank sein, wenn es Spitzbuben zu verfolgen und einzufangen giebt! Du mußt doch deinen alten treuen Hadschi kennen!“ „Irre dich nicht! Denke einmal an jenen Unglücksritt von Bagdad auf dem Weg der persischen Todeskarawane!“ „An den werde ich denken, so lange ich nur denken kann. Wir ritten der Pest entgegen, die erst dich, dann mich ergriff.“ „So erinnere dich genau! Vergleiche deinen damaligen Zustand mit deinem jetzigen!“ „Allah! Hast du etwa Grund, jetzt wieder an die Pest zu denken?“ „Nein, sondern einstweilen nur an das Kranksein im allgemeinen. Daß du Schwindel hast, macht mich besorgt.“ „Jetzt ist er wieder weg; aber ich habe Figuren und bunte Fäden vor den Augen, die mich hindern, deutlich und klar zu sehen.“ „Hm! Halef, ich wollte, wir hätten unsere Pferde und überhaupt unser Eigentum wieder und befänden uns [106] an einem stillen, sicheren Orte, an dem wir bleiben könnten!“ „Sihdi, lieber Sihdi, mache mir doch nicht Angst mit deiner Sorge um mich! Ich bin ja ganz gesund! Schau, vorhin fror es mich; jetzt aber ist das völlig weg; es ist mir sogar heiß, ganz heiß geworden. Habe also keine Angst. Ich bin so rüstig, wie ich stets gewesen bin und wie ich bleiben werde, bis ich sterbe!“ Es wäre ein großer Fehler gewesen, ihm diese gute Meinung zu widerlegen; darum sagte ich nichts, und da auch er nicht weiter sprach, so ritten wir nun still nebeneinander her. Nafar Ben Schuri ritt voran; dann folgten wir zwei, und hinter uns kamen seine Leute. Es war eigentümlich, daß der Anführer sich nicht zu uns hielt, aber keineswegs unerklärlich. Wir sahen, daß er der Fährte, welcher wir folgten, große Aufmerksamkeit widmete; das hätte er nicht gekonnt, wenn er gezwungen gewesen wäre, sich mit uns zu unterhalten. Auch lag es für den Scheik, der überdies die Gegend genau kannte, sehr nahe, sich an der Spitze des kleinen Zuges zu halten. Vielleicht war er überhaupt ein schweigsamer Mann, der nur dann sprach, wenn er es für nötig hielt. Oder galt es bei ihm als ein Beweis der Achtung und Höflichkeit, sich nicht zu uns zu gesellen und uns mit neugierigen Fragen und überflüssigen Reden zu belästigen? Wahrscheinlich hielt er sich auch nicht für befähigt oder erfahren genug, auf ein Gespräch mit Leuten einzugehen, denen er sich nicht geistig gleichgesellt fühlte. Kurz, es gab Gründe genug, seine Absonderung von uns zu erklären. Nur an eines dachten wir nicht, nämlich daß ihn das böse Gewissen oder die Vorsicht abhalte, neben uns zu reiten und sich nach Verhältnissen fragen zu lassen, über welche er nicht Auskunft geben wollte. Da [107] hätten wir ihn ja für unehrlich halten müssen, ihn, der doch eigentlich unser Retter war, und dazu fehlte uns, zumal in unserer gegenwärtigen Lage, die Befähigung. Uebrigens kam es zuweilen vor, daß er uns eine Bemerkung über den Weg, die Gegend oder über die Spuren, denen wir folgten, zuwarf, und das genügte uns so vollständig, daß wir gar nicht mehr von ihm verlangten. Mich beschäftigte der Gedanke an Halef außerordentlich. Mir erschienen seine Wangen jetzt noch tiefer als vorher eingefallen. Ich sah sie bald sich entfärben, bald dunkler werden. Oder bildete ich mir das nur ein? Seine Augen blickten jetzt matt und starr, und gar nicht lange, so schienen sie in ungewöhnlichem Glanz zu strahlen. Auch hierin konnte ich mich täuschen, doch nicht darin, daß er zuweilen tief und seufzend Atem holte, was ich bei ihm noch nie bemerkt hatte. War seine Frage nach dem Sterben einer Vorahnung entsprungen, daß eine schwere Krankheit die fleischlosen, gierigen Hände nach ihm ausstrecke? Fast erschrak ich, denn grad als mir dieser Gedanke kam, wendete er mir sein Gesicht zu und sagte: „Sihdi, ich komme mit meiner Frage noch einmal: Wie denkst du über das Sterben?“ „Wir haben das ja schon besprochen,“ antwortete ich. „Nein, noch nicht!“ „Wieso?“ „Du hast mir nicht geantwortet. Du warst so klug, wie du immer bist, wenn du meinst, daß ich nach etwas frage, was ich noch nicht verstehen kann. Dann antwortest du mir dadurch, daß du mich selbst antworten lässest. Aber ich wollte doch nicht hören, was ich denke, sondern wie du denkst.“ [108] „Lieber Halef, frage nicht jetzt nach solchen Dingen; es ist nicht Zeit dazu.“ „Warum?“ „Muß ich dir das erst erklären? Was weiß der Mensch vom Sterben? Und wenn er ja darüber nachdenken, oder gar darüber sprechen will, so soll er das in stiller, geräuschloser Stunde thun, in welcher er nicht von dem Leben abgehalten wird, seine Gedanken mit dem Sterben zu beschäftigen. Sei gut, lieber Halef, und laß jetzt diese Frage fallen!“ „Sei gut, lieber Halef! O, Sihdi, wenn du in dieser Weise zu mir sprichst, so könnte ich nicht nur vom Sterben sprechen, sondern selbst und wirklich sterben - - für dich, aus Liebe, ja, aus Liebe! Wenn doch alle, alle Menschen nur in diesem Tone zu einander sprechen wollten!“ „Alle?“ „Ja, Sihdi!“ „Auch die guten mit den bösen?“ „Ja, auch; denn dann würden die einen vielleicht durch die anderen gerettet werden!“ „Ist das dein Ernst?“ „Ja.“ „Hm!“ „Wieder dieses ‚Hm!‘ Hinter diesem Brummen steckt stets etwas, was ich begangen habe. Wahrscheinlich auch jetzt. Ich bitte, es mir nicht vorzubrummen, sondern deutlich zu sagen!“ „Denke an den Erzengel Midschaïl, dem das Schwert der Rache in die Hand gegeben ist! Wer wollte so streng Gericht halten wie er?“ „Hm!“ „Ah, wer brummt jetzt? Ich oder du? Wer wollte weder Gnade noch Güte walten lassen?“ [109] „Hm!“ „Wer wollte wie ein Kieselstein oder wie ein hungriger Löwe sein?“ „Hm!“ „Ein schwarzer Panther, ein Krokodil? Wer wollte alle Qualen der Hölle spenden und sich dann lächelnden Mundes über diese Qualen freuen? Kennst du vielleicht den Mann?“ „Hm!“ Er hatte bei jedem „Hm!“ den Kopf immer tiefer sinken lassen. Ich fuhr fort: „Und jetzt wünscht ganz derselbe Mann, daß alle, alle Menschen nur im Tone der Liebe zu einander sprechen möchten, auch die guten zu den bösen, weil die letzteren dadurch vielleicht gerettet werden könnten!“ Da hob er den Kopf mit einem schnellen Ruck empor, wendete mir das liebe, liebe Gesicht wieder zu und rief aus, indem ein helles seelengutes Lächeln darüberflog: „Vergieb, Sihdi! Dieser Mann, dieser Mensch, dieser Kerl, dieser Dummkopf ist der größte Esel, den es nur geben kann! Glaubst du das?“ „Nein!“ „So streite ich mich mit dir! Du kennst nämlich deinen Halef nicht!“ „O doch!“ „Nein, noch lange nicht! Auch ich habe ihn nicht gekannt, bis - - bis - - bis ich einmal ganz plötzlich den anderen kennen lernte.“ „Den anderen?“ „Ja. Hältst du es für möglich, daß ein Mensch aus zwei Personen bestehe?“ Ich sah erstaunt zu ihm hinüber. Welch eine Frage! „Ja, da schaust du mich groß an!“ fuhr er fort. [110] „Verzeihe mir, daß ich dir bisher die große, wichtige Entdeckung verschwieg, welche ich an mir gemacht habe! Ich bestehe aus zwei ganz ähnlichen und doch unendlich verschiedenen Wesen. Das eine ist gut, das andere schlimm. Beide zusammen heißen Hadschi Halef; stehen sie einander aber kämpfend gegenüber, so ist das schlimme der Hadschi und das gute der Halef. Verstehst du mich?“ „Ja.“ Jetzt war er es, der mich prüfend ansah. „Du verstehst mich? Sonderbar! Kämpft es etwa auch in dir so wie in mir?“ „Ja, in jedem Menschen. Aber Millionen schenken diesem inneren Kampfe keine Aufmerksamkeit, und darum sterben sie, ohne es zum Sieg zu bringen.“ „Das will ich aber! Ich will siegen, darum kämpfe ich! Kein Mensch bemerkt das, und selbst du hast es nicht bemerkt. Es lebt einer in mir; der ist, als ob er von Allahs Himmel stamme, so freundlich, so gütig, so edel, so aufopfernd, so geduldig. Das ist dein Halef, den du liebst. Und es lebt einer in mir, der nicht vom Himmel stammt, denn er ist stolz, trotzig, unvorsichtig, alles übertreibend, prahlerisch, jähzornig, unversöhnlich, rachsüchtig. Das ist der Hadschi, der dir nicht gefällt und den du meinst, so oft dein ‚Hm!‘ sich hören läßt. Du wirst vielleicht fragen, warum ich den guten als den Halef und den schlimmen als den Hadschi bezeichne; aber wenn ich dir sage, daß Halef ein Mann und Hadschi ein Titel ist, so wirst du mich verstehen.“ Für diejenigen, welche es noch nicht wissen, diene die Bemerkung, daß der Anhänger des Islam dann zum Hadschi wird, wenn er eine der heiligen muhammedanischen Städte der Pilger besucht und dort alle seine religiösen Obliegenheiten erfüllt hat. Ein Hadschi in vollstem Sinne [111] ist der, welcher in Mekka, Medina und vielleicht gar noch in Jerusalem zum Besuch der Omarmoschee gewesen ist. Für den Westafrikaner aber genügt es auch schon, das dort für heilig geltende Kaïrwan besucht zu haben. Halef hatte nach seinen letzten Worten eine kurze Pause gemacht. Dann fuhr er fort: „Als du mich damals in der Sahara kennen lerntest, war ich ein junger, unerfahrener und doch sehr eingebildeter Mensch. Ich nannte mich Hadschi, obgleich ich kein Recht hatte, diesen Titel zu führen. Du freilich durchschautest mich und lächeltest über diesen falschen Hadschi, der noch nie an einem der heiligen Orte gewesen war. Ich nannte sogar meinen Vater und auch meinen Großvater Hadschis, obgleich sie noch nicht einmal Kaïrwan im Lande Tunis gesehen hatten. Das war nicht nur eine Lüge, sondern sogar eine Uebertreibung der Lüge bis auf meine Vorfahren zurück. Ich war eitel und ruhmsüchtig; ich prahlte; ich wollte mehr sein, als was ich war, und aus dieser Unwahrheit entsprangen alle anderen Fehler, welche sich über dein ‚Hm!‘ zu ärgern pflegen. Darum habe ich den schlimmen Kerl, der in mir steckt und mir so viel zu schaffen macht, den ‚Hadschi‘ genannt. Begreifst du mich jetzt, Sihdi?“ „Sehr gut, mein lieber Halef.“ „Und dieser ‚Hadschi‘ ist dir bekannt?“ „Wahrscheinlich besser, als du denkst.“ „So hoffe ich, daß dir auch der andere, der gute Kerl in mir bekannt ist, den ich mit meinem Namen, also mit ‚Halef‘ bezeichne. Denn dieser hat mir immer wieder zurückzuholen, was der andere mir von deiner Liebe und deiner Achtung raubt. Diese beiden so verschiedenen Wesen wohnen in mir und streiten sich unaufhörlich nicht nur um den Besitz meiner Persönlichkeit, sondern sogar [112] um jedes meiner Worte und um jede meiner Thaten. Wer von ihnen zuerst dagewesen und wer dann später gekommen ist, der Hadschi oder der Halef, das kann ich nicht sagen, denn ich habe damals nicht aufgepaßt. Seit einiger Zeit aber beobachte ich sie sehr genau, und da bemerke ich, daß sie eigentlich gar nicht zu einander gehören und doch unendlich schwer von einander zu unterscheiden sind. Aber bemerkt habe ich doch, daß der Halef die Wahrheit liebt und von dem andern nichts, gar nichts wissen will, während aber im Gegenteile der Hadschi sich oft die größte Mühe giebt, mich zu belügen und zu betrügen, indem er sich stellt, als ob er der Halef sei. Darum habe ich diesem Hadschi schon hundertmal die Gastfreundschaft in mir gekündigt; aber er hat keinen Gehorsam und kein Ehrgefühl; er bleibt, wo er ist, und wenn ich ihn einmal vorn zur Thüre meines Zeltes hinausgeworfen habe, so ist er im nächsten Augenblicke hinten unter der Leinwand schon wieder zu mir und in mich hineingekrochen. Sihdi, wenn ich den Kerl fassen könnte! Leider aber ist mir das nicht möglich! Er hat weder vor mir noch vor andern Leuten Angst, und es giebt nur einen, vor dem er sich fürchtet.“ „Wer ist das?“ „Das bist du. Ja, du! Vor dir scheint er einen ungeheuren Respekt zu haben, aber weniger vor deiner Gestalt, als vielmehr vor deinen Augen. Erst seitdem ich dies bemerkt habe, weiß ich, daß es Augen giebt, welche der Warnung, und wieder andere, welche der Verführung dienen. Ich habe sehr oft schon in Augen gesehen, bei deren Blick dieser Hadschi sofort zu prahlen und zu übertreiben beginnt. Aber wenn du mich anschaust, weiß du, so ernst und doch so lächelnd, da kann er gar nicht anders, da ist er sofort still. Er schämt sich vor dir; ja er flieht [113] vor dir. Wie das nur kommen mag? Kannst du es mir erklären?“ „Vielleicht. Er flieht nämlich nicht vor mir, sondern vor dem guten Halef in dir. Dieser ist es ja, den ich lieb habe, und wenn die Liebe mein Auge auf dich richtet, ruft sie ihn wach und steht ihm bei, den andern zu besiegen. Das ist ein Rätsel des menschlichen Seelenlebens, welches du nicht lösen kannst. Versuche also nicht, ihm nachzuforschen!“ „Diese Warnung ist gar nicht nötig, denn du weißt ja, daß ich kein Freund von Rätseln bin. Aber über die beiden in mir wohnenden Wesen möchte ich doch gar so gern ins Reine kommen. So oft ich über sie nachdenke, muß ich an die beiden Adamlar1) [1) Türkisch: Adam = Mensch, Adamlar = Menschen.] denken, von denen du zuweilen gesprochen hast. Es ist in deinem Ahd idsch dschedid2) [2) Neues Testament.] von ihnen die Rede. Kannst du dich besinnen?“ „Ja.“ „Das heilige Buch der Christen spricht von einem alten Adam, den man ablegen soll, damit ein neuer, gerechterer und besserer an seine Stelle trete. Ob da wohl der Hadschi und der Halef gemeint sind, welche in mir wohnen?“ „Ja; natürlich sind sie gemeint.“ „Aber, Sihdi, da möchte ich doch beinahe sagen, daß das heilige Buch der Christen das klügste aller Bücher sei! Es schaut in das Innere der Menschen hinein und spricht von Geheimnissen, welche er selbst nicht kennt! Wenn eine Religion von mir mehr weiß, als ich selbst, so muß ich vor ihr Respekt haben, ich mag wollen oder nicht. Wie schade, daß wir von diesem Gespräch ab- [114] brechen müssen! Der Scheik der Dinarun scheint etwas Wichtiges zu sehen!“ Wir waren nämlich zuletzt durch eine Art von Engpaß geritten. Er mündete auf eine kleine Hochebene, von welcher aus er wiederum zu Thale führte. Der Scheik hatte seinem Pferde die Sporen gegeben, um uns vorauszukommen. Nun hielt er am Rande der Ebene und deutete uns durch Zeichen an, daß ihm dort irgend etwas in die Augen gefallen sei. Als wir uns ihm bis auf Hörweite genähert hatten, rief er uns zu: „Ich sehe die Räuber. Sie lagern da unten am Wasser. Kommt her; aber reitet nicht bis ganz an den Rand dieses Platzes, damit ihr nicht von ihnen gesehen werdet! Der Berg da drüben ist der Dschebel Ma.“ An diesem Berge hatte sich die Natur endlich einmal wenigstens einigermaßen grün gekleidet. Seine Hänge waren ziemlich hoch hinauf mit Gras bewachsen, und an seinem Fuße zog sich allerlei Buschwerk hin. Es gab da sogar einen kleinen, schmalen Wasserlauf, an dessen Ufer wir die, welche wir suchten, lagern sahen. „Wir müssen von den Pferden steigen, wenn wir sie unbemerkt beobachten wollen,“ meinte der Scheik, indem er aus dem Sattel sprang, welchem Beispiele wir natürlich folgten. „Ich glaube, daß sie es sind. Oder meint ihr vielleicht, daß ich mich irre?“ Er richtete diese Frage an mich und Halef. Der letztere antwortete: „Ich sehe gar niemand. Soeben legt sich mir wieder dieser rote Nebel vor die Augen, den mein Blick nicht durchdringen kann. Sihdi, sag, was du erblickst!“ Ich sah zwölf Menschen und vierzehn Pferde. Zwei von diesen letzteren standen von den anderen getrennt. Es waren unsere Rapphengste; ich irrte mich nicht, denn [115] ich erkannte sie ganz deutlich. Als ich dies Halef sagte, rief er aus: „So wollen wir eilen, schnell hinabzukommen! Diese Schurken sollen keinen Augenblick zu lange das Vergnügen haben, sich für die Besitzer unseres Eigentums zu halten!“ Er wollte sofort wieder in den Sattel steigen. „Keine Uebereilung, Halef,“ warnte ich. „Wir können nicht anders zu ihnen kommen, als daß wir die diesseitige Berglehne hinabreiten, und da müssen sie uns sehen.“ „Du meinst, dann fliehen sie und entkommen uns?“ „Nein, ich bin vielmehr der Ansicht, daß sie bleiben würden, um uns Widerstand zu leisten. Wir wären ohne Deckung; sie aber könnten sich hinter die Büsche stecken. Hast du Lust, dich erschießen zu lassen, ohne dich wehren zu können?“ „Welche Frage! Ich will auf keinen Fall erschossen sein, gleichviel, ob ich mich wehren kann oder nicht. Aber können wir denn nicht von einer anderen, besseren Seite an sie kommen?“ „Das würde uns zu einem Umwege nötigen, für den uns die Zeit mangelt. In einer Viertelstunde wird es dunkel sein. Bedenke das!“ „Was soll ich thun, Sihdi? Denken? Das kann ich nicht! Soeben ist es mir wie ein leiser Hauch der Wüste durch den Kopf gegangen. Mein Hirn ist heiß, und alle Gedanken sind aus ihm hinweggeblasen. Was ist das plötzlich nun? Ich muß mich setzen.“ Er ließ sich auf die Erde nieder und legte den Kopf in die Hände. Ich wollte mich zu ihm niederbrücken; er aber wehrte ab: „Sorge dich ja nicht um mich! Das ist gar nicht schlimm, sondern nur die letzte Wirkung des giftigen [116] Kaffees, den wir gestern getrunken haben. Es wird schnell vorübergehen. Glaube mir: ich bin so gesund, wie du nur wünschen magst!“ Er schob mich von sich fort, und ich gab mir den Anschein, daß ich beruhigt sei. Ich konnte ja nichts Besseres thun, zumal Nafar Ben Schuri mich jetzt in Anspruch nahm: „Was du zum Scheik der Haddedihn sagtest, waren Worte der Vernunft. Wollten wir so, wie er es wünschte, zum Angriffe schreiten, so würde keiner von uns lebend an die Feinde kommen. Wir müssen hier warten, bis es dunkel ist.“ „Dann aber wird der Weg nur schwer zu finden sein,“ bemerkte ich. „Nein. Wir sind ihn oft geritten und kennen ihn genau.“ „Aber das Geräusch der Pferdehufe kann uns leicht verraten.“ „So lassen wir die Pferde hier zurück. Auch verfehlen können wir trotz der Dunkelheit die Feinde nicht, weil sie wahrscheinlich ein Feuer anzünden werden. Auch hoffe ich, daß meine Leute kommen, ehe es finster wird.“ „Wo ist die Stelle, an welcher sie zu uns stoßen sollen?“ „Hier diese ist es. Sie werden durch den Paß kommen, durch den wir soeben geritten sind. Ich sage dir, daß uns die Leute da unten gar nicht entgehen können. Erlaube, daß wir uns niedersetzen! Wir können jetzt nichts anderes thun, als warten.“ Er hatte recht. In Beziehung auf die Wiedererlangung unseres Eigentums lagen die Verhältnisse so, daß ich mich beruhigt fühlte. Dagegen war es mir um Halef bang. Ich setzte mich an seiner Seite nieder und [117] versuchte, ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er gab mir nur ganz kurze Antworten; sein Ton war matt, der Klang fast widerwillig; darum hielt ich es für besser, zu schweigen. Da auch die Dinarun nicht sprachen, so herrschte hier oben bei uns eine Stille, welche nur durch das jeweilige Schnaufen oder Hufscharren eines Pferdes unterbrochen wurde. Der Tag ging schnell zu Ende. Der Abend senkte sich hernieder, aber die erwartete Verstärkung stellte sich nicht ein. Da der Scheik keine Bemerkung hierüber machte, nahm auch ich diesen Umstand schweigend hin. Wozu über etwas Worte machen, was man durch sie doch nicht ändern kann! Auch brannte unten am Wasser jetzt noch kein Feuer, und uns an die Feinde schleichen, ohne einen solchen Wegweiser zu haben, das wäre doch wohl unvorsichtig gewesen. Da fühlte ich Halefs tastende Hand, welche meinen Arm berührte und an demselben niederglitt. Er ergriff meine Rechte, nahm sie in seine beiden Hände und lehnte seinen Kopf an meine Seite. So saß er längere Zeit still und unbeweglich. Mir war es, als ob seine Hände ungewöhnlich warm seien. „Sihdi!“ erklang es leise. „Halef!“ antwortete ich ebenso. „Siehst du die Sterne dort oben?“ „Ja.“ „Man meint, daß das der Himmel sei. Ob euer oder unser Himmel?“ „Meinst du, es gebe verschiedene Himmel, mein guter Halef?“ „Nein. Und wenn! Hätte Allah zehn Himmel, und mir wäre der höchste von ihnen bestimmt. Und hätte der Gott der Christen auch zehn Himmel, und [118] für dich sollte der unterste sein. Weißt du, was ich thäte?“ „Nun?“ „Ich verzichtete auf meinen obersten und ginge mit dir in deinen niedrigsten. Er würde für mich doch der höchste sein, denn wo die Liebe wohnt, da ist die schönste und beste Seligkeit. Wäre ich dir willkommen, Sihdi?“ „Kannst du ungewiß hierüber sein, Halef?“ „Nein. Ich bin wie ein Kind, welches gern den Vater sagen hört, daß er es liebt!“ „So sage ich es dir von ganzem Herzen!“ „Ich danke dir! Ich dachte soeben nach - - - über dich und über mich. Meinst du, daß wir Freunde seien?“ „Gewiß! Bessere kann es gar nicht geben!“ „Ich denke aber anders.“ „Wie?“ „Solche Freunde, wie wir sind, kann es ja gar nicht geben. Wir sind mehr, viel mehr als Freunde. Es giebt kein Wort dafür. Wenn wir uns als Menschen lieben, welche beide ein gutes und ein nicht gutes Wesen in sich haben, so sind wir Freunde. Aber wenn wir die Liebe nur der beiden guten Wesen in uns meinen, so ist das mehr als Freundschaft; das muß doch wohl der Himmel sein! Das ist es, was ich dachte, und was ich dir sagen wollte! Ich kann dein Gesicht nicht erkennen; aber sag, lächelst du vielleicht?“ „Nein. Ich bin sehr ernst, aber glücklich ernst.“ „Und ich bin so weich. Woher das wohl kommen mag? Sag: Wenn ich dich hier verlassen müßte, um zu sterben, würde ich dich dann wohl auch noch sehen können?“ „Halef! Wie kommst du zu dieser Frage?“ [119] „Das weiß ich nicht. Sie kam mir auf die Zunge und wollte ausgesprochen sein; da habe ich es gethan. Es spricht jemand in mir vom Tode. Ob es der Halef oder der Hadschi ist, das weiß ich nicht; aber ich werde - - - Horch!“ Es gab in diesem Augenblick allerdings etwas zu hören, nämlich ein plötzliches Geschrei vieler Stimmen, wie es beim Angriffe oder im Kampfe ausgestoßen wird. Die Dinarun sprangen auf, und ihr Scheik rief aus: „Allah! Das sind meine Krieger!“ „Da unten?“ fragte ich, indem ich mich auch schnell erhob. „Du sagtest doch, daß sie hierher kommen würden!“ „Sie sind direkt zu den Räubern geritten und über sie hergefallen.“ „Aber sie wußten doch nicht, wo diese sich befanden!“ „Es wird sie der Zufall oder irgend ein Zeichen zu der Stelle geführt haben!“ „Irrst du dich nicht? Weißt du gewiß, daß es deine Leute sind?“ „Sie sind es. Es ist unser Ruf.“ „So müssen wir hinab!“ „Nein. Jetzt noch nicht. Laß nur einige Minuten vergehen, so werden wir erfahren, wie es steht!“ Ich war nicht ohne Sorge, zwang mich aber zur Geduld. Halef war auch aufgesprungen. Es schien alle Schwäche von ihm gewichen zu sein. Seine Stimme klang sehr energisch, als er den Scheik jetzt fragte: „Können deine Krieger denn einen anderen Weg als den ihnen anbefohlenen eingeschlagen haben?“ „Ja,“ antwortete Nafar Ben Schuri. „Warum? Sie haben doch zu gehorchen?“ [120] „Man kann doch auch grad aus Gehorsam etwas anderes thun, als was befohlen worden ist.“ „Nein! Das ist gar nicht möglich, denn ein Befehl wird doch gegeben, daß man ihn grad so und nicht anders befolge, als er lautet.“ „Aber wenn der, welcher ihn auszuführen hat, währenddem einsieht, daß er ihn auf andere Weise viel besser und vollständiger erfüllen kann, so ist es doch grad die Pflicht des Gehorsams, nicht darauf zu achten, wie der Befehl ursprünglich geklungen hat!“ „Damit erkennst du also jedem deiner Leute die Berechtigung zu, deine Gebote zu deuten und von ihnen abzuweichen oder nicht, je nachdem sie es für nützlich halten. Meine Haddedihn haben genau nach meinen Worten zu handeln, ohne von ihnen hinwegzunehmen oder hinzuzufügen. Doch schaut hinab. Man hat ein Feuer angezündet, und man ruft. Wer ist gemeint?“ Es leuchtete unten eine Flamme auf, und wir hörten die Worte erklingen: „Gahlab, gahlab; ta'al, ta'al, ia Scheik - - Sieg, Sieg; komm, komm, o Scheik!“ „Diese Worte gelten mir,“ antwortete Nafar Ben Schuri. „Meine Leute wissen ja, daß ich hier oben bin, und da sie den Feind überwunden haben, so fordern sie mich auf, zu ihnen hinabzukommen.“ „Hoffentlich haben sie in ihrem eigenmächtigen Handeln nichts gethan, was uns in Schaden setzt! Wie man etwas thut, das ist oft wichtiger, als daß man es thut!“ Die Rufe von unten wiederholten sich, und so stiegen wir auf, um hinabzureiten. Das geschah in einer langen Einzelreihe, einer hinter dem andern. Halef und ich machten die letzten und verließen uns auf unsere Pferde, welche trotz der Dunkelheit und trotz der Beschwerlichkeit [121] des Weges nur selten einmal einen Fehltritt thaten. So kamen wir ganz gut in das Thal hinab und ritten quer über dasselbe hinüber, indem wir uns das Feuer als Wegweiser dienen ließen. Dabei wurden Rufe und Gegenrufe gewechselt, und es gab einen Lärm, der immer größer wurde, je näher wir kamen. Als wir dann anlangten, befanden wir uns inmitten von 50 oder 60 Dinarun, welche alle auf das lebhafteste auf uns einschrieen. Jeder einzelne wollte uns erzählen, durch welche großen Heldenthaten speziell auch er zum Siege beigetragen habe, und so dauerte es ziemlich lange, bis wir erfuhren, wie höchst einfach sich die Sache zugetragen habe. Der Bote, welcher von dem Scheik in das Lager gesandt worden war, hatte den Anführer gemacht. Es war für ihn selbstverständlich gewesen, daß die Diebe am Wasser des Dschebel Ma nachtlagern würden. Er hatte unterwegs den Entschluß gefaßt, sich mit dem ganzen Ruhme des Sieges zu schmücken und den Ueberfall also ohne den Scheik und uns zu übernehmen. Darum war er nicht nach dem Stelldichein geritten, sondern einer anderen Richtung gefolgt, welche ihn unten thalabwärts bis an den Fuß des Berges geführt hatte. Dort angekommen, waren die Pferde unter der Aufsicht einiger Leute zurückgelassen worden. Dann hatte man sich leise dem Wasser entlang geschlichen, die Feinde trotz der Dunkelheit entdeckt und sie so unerwartet und mit Uebermacht überfallen, daß an einen Widerstand gar nicht zu denken gewesen war. Sonderbarerweise wurde diesem eigenmächtigen Verfahren von seiten des Scheikes nicht die geringste Rüge erteilt. Die Räuber lagen mit Stricken und Riemen gebunden an der Erde. Doch noch ehe wir uns mit ihnen beschäftigen konnten, geschah etwas, worüber selbst die [122] pferdekennenden Dinarun in Staunen gerieten. Nämlich kaum war der Schein des Feuers auf mich und Halef gefallen, und kaum hatten wir einige laute Worte gesprochen, so ertönte von der Seite her das überlaute, frohe Wiehern zweier Pferdestimmen, und unsere beiden Rappen drängten sich, ihn gewaltsam auseinandertreibend, durch den Haufen der Beduinen, um uns zu begrüßen. Barkh machte vor Freude die drolligsten Ziegenbockkapriolen, die er nur unterbrach, um seinen Kopf an Halefs Brust zu reiben und ihm in das Gesicht zu schnauben, als ob er sehr viel und wichtiges mit ihm zu sprechen habe. Mein Assil Ben Rih benahm sich nicht so laut wie Barkh, aber im höchsten Grade rührend. Er drückte mir sein Maul fest an die Wange - Pferde gehören bekanntlich zu den wenigen Tieren, welche küssen - leckte mir hierauf die Hand und legte sich dann zu meinen Füßen auf die Erde und sah mich an, als ob er sagen wolle: „Du weißt, was ich meine. Sei so gut, und thu es mir zuliebe, damit ich nicht nur sehe, sondern auch höre, daß du wieder bei mir bist!“ Er wollte nämlich die gewohnte Sure in das Ohr gesagt haben. Leider durfte ich das nicht thun, weil ich damit eines der Geheimnisse dieses prächtigen Tieres verraten hätte. Aber ich kniete zu ihm nieder, steckte den Arm unter seinem Hals hindurch und hob seinen Kopf empor, um ihn zu streicheln und den Hauch meines Mundes seine Nüstern berühren zu lassen. Da ging sein Atem so laut und so froh, daß es geradezu gefühllos gewesen wäre, zu behaupten, dies sei etwas anderes, aber nur keine Freude. „Er hat dich lieb, sehr lieb,“ sagte da der Scheik. „Ist es sein Geheimnis, daß du ihn so anfassest und ihm deinen Atem giebst?“ [123] „Nein,“ antwortete ich kurz, weil es unter den Beduinen als Taktlosigkeit gilt, nach dem Geheimnisse eines edlen Pferdes zu fragen. „Aber er hat eines oder vielleicht gar mehrere?“ erkundigte er sich weiter. „Allerdings, denn er ist vom echtesten, allerreinsten Blute.“ „Bestehen diese Geheimnisse in Worten oder in Zeichen?“ „Diese Geheimnisse bestehen eben in Geheimnissen, von denen nicht gesprochen wird!“ Ich sagte das in zurückweisendem Tone; dennoch fuhr er fort: „Bitte, laß mich die Probe machen! Ich will seinen Hals umarmen, grad so wie du, und ihm dann auch in die Nüstern hauchen.“ Das war eine beispiellose Zudringlichkeit, welche mich leicht bewegen konnte, meine bisher gute Ansicht über diesen Mann zu ändern. Ich schüttelte verneinend den Kopf. Trotzdem knieete er neben mir nieder und sagte: „Ich habe noch nie ein Tier von dieser Reinheit des Blutes gesehen. Ich muß es liebkosen. Verweigere mir das nicht!“ Da stand ich nun allerdings schnell auf, um ihm Platz zu machen und antwortete: „Du bist dein eigener Herr und darfst natürlich thun, was dir beliebt. Als deinem Gaste ist es mir verboten, dich zu hindern.“ Jetzt schob er seinen Arm unter den Hals des Pferdes, welches diese Berührung zwar duldete, aber mit unwilligem Schnaufen beantwortete. Als er dann aber Assil anhauchte, schleuderte dieser ihn mit einer kräftigen [124] Bewegung des Kopfes zur Seite, sprang auf und schlug mit den Hinterhufen nach ihm aus, glücklicherweise ohne ihn zu treffen, weil Halef schnell hinzugesprungen war und den Scheik von der gefährlichen Stelle hinweggerissen hatte. Dieser rief, beschämt von der ihm erteilten Lehre, zornig aus: „Allah verdamme das Vieh, welches im Zeichen des Scheitan1) [1) Teufel.] geboren worden ist! Man wagt ja förmlich sein Leben, wenn man es berührt!“ „Das thut man allerdings,“ antwortete ich. „Warum hörtest du nicht auf mich? Man soll nie versuchen, mit Gewalt in die Geheimnisse anderer Menschen dringen zu wollen!“ „Ist der andere Hengst von derselben Gefährlichkeit?“ „Der eine ist wie der andere. Sie erkennen nur uns als ihre Herren an. Wer dieses unser Recht nicht achtet, der hat es zu bereuen. Schau diese beiden Menschen an! Sie haben sich an unseren Pferden vergriffen und sie bezwingen wollen. Die Strafe ist der That sofort gefolgt.“ Ich zeigte bei diesen Worten auf die beiden Diebe, deren verbundene Gliedmaßen vermuten ließen, daß sie die zwei Unvorsichtigen seien, die sich an unseren Pferden vergriffen hatten. Sie waren, wie auch ihre Kameraden, gefesselt, sagten kein Wort und sahen uns auch nicht an. War das ein Zeichen der Scham, des Schuldbewußtseins? Oder hatte es auch noch einen anderen Grund? Wir konnten ihre Züge nicht deutlich sehen, weil das flackernde Feuer keine ruhige Helle gab. Ganz selbstverständlich war es nun unser Erstes, nach den uns geraubten Gegenständen zu suchen. Das wurde [125] uns sonderbarerweise viel leichter, als es zu vermuten gewesen war. Wir sahen nämlich unweit des Feuers einen Mantel ausgebreitet, auf welchem alles lag, was wir vermißten, von den Gewehren an bis herunter zum kleinsten Büchschen, welches den Phosphor zur Bereitung der Zündhölzer enthielt. Daß nichts, aber auch gar nichts fehlte, hätte uns wohl auffallen müssen, doch mangelte uns jetzt die Ruhe, diesen Umstand ganz besonders zu beachten. Die Diebe hatten den Raub wahrscheinlich erst später teilen wollen. Das genügte vollständig, zu erklären, warum noch jetzt alles so schön beisammenlag. Auch Nafar Ben Schuri äußerte seine Freude darüber, daß es uns mit seiner Hilfe gelungen sei, ohne den geringsten Verlust und so vollständig wieder zu unserem Eigentum zu gelangen. Er kauerte sich zu uns hin und nahm ein Stück nach dem anderen in die Hände, um es zu betrachten und seine Bemerkungen darüber zu machen. Ganz besonders interessierte er sich für unsere Gewehre, deren Konstruktion ihm vollständig unbekannt war. Er betrachtete sie mehr als genau, wollte den Zweck jedes einzelnen Schräubchens wissen und wurde uns mit seinen vielen Fragen so unbequem, daß Halef ihm endlich im Tone schlechtverhehlten Unwillens bedeutete: „Du siehst, daß diese Gewehre grad so wie unsere Pferde ihre Geheimnisse haben, welche jeder zu achten hat, dem sie nicht freiwillig mitgeteilt werden!“ „Verzeih! Aber bei dieser Art von Waffen darf man doch neugierig sein,“ entschuldigte sich der Scheik. „Ihr beide wißt, wie oft und viel von ihnen gesprochen wird. Man erzählt sich Wunderdinge von ihnen und von eurer Fertigkeit in ihrem Gebrauche. Diese Gewehre sind den Waffen des ganzen Morgenlandes überlegen. [126] Ist es da so unbegreiflich, daß ich gern wissen möchte, wie man sie zu handhaben hat?“ „Ja, es ist unbegreiflich, weil die Neugierde nur eine Eigenschaft der alten Weiber ist. Bei dem Scheik und Anführer tapferer Krieger aber darf sie noch viel weniger als sonst bei einem Mann zu finden sein.“ Das war deutlich gesprochen, wohl auch ein wenig rücksichtslos, weil wir dem in dieser Weise Zurückgewiesenen ja so viel verdankten. Aber daß er sich jetzt wieder, wie vorhin bei den Pferden, so zudringlich zeigte, das legte unserer Dankbarkeit einen Dämpfer auf, der uns selbst am unangenehmsten berührte. Leider schien er das nicht zu empfinden, denn er fügte zu den bisherigen Fehlern einen neuen, indem er im Tone des Vorwurfes sagte: „Du scheinst nicht zu wissen, was ihr uns schuldig seid! Wo wäret ihr jetzt, und was hättet ihr jetzt, wenn wir nicht bereit gewesen wären, euch in unseren Schutz zu nehmen!“ Halef war eifrig damit beschäftigt, alles, was ihm gehörte, einzustecken, ich ebenso. Jetzt hatten wir nur noch die Gewehre an uns zu nehmen. Wir thaten das, und nun, da wir uns sicher und selbständig fühlen durften, antwortete der Hadschi: „Du forderst Dankbarkeit? Weißt du noch nicht, daß der wahre Dank nicht genommen, sondern nur gegeben werden kann? Du hast zwar von uns gehört, kennst uns aber nicht. Darum erscheint dir deine Güte zu uns viel größer, als sie wirklich ist. Wo wir wären und was wir jetzt hätten? Wir hätten auch ohne euch die Spuren dieser Diebe gefunden. Wir wären ihnen gefolgt und hätten uns noch während dieser Nacht hierhergeschlichen, um zu bestrafen, was man an uns verbrochen hat. Euch haben [127] wir weiter nichts, weiter gar nichts zu verdanken, als daß wir drei oder vier Stunden eher hier eingetroffen sind. Und für diese paar Stunden sollen wir dir die Geheimnisse unserer Pferde und unserer Waffen verraten? Denke nach, was du da forderst! Wir haben uns als deine Gäste betrachtet; aber wenn du uns mit Fragen von dir treibst, so werden wir jetzt auf unsere Pferde steigen und nach einem Orte reiten, wo man weiß, daß die wahre Freundschaft sich nicht im Ueberfluß der Worte zeigt! - - Barkh, ta'ahl1) [1) „Barkh, komm!“]!“ Als sein Pferd diese beiden Worte hörte, kam es herbei und stellte sich so vor Halef hin, daß dieser nur den Fuß in den Bügelschuh zu heben brauchte, um sich in den Sattel zu schwingen. Ich gab dem Freunde innerlich recht, hätte mich aber an seiner Stelle wohl etwas höflicher ausgedrückt. Wir hatten Rücksicht zu nehmen. Wie kam es nur, daß der sonst so gern dankbare Kleine hier so schroffe Ausdrücke fand? Er hob auch wirklich schon den Fuß, um aufzusteigen, da trat der Scheik schnell zu ihm und sagte, indem er ihn am Arme zurückhielt: „Hadschi Halef Omar, handle nicht zu schnell! Es war ja nicht meine Absicht, euch von hier fortzutreiben! Bedenke, was man von uns sagen würde, wenn man erführe, ihr seiet unsere Gäste gewesen, wäret aber nicht bei uns geblieben!“ „Für uns würde das wohl keine Schande sein!“ antwortete Halef streng. „Nein, aber für uns! Darum bitten wir euch, hier zu bleiben und morgen früh mit nach unserem Lager zu reiten. Ihr könnt diesen Ort wohl auch gar nicht eher [128] verlassen, als bis ihr über die Diebe Gericht gehalten habt!“ Das war freilich ein Grund, welcher sofort wirkte: „Gericht halten? Allerdings!“ antwortete der Kleine. „Wer soll es thun? Willst du dich mit einer Dschemmah1) [1) Versammlung der Aeltesten.] deiner Krieger daran beteiligen?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil das Urteil derselben wohl nicht mit dem eurigen übereinstimmen würde.“ „Wieso?“ „Jede Dschemma hat nach dem Gesetze der Wüste zu richten, welches den Pferderaub mit dem Tode bestraft. Euer Urteil aber wird sich dieser Strenge wahrscheinlich nicht bedienen.“ „Nicht?“ fragte Halef im Tone der Ueberraschung. „Warum denkst du das?“ Der Scheik dachte nach, wie er sich am besten auszudrücken habe. Leider verhinderte mich sein Vollbart, seine Gesichtszüge zu studieren. Sie kamen mir verlegen und doch auch wieder pfiffig vor. Er wollte unbefangen erscheinen, und doch hätte ich behaupten mögen, daß er grad jetzt befangen sei. Dann antwortete er: „Man hört von euch, daß ihr ganz anders denkt, als andere Leute denken. Ihr handelt nach einer Gerechtigkeit, welche lieber verzeiht, als daß sie sich den Vorwurf der Härte machen läßt. Und hart wäre es doch wohl, wenn diese zwölf Personen wegen nur zwei Pferden alle sterben müßten!“ „Nur zwei? Ich sage dir, daß diese zwei Hengste mehr wert sind als hundert, als tausend andere Pferde! [129] Die Zahl kommt also hier ganz und gar nicht in Betracht.“ „So, aber doch der Umstand, daß ihr euch schon wieder in ihrem Besitz befindet!“ „Das ist richtig. Wir werden also nicht vom Tode sprechen. Aber eins dieser edlen Pferde ist geschlagen worden. Das ist etwas, was nicht vergeben werden kann!“ „Rechne die zerbrochenen Knochen der beiden Unvorsichtigen ab, welche von den Hufen getroffen worden sind!“ „Abrechnen? Wie kommst du mir vor? Ist es deine Absicht, der Dawa wekeli1) [1) Advokat.] dieser Missethäter zu sein und sie zu verteidigen? Wer nicht mit richten will, hat auch nicht zu beschönigen. Ich werde also mit meinem Sihdi beraten, und was wir bestimmen, das wird ausgeführt. Jetzt aber - - jetzt - - o, Sihdi, halte mich! Der Schwindel ist wieder da. Ich sehe nichts und muß mich niedersetzen!“ Er griff nach dem vor ihm stehenden Pferde, um sich festzuhalten. Ich schlang den Arm um ihn und führte ihn an das Feuer. Dort ließ ich seine Decke ausbreiten und legte ihn auf dieselbe nieder. War ich erst besorgt gewesen, so wurde mir nun angst um ihn. „Was fehlt dem Scheik der Haddedihn?“ erkundigte sich Nafar Ben Schuri. „Hat er vielleicht den Suchuna2) [2) Heißes Fieber.]?“ „Nein,“ antwortete ich. „Oder die Berdija3) [3) Kaltes Fieber.]?“ „Nein.“ „Oder die Chumma mutallati4) [4) Wechselfieber.]?“ [130] „Auch diese nicht. Er hat gestern vergifteten Kaffee getrunken. Davon ist ihm noch übel. Weiter ist es nichts.“ Ich wußte, daß ich log; aber die Klugheit verbot mir, die Wahrheit zu sagen. Ich war jetzt beinahe überzeugt, es mit einer schweren, typhösen Erkrankung zu thun zu haben, mußte dies aber verheimlichen, um mir die Bedingungen einer wenigstens den Umständen angemessenen guten Krankenpflege zu ermöglichen. Daß es sich um eine ansteckende Krankheit handle, brauchte jetzt noch niemand zu wissen. Später freilich hatte ich es unter allen Umständen für meine Pflicht zu halten, die Dinarun vor Ansteckung zu bewahren. Glücklicherweise hatten wir unsere Sachen wieder, auch unsere kleine Reiseapotheke. Ich beeilte mich also, Halef Chinin zu geben. Dann lag er still und mit geschlossenen Augen da, als ob er schlafe. Die aus dem Lager gekommenen Dinarun waren mit Proviant versehen. Es wurde gegessen. Die Portion Halefs bot ich ihm nicht an, sondern hob sie auf. Für unsere beiden Pferde sorgte ich selbst. Dann setzte ich mich zu Halef hin, um das zu thun, was ich auch in der vorigen Nacht mir vorgenommen aber leider nicht gethan hatte - - zu wachen. Für Nafar Ben Schuri war an der anderen Seite des Feuers ein Lager zurecht gemacht worden. Da saß er, rauchte einen Tschibuk und schien in Nachdenken versunken zu sein. Mit wem er sich im stillen beschäftigte, das sagten mir die Blicke, welche er von Zeit zu Zeit zu mir herübersandte. Seine Leute hatten sich so gelagert, wie es in ihrem Belieben lag. Eine gewisse Ordnung schien dabei nicht beabsichtigt zu sein. Einmal stand ich auf, um nach den Gefangenen zu sehen. Ihre Fesseln waren nicht übermäßig streng angelegt, doch [131] brauchte ich nicht besorgt zu sein, daß sie sich losmachen würden, weil sie rings von den Dinarun umgeben waren und ich ja die Absicht hatte, nicht zu schlafen. Sie lagen mir so nahe, daß mir nichts entgehen konnte. Ich wollte die beiden Verletzten untersuchen, um ihnen, falls möglich, ihre Schmerzen zu erleichtern; sie duldeten das aber nicht. Dann legte ich dem, den wir für ihren Anführer gehalten hatten, einige Fragen vor, die er mir beantworten sollte. Ich wollte ihn durch sie zu der Bitte ermuntern, nicht streng mit ihm und seinen Leuten zu verfahren; er zog es aber vor, sich in ein so trotziges Schweigen zu hüllen, daß ich den wohlgemeinten Versuch aufgab und an meinen Platz zurückkehrte. Da richtete nun der Scheik das Wort an mich: „Sihdi, halte es nicht für Herzenshärtigkeit! Es ist die Furcht vor dir, die diesem Manne die Worte raubt!“ „Verteidigst du ihn abermals?“ antwortete ich. „Nein. Nur suche ich mir sein Schweigen zu erklären. Welches Urteil werdet ihr wohl über ihn und seine Leute fällen?“ „Das weiß ich nicht. Ich muß darüber mit Hadschi Halef sprechen.“ „Und wo soll es ausgeführt werden?“ „Da wo wir uns befinden, wenn es gesprochen wird.“ „Also daheim in meinem Lager!“ „Warum dort?“ „Weil ich euch eingeladen habe, uns dorthin zu begleiten. Sag, ob ihr uns diesen Wunsch erfüllen werdet!“ „Ich bin bereit dazu, damit ihr seht, daß wir nicht so undankbar sind, wie du zu denken scheinst.“ [132] „Verzeih mir das! Wir, die wir hier zwischen den Bergen wohnen, achten nicht auf die künstlichen Regeln der Städtebewohner, nach denen sich ihre Höflichkeit richtet. Ihr werdet als unsere willkommenen Gäste alles finden, was euch von nöten ist. Und das, was ihr bei uns über diese Diebe beschließet, wird von uns genau so ausgeführt werden, wie ihr es von uns fordert.“ „So bist du erbötig, die Ausführung unseres Urteils zu überehmen?“ „Ja. Nur möchte ich wissen, worin die Strafe bestehen wird. Etwa im Tode?“ „Nein, keinesfalls.“ „Was sonst?“ „Hiebe!“ Dieses Wort sagte ich nicht, sondern es klang aus Halefs Munde. Er hatte also gehört, was von uns gesprochen worden war. „Hiebe!“ wiederholte er, ohne aber die Lage seines Körpers zu verändern. „Wieviel?“ fragte der Scheik. „Jeder zehntausend!“ „Allah! Das ist zu viel!“ „Nein, sondern zu wenig!“ „Das würde doch schlimmer als der Tod sein. Kein Mensch hält zehntausend Hiebe aus!“ „Das soll er auch nicht! Und von den beiden, die sich an unseren Pferden vergriffen haben, bekommt jeder zwanzigtausend!“ „Höre ich recht?“ „Ja. Aber wenn es dir zu wenig ist, so will ich sagen - - dreißigtausend!“ Er richtete sich halb auf, machte mit dem Arme [133] die Bewegung des Schlagens und sank dann wieder nieder. „Allah beschütze ihn!“ sagte der Scheik. „Er ist krank; er hat die Suchuna. Die Glut des heißen Fiebers fließt ihm durch die Adern!“ Ich griff nach Halefs Hand, um nach dem Puls zu fühlen. Ja, er fieberte! Der Scheik fuhr fort: „Hoffentlich spricht er anders, wenn das Fieber vorüber ist. Die Diebe sollen die ihnen gebührenden Schläge bekommen; aber sie durch die Bastonnade langsam zu Tode zu martern, könnt ihr doch nicht wollen.“ Ich durfte weder ja noch nein sagen, weil ich mich zu hüten hatte, Halef aufzuregen, benutzte aber diese Gelegenheit, eine mir nötig scheinende Vorbereitung zu treffen: „Das Urteil wird gefällig werden, wenn wir bei euch angekommen sind. Ihr habt doch wohl einen Tachtirwan1) [1) Kamelsänfte.] im Lager?“ „Mehrere. Warum fragst du?“ „Der beiden Verletzten wegen. Es würde unmenschlich sein, sie reiten zu lassen.“ Da fiel der Scheik viel schneller, als ich erwartet hatte, ein: „Sie sollen im Tachtirwan nach dem Lager gebracht werden?“ „Ja.“ „Meinst du, daß ich einen Boten sende?“ „Ja.“ „Sogleich?“ „Je eher desto besser. Wenn es möglich ist, so laß zwei Sänften kommen!“ [134] Ich hatte es mit einer dieser Sänften auf Halef abgesehen, welcher unmöglich in den Sattel konnte, wenn sein Zustand der jetzige blieb. Das wußte der Scheik nicht, und darum wunderte ich mich nicht über das Lob, welches er mir spendete: „Die Güte deines Herzens gedenkt sogar, den Feinden größere Erleichterung zu bieten, als eigentlich nötig ist. Ein Tachtirwan genügte wohl für beide, doch da es dein Wille ist, so will ich nach zweien schicken, und zwar sogleich.“ Er gab einem seiner Leute den betreffenden Befehl, worauf dieser Mann zu seinem Pferde ging und von dannen ritt. „Ich sprach von deiner Güte, nicht von der meinigen,“ knüpfte der Scheik das unterbrochene Gespräch wieder an. „Und doch hätte ich auch von dieser letzten reden können. Weißt du, zu welchem Stamm diese Leute gehören, welche euch bestohlen haben?“ „Nein.“ „Sie sind Dschamikun. Allah verdamme sie in die tiefste Hölle hinab!“ „Sind die Dschamikun Feinde deines Stammes?“ „Nicht nur Feinde, sondern Todfeinde! Es ist Blut, unaufhörlich Blut geflossen zwischen uns und ihnen, seit man die Namen dieser beiden Stämme kennt. Erst kürzlich wieder ist an uns ein Verbrechen begangen worden, welches zu Allahs höchstem Himmel schreit. Ich will dir nicht jetzt davon erzählen. Du wirst davon hören, wenn wir heimkommen. Wenn ich solche Leute im Tachtirwan transportieren lasse, um ihnen Schmerzen zu ersparen, so ist das eine Güte, welche sich recht wohl mit der deinen messen kann! Vielleicht darf ich in dieser Angelegenheit auf deinen Rat, wohl gar auf deine Hilfe rechnen.“ [135] „Wenn wir dir in irgend einer Weise von Nutzen sein können, so werden wir natürlich sehr gern thun, was wir vermögen. Warum aber willst du mit deiner Mitteilung warten, bis wir uns morgen in eurem Lager befinden?“ „Weil du jetzt wahrscheinlich schlafen willst.“ „Ich pflege nicht gern etwas aufzuschieben. Was man sogleich erfahren kann, soll man nicht bis später warten lassen.“ „Das ist die Energie, die jedem Krieger wohl geziemt. Ich bin in dieser Beziehung ganz so wie du gesinnt. Darum sollst du schon jetzt hören, was ich dir erst morgen sagen wollte. Wirst du mir glauben, wenn ich dir noch einmal und ganz bestimmt versichere, daß die Dschamikun sich auf den Raub und Diebstahl verlegen?“ „Ich muß es ja glauben, weil sie es persönlich an uns bewiesen haben.“ „Nicht nur an euch, sondern auch an uns. Sie haben uns erst kürzlich wieder im tiefsten Frieden überfallen und einen großen Teil unserer Herden weggeführt. Ich war mit den meisten meiner Krieger abwesend, um mit einem befreundeten Stamme ein Fest zu feiern, zu dem uns dieser geladen hatte. Das war von den Dschamikun beobachtet worden, und darum gelang ihnen der Raub. Sie haben dabei fünf unserer Wächter getötet. Nun kennst du unsere Pflicht?“ „Sie lautet nach euren Gesetzen: Blut um Blut!“ „Ja, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Leben um Leben, Blut um Blut! Auch wollen wir unsere Herden wieder haben. Du wirst es also begreiflich finden, daß wir einen Zug der Vergeltung gegen sie beschlossen haben?“ [136] „Ich halte das nach euern Gesetzen für ganz selbstverständlich. Wann soll er unternommen werden?“ „Wir wollten schon morgen früh aufbrechen.“ „Ah! Das ist nun wohl nicht möglich?“ „Nein. Die Gastfreundschaft steht selbst über der Pflicht der Rache. Wir haben euch eingeladen, zu uns zu kommen, und wir müssen euch also zeigen, daß wir stolz darauf sind, euch bei uns haben zu können. Die Dinarun haben die Gastlichkeit niemals verletzt, sondern sie stets höher gehalten, als dies von den anderen in dieser Gegend wohnenden Stämmen geschieht. Ich hoffe, daß ihr uns die Ehre erweist, euch in jeder Beziehung als unsere Gäste betrachten zu dürfen. Welche Antwort giebst du mir?“ Wer die Gebräuche jener Völker nicht kennt, der erwartet natürlich, daß ich sofort und mit Vergnügen eingestimmt habe. Es schien ja geradezu als eine liebevolle Fügung des Schicksals betrachtet werden zu müssen, daß diese Einladung ausgesprochen wurde. Besonders fiel hier der Umstand ins Gewicht, daß Halef von einer vielleicht schweren und langwierigen Krankheit bedroht war, welche eine Unterbrechung unserer Reise erheischte, damit ihm die so notwendige Ruhe und Pflege geboten werden könne. Aber die Sache hatte noch eine andere Seite, welche ich als vorsichtiger Mann nicht übersehen durfte. Nach den Gepflogenheiten der Beduinen ist der „Gast“ nämlich nicht etwa, wie bei uns, nur ein sogenannter „Besuch“, dem man sich zu widmen und alle mögliche Aufmerksamkeit zu erweisen hat. Er hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten, denn er ist für die Zeit seines Aufenthaltes bei dem betreffenden Stamme ein vollgültiges Mitglied desselben. Ja, noch mehr: [137] Das Wort „Gast“ hebt ihn über die Mitglieder des Stammes empor, und wie sie außerordentliche Pflichten gegen ihn zu erfüllen haben, so wird auch von ihm eine größere als die gewöhnliche Hingabe an das Wohl und an die Interessen des Stammes gefordert. Der Gast steht während seines ganzen Aufenthaltes in gewisser Beziehung sogar noch über dem Scheik und hat nicht weniger als dieser an allen Freuden, doch ebenso auch an allen Leiden seiner Gastgeber teilzunehmen. Er würde als ehrloser Mensch betrachtet und behandelt werden, wenn er sich von einer Gefahr zurückzöge, welche denen droht, die ihn bei sich aufgenommen haben. Die Frage Nafars hatte also einen zweifachen Klang, eine doppelte Bedeutung für uns. Sie lautete: „Wollt ihr zu uns kommen und jede Unterstützung finden, deren ihr bedürftig seid?“ Wenn ich hierauf mit einem Ja antwortete, so war es mir dann unmöglich, zu dem hierauf folgenden Schlusse ein Nein zu sagen: „Wollt ihr zu uns kommen, um an dem Rachezuge gegen die Dschamikun teilzunehmen?“ Diese, wenn auch nur sehr kurze Erwägung war der Grund, daß ich nicht augenblicklich die erwartete Antwort gab. Darum warf mir der Scheik sofort die etwas pikiert klingenden Worte hin: „Du zögerst, anzunehmen? Hältst du uns für Leute, deren Berührung eure Ehre beschmutzen würde?“ Diese Frage würde unter anderen Verhältnissen wohl auch eine andere Wirkung hervorgebracht haben; aber es war auf Halef Rücksicht zu nehmen, und wir hatten den Scheik ja auch schon daran erinnert, daß wir seine Gäste seien. Das konnten wir unmöglich zurücknehmen, und darum sagte ich in beruhigendem Tone: „Man soll zwar rasch denken, aber nicht zu schnell [138] sprechen, o Scheik! Ihr habt bisher als Freunde an uns gehandelt, und ich bin überzeugt, daß ihr das auch weiter thun werdet. Warum sollte ich euch mißtrauen? Warum an eurer Ehrlichkeit zweifeln? Als ich nicht augenblicklich antwortete, hatte das einen ganz anderen Grund.“ „Welchen?“ „Ich fragte mich, ob es uns wohl erlaubt sei, euch in der Weise zu belästigen, wie es geschehen wird, wenn wir darauf eingehen, für längere Zeit als nur heute eure Gäste zu sein.“ „Belästigen?“ wiederholte er mein Wort. „Ja.“ „Ich weiß, daß du ein Christ bist. Wahrscheinlich kennst du die Forderungen unseres Kuran nicht?“ „Ich kenne nicht nur ihn, sondern auch alle seine Auslegungen.“ „So mußt du auch wissen, daß ein Gast niemals belästigen kann! Allah zu gehorchen, ist das oberste der himmlischen Gesetze und den Gast zu ehren, die oberste der irdischen Vorschriften. Wir gehorchen Allah, und wir ehren unsere Gäste. Hoffentlich genügt es dir, daß ich dir dies versichere!“ Ich muß gestehen: Es lag in dem Wesen, in der Ausdrucksweise und in dem ganzen Verhalten dieses Mannes etwas, wodurch meine erst für ihn gehegte Sympathie verringert worden war. Ich konnte dieses Etwas zwar nicht definieren, aber es war vorhanden und übte eine mich zur Zurückhaltung mahnende Wirkung auf mich aus. Aber die Umstände verboten mir, dies in Worten auszudrücken. Darum antwortete ich: „Es bedarf dieser Versicherung gar nicht. Aber als Gäste geehrt sein zu wollen und dazu auch noch ganz [139] besondere Opfer beanspruchen zu wollen, das schien mir denn doch zu viel von euch verlangt.“ „Für einen Gast etwas zu thun, kann wie ein Opfer sein. Welche Belästigungen sind es, die du meinst?“ „Schau hin zu meinem Hadschi Halef, dem Scheik der Haddedihn! Ich vermute, daß eine Krankheit sich ihm naht, welche im stande ist, euch ungewöhnliche Sorge und Arbeit zu bereiten. Meine Gewissenhaftigkeit gebietet mir die Frage, ob es uns gestattet ist, diese Last auf euch zu legen.“ „Es ist für uns keine Last; wir werden ihn wie einen Bruder pflegen. Und wenn die Krankheit, von welcher du sprichst, wirklich käme, so bist ja du gesund und - - und -“ Er zögerte, weiter zu sprechen. Wahrscheinlich hatte er einen Gedanken, den ich nicht erraten sollte, wenigstens jetzt noch nicht. Ich vermutete, daß der Satz, wenn er ausgesprochen worden wäre, wahrscheinlich folgendermaßen gelautet hätte: „Wir haben zwar auf eure beiderseitige Hilfe gerechnet, aber falls Halef krank wird, bist ja du noch da, und auf dich rechnen wir dann ganz bestimmt!“ Ich fand nicht Zeit, hierüber weiter nachzudenken oder den Scheik zu veranlassen, sich vollständiger und deutlicher auszudrücken, denn kaum hatte er diese Pause eintreten lassen, so begann der bisher bewegungslos daliegende Hadschi plötzlich sich zu regen, und zwar in höchst energischer Weise. Er wickelte sich aus seiner Decke heraus, sprang auf, stellte sich vor mich hin und fragte in einem Tone, der auf nichts weniger als auf Kranksein schließen ließ: „Was hast du da gesagt, Sihdi? Ich habe alles gehört! Denkst du wirklich und im Ernste an die Möglichkeit, daß ich krank sein werde?“ [140] „Ja,“ antwortete ich aufrichtig. „Was für eine Krankheit wird das sein? Welchen Namen giebst du ihr?“ „Ich sehe sie jetzt nur von weitem. Erst wenn sie da ist, kann ich sie erkennen und dir ihren Namen sagen.“ „Also von weitem! O Sihdi, wie enttäuschest du mich! Ich habe dich für klug gehalten, und sehe nun, daß du dies gar nicht bist!“ „Danke, lieber Halef!“ „Bitte! Fasse doch diesen deinen Gedanken an; stelle ihn vor dich hin und schau ihm in das lügnerische Angesicht! Du siehst meine Krankheit jetzt nur von weitem. Sie ist also noch gar nicht da. Muß ich ihr denn erlauben, vollends heranzukommen und in meinen Körper einzuziehen, um es sich in demselben wie in einem festlich geschmückten Zelt bequem zu machen?“ „Wenn sie will, wird es geschehen!“ „Will, will, will! Auch ich habe meinen Willen, und was ich will, das pflege ich durchzusetzen. Jede Krankheit ist Schwäche. Auch die, welche du von weitem kommen siehst, kann gar nichts anderem gleichen, als einem alten, schwachen, elenden Weibe, welches keinen Zahn mehr im Munde hat. Und ich, der berühmte, tapfere Scheik der Haddedihn, der selbst dem Löwen nie den Rücken zeigte, soll mich vor einem solchen Geschöpf der Schwäche fürchten? Ich sage dir: Ich lasse diese Krankheit nicht heran! Ich weise sie ab! Ich lache sie aus! Du selbst hast mich gelehrt, was ein fester Wille kann, und wie fest und unerschütterlich der meinige ist, das muß ich doch wohl am allerbesten wissen!“ „Halef, bitte, gieb mir deine Hand!“ „Warum?“ „Gieb sie nur!“ [141] „Wozu? Ist's etwa wegen deines Dass innabd1) [1) Puls fühlen.]?“ „Ja.“ „Das kann ich selbst!“ Er legte den Daumen der rechten Hand an die Ader oberhalb des linken Handgelenkes, hielt beides an das Ohr, lauschte eine kleine Weile und fuhr dann fort: „Ich höre nichts, gar nichts; es ist also alles in der schönsten Ordnung! Denn wäre etwas Fremdes in der Ader, so müßte es sich doch bemerklich machen!“ „Man darf nicht hören, sondern fühlen!“ „Das ist ganz gleich, denn ich habe auch nichts gefühlt. Und dieses Gefühl müßte ich doch deutlicher haben als jeder andere, der nicht nach seinem, sondern nach meinem Pulse greift!“ Ich wollte da eine erklärende Bemerkung machen, doch ließ er mich nicht zum Worte kommen und fügte schnell hinzu: „Ich weiß, Sihdi, daß es deine Liebe ist, welche dich so besorgt um mich macht. Aber ich will dir beweisen, daß deine Gedanken auf einem ganz verkehrten Wege spazieren gehen. Ich frage dich: Ist das Negris2) [2) Podagra.] eine Krankheit?“ „Ja.“ „Wenn dieses Negris in meiner großen Zehe sitzt, fühlst du es dann etwa in der deinigen?“ „Nein.“ „Ganz recht! Du bist geschlagen! Du bist überführt! Du mußt erkennen, daß du unrecht hast! Das Negris thut nur dem wehe, der es hat, keinem andern. Nur wer die Schmerzen fühlt, weiß, daß er ihr rechtmäßiger Eigentümer und Besitzer ist! Und ganz genau so ist es [142] auch bei allen übrigen Krankheiten. Ich fühle mich gesund, vollständig kerngesund! Aber ich bekomme Angst um dich, Sihdi!“ „Warum?“ „Weil du es bist, der meine Krankheit fühlt und sieht. Sie ist also nicht die meinige, sondern die deinige! Darum befürchte ich sehr, daß wir die Gastfreundschaft dieser guten Dinarun nötig haben, um dich wieder gesund pflegen zu können!“ Wer da meinte, diese Worte seien im Fieber oder aus Unverstand gesprochen worden, der hätte sich geirrt. Ich begriff den lieben, kleinen Kerl sehr wohl. Er machte den Ernst zum Scherze, um mich zu beruhigen, doch gelang es ihm freilich nicht, mich zu täuschen. „Ihr nehmt es also an, unsere Gäste zu sein?“ fiel da der Scheik schnell ein. „Ja,“ antwortete Halef. „Denn wir brauchen vielleicht einige Zeit, um dem alten, zahnlosen Weibe, welches mein Sihdi von weitem kommen sieht, begreiflich zu machen, daß es sich weder schickt noch ziemt, mit Leuten zu verkehren, wie wir beide sind. Und während dieser Frist sind wir natürlich gern bereit, euch so nützlich zu sein, wie es die Pflicht eurer Gäste ist.“ Das war es, was der Scheik hören wollte. Er zauderte nicht, Halef beim Worte zu nehmen: „Auch gegen die Dschamikun?“ „Jawohl. Das ist's ja grad, was ich meine!“ Da war das Wort heraus, welches auszusprechen ich gezögert hatte! Zwar hätte ich Halef in die Rede fallen können; aber das wäre auffällig gewesen, und, wie bereits gesagt, es blieb uns keine Wahl. Die Schnellfertigkeit des Hadschi hatte in diesem Falle keinen Fehler begangen, sondern nur etwas eher zugestanden, was ich, der Be- [143] dächtigere, später doch auch nicht hätte verweigern können. Das Versprechen mußte dem Scheik wertvoll sein, denn er verbeugte sich gegen uns beide, hob die Hände bis zur Brust empor und sprach: „So ist der Bund zwischen euch und uns geschlossen. Eure Feinde sind auch unsere Feinde und unsere Freunde sind auch eure Freunde. Wir wollen das Brot darüber essen!“ Er zog ein Stückchen dünnen Brotfladen aus der Tasche seines Haïk, brach es in drei Teile, schob den seinigen in den Mund und gab uns die beiden anderen. Da war nichts anderes zu thun; wir mußten sie nehmen und essen, worauf wir uns in jeder Beziehung als Dinarun zu betrachten hatten! Halef war nicht nur vollständig damit einverstanden, sondern er freute sich sogar darüber. Er ging um das Feuer, zu dem Scheike hin, reichte ihm die Hand und sagte: „Ich habe vorhin nicht etwa geschlafen, sondern alles vernommen, was du erzähltest. Ihr habt uns heut beigestanden, diesen Dschamikun alles, was sie uns raubten, wieder abzunehmen. Nun werden wir euch beistehen, eure Herden wieder zu bekommen und den Tod eurer Wächter zu rächen. Zwar sind wir nur zwei Personen, aber - - -“ Da unterbrach ihn Nafar: „Aber ihr zählt für viele. Das wissen wir wohl! Solchen Gewehren, wie ihr sie besitzt, kann kein Feind widerstehen, und ebensowenig kann, wenn ihr eure Pferde reitet, ein Fliehender euch entkommen. Vielleicht ist die Krankheit, von welcher ihr redet, eine Täuschung. In diesem Falle könnten wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen, um den Dschamikun die wohlverdiente Strafe zu erteilen!“ [144] „Ich bin schon morgen bereit dazu,“ erklärte Halef, „und mein Sihdi ganz gewiß ebenso! Ihr werdet es nicht bereuen, uns getroffen und hierher begleitet zu haben. Doch ehe wir morgen aufbrechen, muß über diese Diebe hier das Wort des Gerichtes ausgesprochen werden. Es hat mich gewundert, dein Herz so mild gegen sie zu sehen, besonders, nachdem du uns gesagt hast, daß sie zu demselben Stamm gehören, an welchem auch ihr euch zu rächen habt.“ Halef sprach diese Bemerkung gewiß ganz absichtslos aus, doch schien es mir, als ob sie dem Scheik nicht recht gelegen komme. Er antwortete nicht. Da hielt ich es denn für nicht unklug, diesen Eindruck durch die direkt an ihn gerichtete Frage zu verstärken: „Als diese zwölf Männer euch heut begegneten, habt ihr denn nicht mit ihnen gesprochen?“ „Nein,“ antwortete er. „Das sagte ich euch doch schon.“ „Warum habt ihr sie denn nicht angehalten?“ „Weshalb hätten wir dies thun sollen? Wir kannten euch noch nicht, hatten also noch keinen Bund mit euch geschlossen und wußten ebensowenig, daß ihr von ihnen beraubt worden waret.“ „Habt ihr sie denn nicht als Dschamikun erkannt?“ „Nein!“ antwortete er auffällig schnell. „Sonderbar! Dieser Stamm hat euer jetziges Lager überfallen?“ „Ja.“ „Und hierauf wagten sich zwölf einzelne seiner Leute so nahe an dieses heran? Diese Dschamikun scheinen nicht nur kühne, sondern sogar verwegene Krieger zu sein.“ „Das sind sie allerdings!“ [145] „Und du wünschest eine so gelinde Strafe für sie? Wenigstens als Geisel hättest du sie von uns fordern sollen!“ „Das ist es, was ich noch thun werde. Ihr Schicksal ist ja noch gar nicht entschieden.“ Er sah mich forschend an. Er mochte fühlen, daß ich nicht ohne Mißtrauen sei. Dann fuhr er fort: „Ich wünschte ja nur deshalb, sie nur leicht von euch bestraft zu sehen, damit sie mir für eine schwere Sühne übrigbleiben. Freigelassen werden sie auf keinen Fall!“ „So können wir befriedigt sein, Sihdi,“ meinte Halef, indem er an seinen Platz zurückkehrte, um sich niederzulegen. „Wir haben wieder, was uns fehlte. Mit der Strafe brauchen wir ja nicht zu eilen. Damit hat es auch Zeit, bis wir von dem Zuge gegen die Dschamikun zurückkehren. Und da wir ihn, wie ich denke, schon morgen antreten werden, so brauchen wir jetzt Ruhe. Wir wollen also schlafen. Gute Nacht!“ „Gute Nacht!“ sagte auch Nafar Ben Schuri, indem er sich niederlegte. Vielleicht war es ihm recht lieb, jetzt nicht weitersprechen zu müssen. Auch ich streckte mich unter meiner Decke aus, doch nur, um zu thun, als ob ich schlafen wolle. Selbst wenn es nicht meine Absicht gewesen wäre, die ganze Nacht wach zu bleiben, hätte ich jetzt doch nicht schlafen können. Sie gaben mir ja beide mehr als genug zu denken, Halef sowohl wie auch der Scheik der Dinarun. Ich schrieb das plötzliche Aufspringen des ersteren und seine eifrige Teilnahme am Gespräche dem Fieber zu. Er hatte, anstatt mich zu beruhigen, meine Sorge um ihn nur vergrößert. Und diese Sorge wurde nicht geringer, wenn ich an Nafar Ben Schuri dachte. [146] Ich bin von jeher so herzlich gern ein dankbarer Mensch gewesen. Vielleicht ist es einer meiner größten Fehler, das Gute, welches mir erwiesen wird, in der Weise zu vergrößern, daß der, welcher es that, mich für seinen ewigen Schuldner halten muß. So zählte ich auch jetzt im stillen alles auf, was wir heut dem Zusammentreffen mit den Dinarun zu verdanken hatten. Ich verkleinerte nichts und suchte, möglichst viel zusammenzufinden; aber trotzdem wollte es mir nicht gelingen, es zu einem klaren, reinen, fest überzeugten Gefühle der Dankbarkeit zu bringen. Warum das nur? Ich wollte gern lieb und gut über diese Leute denken, aber ich brachte das nicht fertig. Es gab einzelne Beobachtungen, und es gab auch Worte, welche an sich vielleicht ganz unverfänglich waren, aber dadurch, daß ich sie zusammenhielt und miteinander verglich, eine für mich unwillkommene und unerwünschte Bedeutung bekamen. Ja, wir waren am gestrigen Nachtlager beraubt worden und hatten die erlittenen Verluste wieder zurückgewonnen. Nun hätte ich ruhig sein können. Aber ich war es nicht. Es lag ein Ahnen, ein Fühlen, ein Empfinden in mir, als ob der von uns erlittene Schaden doch noch nicht ersetzt worden sei, oder als ob uns ein anderer, neuer Nachteil getroffen habe, der erst später und viel schwerer auszugleichen sei. Solche innere Stimmen scheinen zunächst undeutlich und unbestimmt zu sprechen, aber dann, wenn ihre Warnung zur Wahrheit wird, ist man gezwungen, einzusehen, daß man sie bei etwas größerem Vertrauen gar wohl verstanden hätte. Es war kein Befehl gegeben worden, das Feuer zu unterhalten. Darum ging es nach und nach aus. Ich that nichts, dies zu verhindern, denn der Himmel stand voller Sterne, und der Schein, welchen sie hernieder- [147] sandten, war hell genug für mich, die Gefangenen zu beobachten. Es bewegte sich nur selten einmal einer von ihnen, und dann auch nur, um sich von der einen Seite auf die andere zu wenden. Des Gedankens, sich von den Fesseln zu befreien und zu fliehen, schien keiner fähig zu sein. Halef schlief. Ja, er schlief wirklich, fest und ruhig. Sein Atem ging regelmäßig. Das machte mir Hoffnung. Vielleicht hatte ich doch zu schwarz gesehen. Manchmal freilich ging ein Schauer über seinen Körper und dann bewegte er sich, als ob er im Begriff stehe, aufzuwachen. Das konnte aber auch von der nächtlichen Kälte sein, weil, wie bereits erwähnt, in Persien die Wärmeunterschiede zwischen Tag und Nacht ganz bedeutend und viel größer sind als bei uns. Erst gegen Morgen wachte er auf, und da fror es ihn allerdings so, daß es ihn schüttelte. Es war schon hell, und so sah er, daß ich munter war. „Du hast auch schon die Augen offen, Sihdi?“ fragte er. „Die Dinarun schlafen noch, obgleich es Zeit zum Morgengebete ist. Ich werde mich also waschen gehen.“ Ich hätte ihn gern gebeten, dies heut nicht zu thun, wußte aber, daß dies vergeblich sein würde. Er stand auf und ging an dem Wasser entlang, bis er hinter einigen Büschen verschwand, um dort seine Morgenandacht zu verrichten. Sein Gang war fest, seine Haltung sicher gewesen. Das beruhigte mich in der Weise, daß ich die Augen schloß, um schnell noch ein Viertelstündchen Schlaf hinwegzunehmen. Wie gedacht, so geschehen: Ich schlief wirklich sofort ein und wachte nicht eher auf, als bis ich von dem Lärm des Aufbruches erweckt wurde. Niemand wußte, daß ich die Nacht hindurch ge- [148] wacht hatte. Darum nahm ich es dem Scheik nicht übel, als er mich scherzweise einen Langschläfer nannte. Der abgeschickte Bote war schon mit den beiden Tachtirwans angekommen. Man hatte das frugale Frühstück eingenommen. Auch ich trank einige Schluck Wasser aus dem Bache und aß ein paar Datteln, wobei ich meinen Halef beobachtete, welcher still auf seiner Decke saß, starr vor sich hinblickte und für niemand, auch nicht einmal für mich ein Auge zu haben schien. War es so schnell anders mit ihm geworden? „Halef!“ rief ich ihn. Er antwortete nicht. „Halef! Hörst du mich?“ Er nickte nur, sagte aber nichts und drehte sich auch nicht nach mir um. „Ist dir nicht wohl?“ fragte ich. „Laß mich!“ bat er jetzt mit gedrückter Stimme. „Sprich nicht auf mich!“ „Warum nicht?“ „Ich kann nicht antworten. Ich bin so müde, so unendlich matt!“ Da ging ich hin und beugte mich zu ihm nieder. Er legte den Arm um meinen Hals und sagte: „Sihdi, mein lieber, lieber Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“ „Ich denke, daß wir beide noch recht, recht lange darauf warten werden,“ antwortete ich. „Meinst du? Mir aber ist, als ob es sofort beginnen solle. So wie mir jetzt ist, muß es einem sein, der sterben soll!“ „Denke nicht daran! Es ist nichts als Müdigkeit.“ „Aber eine so große, wie ich sie noch nie empfunden [149] habe! Wenn ich mich nicht legen soll, so muß ich dich bitten, mich festzuhalten, damit ich nicht umfalle.“ Soeben wurden die gefesselten Gefangenen auf ihre Pferde gebracht. Die beiden Verwundeten wollte man in die Tachtirwans bringen. Da gab ich dem Scheik die Weisung: „Die zwei Gefangenen kommen miteinander in eine Sänfte!“ „Für wen ist die andere?“ fragte er. „Für Hadschi Halef.“ „Für den Scheik der Haddedihn?“ gab er verwundert zurück. „Wie kann jemand, der ein solches Pferd besitzt wie er, auf den Gedanken kommen, wie ein Weib in eine Sänfte zu steigen!“ „Er ist krank. Er kann nicht reiten.“ Da nahm Halef seinen Arm von meinem Halse, sprang mit einem schnellen, kräftigen Rucke auf, sah mir mit funkelndem Auge in das Gesicht und rief zornig aus: „Sihdi, bist du toll? Hast du plötzlich die Gabe deines Verstandes verloren?“ Ein einziger Augenblick hatte genügt, ihn in ein Bild der höchsten Energie zu verwandeln. „Nein,“ antwortete ich. „Ich bin sogar sehr bei allen meinen Sinnen.“ „Das kannst du unmöglich sein, wenn du mir zumutest, nicht zu reiten, sondern mich tragen zu lassen!“ „Es muß sein, lieber Halef. Füge dich!“ „Das fällt mir nicht ein. Soll ich zum Gelächter aller Menschen werden, die es gegeben hat, die es jetzt giebt und auch die es einst noch geben wird?“ „Nein. Die Krankheit ist doch nicht etwas, worüber man zu lachen hat!“ [150] „Aber der Tachtirwan. Uebrigens bin ich ja gar nicht krank!“ „Und soeben fühltest du dich zum Umfallen schwach!“ „Jetzt nicht mehr. Das ist vorüber!“ „Es wird wiederkommen!“ „Nein! Dein altes Weib, welches keine Zähne mehr hat, werde ich mir vom Leibe zu halten wissen!“ Es war die Erregung des Stolzes, die ihm die Kraft gegeben hatte, aufzuspringen. Er griff mit beiden Händen nach dem Kopfe. Es schwindelte ihm. „Sei gut, Halef!“ bat ich. „Ich bin ja gut! Gegen dich kann ich doch gar nicht anders sein!“ „Jetzt bist du es nicht. Du weißt, daß ich dich nie um etwas bitte, was nicht nötig ist.“ „So machst du gegenwärtig eine Ausnahme. Das, was ich thun soll, ist vollständig überflüssig!“ „Streiten wir uns nicht hierüber! Kannst du dich noch besinnen, daß du mir eines Tages etwas schenken wolltest und doch nichts hattest?“ „Ja. Das war zu deinem Geburtstage.“ „Du warst traurig darüber, daß du mir nichts geben konntest. Besinne dich! Was sagtest du da zu mir?“ „Ich bat dich, mir es zu sagen, wenn du einmal einen recht, recht großen Wunsch haben würdest. Ich versprach, ihn dir zu erfüllen.“ „Ja und zwar unbedingt zu erfüllen! Nun, diesen Wunsch habe ich jetzt ausgesprochen, und ich wiederhole ihn! Steig in den Tachtirwan!“ „So forderst du das von mir als nachträgliches Geburtstagsgeschenk?“ „Ich fordere es nicht, sondern ich erbitte es mir. Sei brav; sei willig, lieber Halef!“ [151] „Oh, mein guter, guter Sihdi, wenn du in diesem Tone mit mir redest, kann ich dir nicht widerstehen! Aber, hast du gehört, was der Scheik sagte?“ „Denke nicht daran!“ „Er sagte: ‚Wie ein Weib in die Sänfte steigen!‘ Wenn ich es thue, gebe ich meine ganze Würde hin!“ „Nein!“ „Doch! Die Würde des Mannes, die Würde des Kriegers und die Würde des Scheikes!“ „Diese drei Würden werden dir bleiben; aber die Würde meines Freundes würde verloren gehen, wenn du es nicht thätest.“ „So thue ich es. Aber mein Gewehr und alles, was zum Manne gehört, muß ich mitnehmen dürfen!“ „Selbstverständlich! Ich danke dir!“ „Und du hebst mich hinein. Es soll mich kein anderer anfassen als nur der allein, dem zuliebe ich es thue!“ „Gern. So komm!“ Ich war ihm behilflich, einzusteigen, und gab ihm dann seine Waffen hinauf. Als dies geschehen war, kam der Scheik zu mir. Er hatte gespannten Auges zugesehen und fragte nun: „Sihdi, wer wird jetzt das Pferd Halefs reiten?“ „Niemand,“ antwortete ich, von seiner Frage nicht etwa angenehm berührt. „Würdest du es mir nicht für diese kurze Zeit erlauben?“ „Nein.“ „Sihdi, bedenke, daß wir Brüder sind! Du bist mein Gast!“ „Das weiß ich. Und eben weil ich es weiß, darf ich dir deinen Wunsch nicht erfüllen.“ „Du darfst nicht? Oder willst du nicht?“ [152] „Ich darf nicht.“ „Warum?“ „Das Pferd würde dich abwerfen.“ „Du brauchst ihm ja nur das Zeichen zu geben, so wird es dies nicht thun!“ „Aber dieses Zeichen ist ein Geheimnis, und die Geheimnisse eines Vollblutpferdes werden selbst dem besten Freunde, dem Bruder, dem Gaste nicht verraten. Das mußt du wissen. Grad weil ich dein Gast bin, ist es deine heilige Pflicht, nichts von mir zu fordern, was ich dir nicht gewähren kann. Die Auslegung des Kuran sagt: ‚Wer das Antlitz seines Gastes durch eine unerfüllbare Bitte schamrot macht, ist nicht wert, Gäste zu haben.‘ Das scheinst du nicht zu wissen!“ Nachdem ich ihm diese Lehre, und zwar im ernstesten Tone, erteilt hatte, wendete ich mich von ihm ab. Es war mir mehr als unangenehm, ja, es machte mich bedenklich, immer wieder zu bemerken, daß er danach trachtete, die Geheimnisse unserer Pferde zu erfahren. Ich bestieg meinen Assil und nahm Barkh am Zügel, um ihn neben mir hergehen zu lassen. Der Scheik mußte es hinnehmen, daß ich ihn von jetzt an nicht mehr beachtete. Ich wagte dabei nichts, denn im Besitze unserer Hengste und unserer Gewehre hatten wir, so lange wir Vorsicht übten, die ganze Schar dieser Beduinen nicht zu fürchten. Und daß der Scheik dies wußte, das war aus seinem Verhalten mit Sicherheit zu schließen. Es war ein schöner, frischer Ritt in den jungen, kühlen Morgen hinein. Dann später, als die Sonne über den östlichen Bergen erschien, wurde es schnell warm. Wir hatten nicht unsere gestrige Richtung rückwärts eingeschlagen, sondern wir ritten den Weg, auf welchem der Bote die von ihm geholte Hilfe gebracht hatte. Ich [153] achtete aber weniger auf die Gegend als auf Halef, den ich während der ersten Zeit nicht sah, weil er in dem Grunde der Sänfte lag. Doch später setzte er sich auf und ließ sein Gesicht erscheinen, um nach mir auszuschauen. Als er mich an seiner Seite sah, nickte er mir lächelnd zu und sagte: „Sihdi, das alte Weib ist wieder fort. Ich bin so munter, daß ich gern aussteigen und lieber reiten möchte.“ „Ich bitte dich aber, sitzen zu bleiben,“ antwortete ich ihm. „Meinst du, daß sie wiederkommt?“ „Ja.“ „Ich glaube es nicht. Die Schwäche ist heraus!“ „Nein, sie steckt noch drin. Sie wird vielleicht sogar noch größer werden.“ „Du irrst, Sihdi. Ich sehe ja, daß sie heraus ist.“ „Du siehst es? Wieso?“ „Ich habe sie jetzt außen auf der Brust.“ Diese Worte erschreckten mich, obgleich ich so etwas erwartet hatte. Ich verstand ihn gleich; ich wußte, was er meinte. Wenn es sich um Petechien handelte, so hatte ich das Richtige befürchtet: Halef war typhuskrank. „Hast du Flecken auf der Brust?“ fragte ich. „Ja, Sihdi.“ „Wie sehen sie aus?“ „Ich war bei Kindern, welche an der Chassba1) [1) Masern.] litten. Das ist eine Krankheit, welche die Haut zu färben pflegt. Genau von dieser Farbe sind die Flecken, die ich jetzt bei mir bemerke.“ Mit diesen Worten hatte er das Kennzeichen des Petechialtyphus angegeben. Daß gewisse Beobachtungen, [154] welche ich seit gestern an ihm gemacht hatte, nicht genau mit den Symptomen dieser Krankheit übereinstimmten, konnte mich nicht beirren. Jedes Leiden pflegt nebenbei seine individuellen Erscheinungen zu haben. Ich wußte nun, daß es sich möglicherweise um das Leben Halefs handeln konnte, daß die größte Schonung, die sorgfältigste Pflege geboten war und daß ich selbst im günstigen Falle an eine Genesung vor Ablauf eines Monates nicht denken durfte. Was das heißt, wenn man sich dabei in fremder Gegend und unter halbwilden Menschen befindet, kann man sich unschwer denken! „Du bist so still! Worüber denkst du nach?“ fragte er nach einiger Zeit, in welcher ich nicht gesprochen hatte. „Ich fragte mich nach dem Lager dieser Dinarun. So gute, geräumige und bequeme Zelte wie unsere Haddedihn werden sie wohl nicht besitzen.“ „Nein, solche nicht, Sihdi! Die giebt es nur bei uns! Aber das erwarte ich gar nicht. Wozu auch Zelte? Wir bleiben doch höchstens nur einige Stunden dort, weil schon heut gegen die Dschamikun aufgebrochen wird.“ „Das halte ich nicht für so bestimmt wie du.“ „Es ist bestimmt. Du weißt ja, daß ich es dem Scheik versprochen habe, und was ich verspreche, das halte ich!“ „Aber ich? Habe ich es auch versprochen?“ „Nein. Doch mein Wort gilt natürlich auch als das deinige, und ich hoffe, daß du mich nicht Lügen strafen lässest!“ Hierauf sah ich ihn nicht mehr. Er hatte sich wieder niedergelegt. Die Schwäche war also doch zurückgekehrt! Von nun an geschah nichts Erwähnenswertes, als [155] daß einer der Dinarun voranritt, um unsere Ankunft zu melden. Der Scheik befand sich, wie gestern, an der Spitze des Zuges, und da er vermied, zu mir zu kommen, hatte ich noch viel weniger Veranlassung, ihn da vorn aufzusuchen. Ich konnte mich des Gedankens nicht erwehren, daß es vielleicht besser gewesen wäre, wenn wir ihn und seine Leute gar nicht getroffen hätten. Es wäre uns wahrscheinlich auch ohne ihre Hilfe gelungen, wenn auch nicht so schnell und mühelos, unsere Absicht durchzusetzen. Nach einigen Stunden gab es wieder Büsche. Wir befanden uns also nicht mehr in wasserloser Gegend, wie vom heutigen Aufbruche an, und ich vermutete, daß wir nun nicht mehr fern dem Ziele seien. Diese Mutmaßung bewährte sich als richtig. Ich sah einen Reitertrupp erscheinen, welcher uns entgegenkam, und nun hielt es der Scheik endlich für geboten, sein Pferd so lange anzuhalten, bis wir ihn erreicht hatten. Dann deutete er mit der Hand vorwärts und sagte: „Sihdi, da nahen Krieger meines Stammes, um euch willkommen zu heißen. Wirst du erlauben, daß sie euch mit dem gebräuchlichen Lab el Barud1) [1) Pulverspiel.] empfangen? Eine Fantasia, die wir euch als so lieben Gästen schuldig sind, wird abgehalten werden, sobald wir uns im Angesichte des Lagers befinden.“ Das Lab el Barud besteht gewöhnlich in einer tollen Schießerei, bei welcher sehr viel Pulver verschwendet wird. Bei der Fantasia werden allerlei Reiterkünste gezeigt. Beides hat den Zweck, den Gast zu ehren und ihm zu zeigen, daß die, welche ihn empfangen, als gute Reiter und Schützen seiner Achtung würdig sind. [156] Ich hätte dem kranken Hadschi diesen Lärm wohl gern erspart, damit aber wahrscheinlich die Dinarun beleidigt, und da durch die Ausführung dieser Gebräuche das gegenseitige Gast- und Freundschaftsverhältnis bestätigt wird, so hielt ich es in Hinsicht auf unsere Sicherheit für geraten, meine Zustimmung zu erteilen. Als ich dies gethan hatte, gab er den Nahenden mit dem erhobenen Arme ein Zeichen, worauf sie im Galopp herangesprengt kamen, uns einige Male im Kreise umritten und unter wildem Schreien aus ihren langen Flinten wiederholte Salven und einzelne Schüsse abgaben. Dann sammelten sie sich hinter uns, um sich uns anzuschließen. „Bist du mit diesem Empfange zufrieden?“ fragte mich der Scheik im Weiterreiten. „Ja,“ antwortete ich. „Wir danken euch!“ „Ich glaubte, du habest deine Erwartungen nicht erfüllt gesehen.“ „Warum?“ „Weil du mit keinem einzigen Schusse diesen Empfang erwidert hast.“ Das war ein Vorwurf, der mir nicht gefiel, und dem eine versteckte Absicht zu Grunde liegen mußte. Und diese Absicht konnte sich nur auf die gastliche Treue beziehen. Das wurde mir von jenem Mißtrauen gesagt, welches sich nun einmal nicht in mir niederdrücken lassen wollte und jetzt wieder seine warnende Stimme erhob. Darum antwortete ich: „Du weißt, o Scheik, daß wir weder Knaben noch Neulinge, sondern erfahrene Männer sind. Wir wissen ganz genau, was so ein Lab el Barud zu bedeuten hat. Aus euren Gewehren hat die Stimme der Gastfreundschaft gesprochen. Diese Schüsse waren eure Versicherung, [157] ja euer Schwur, daß ihr euch Mühe geben werdet, alle eure Pflichten gegen uns zu erfüllen.“ „Weiter nichts?“ fragte er. „Nein.“ „Du irrst! Durch diese Schüsse richteten wir auch die Frage an euch, wie es mit den Pflichten stehe, die ihr gegen uns auf euch genommen habt.“ Da hielt ich mein Pferd an, faßte den Zügel des seinigen, daß es auch stehenbleiben mußte, richtete mich im Sattel auf, sah ihm grad und forschend in das Gesicht und sagte: „Das würde eine Beleidigung für uns sein!“ „Nein!“ behauptete er. „Doch!“ „So bitte ich dich, es mir zu erklären!“ „Es sollte dieser Erklärung gar nicht erst bedürfen! Die Gastfreundschaft ist zwischen euch und uns bereits geschlossen. Ihr habt uns euer Wort gegeben und dafür das unserige erhalten. Ist das so?“ „Ja,“ gestand er ein. „Haltet ihr uns für Lügner?“ Als ich meinem Blick hierbei einen drohenden Ausdruck gab, senkte er den seinen und antwortete: „Nein. Ich gebe dir die Versicherung, dies ganz und gar nicht gemeint zu haben!“ „Das ist es, was ich wissen wollte! Wenn wir unser Wort geben, so halten wir es unter allen Umständen. Es bedarf bei uns keiner weiteren Versicherung durch irgendeine That oder gar durch ein bloßes Spiel, bei welchem wir gezwungen wären, unsere Munition zu vergeuden, die viel kostbarer als die eure ist.“ Ich machte eine Pause, um den nächsten Worten eine erhöhte Bedeutung zu geben, und fuhr dann fort: [158] „Oder sollte es dir vielleicht so außerordentlich wichtig sein, zu sehen, wie unsere Gewehre beim Schießen gehandhabt werden müssen? Wir schießen niemals im Spiele, sondern stets nur dann, wenn der Ernst uns dazu zwingt, wenn wir uns verteidigen müssen. Aber dann sitzt jeder Schuß; das kannst du mir gut glauben! Wenn ihr es für notwendig gehalten habt, euren Worten durch eure Schüsse größere Glaubhaftigkeit zu verleihen, so sage ich dir, daß wir so etwas nicht nötig haben, weil unsere Worte Thaten sind, die nicht erst noch besonders bestätigt zu werden brauchen! Und nun frage ich dich: Sind wir im vollsten Sinne des Wortes eure Gäste oder nicht?“ „Ihr seid es,“ versicherte er, indem er mir die Hand herüber hielt. Es war ihm anzusehen, daß er sich beschämt fühlte. Vielleicht gab es in seinem Innern auch noch etwas anderes als diese Scham allein. Ich schlug ein, gab sein Pferd frei und sprach, indem wir nun weiter ritten: „Du weißt nun ganz genau, wie wir über die Heiligkeit und Verletzlichkeit des gegebenen Wortes denken. Fordere also nicht von uns, etwas hinzuzufügen, denn so ein Wunsch würde eine schwere Beleidigung für uns sein!“ „Und doch hast du etwas ähnliches von uns gewünscht, ohne daß es mir eingefallen ist, es dir übelzunehmen!“ „Was?“ „Das Lab el Barud und die Fantasia.“ „Soll ich gezwungen sein, dich, unseren Gastfreund, Lügen zu strafen? Du hast uns beides angeboten; ich habe es nicht verlangt. Das ist der Unterschied. Und durch dieses dein Angebot hast du eigentlich gesagt, daß [159] dein Wort erst noch weiterer Bekräftigung bedarf, bevor man ihm Vertrauen schenken kann.“ „Das habe ich nicht gewollt! Bei Allah! Wenn du mich in dieser Weise verstanden hast, so zwingst du mich jetzt, eine Bitte auszusprechen.“ „Welche?“ „Auf die Fantasia zu verzichten!“ „Das thue ich sehr gern!“ „Sie wird also in Wegfall kommen, damit du nicht ferner annimmst, daß sie als Bestätigung des euch gegebenen Wortes nötig sei. Wir wissen ebensogut wie ihr, was so ein Wort bedeutet!“ Ja, das wußte er wohl ganz gewiß. Aber etwas anderes wußte und fühlte er wohl nicht, nämlich daß das gegebene Wort seine ganze Heiligkeit verliert, wenn es Veranlassung giebt, in einer so peinlichen Weise über seine Bedeutung verhandeln zu müssen. Wir ritten jetzt eine langsam ansteigende, sonnige Höhe empor, welche dicht mit niedrigen Genistenpflanzen bewachsen war. Tausende von weißen Schmetterlingsblumen sandten uns da ihre köstlichen Düfte zu. Dieser Strauch, welchen die Hebräer Retom nannten, ist identisch mit dem „Wachholder“ des alten Testamentes, welches von dem Propheten Elias erzählt: Er kam in die Wüste von Bersaba und setzte sich unter einen Wachholder und wünschte sich den Tod und sprach: Es genügt mir, Herr. Nimm meine Seele, denn ich bin nicht besser als meine Väter. Und er legte sich nieder und entschlief im Schatten des Wachholderbaumes. Und siehe, ein Engel des Herrn rührte ihn an und sprach: Steh auf, und iß! Man sah hier und da eine Ziege, welche sich die weichen Spitze der Zweige schmecken ließ, und Kinder, von denen diese Tiere beaufsichtigt wurden. Das war [160] ein Zeichen, daß wir uns dem Lager näherten. Zu den Ziegen gesellten sich fett geschwänzte Schafe mit sonderbar langen, lappigen Hängeohren. Einige magere Rinder kauten seitwärts im harten, scharfen, schilfähnlichen Grase. Dann kamen wir an zerstreut weidenden Eseln und Maultieren vorüber, und endlich sahen wir den Lagerort, nicht oben auf der Höhe, sondern unterhalb derselben sich seitwärts an der Berglehne hinziehend. Die uns dort erwartenden Dinarun waren benachrichtigt worden, daß die Fantasia zu unterbleiben habe. Dennoch saßen sie alle zu Pferde, weil es für sie eine Schande gewesen wäre, uns zu Fuße zu empfangen. Sie waren so freundlich, wie wir es erwarteten, drückten dies aber mehr durch Gesten und Pantomimen als durch Worte aus. Redselig, wie der Beduine fast immer gegen Gäste ist, zeigten sie sich nicht. Das genierte mich aber nicht. Es gab vielmehr einige andere Beobachtungen, durch welche ich mich enttäuscht fühlte. Doch, davon später. Es mochten gegen zweihundert Männer hier versammelt sein. Ich überflog den ganzen Plan mit schnellem Blicke. Zelte gab es nur wenige, und diese waren ärmlich. Das beste von ihnen wurde uns von dem Scheik als das bezeichnet, in welchem wir wohnen sollten. Die vorhandenen Pferde waren teils mittel-, teils auch minderwertiges Material, und es gab höchstens zehn oder fünfzehn, für welche man etwas mehr als den gewöhnlichen Durchschnittspreis hätte bieten können. Außer den Zelten gab es nur niedrige Hütten, welche aus Ginsterzweigen errichtet worden waren. Weiber, Kinder, Maultiere und Esel - man verzeihe, daß ich dies zusammen nenne - waren nur so viele da, wie zum Transporte der geringen Habseligkeiten und der mageren Schlachttiere gebraucht wurden. [161] Noch ehe wir dieses sogenannte „Lager“ erreichten, hatte Halef sich in seinem Tachtirwan wieder aufgerichtet und mir zugerufen: „Sihdi, mein Herz ist voller Wehmut und meine Seele voller Traurigkeit, daß ich nicht im Sattel sitzen kann. Was werden die stolzen Krieger der Dinarun von mir denken, daß ich meinen Einzug bei ihnen in einer alten Sänfte halte! Sie werden mich nicht für Hadschi Halef, den Scheik der Haddedihn, sondern für die Erzgroßtante aller Urgroßmütter halten. Ich bin wirklich zu schwach, aus diesem Kasten zu steigen. Aber später werde ich ihnen zeigen, daß dies nur ein vorübergehender und von mir unverschuldeter Zustand meiner einzelnen Bestandteile ist, die ich schon wieder zum Gehorsam bringen werde!“ Er wußte ebenso wie ich, daß die Dinarun aus mehreren Familien bestanden, jede wenigstens fünf Personen zählend, und im Besitze ganz bedeutender Herden waren. Darum hatte er sich das Lager derselben ganz anders vorgestellt, als wir es jetzt sahen, und sich unseren Empfang auch ebenso ganz anders gedacht. Diese Enttäuschung schien aber keineswegs deprimierend, sondern ganz im Gegenteile sogar kräftigend auf ihn zu wirken, denn als er einen Blick über die ganze rund umher bemerkbare Aermlichkeit geworfen hatte, begann er mit dem ganzen, lieben Gesichte zu lächeln und sagte: „Wie schön, wie wirklich schön ich es hier finde! Gefällt es dir nicht auch, Sihdi?“ „Nein!“ antwortete ich. Ich konnte das sagen, weil wir in diesem Augenblicke unbeobachtet waren. „Nicht? Was bist du doch für ein sonderbarer [162] Mensch! Mir gefällt es außerordentlich. Weißt du, warum?“ „Nun?“ „Weil ich sehe, daß diese Leute arm sind, so arm, daß es mich erbarmt! Wir werden gebraucht, Sihdi; wir werden gebraucht! Das macht mich froh! Du weißt, daß ich tausendmal lieber gebe, als daß ich nehme. Nehmen kann auch der Faule und der Kranke! Aber wer geben und dem andern nützlich sein will, der muß thätig sein und sich zusammenraffen. Als ich die Dinarun vorhin für reich hielt, war ich schwach. Jetzt sehe ich, daß wir ihnen helfen müssen; nun schau, was ich thue!“ Er wollte aus der Sänfte heraus, ohne sich unterstützen zu lassen. Ich war noch nicht abgestiegen, drängte mein Pferd zu ihm hin und warnte: „Nicht unvorsichtig, Halef! Du bist - - -“ „Was bin ich?“ fiel er mir in die Rede. „Nicht mehr schwach, sondern stark bin ich. Da, paß auf! Willst du es etwa hindern?“ Er wendete sich blitzschnell auf die andere Seite hinüber, stieg über den Rand der Sänfte, hielt sich am Sattelhorne fest, glitt von dem Kamele herab und kam zu mir herüber. „Nun? Was sagst du jetzt?“ fragte er. „Bin ich noch immer krank?“ „Sogar sehr!“ antwortete ich, indem ich mich vom Pferde schwang. „Das, was du thust, kann man nur im Fieber thun!“ „Fieber? Fällt mir gar nicht ein! Hier hast du meine Adern. Greif hin, soviel du willst!“ Ich that, was er wollte. Sein Puls schlug matt, aber regelmäßig - ein wahres Wunder! Seine Augen [163] glänzten und sein Gesicht strahlte, aber nicht in Fieberhitze, sondern vor Freude. „Nun?“ fragte er. „Halef, sei vorsichtig!“ warnte ich. „Du bist jetzt einen Augenblick frei, aber es wird - - -“ „Was wird?“ unterbrach er mich. „Du meinst, jenes alte, zahnlose Weib werde wiederkommen? Mag sie! Sie wird auch wieder gehen müssen! Jetzt aber laß uns essen und mit dem Scheik der Dinarun verhandeln. Du siehst, daß er sich darauf vorbereitet hat.“ Ja, man hatte sich auf unser Kommen eingerichtet. Die Luft trug den Duft bratenden Hammelfleisches von den Feuern zu uns herüber. Einige Frauen breiteten Decken aus, auf denen die Speisenden sitzen sollten, und stellten daneben Gefäße mit Wasser, welches aus einer bergseits hervorfließenden Quelle geschöpft worden war. Nafar Ben Schuri kam, um uns zum Essen einzuladen. Halef erklärte sich sofort bereit und folgte ihm. Mir wurde himmelangst um den kleinen Freund. Typhus - - - und gebratener Hammel, vielleicht sogar der fürchterlich fette Schwanz desselben, welcher den Gästen stets geboten wird, weil er als das beste Stück des Bratens gilt! Das konnte sein Tod sein! Ich nahm mir gar nicht Zeit, erst unsere Pferde abzusatteln, sondern führte sie hin zur Stelle, wo gegessen werden sollte, pflockte sie dort an und setzte mich zu dem Scheik und Halef nieder, welcher gar nicht säumte, die Hände zu falten und mit einem lauten „Be ism lillahi1) [1) „Im Namen Gottes!“]!“ das Essen einzuleiten. Der Scheik legte ihm wirklich das dickste, vom Fette triefende Schwanzstück vor, und Halef nahm es an. Ich [164] wollte ihn daran hindern; da aber sah er mir einige Sekunden lang still in das Gesicht. Er sagte kein Wort dazu; aber dieser Blick bedeutete mehr als alle Worte: Er verbat es sich, als kranker, unselbständiger Mann behandelt und - - blamiert zu werden. Wie ich ihn kannte, mußte ich nun still sein. Er war jetzt Scheik der Haddedihn und Gast der Dinarun. Das wollte er sein, und ich hatte mich zu fügen! Ich that dies nur mit Anwendung aller meiner Selbstbeherrschung. Dies macht mich zum Reden ungeschickt, während Halef sich um so gesprächiger zeigte. Seit er gesehen hatte, wie arm diese Leute waren, stand sein Entschluß, ihnen zu helfen, fester als vorher. Das ganze, jetzt von ihm geleitete Gespräch hatte den Zweck, sich zu informieren. Er warf eine Menge Fragen auf, von denen keine einzige überflüssig war, und zeigte sich dabei so überlegsam und bedacht, wie ich ihn nur ganz selten gesehen hatte. Ich wußte nicht, was ich denken sollte, und wurde fast irr an mir selbst. Er aß mit dem größten Appetit, doppelt so viel wie ich, und trank keinen Schluck Wasser dazu. War das Fieber? Die von ihm gestellten Fragen verrieten zwar eine fast zudringliche Wißbegierde; aber Nafar Ben Schuri schien sie für ganz selbstverständlich zu halten, nahm sie ihm nicht im geringsten übel und beantwortete sie mit solcher Bereitwilligkeit, als ob er nur darauf gewartet habe, daß sie ausgesprochen würden. Inzwischen hatten sich die sämtlichen anwesenden Dinarun auch zum Essen gelagert. Es ging bei den verschiedenen Gruppen, welche sich bildeten, sehr lebhaft zu, und allerlei zu uns herüberklingende laute Bemerkungen verrieten mir die allgemeine Ueberzeugung, daß noch heut zum Zuge gegen die Dschamikun aufge- [165] brochen werden sollte. Als auch Halef eine dieser Interjektionen hörte, stieß er ein vergnügtes Lachen aus und sagte zu Nafar Ben Schuri: „Deine Krieger scheinen sich auf dieses Unternehmen zu freuen, o Scheik der Dinarun, und das ist ein gutes Zeichen. Denn nur das, was das Herz erfreut, wird mit dem Arm und mit dem Verstand vortrefflich ausgeführt. Wir sind bereit, dir beizustehen. Nur darum habe ich dir so viele Fragen vorgelegt. Wir wollen das, was du mir antwortetest, noch einmal kurz zusammenfassen, damit nicht nur ich, sondern auch mein Sihdi weiß, was er zu denken hat.“ Das war wieder einmal einer seiner kleinen diplomatischen Kniffe. Er pflegte gern den eigenen Wunsch mit fremden Wünschen zu maskieren. Nun fuhr er fort: „Also ihr seid nicht etwa der ganze Stamm, sondern nur ein kleiner Abzweig der Dinarun?“ „So habe ich gesagt, und so ist es wirklich,“ antwortete Nafar. „Ihr weidetet hier in der Nähe und wurdet von den Dschamikun überfallen und derart ausgeraubt, daß von euren Herden und Zelten fast gar nichts übrig geblieben ist?“ „Ja.“ „Ihr wollt sie verfolgen und ihnen das Geraubte wieder abnehmen. Das muß schnell geschehen, und darum könnt ihr nicht auf die Hilfe eures Stammes rechnen, weil eure Genossen sich so weit von hier befinden, daß eine lange Zeit vergehen würde, ehe es ihnen möglich wäre, sich hier zusammenzufinden?“ „Das ist es, was ich dir sagte. Die Dschamikun zählten vielleicht zweihundert Mann, als sie unser Lager überfielen. Ich habe euch schon erzählt, daß wir nicht [166] daheim, sondern auf einem Feste abwesend waren, sonst wäre ihnen der Raub gewißlich nicht gelungen. Wir können ihnen das uns Gestohlene nur dann wieder abnehmen, wenn wir ihnen sofort nachjagen, um sie einzuholen, bevor es ihnen gelungen ist, ihren eigenen, großen Stamm zu erreichen. Kommen wir zu spät, so ist alles für uns verloren. Darum wollten wir schon heut früh aufbrechen. Dies wäre ganz gewiß geschehen, wenn wir nicht gestern euch getroffen hätten. Dadurch haben wir einen halben Tag verloren. Jetzt aber essen wir, und dann werden wir aufbrechen. Ich hoffe, ihr seht ein, daß wir nicht länger warten können.“ „Natürlich sehen wir das ein, aber ehe ihr diesen Ort verlaßt, giebt es noch mehr zu thun, als bloß zu essen.“ „Was?“ „Willst du denn nicht an unsere Gefangenen denken?“ „Maschallah! Das ist richtig. Die können wir doch unmöglich mit uns schleppen!“ „Nein. Sie würden nur hinderlich sein und uns wohl gar entschlüpfen und zu Verrätern werden. Also essen wir vorerst; dann halten wir Gericht über sie, und dann wird sofort von hier aufgebrochen!“ Das klang alles so glatt und selbstverständlich, daß ich es für an der Zeit hielt, nun endlich auch einmal das Wort zu ergreifen. „Lieber Halef, erlaubst du, daß auch ich mitsprechen darf?“ fragte ich. „Was fällt dir ein, Sihdi!“ rief er aus. „Seit wann hast du erst um Erlaubnis zu bitten, bevor du reden darfst?“ „Seit ich höre, daß du der Pascha dieser ganzen Gegend und aller derer bist, die sich in ihr befinden!“ [167] „Ich? Pascha? Fällt mir gar nicht ein! Ich habe nur deshalb so drauflos bestimmt, weil du deinen Mund nur für den Hammelschwanz, nicht aber für den Ausdruck deines Verstandes zu haben scheinst. Wer reden will, der muß das Kauen lassen. Mir ist es überhaupt stets lieber, wenn du sprichst, denn wenn du schweigst, so steckt etwas dahinter! Du siehst doch gewiß ein, daß wir uns entschließen müssen, daß keinen Augenblick gezögert werden darf?“ „Ich sehe zunächst ein, daß wir uns gar nicht so zu übereilen brauchen, denn die Worte Nafar Ben Schuris haben gelautet: ‚In diesem Falle können wir schon morgen oder doch übermorgen aufbrechen.‘ Hat sich vielleicht etwas zugetragen, wodurch dieses ‚Uebermorgen‘ so vollständig ausgeschlossen ist, daß wir uns jetzt nicht einmal von dem heutigen Ritte ausruhen dürfen?“ „Nein. Es ist nichts geschehen. Aber bist du denn so ermüdet? Ich bin es keineswegs, und von dir ist man solche Schwächen ja auch nicht gewöhnt.“ „Vorsichtig und bedacht zu sein, ist niemals eine Schwäche, lieber Halef. Wir wissen über die Dschamikun ja nicht mehr, als wir von ihnen wußten, ehe wir hier diese unsere Freunde trafen. Oder genügt es dir vielleicht, von ihnen nur zu wissen, daß wir jetzt ihre Feinde sind und mit gegen sie ziehen wollen?“ Er sah mich an, nickte dann verständnisvoll vor sich hin und sagte hierauf: „Ja, daran habe ich freilich nicht gedacht! Und doch haben wir dieser deiner Gepflogenheit alles zu verdanken, was wir jemals erreicht haben. Du pflegst alles auf das reiflichste zu bedenken und mit dem Geiste anzuschauen, ehe du handelst. Du greifst niemals einen Gegner [168] an, ohne genau zu wissen, wer er ist, wo er ist und wie stark er ist.“ „Nun, wissen wir das von den Dschamikun?“ „Nein.“ „Und doch bist du bereit, sofort mit aufzubrechen! Dürfen wir es wie kleine Knaben machen, die aufeinander losschlagen, ohne zu wissen, was es für einen Ausgang nehmen kann?“ Er wollte antworten, wurde aber durch das Erscheinen eines Mannes daran verhindert, welcher langsam den Berg heraufgekommen war und, als er uns sah, seine Schritte zu uns lenkte und sich ohne Wort und Gruß zu uns setzte. Seinem Aeußern nach war er keineswegs eine Person, von der man hätte sagen mögen, daß sie zu dem Scheik und zu uns gehöre. Sein Körper war von um ihn herumhängenden Fetzen nur halb bedeckt. Die hindurchblickenden nackten Stellen hatten ebenso wie das Gesicht, die Hände und die unbekleideten Füße einen dicken Schmutzüberzug. Ein Zeugstück, welches man in Deutschland einen verbrauchten Hader nennen würde, war um seinen Kopf gewunden. Darunter hingen lange Haare heraus, welche wahrscheinlich altersgrau waren, aber derart von fettiger Unreinlichkeit starrten, daß man ihre Farbe unmöglich bestimmen konnte. Trotzdem waren sein Gang und seine Haltung so würdevoll und selbstbewußt, als ob er über uns allen hoch erhaben sei. Seine Gesichtszüge waren außerordentlich regelmäßig, Stirne und Wangen trotz des Alters beinahe ohne Falten. Ich sagte mir, daß er ein schöner Greis sein werde, sobald er sich gereinigt und anders gekleidet habe. Geradezu selten schön waren seine großen, sonderbaren Augen. Es schien, als ob eine bisher unberührte Gazellenunschuld in ihren dunklen Tiefen wohne. [169] Und doch konnten aus diesen Tiefen Blitze aufsteigen, als ob sich da unten plötzlich ein verborgener Krater geöffnet habe. Dann bekam die schwarze Pupille einen hellen, fast möchte ich sagen, gelben Ueberschein, und die Lider öffneten sich hoch und weit, als ob alle Ströme und Fluten einer unbekannten seelischen Welt hervorbrechen wollten. Das sah ich natürlich nicht sofort, im ersten Augenblicke, sondern ich beobachtete es nur nach und nach, denn dieser Mann flößte mir ein so ungewöhnliches Interesse ein, daß ich ihn beobachtete, ohne es mir eigentlich bestimmt vorgenommen zu haben. Es giebt Menschen, zu denen man innerlich hingezogen wird, obgleich die äußeren Verhältnisse dies gar nicht zu gestatten scheinen. Ich will aufrichtig gestehen: der Schmutz dieses Fremdlings wirkte abstoßend, und doch war er unter allen Anwesenden der einzige, dem ich ohne allen Vorbehalt meine Hand hätte geben können. Warum, das wußte ich nicht, aber ich fühlte so. Der Scheik schien es für ganz selbstverständlich zu halten, daß dieser Mann sich zu uns setzte. Er nickte ihm nicht nur freundlich, sondern mit dem Ausdrucke der Ehrfurcht zu und sagte dann zu uns: „Das ist Sallab, der Fakir. Wohin er kommt, bringt er den Segen Allahs mit.“ Hierauf kreuzte Sallab die Hände auf der Brust und sprach, nicht etwa mit der gewöhnlichen, widerlichen Salbung dieser stets für fromm und oft sogar für heilig gehaltenen Leute, sondern im Tone ruhiger Selbstverständlichkeit. „Allah ist ja nur Segen, bloß Segen; er kann gar nichts anderes sein!“ Hierauf nannte der Scheik ihm unsere beiden Namen. Als dies geschah, bemerkte ich zum erstenmal den er- [170] wähnten Aufschlag und das ebenso schnelle Niedersinken seiner Augenlieder. Es war nur ein Moment, aber in diesem raschen Blicke lag eine Bedeutung, welche mir erst später klar wurde. Hierauf verhielt er sich genau so, als ob er diese Namen jetzt zum erstenmal gehört habe. Das Wort Fakir erklärte es zur Genüge, daß er sich hatte zu uns setzen dürfen. Selbst der vornehmste Mann wird es wenigstens öffentlich vermeiden, zu zeigen, daß er sich für etwas Besseres halte, als so ein „Glaubensheld“ für den Durchschnittsmuhammedaner ist. Damit wir auch in Beziehung auf unsern Gesprächsgegenstand wüßten, woran wir mit ihm seien, machte der Scheik gegen uns die Bemerkung: „Wir können weitersprechen. Sallab bekümmert sich nicht um die Angelegenheiten dieser Erde. Er lebt bereits das Leben, welches für andere Leute erst nach ihrem Tode beginnt.“ „So erlaube, daß wir uns nach den Dschamikun erkundigen!“ sagte Halef. „Weißt du, wie viel Krieger sie haben?“ „Ungefähr zweihundert, wie ich ja bereits erwähnt habe,“ antwortete Nafar Ben Schuri. „Weißt du auch, wo sie sind?“ „Ich habe ihnen Kundschafter nachgeschickt. Ihr hört also, daß auch ich vorsichtig zu sein verstehe. Sie haben die uns geraubten Herden zu treiben und kommen also nur langsam vorwärts. Aber wenn wir ihnen zuviel Zeit lassen, werden sie einen solchen Vorsprung gewinnen, daß sie ihren Stamm erreichen, ehe wir sie einholen, und dann bleibt uns nichts übrig, als unverrichteter Sache umzukehren. Darum hielt ich es für besser, den Ritt schon heut zu beginnen.“ [171] „Kennst du die Gegend, durch welche wir ihnen zu folgen haben?“ „Sehr genau. Ich hatte die Absicht, sie im Daraeh-y-Dschib1) [1) pers. „Thal des Sackes“, unserer „Sackgasse“ gleich.] einzuholen. Das ist ein langes, enges Thal mit hohen, steilen Felswänden, welches kurz vor seinem Ende von einem sehr schmalen, aber auch sehr tiefen Flußbette quer durchschnitten wird. Es führt eine uralte, jetzt halb eingefallene Brücke darüber. Dieses Thal würde eine Falle sein, in welcher wir die Dschamikun fangen und zur Herausgabe ihres Raubes zwingen könnten, ohne daß ein Kampf stattzufinden brauchte.“ „Sie werden sich hüten, in diese Falle zu gehen!“ „Ich bin überzeugt, daß sie dieses Thal passieren werden, weil sie sonst einen Umweg machen müßten, welcher für sie fast zwei Tage in Anspruch nehmen würde. Kämen wir eher hin als sie, so könnten wir die Brücke besetzen. Dann ließen wir sie hinein, besetzten hinter ihnen auch das andere Ende des Daraeh-y-Dschib und hätten sie dann so fest im Sacke, daß es ihnen ganz unmöglich wäre, sich zu bewegen oder gar sich zu verteidigen.“ Da schaute Halef mich, im ganzen Gesicht lachend, an und fragte: „Was sagst du dazu, Sihdi? Das ist ja ganz derselbe Streich, den wir schon wiederholt den Feinden unserer Freunde gespielt haben! Und zugleich wird dadurch das vermieden, was man nicht ohne Not thun soll, nämlich das Blut von anderen Menschen zu vergießen. Ist dieser Plan des Scheikes der Dinarun nicht lobenswert?“ „Er scheint gut zu sein,“ antwortete ich. „Wie [172] aber nun, wenn die Dschamikun ebenso klug sind wie wir und uns fangen, anstatt wir sie?“ Da lachte Nafar Ben Schuri laut auf und entgegnete: „Die uns? Auf einen solchen Gedanken kommen diese Dummköpfe nicht! Und wenn sie ihn hätten, so könnten sie ihn doch nicht ausführen, weil die Herden ihnen im Wege wären.“ „So denke dir die Lage, wie sie sein würde, wenn sie wirklich in die Falle gingen! Sie würden allerdings in dem engen Thale stecken, und wir befänden uns am Eingange und am Ausgange desselben. Wir wären also geteilt. Wäre das vorteilhaft für uns?“ „Ja, denn wir hätten sie zwischen uns und könnten sie mit unsern Kugeln zwingen, sich zu ergeben.“ „Das bezweifle ich. Wir hätten außerhalb des Thales keine Deckung, und folglich würden ihre Gewehre uns gefährlicher werden als die unserigen ihnen.“ „Aber das Thal ist so schmal, daß nur sehr wenige auf uns schießen könnten!“ „Wir aber auch auf nur wenige von ihnen!“ entgegnete ich. „Sie sind aber eingeschlossen und können nicht heraus! Wir haben gar nichts zu thun, als zu warten, bis sie um Gnade bitten!“ „Sie können es länger aushalten als wir, denn die euch geraubten Tiere geben ihnen für längere Zeit Fleisch, als wir haben.“ „Aber das Wasser fehlt ihnen! Das Flußbett ist vollständig trocken.“ „So müssen ja auch wir dürsten!“ Da rief er ungeduldig aus: „Sihdi, ich habe geglaubt, du seiest ein tapferer [173] Mann, und nun machst du solche Einwände! Denkst du denn gar nicht auch an eure Gewehre?“ „Ah - - - ! Unsere Gewehre - - - Du rechnest auf sie?“ „Natürlich! Ich weiß, daß ihr sehr viele Male schießen könnt, ohne laden zu müssen, und daß eure Kugeln wenigstens fünfmal weiter gehen als die unserigen. Wir können den Dschamikun also so fern bleiben, daß ihr Blei uns gar nicht erreicht, während sie aber von euch alle nach und nach erschossen werden.“ Sein Gesicht hatte während dieser Worte den Ausdruck einer Pfiffigkeit angenommen, welcher mir nicht gefiel. Ich hatte schon das Wort auf den Lippen, ihm dies verstehen zu geben, aber da kam Halef mir zuvor: „Sihdi, erlaube, daß ich dich nicht begreife! Bist du plötzlich undankbar geworden? Dieser unser Freund Nafar Ben Schuri hat uns einen großen Dienst geleistet. Wir sind seine Gäste, seine Brüder. Er rechnet auf die Ueberlegenheit unserer Gewehre. Weißt du, was uns die Pflicht des Dankes und der Gastfreundschaft gebietet?“ „Halef!“ warnte ich ihn. „Willst du mich beleidigen?“ „Nein! Aber du beleidigst mich! Du bist der beste und der tapferste Mann der ganzen Welt; aber dein Geburtsland ist Dschermanistan und wird es immer bleiben. Ich aber wurde in der Wüste geboren; ich bin ein echter Ibn el Arab1) [1) Sohn des Arabers, also = Araber.] und kann es nicht anhören, daß du plötzlich solche Bedenken trägst, die Gesetze der Wüste zu befolgen!“ „Hamdulillah - - Hamdulillah!“ rief da der Scheik, indem er aufsprang und die Hände zustimmend zusammenschlug. „Das ist ein Wort, wie ich es von [174] einem Manne erwartet habe! Ich höre, daß du Hadschi Halef Omar bist, der berühmte, unüberwindliche Scheik der Haddedihn vom tapferen Stamme der Schammar!“ Das wirkte geradezu elektrisierend auf meinen kleinen, ehrgeizigen Hadschi. Er sprang auch auf und erklärte in seinem bestimmtesten Tone: „Ja, der bin ich allerdings, und du wirst sogleich hören, was ich beschlossen habe: Wir reiten fort, jetzt, gleich! Wir folgen den Dschamikun bis in das ‚Thal des Sackes‘ und zwingen sie dort, sich uns zu ergeben. Das sage ich, und mein Sihdi sagt es auch. Darauf gebe ich dir mein Wort, mein Ehrenwort!“ „Halef!“ rief ich ihm zu, indem ich nun auch aufsprang. „Was fällt dir ein! Gieb deinen Puls! Das Fieber spricht aus dir!“ Er trat einen Schritt zurück und antwortete: „Ob Fieber oder nicht, ich hab's gesagt und werde es auch halten. Mein Puls ging ruhig, wie er immer geht; aber wenn du zauderst, zu thun, was uns die Pflicht und die Ehre gebietet, so muß er freilich schneller gehen! Ich bin mit dir gereist, so weit, so weit! Und ich bin auch bereit, mit dir zu gehen bis an das Ende der Erde. Du aber willst mir nicht einmal den Gefallen thun, den ich unsern Freunden, den Dinarun, zu erweisen habe! Darum gab ich so schnell mein Ehrenwort, um dich zu zwingen. Jetzt thue, was dir beliebt! Ich reite mit, sogleich! Wirst du mich, deinen Halef, verlassen können?“ Der Fakir war von uns der einzige, der noch saß. Jetzt stand er auf, ergriff Halefs Hand und dann die meine, legte beide ineinander und sagte, sich an mich wendend: „Halte deinen Freund und Bruder nicht zurück! Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm [175] aus; du aber siehst es nicht. Reite gern und schnell mit ihm nach dem Daraeh-y-Dschieb! Dort wird er Rettung finden; hier aber müßte er sterben. Glaub es mir! Es ist so gut, als hätte Allah selbst es dir gesagt!“ Nach diesen Worten wandte er sich ab und ging von uns weg. „Das ist die Wahrheit,“ erklärte der Scheik. „Er sieht Dinge, die kein anderer sehen kann, auch den Tod!“ „Kennst du diesen Fakir so genau?“ fragte ich. „Ja.“ „Seit wann?“ „Gehört habe ich seit langer Zeit von ihm. Gesehen habe ich ihn erst gestern früh, als er in unser Lager kam. Er ist bald hier, bald dort.“ „Wie lange bleibt er bei euch?“ Der Fakir hatte sich schon so weit von uns entfernt, daß er diese meine Frage unmöglich gehört haben konnte. Und dennoch blieb er grad in diesem Augenblicke stehen, drehte sich um und rief uns zu: „Sallab kam, und Sallab geht. Er hat weder Brot, noch Fleisch, noch Salz, noch Wasser hier genossen; er ist keines anderen als nur Allahs Gast. Doch was er sprach, das war zu eurem Heile!“ Hierauf ging er weiter, bis er in einer Terrainfalte verschwand. Halef hielt meine Hand noch fest. Jetzt zog er sie noch näher an sich und fragte: „Nicht wahr, du reitest mit, Sihdi?“ „Ja,“ antwortete ich. „Sogleich?“ „Ja.“ Was wollte oder konnte ich anderes sagen, da der [176] Scheik bei uns stand, in dessen Gegenwart ich doch nicht sprechen konnte, wie ich wollte. „Ich danke dir, Sihdi!“ Bei diesen Worten gab der Hadschi meine Hand wieder frei. „Nein, danke nicht mir, sondern dir selbst! Denn du bist die Quelle dieses meines Entschlusses. Ich wollte erst morgen entscheiden. Du hast es schon jetzt gethan, und so wollen wir wünschen, daß wir es nicht zu bereuen brauchen!“ „Es ist zu unserm Heile. Der Fakir hat es gesagt, Sihdi! Und da es denn beschlossen ist, so wollen wir auch nicht lange zögern. Um mich brauchst du keine Sorge zu haben. Das zahnlose Weib ist für immer fort. Ich bin so gesund und stark, daß ich mich schäme, in der Sänfte gesessen zu haben wie eine kraftlose Urahne sämtlicher Großmütter aller kranken Schwiegereltern. Du hast dich um nichts zu bekümmern. Ich werde für alles sorgen, auch für Futter für die Pferde.“ Als er das sagte, sah er so frisch und munter aus, als ob die Sänfte vollständig überflüssig gewesen sei. Der Scheik forderte ihn auf, mit ihm in das Zelt zu gehen; er wolle ihm den Vorrat von Bla ed Dud1) [1) Wurmstichige Datteln = Pferdefutter.] zeigen. Er folgte ihm, und da ich nun allein war, so schlenderte ich langsam durch das Lager und dann über dasselbe hinaus, um vollends bis auf die Kuppe des Berges zu steigen. Als ich da oben angekommen war, sah ich den Fakir über den jenseitigen Abhang schreiten. Indem ich ihn mit den Augen verfolgte, blieb er stehen, hob den rechten Arm empor, bewegte ihn, als ob er jemand warnen wolle, und ging dann weiter. Wem hatte das gegolten? [177] Mir? Geheimnisvoller Mann! Warum hatte er bei den Dinarun weder gegessen noch getrunken? Und warum hatte er uns noch besonders hierauf aufmerksam gemacht? Gab es für ihn einen Grund, so vollständig auf die Gastlichkeit dieser Leute zu verzichten? Fakire sind ja immer sonderbare Leute; warum sollte grad dieser weniger seltsam gehandelt haben? Als ich in das Lager zurückkam, waren die Zurüstungen zum Aufbruche flott im Gange. Halef hatte die Pferde getränkt und die Futtersäcke mit Bla ed Dud gefüllt. Er teilte mir mit, daß man in zwei Abteilungen reiten werde. Die Mehrzahl sollte sich beeilen, die Kundschafter, welche den Dschamikun heimlich folgten, so bald wie möglich einzuholen. Die übrigen waren dazu bestimmt, mit den Frauen und Kindern und der Bagage langsamer nachzukommen. Der gute Hadschi war ganz Feuer und Flamme, und ich hütete mich wohl, seine Begeisterung herabzustimmen. Es mußte vielmehr nun meine Sorge sein, ihm diesen seinen Enthusiasmus möglichst zu erhalten. „Der Tod steht an seiner Seite und streckt die Hand nach ihm aus; du aber siehst es nicht!“ Diese Worte des Fakirs wollten mir nicht aus den Ohren. Ich mußte mir ja sagen, daß die jetzige Munterkeit Halefs nicht von langer Dauer sein werde. Der Geist konnte nur solange Herr des erkrankten Leibes sein, als er anregende Sorge und Beschäftigung hatte; dann war der Rückschlag sicher zu erwarten. Ich hatte wohl kaum jemals mich so schweren Herzens in den Sattel gesetzt, wie heute; er aber ritt heiter und unbefangen neben mir her und brachte es sogar fertig, über meine Bedachtsamkeit zu scherzen, die ihn zu dem schnellen Entschlusse gebracht hatte, durch sein Ehrenwort alle meine Weiterungen abzuschneiden. [178] Wenn ich mich nicht geirrt hatte, sondern die Krankheit, welche ich vermutete, wirklich im Anzuge war, so mußte ich nun die psychische Kraft bewundern, welche jetzt so nachdrücklich und so lange die Herrschaft über die Symptome dieser Krankheit behauptete. Es verging der ganze Nachmittag, ohne daß sich eine Ermüdung bei ihm zeigte. Wir ritten sogar noch einen Teil des Abends weiter, um für heut eine möglichst große Strecke zurückzulegen, und als wir dann zur Nachtruhe anhielten, sprang er so munter vom Pferde, als ob er erst vor kurzem aufgestiegen sei. Ich schrieb diese außerordentliche Widerstandsfähigkeit außer seinem Willen und seinem Enthusiasmus auch seinem südlichen Temperamente zu. Es war Feuer in ihm. Aber wenn es auch wirkte, so lange es möglich war, wenn es verlöschte, hatte ich meines Erachtens mit einem um so schwereren Rückfall zu rechnen. Darum legte ich mich, als wir gegessen hatten, nicht ohne Sorgen an seiner Seite nieder. Glücklicherweise bewahrheiteten sich diese meine Befürchtungen nicht, wenigstens nicht in dem Maße, wie ich es erwartet hatte. - - - [179] Drittes Kapitel. Am Tode. Ich schlief infolge des gestrigen Nachtwachens heute sehr rasch ein und wäre wahrscheinlich die ganze Nacht hindurch nicht aufgewacht, wenn Halef mich nicht aufgerüttelt hätte. „Verzeih, Sihdi, daß ich dich wecke!“ sagte er. „Ich glaube, das alte Weib will wieder kommen.“ „Spürst du ihr Nahen?“ fragte ich. „Nicht nur ihr Nahen. Sondern ich bemerke, daß sie schon ganz vor mir steht.“ „Halef, du sprichst mit Mühe! Deine Zähne klappern!“ „Nein; aber es hält mir den Mund halb offen, ganz so, wie einem Menschen, der sehr friert. Gieb mir von deiner Arznei!“ Ich folgte dieser Aufforderung. Als er die absichtlich vergrößerte Gabe genommen hatte, erkundigte er sich: „Weißt du, was Zittern ist, Sihdi?“ „Ja, jedermann weiß das wohl.“ „Aber hast du selbst schon einmal gezittert?“ „Ich glaube, nein.“ „Ich auch nicht, weder aus Angst noch aus irgend einem anderen Grunde. Aber, denke dir, jetzt zittre ich! [180] Oder vielmehr, nicht ich thue es, sondern das alte, zahnlose Fieberweib, welches nun doch in mich hineingekrochen ist, zittert in mir. Ich glaube, aus Furcht, schnell wieder heraus zu müssen. Und sodann ist es mir, als ob mir ein Gürtel um den Kopf gelegt und übermäßig fest zugeschnallt worden sei. Meine Beine sind mir abhanden gekommen. Ich weiß zwar ganz genau, daß ich sie noch habe, aber ihr Selbstbewußtsein ist ihnen verloren gegangen. Sie können sich nicht mehr auf sich selbst besinnen, und darum ist es gar nicht zu verwundern, daß sie auch mich ganz und gar vergessen haben, obgleich ihnen das verboten ist. Ich werde einmal versuchen, sie von ihrer Pflichtvergessenheit zurückzubringen.“ Er erhob sich langsam und unsicher, blieb aber nur kurze Zeit stehen, ließ sich dann wieder nieder und sagte: „Das ist eine ganz eigentümliche Empfindung, die ich dir wohl nicht deutlich genug machen kann. Es scheint mir, als ob ich da unten keine Knochen, keine Sehnen und kein Fleisch mehr habe, sondern bloß noch die Haut, und diese ist so außerordentlich dünn, daß ich von innen heraus den Stoff der Hose sehen kann.“ Welch naive und doch bewundernswerte Deutlichkeit, mit welcher er diesen Schwächezustand seiner Glieder beschrieb! Er war in dieser Beziehung ja schon überhaupt unübertroffen! Er verstand es, selbst für das unerklärbar Scheinende Worte zu finden, welche trotz ihrer Sonderbarkeit fast stets das Richtige trafen. Nun war ich fest überzeugt, daß er keinen Augenblick mehr werde schlafen können. Jeder Arzt hätte das mit der größten Bestimmtheit behauptet. Aber ich sollte sogleich vom Gegenteile überzeugt werden, denn er wickelte sich in seine Decke ein und sagte: „Der Frost ist weg, ganz plötzlich weg, wohl weil [181] ich aufgestanden bin. Ich werde wieder warm. Nun bin ich müd, so sehr müd. Ich werde wieder schlafen. Gute Nacht, mein Sihdi!“ „Gute Nacht, mein lieber Halef!“ „Lieber Halef? So sagst du zu mir? Hast du mir verziehen?“ „Von ganzem Herzen!“ „Ich danke dir! Wollen ja nicht vergessen, einander ohne alle Unterbrechung und ohne alles Aufhören recht, recht lieb zu haben! Du hast mir vergeben, aber ich selbst mir nicht. Ehe ich dich weckte, habe ich über heut nachgedacht. Ich war nicht gut zu dir, nicht höflich und bescheiden. Das ist zwar nicht dein guter Halef, sondern jener böse Hadschi gewesen, der immer, immer Fehler macht, aber da ich diese seine immerwährenden Dummheiten nicht zu dulden habe, muß ich mich ganz ebenso wie ihn selbst anklagen. Er hat dich beleidigt und gekränkt. Das war schlecht, nicht bloß von ihm, sondern auch von mir!“ Nun war er still, der liebe prächtige Kleine. Ich lauschte. Er bewegte sich nicht mehr, und als ich mich nach einiger Zeit zu ihm hinüberbog, bemerkte ich, daß er eingeschlafen war. Er wachte zu meiner großen Freude auch nicht eher auf, als bis die Dinarun aufstanden und er durch den nun entstandenen Lärm aufgeweckt wurde. Da stand er auf, aß und trank, war munter wie ein vollständig gesunder Mann und sagte, als er sah, daß ich ihn beobachtete: „Sie ist längst wieder fort, die mich heute nacht besuchte. So alte Klage- und Jammerweiber halten es bei einem rüstigen Menschen niemals lange aus. Soeben steigt der Scheik auf das Pferd. Komm, Sihdi, laß uns dasselbe thun!“ [182] Er schwang sich leicht und frei in den Sattel, so wie ich gewohnt war, es von ihm zu sehen. Ich wurde vollständig irr an dem Krankheitsbilde, welches mir in Beziehung auf ihn bisher drohend vorgeschwebt hatte, und fragte mich, ob es sich vielleicht doch nur um eine morbillöse Infektion handle. Aber dann hätte unbedingt ein Katarrh der Luftwege und der Augenbindehaut, begleitet von einem reichlichen Thränengusse, vorhanden sein müssen, und das war keineswegs der Fall. Mochte nun aber vorliegen, was da wollte, ich mußte die Entwickelung ruhig abwarten. Halef kämpfte jedenfalls mit größerer Anstrengung, als er mir eingestehen wollte, gegen dieses Uebel, und ich nahm mir vor, ihm diesen Kampf nicht thörichterweise zu erschweren, daß ich ihn die Größe meiner Besorgnis sehen ließ. Unser Nachtrab hatte uns gegen Mitternacht eingeholt. Er blieb noch hier, um auszuruhen und uns dann zu folgen. Wir aber ritten weiter. Es ist nicht mein Zweck, die Gegenden, durch die wir kamen, zu beschreiben. Topographische Ausführlichkeiten pflegen wohl für den Fachmann interessant, für andere aber langweilig zu sein. Es genügt vollständig, nur das zu erwähnen, was mit dem Zwecke unseres Rittes in Zusammenhang stand. Es war noch am Vormittage, als wir über eine Tiefung kamen, auf welche zwei breitere Thäler und mehrere schmale Schluchten mündeten. Es schien, als ob es hier einst einen tiefen See mit zahlreichen Wasserzuflüssen gegeben habe. Der Boden bestand aus einem feinen, hellen, fast mehligen Sande, in welchem jede vorhandene Spur mit ungemeiner Deutlichkeit zu sehen war. Man konnte sogar den Weg, den eine Maus oder ein kleiner, hüpfender Vogel genommen hatte, ganz genau er- [183] kennen. Die Stelle war rundum von Höhen umgeben, welche die Winde abhielten; es gab also hier keine Luftbewegungen, durch welche die Spuren ausgewischt und verweht wurden. Daher auch die große Deutlichkeit einer Fährte, welche aus einer rechts von uns liegenden Schlucht herauskam, um links in einer andern zu verschwinden. Sie führte also quer über unsern Weg. Nafar Ben Schuri, welcher, wie bisher stets, unserm Zuge voranritt, sah sie zuerst. Er hielt an, um sie zu betrachten. Seine Leute gruppierten sich sogleich in der Weise um ihn, daß die Fährte unter den Hufen ihrer Pferde verschwand. Als wir nun hinkamen, hörten wir die Worte des Scheikes: „In dieser einsamen Gegend sollte man keine Spur vermuten. Ich weiß genau, daß es weder nach rechts noch nach links hin Menschen giebt. Wer mag das wohl gewesen sein, der hier vorüber gekommen ist?“ „Du fragst und scheinst es doch aber gar nicht wissen zu wollen,“ antwortete Halef. „Wieso?“ fragte Nafar verwundert. „Wenn ich dir einen Brief schreibe, den ich auf einen schwarzen Schiefer geschrieben habe, was thust du da?“ „Ich lese ihn.“ „Nein! Ich sehe ja, daß du das nicht thust! Du löschst ihn aus und fragst dich dann verwundert, was auf dem Schiefer wohl gestanden habe.“ „Traust du mir wirklich keine größere Klugheit zu?“ „Wie kannst du mir eine Frage vorlegen, durch deren Beantwortung ich dich beleidigen würde! Schau diesen Sand! Er ist die Schiefertafel. Der, welcher hier geritten ist, hat eine Schrift geschrieben, welche zu lesen ist, nämlich seine Spur. Anstatt sie aber zu lesen, laßt ihr eure Pferde so über die Fährte trampeln, daß sie nun [184] fast nicht mehr zu sehen ist. Nun sei so gut und beantworte dir deine Frage selbst!“ Halef hatte vollständig recht. Wir beide ritten zur Seite, stiegen da, wo die Spur noch nicht ausgetreten war, von den Pferden und folgten ihr, um die Eindrücke zu betrachten, so weit, bis ich genug gesehen zu haben glaubte. Der Scheik war uns langsam gefolgt. Als ich mich jetzt wieder umwandte, fragte er: „Nun, was habt ihr gesehen? Der Scheik der Haddedihn wird uns jetzt zeigen, wie gut er lesen kann!“ Das klang beinahe ironisch. Halef war sofort mit der richtigen Antwort da: „Wir haben nichts, gar nichts gefunden, o Scheik der Dinarun. Darum bitten wir dich, dein Pferd zu verlassen, um zu versuchen, ob du diese Schriftzeile besser lesen kannst als wir!“ „Was liegt daran, zu wissen, wer hier war?“ entgegnete Nafar ausweichend. „Sehr viel liegt daran! Wir befinden uns auf einem Kriegszuge. Es darf uns nicht gleichgültig sein, wer in derselben Gegend mit uns ist. Es kann uns Verrat und Gefahr von jeder Seite drohen. Ich hoffe, daß dir dies nicht unbegreiflich ist!“ Er gab seiner Stimme einen strengen Klang. Da stieg der Dinari1) [1) Singular von Dinarun.] vom Pferde und betrachtete die Fährte. Hierauf schüttelte er den Kopf und sagte: „Man sieht, daß zwei Reiter hier vorübergekommen sind, weiter nichts.“ „Wirklich weiter nichts?“ „Nein.“ Wahrscheinlich bemerkte Halef das Lächeln, welches [185] ich um meine Lippen fühlte. Er hatte mehr gesehen als Nafar und nahm wohl an, daß die Schrift für mich trotzdem noch verständlicher gewesen sei, als für ihn selbst. Darum fuhr er fort: „Du sprichst von zwei Reitern, von weiter nichts. Was ritten sie für Tiere?“ „Pferde natürlich!“ „Was für Pferde waren es?“ „Wer kann das wissen? Niemand!“ „So! Dieser ‚Niemand‘ bin ich. Das eine Pferd war ein junger Hengst, das andere aber eine Stute, welche wenigstens schon fünf- oder sechsmal geboren hat.“ Da machte der Dinari die Augen weit auf und fragte: „Woran siehst du das?“ „Das ist auch eines unserer Geheimnisse, welche nicht verraten werden. Es würde dir auch nichts nützen, wenn ich es dir sagte, denn es gehört viel Erfahrung und eine lange Uebung dazu, die Zahl der Geburten, also das ungefähre Alter einer Stute aus ihren Spuren zu erkennen. Wäre der Sand nicht so fein, so würde selbst ich vergeblich forschen. Glaubst du nun, daß der Scheik der Haddedihn eine Fährte lesen kann? Und da steht Kara Ben Nemsi, der mein Lehrer in dieser Kunst gewesen ist. Ich sehe es ihm an, daß diese Spur ihm noch mehr gesagt hat als mir. Sprich, Sihdi, was hast du gesehen?“ „Die Stute ist allerreinsten Blutes“, antwortete ich. „Ja; das weiß ich auch.“ „Sie ist einmal infolge eines Fehltrittes lange Zeit fußkrank und unbrauchbar gewesen.“ „Maschallah!“ rief da der Scheik der Dinarun. „Weißt du, an welchem Fuße?“ [186] „Links vorn. Es war eine Flechsendehnung, welche nur langsam und durch die größte Ruhe zu heilen ist.“ „Bist du allwissend?“ „Nein. Ich habe meine Augen geübt. Das ist es, weiter nichts. Du scheinst verwundert zu sein. Kennst du ein solches Pferd?“ „Ja. Es ist eine braune Stute. Ihre Haut bekommt in der Sonne dunklen Kupferglanz; sie hat die drei berühmten Haarwirbel der Pferde des Propheten; sie trinkt das Wasser mit der Zunge, wie ein Hund; ihr Ohr ist schärfer als das Auge des Geiers, und wenn sie dich anschaut, glaubst du, dem sanften Blick einer Huri zu begegnen.“ Der Beduine wird stets poetisch, wenn er von einem edlen Pferde spricht. So auch hier. „Wem gehört dieses Pferd?“ erkundigte ich mich. „Diese wunderbar schnelle Stute heißt Sahm1) [1) „Pfeil“.] und gehört - - dem - - - Ustad2) [2) „Meister“.].“ Er zögerte so eigentümlich, dieses letzte Wort auszusprechen. Das hatte jedenfalls einen besonderen Grund, der nicht allein in ihm vorhanden war, denn als er diesen Namen aussprach, drängten sich die bei uns haltenden Dinarun sofort noch näher zu uns heran. „Wer ist das, der Ustad?“ fragte ich. „Ein Dschamiki,“ antwortete er so kurz, daß ich annahm, er gebe nicht gerne Auskunft über diesen Mann. „Vielleicht der Scheik einer Unterabteilung der Dschamikun?“ „Nein.“ „Also ein gewöhnlicher, wenn auch reicher Mann?“ „Auch nicht!“ [187] „Weder Scheik noch einfacher Nomade? Was aber denn?“ „Warum willst du das so durchaus wissen?“ sprach er ungeduldig. „Dieser Mann geht mich und auch dich nichts an!“ „Dich vielleicht nicht, aber mich! Ich habe keinen Grund, mich vor irgend einem Menschen oder gar nur vor dem Namen eines Menschen zu scheuen. Wir verfolgen die Dschamikun; zwei von ihnen sind hier an dieser Stelle gewesen. Das eine der Pferde ist die Stute des Ustad. Ich muß also unbedingt wissen, wer dieser Ustad ist und was es mit ihm für eine Bewandtnis hat.“ „Ich spreche nicht von ihm!“ erklärte er in einem Tone, als sei dies nun sein letztes Wort. Es klang fast wie ein Befehl für mich, still zu sein. Da regte sich das Mißtrauen von neuem in mir. Sein Verhalten war für mich ein Rätsel, dessen Lösung ich mir unbedingt verschaffen mußte. „Komm, Halef!“ Indem ich diese Aufforderung an meinen Hadschi richtete, wendete ich mich von Nafar Ben Schuri und stieg wieder in den Sattel. Halef that ebenso. Der Blick, den er mir zuwarf, sagte mir, daß er mich verstanden hatte und mir recht gab. „Wohin?“ fragte er. „Dorthin!“ Ich zeigte nach der Schlucht links, nach welcher die Spur führte, und setzte mein Pferd anstatt in Schritt in schnellen Trab. Da rief der Scheik der Dinarun hinter uns her: „Was fällt euch ein? Warum reitet ihr dorthin? Wollt ihr uns verlassen?“ Wir antworteten nicht, sahen uns auch nicht um und [188] erreichten schnell die Schlucht, hinter deren Eingangsfelsen wir für die Dinarun verschwanden. Hier lag derselbe leichte Sand wie draußen. Die Fährte war ebenso deutlich wie dort. Halef hielt sich neben mir. Er konnte es nicht über das Herz bringen, zu schweigen! „Sihdi, was hast du vor?“ fragte er. „Willst du unsere Freunde verlassen?“ „Nein.“ „Aber warum entfernst du dich von ihnen?“ „Erstens um sie zu zwingen, mir Auskunft über diesen Ustad zu geben, und zweitens um sie darüber zu belehren, daß wir Männer sind, denen man Antwort zu geben hat, wenn sie fragen!“ „Das sind wir allerdings! Doch meine ich, daß wir unsere Freunde - - -“ „Freunde?“ unterbrach ich ihn. „Sei vorsichtig mit diesem Worte! Es fällt mir schwer, das rechte Vertrauen zu dieser Freundschaft zu haben.“ „Ich aber traue ihnen, Sihdi!“ „Das weiß ich gar wohl; es wäre aber besser, wenn du zu mir mehr Vertrauen hättest, als zu ihnen. Es liegt irgend etwas zwischen ihnen und uns. Ich weiß es, kann es aber nicht finden. Wir werden es aber erfahren und ich hoffe, daß wir uns nicht zu der Sorte von Menschen zu zählen haben, welche nur durch Schaden klug werden können! - Schau! Was ist hier?“ „Da sind die Reiter abgestiegen, um auszuruhen,“ antwortete er. So war es allerdings. Sie hatten an der rechten Seite der Schlucht Halt gemacht und sich in den weichen Sand gesetzt. Daneben standen niedrige Akaziensträucher, deren Spitzen und Blätter von den Pferden abgefressen worden waren. Die Eindrücke in dem Sande waren da, [189] wo sie gesessen hatten, so scharf, daß man sogar sah, welche Stellung dabei von ihren Extremitäten eingenommen worden waren. Kaum hatte ich einen Blick dorthin geworfen, so entriß mir die Ueberraschung den Ausruf: „Welche Entdeckung! Oder täusche ich mich?“ „Was ist's, Sihdi?“ fragte Halef. „Später! Die Dinarun kommen!“ Sie waren es nicht alle, sondern nur der Scheik mit einigen von ihnen. Ich war wieder abgestiegen, um die Eindrücke in dem Sande zu untersuchen. Er blieb, um die Spuren nicht wieder zu verwischen, in einiger Entfernung von uns halten und rief uns, halb ärgerlich, halb bittend zu: „Ist denn plötzlich irgendein Scheitan1) [1) Teufel.] in euch gefahren? Warum verlaßt ihr uns? Wollt ihr etwa hier weiterreiten?“ „Ja,“ antwortete ich. „Warum?“ „Wenn ich einen so gefährlichen Weg unternommen habe, wie der unsere ist, lasse ich nie eine unbeantwortete Frage auf ihm liegen. Ich muß unbedingt wissen, wen oder was ich vor mir habe.“ „Du meinst den Ustad?“ Er wußte also wohl, warum wir uns entfernt hatten. „Ist dir dieser Mann denn so sehr wichtig?“ „Ja.“ „Warum?“ „Weil du ihn durch dein Schweigen für mich wichtig gemacht hast. Hättest du mir nicht die Auskunft verweigert, so wäre er für uns wohl weiter nichts als jeder andere Mensch.“ [190] „Und was soll euch diese Fährte nützen?“ „Sie soll mich zu der Kenntnis führen, welche du uns nicht geben willst. Wir reiten als eure Freunde mit euch. Es handelt sich hierbei vielleicht um Blut und Leben. Darum ist die größte Vorsicht geboten. Ich sehe, daß sich noch andere Personen in unserer Nähe befunden haben, vielleicht noch befinden. Ich will wissen, wer sie sind. Ich entdecke, welches Pferd geritten wird. Ich will Auskunft über den Besitzer desselben. Du kannst sie geben, giebst sie aber nicht. Das ist gegen die Offenheit, welche ich von dir zu fordern habe! Du hast Geheimnisse vor uns, die wir mit dir in den Kampf gehen sollen. Das trennt uns von euch. Wir reiten dieser Fährte nach, bis ich weiß, wer die Männer sind, die unsere Wege kreuzen!“ „Du hast einen harten Kopf!“ warf er ein. „Nicht das, sondern nur einen festen Willen!“ „Weißt du, was kommen wird, wenn ihr euch von uns trennt?“ „Was?“ „Ihr werdet in unbekannter Gegend hilflos sein! Der Hunger wird an euch nagen, und der Durst wird euch verzehren!“ Kein Mensch hätte mir jetzt einen größeren Gefallen erweisen können, als dieser Mann es mit diesen Worten that. Halef traute den Dinarun, ich aber nicht. Das brachte mich in einen zunächst zwar nur innern Zwiespalt mit ihm, der uns aber äußerlich gefährlich werden konnte. Hatte doch Halef mir schon da oben im Lager Widerstand geleistet! Ich mußte wünschen, daß sein Vertrauen zu diesen Leuten ihn nicht wieder zu einem solchen Fehler verleite. Wirklich erschüttert aber mußte es nicht von mir, sondern von ihnen selbst werden. Da kam Nafar [191] Ben Schuri mit seinem Worte „hilflos“ mir zur rechten Zeit zur rechten „Hilfe“. Dieses Wort wirkte auf meinen kleinen Hadschi wie ein feindlicher Pistolenschuß. Er ritt zu dem Scheik hin, blieb hart vor ihm halten und fuhr ihn zornig an: „Wer wird hilflos sein? Wer wird hungern? Und wer wird dürsten? Warum besteht ihr darauf, daß wir mit euch reiten, wenn ihr uns für junge Schakals haltet, die sich den eigenen Schwanz abfressen, wenn nicht die Mutter ihren Hunger stillt? Hast du jemals gehört, daß Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn, sich nicht zu helfen gewußt habe? Hältst du uns für kleine Buben, denen du auf ihre Fragen mit der Beleidigung des Schweigens antworten darfst? Meinst du, daß wir nur dir zuliebe unsere Gewehre mühsam nach dem ‚Thale des Sackes‘ schleppen, um von dir dann einen Wasserschluck und eine Dattel zu erhalten, damit wir nicht vor Durst und Hunger uns in die Brühe faulender Gurken verwandeln? Denkst du, wir lesen dir die schwere Sprache der Fährten zu dem Zwecke vor, von dir zu erfahren, daß sie unnütz sei? Ob dieses Land uns bekannt oder unbekannt ist, das ist uns völlig gleich. Jeder Schuß aus unsern Gewehren wird uns Nahrung bringen, und jeder Busch oder Strauch hat uns zu sagen, wo wir Wasser finden werden! Du hast uns ‚hilflos‘ genannt. Schau dich an! Weißt du, als was ich dich jetzt vor mir krumm im Sattel sitzen sehe? Als den niedergeschmetterten Scheik der Dinarun, dem jetzt, in diesem Augenblicke, um nichts als nur um unsere Hilfe bange ist! Ich habe gesprochen!“ Er wendete sein Pferd um und kam wieder her zu mir. Der Scheik antwortete nicht sogleich. Daß er zornig sei, war ihm wohl anzusehen, doch gebot ihm die Klug- [192] heit, sich zu beherrschen. Seine Leute sprachen leise auf ihn ein. „Hast du jemals so etwas gehört, Sihdi?“ fragte Halef mit unterdrückter Stimme. „Hilflose Menschen sollen wir sein! Mit solchen Freunden hat man freilich nur mit der nötigen Vorsicht umzugehen! Wenn mich ein Freund beleidigt, so ist das schlimmer, als wenn ein Feind es thut! Ich werde mich in Zukunft nicht nach meinem Herzen, sondern nach deinem Verstande richten!“ Da kam Nafar näher und wendete sich an mich: „Sihdi, ich konnte nicht ahnen, daß euch mein Schweigen beleidigen werde. Ich bin Moslem und rede also nicht gern von dem, der ein Feind des Propheten ist. Ich habe nicht daran gedacht, daß du ein Christ bist. Willst du mir verzeihen?“ Ich nickte nur. Da fuhr er fort: „Hast du noch den Wunsch, etwas über den Mann zu hören, den sie den Ustad nennen?“ „Natürlich!“ „Er ist ein Dschamiki, wurde aber nicht bei den Dschamikun geboren. Sie waren arme Teufel, doch treue Anhänger des Propheten, als er aus einer fernen Gegend zu ihnen kam. Er unterrichtete sie in der Weisheit und Fertigkeit der Abgefallenen. Sie wurden durch ihn wohlhabend, viele sogar reich, haben sich aber aus freien Nomaden in unfreie Sklaven der Arbeit verwandelt. Sie züchten Vieh; sie bebauen Aecker, und sie besitzen Gärten, in welche sie Bäume pflanzen. Pfui!“ „Und dennoch sind sie Räuber, die euch eure Herden gestohlen und die Wächter ermordet haben?“ warf ich ein. „Ja, das sind sie freilich auch! Der Abfall vom Propheten treibt stets zu Raub und Mord!“ „Meinst du?“ [193] „Ja. Das darf dich nicht beleidigen, denn du bist ja nie ein Moslem gewesen und also kein Abgefallener.“ „Sind die Dschamikun Christen?“ „Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß sie von Muhammed abgewichen sind.“ „Wie nennen sie sich?“ „Nur Dschamikun. Ihrer Religion geben sie keinen Namen. Der Ustad ist ein alter, alter Mann, aber mit tiefschwarzen Haaren. Man sagt, er sei mehrere hundert Jahre alt. Ja, einige meinen sogar, daß er nie geboren worden sei und niemals sterben werde. Das ist gewiß nur Aberglaube. Aber Eins, was man über ihn sagt, ist richtig. Nämlich, daß man sich hüten muß, bös von ihm zu reden. Wer das thut, dem folgt die Rache wie ein böser Geist, der nicht eher ruht, als bis er ihn vernichtet hat. Darum wollte ich deine Frage nicht beantworten. Bist du nun versöhnt?“ „Ich will es sein, warne dich aber vor ähnlichen Beleidigungen. Weißt du vielleicht, ob Sallab, der Fakir, mit den Dschamikun bekannt ist?“ „Er geht überall hin, wahrscheinlich auch zu ihnen.“ „Ist er ihnen mehr Freund als euch?“ „Wer kann das sagen!“ „Er ist hier gewesen.“ „Hier? An diesem Orte?“ fragte er erstaunt. „Ja.“ „Unmöglich!“ „Er hat auf der braunen Stute des Ustad gesessen.“ „Das ist ebenso unmöglich!“ „Schau her! Hier an dieser Stelle sind die beiden Reiter von den Pferden gestiegen. Der, welcher den Hengst ritt, hat die Spuren von ledernen Sohlen hinterlassen. Der andere, welcher von der Stute sprang, ist [194] barfuß gewesen. Nun komm hierher, wo sie gesessen haben! Hier der barfüßige, und hier der andere. Hast du vielleicht schon einmal einen Menschen so auffällig sitzen sehen, daß er nur das eine Bein unterschlägt und auf das Knie desselben die Kniekehle des andern Beines legt, dessen Ferse also jenseits den Boden berühren muß!“ „Maschallah! So sitzt nur einer! Auch du hast ihn gesehen!“ „Wer ist's?“ „Der Fakir!“ „Richtig! Diese seine Art zu sitzen oder vielmehr zu hocken ist mir sofort aufgefallen, als er in eurem Lager sich bei uns niederließ. Der barfüßige Mann hier hat ganz genau in derselben Weise gesessen.“ „Kann es nicht einen zweiten geben, welcher auch diese Gewohnheit hat?“ „Gut, nehmen wir diese Möglichkeit an! Aber hast du dir genau betrachtet, wie der Fakir gekleidet war?“ „In Fetzen!“ „Wodurch wurden diese Fetzen zusammengehalten?“ „Durch eine Schnur. Die Enden des Knotens hingen hinten herab.“ „Hast du an diesen beiden Enden etwas bemerkt?“ „Zwei Cypressenzapfen an jedem.“ „So sieh hierher! Diese Zapfen haben, als er saß, den Sand hinter ihm berührt. Er hat sich bewegt und mit sich diese Zapfen. Siehst du diese Striche? Und da, wo sie stillgelegen haben, die runden Eindrücke in dem Mehle des feinen Sandes?“ Er richtete die Augen auf diese Zeichen und dann, groß und weit geöffnet, auf mich. „Sihdi,“ sagte er, „das ist nun freilich Spurenlesen! Es ist bewiesen, daß es wirklich der Fakir war, der hier [195] gesessen hat. Aber an das Pferd des Ustad glaube ich noch nicht!“ „Ich habe nur gesagt, was für ein Pferd es war. Mehr kann ich nicht wissen. Den Ustad hast du selbst genannt. Ist er denn reich genug, der Besitzer eines solchen Pferdes zu sein?“ „Ja, man sagt, daß er die Macht über den ganzen Reichtum der Erde besitze.“ „Man sagt so manches, was man eben bloß sagt. Heut hat für mich nur das Geltung, was ich hier sehe. Wann denkst du, daß wir das Daraeh-y-Dschib erreichen werden?“ „Wir werden schon heut abend in seiner Nähe sein, obgleich wir einen Umweg eingeschlagen haben, um nicht auf etwaige Nachzügler der Dschamikun zu treffen.“ „So treffen wir aber doch vielleicht auf eure Späher nicht!“ „O doch! Wir haben heut den Weg der Feinde zu kreuzen, um ihnen dann zuvorzukommen. An dieser Kreuzungsstelle haben meine Kundschafter auf uns zu warten.“ „So kennen sie die Stelle, an welcher diese Kreuzung stattfindet?“ „Ja. Ich hoffe, daß euer Vertrauen zu uns nun wieder vollständig zurückgekehrt ist!“ Er sah mich an, erwartungsvoll, was für eine Antwort ich nun geben werde. Da wurde mir so offen, daß er es hörte, von Halef die Frage zugeworfen: „Was wirst du ihm sagen, Sihdi? Das Vertrauen ist nicht wie eine Dattel, die man in der Minute zehnmal hin und her geben kann. Es geht schneller fort, als es wiederkehrt.“ [196] „Ich werde ihn nach einer Lücke fragen, die es zwischen ihm und uns giebt, lieber Halef,“ antwortete ich. „Eine Lücke? Ich kenne keine.“ „Und doch ist sie da. Wir haben sie mitgenommen, als wir das Lager der Dinarun verließen. Sie wurde um Mitternacht, als uns der Nachtrab erreichte, größer als sie vorher war, und nun bin ich neugierig, ob es ihm gelingt, sie auszufüllen. Ich habe darüber geschwiegen, weil du an die Dinarun glaubtest und ich dir deine Unbefangenheit gönnte.“ „Ich verstehe dich nicht!“ „Du wirst es gleich hören!“ Und zu dem Scheik gewendet, fuhr ich fort: „Ist euer Lager jetzt vollständig verlassen?“ „Ja,“ nickte er. „Es befindet sich niemand mehr dort?“ „Kein Mensch mehr!“ „Es ist also alles mit uns unterwegs? Mit uns hier und dem Nachtrab?“ „Alles!“ „Und unsere Gefangenen? Die Dschamikun? Mit denen wir Gericht halten wollten?“ Er war schneller mit der Antwort da, als ich erwartet hatte: „Ich habe sie nach dem großen Lager unseres Stammes geschickt. Dort werden sie bis zu unserer Rückkehr für euch aufbewahrt.“ „Warum sagtest du uns das nicht?“ „Habt ihr mich gefragt?“ „Du hattest es uns auch ohne Frage mitzuteilen. Die Gefangenen gehörten zunächst uns und dann später dir. Ich sagte nichts über sie, weil ich es für ganz selbstverständlich hielt, daß sie sich beim Nachtrab befinden [197] würden. Ich sage dir ganz aufrichtig folgendes: Daß diese wenigen Dschamikun so nahe bei euch waren, obwohl ihr von ihren Stammesgenossen beraubt worden waret, das erschien mir unbegreiflich. Daß ihr ihnen begegnet seid, ohne sie als Dschamikun anzuhalten, hielt ich für höchst sonderbar. Daß sie nun verschwunden sind, ohne daß du es für nötig gehalten hast, uns ein Wort darüber zu sagen, das kommt mir sogar bedenklich vor. Darum will ich dir deine Frage nach unserm Vertrauen jetzt noch nicht beantworten. Du wirst schon ganz von selbst bemerken, ob es wiederkehrt oder verschwunden bleibt. Jetzt wollen wir den unterbrochenen Weg fortsetzen.“ Er sagte nichts, lenkte um und ritt mit seinen Begleitern wieder aus der Schlucht hinaus. Erst nach einiger Zeit blickte er sich einmal um, damit er sehe, ob wir ihm folgten. Natürlich thaten wir das. Draußen stießen wir zu dem Trupp, der auf uns gewartet hatte, und ritten dann mit diesem weiter, indem wir die beiden letzten des Zuges waren. „Sonderbar, das mit den Gefangenen!“ sagte Halef nach einiger Zeit, während welcher er still an sich niedergesonnen hatte. „Glaubst du, Sihdi, daß ich seit unserm Aufbruche gar nicht an diese Leute gedacht habe?“ „Ich bemerkte das.“ „Und aber du?“ „Ich sah erst heut früh, daß sie fehlten.“ „Und hast gegen mich geschwiegen!“ „Du warst so heiter wie in den letzten Tagen selten. Ich wollte dich nicht ohne Not bedenklich stimmen.“ „Weil du mich wegen meiner Krankheit schonen willst; ich weiß es! Glaubst du noch an sie?“ „Ja.“ „So gieb mir jetzt wieder die Arznei!“ [198] „Halef!“ rief ich. „Fühlst du dich wieder unwohl?“ „Nein. Aber die Alte ist wieder da. Sie hat sich heimlich herangeschlichen. Sie sitzt hinter mir auf dem Pferde und streicht mir mit eiskalter Hand am Rücken auf und ab. Sie muß wieder fort. Gieb mir das Mittel!“ Ich hatte während der letzten Stunden in Beziehung auf das Fieber nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich seine Augen glänzen. Sie hatten einen unstäten, ängstlichen Blick. Ich nahm das Chinin aus der Satteltasche und gab ihm davon. Er nahm es ein, und dann wurde es für längere Zeit still zwischen uns. Dieses Schweigen hatte seinen Grund zunächst in der Besorgnis, welche ich in Beziehung auf Halef von neuem hegte. Sodann aber war mir auch in Betreff meiner selbst ein Gedanke gekommen, welcher sehr geeignet war, mich zu beunruhigen. Wir hatten in jüngster Zeit ganz bedeutende Fehler begangen, Fehler, welche eigentlich für uns hätten unmöglich sein sollen. Hierzu kamen, wenn ich nachdachte, eine ganze Menge kleinere Sonderbarkeiten, die uns eigentlich gar nicht geläufig waren. Vor allen Dingen fragte ich mich, wie es möglich gewesen war, daß wir hatten von dem Lager der Dinarun aufbrechen können, ohne vorher über unsere Gefangenen zu bestimmen. Hierauf fiel mir ein, daß es doch eigentlich geraten gewesen wäre, uns die Leichen oder die Gräber der beim Ueberfalle der Herden ermordeten Wächter zeigen zu lassen. Auch das hatten wir nicht gethan. Wie war es für uns alte, erfahrene, doch sonst so scharfsinnige Leute möglich gewesen, uns solcher Unterlassungssünden schuldig zu machen? Bei Halef war die Krankheit schuld. Was aber bei mir? War ich plötzlich vergeßlich geworden? [199] Hatte ich die Schärfe meiner Denkkraft eingebüßt? Woher kam auch bei mir die sonderbare Müdigkeit, die ich gar nicht beachtet hatte, obgleich sie von Halef schon einige Male erwähnt worden war? Ich befinde mich in dem Besitze einer Konstitution, wie nur selten ein Mensch sie hat. Meine Gesundheit macht für mich den Gedanken, krank zu sein, fast zur Unmöglichkeit. Und wenn ich ja vielleicht einmal unwohl sein sollte, so glaube ich es nicht. Ein Zustand, über welchen andere klagen und sehr besorgt sein würden, ist für mich eine kleine, gar nicht beachtenswerte Unpäßlichkeit, über die ich kein Wort verliere. Nun aber jetzt, da mir der erwähnte Gedanke gekommen war, that ich das, was ich bisher versäumt hatte: Ich nahm nicht Halef, sondern einmal auch mich selbst her, um mich auf mein Wohlbefinden hin zu untersuchen, und da - man lache nicht! - geschah das Unerwartete, daß das „alte, zahnlose Weib“ mir in die Ohren raunte, daß sie auch bei mir zu Gaste sei. Der Gedanke an die Möglichkeit brachte die Erkenntnis der Wirklichkeit. Was ich bisher nicht beachtet, ja fast kaum empfunden hatte, das trat mir jetzt im Handumwenden deutlich ins Gefühl: Mein Kopf war eingenommen, meine Stimmung unlustig, mein Geist ermüdet und mein Körper nicht mehr von der gewohnten Beweglichkeit. Diese Entdeckung machte ich, und kaum hatte ich sie gemacht, so - - so - - - war es mir, als ob in diesem Augenblicke mein Stirnbein doppelt dick geworden sei und mir das Gehirn zusammendränge. Unsinn! Ich, und Kopfschmerzen haben! Geradezu lächerlich! Die reine Einbildung! Aber ich fühle ihn ja! Ist es erlaubt, an Autosuggestion zu glauben? Ich nahm mich zusammen und gab meinem Pferde [200] ganz absichtslos die Sporen, daß es einen weiten Satz vorwärts that. „Was ist's?“ fragte der Hadschi, indem er mir in das Gesicht sah. „Was haben deine Wangen für eine Farbe? Warum sind sie plötzlich eingefallen? Bist du krank?“ „Fällt mir nicht ein!“ lachte ich, ohne aber dabei wirklich heiter zu sein. „Du, verbirg mir nichts! Meine alte Frau hat dich gegrüßt! Das wäre grad das, was uns noch fehlt! Mir ist so heiß, so heiß und so innerlich angst. Ich habe Sehnsucht nach der allergrößten Kälte, die es giebt. Vor meinen Augen drehen sich feurige Räder. Sihdi, wir müssen den Scheik fragen, ob es nicht vielleicht hier in der Nähe Wasser giebt.“ Er trieb sein Pferd an und ritt nach vorn. Ich folgte ihm. Noch ehe wir den Scheik erreicht hatten, rief er ihm zu: „Nafar Ben Schuri, sag, ob es in dieser Gegend irgendwo Wasser giebt!“ „Zum Trinken?“ „Ja, auch! Aber noch viel mehr! So viel, daß man hineinspringen und sich baden kann.“ Da zeigte ich mit dem ausgestreckten Arm rechter Hand nach vorn und sagte: „Dort ragt ein Berg, ganz dunkel blaugrün. Da giebt es Wald, wahrscheinlich sogar Laub-, nicht Nadelwald. Kennst du ihn?“ „Ja“ antwortete der Scheik. „Seine Kuppe trägt Nadelbäume. Weiter unten aber folgen Mürwaran und Dischbudakan1) [1) Persische Erlen und Eschen.]. Wir kommen an seinem Fuße vorbei.“ [201] „Wo Mürwaran stehen, giebt es unbedingt fließendes Wasser!“ „Das giebt es allerdings dort. Es fließt in einen stehenden Weiher. Ich kenne ihn. Wir haben dort gefischt. In etwas über zwei Stunden werden wir ihn erreichen.“ „So spät?“ fragte Halef. „Ja. Die Richtung durch die Luft ist nicht halb so weit; aber wir müssen zweimal tief in Thäler hinab und jenseits wieder hinauf. Der Teich liegt an der westlichen Seite des Berges.“ „Zwei Stunden warte ich nicht. Kommt uns nach! Wir reiten voraus. Du machst doch mit, Sihdi?“ Er berührte, ohne meine Antwort abzuwarten, die Flanken seines Rappen mit den Sporen. Da schoß das edle Tier mit ihm davon, als ob es von einem Bogen abgeschnellt worden sei. Mein Assil Ben Rih folgte augenblicklich, ohne einen Antrieb von mir abzuwarten. Er wußte, daß er mit Barkh zusammengehöre. Es ging zunächst über ebenes Terrain, und da war es eine Wonne, so über dasselbe hinzufliegen, als ob die Hufe den Boden gar nicht berührten. Halef jauchzte auf. Ich ließ ihn voran. Das sollte seinen Ehrgeiz anspornen und seine Energie beleben. Vielleicht hielt er dann aus! Mit abgespanntem Geiste einen Weg von über zwei Stunden zurückzulegen, das hätte ihn vielleicht bis zur Niederlage ermattet. Darum rief ich ihm zu: „Zähle nach, Hadschi, in wieviel Minuten ich dich einhole!“ Da warf er den Arm in die Luft und rief lachend: „Nie, nie! Ich zähle nicht. Es wäre eine Ewigkeit!“ Er legte sich nach vorn. Der Luftzug riß ihm auf [202] der Brust den Burnus auf und schwellte ihn zum Ballon. Da zog er den Saum unter dem Sitz hervor, um ihn fliegen zu lassen. Es sah aus, als ob Roß und Reiter beschwingt seien. Der Boden der Erde schwand förmlich hinter uns. Ich schaute mich um. Die Dinarun hatten ihre Pferde angehalten, um uns erstaunt nachzublicken. Einen solchen Ritt hatten sie wohl noch nicht gesehen. Schon nach kurzer Zeit war die Ebene zu Ende. Nun ging es im Galopp einen sanft ansteigenden Hang hinunter, quer über die Tiefe des Thales und drüben wieder hinauf. Es war eine wahre Wonne, Halef in dieser Weise so leicht, wie von aller Schwere befreit, dahinfliegen zu sehen. Bei so einem echten Beduinenritt haben beide, der Reiter und das Pferd, nur einen einzigen Willen und eine einzige Ehre! Der jenseitige Abfall der Höhe war steiler. Es lagen da Felsenbrocken wie ausgesät, und zwischen ihnen standen vereinzelte Koniferen. Halef mußte da den Rappen zügeln; ich den meinen auch. Mein Assil war ein besserer Kletterer als Barkh. Das edle Tier wollte nicht zurückbleiben, sondern das andere unbedingt einholen; aber sooft wir fast herangekommen waren, ging Halef mir wieder davon. Unten angekommen, griffen die Pferde ganz von selbst wieder in der früheren Weise aus. Mein Assil ließ jenen tiefen, gutturalen Ton hören, welcher ein Zeichen der Ungeduld war. Er ärgerte sich, daß ich ihn zurückhielt. Da gab ich ihm die Zügel frei, richtete mich in den Bügeln auf, um mein Gewicht zu erleichtern, und rief das Wörtchen jallah aus, welches soviel wie „vorwärts“ bedeutet. Das herrliche Geschöpf warf, vor Freude laut wiehernd, den Kopf in die Höhe, ließ ihn wieder sinken, und nun, aber nun war zu sehen, was so ein echtes Vollblut zu leisten vermag, aus freiem [203] Willen, ohne von dem Reiter angetrieben zu werden, und nur aus reinem Ehrgefühl. Es mag Leute geben, für welche dieses Wort zu hoch gegriffen ist. Sie mögen sich ein anderes suchen. Der wahre Tierfreund aber weiß, woran er ist! Die Folge dieses plötzlichen Anlaufes war, daß ich Halef überholte. Da ließ er jenen lauten, scharfen Ton erschallen, welcher sich aus dem „a“ und dem „ch“ zusammensetzt. Der Reiter treibt mit ihm sein Tier zur Eile an, und nur eine arabische Kehle ist im stande, ihn richtig hervorzubringen. Da legte sich Barkh nun wieder in das Zeug, um Assil einzuholen. Ich hatte gar nicht die Absicht, voranzubleiben, sondern ich wollte, daß Halef den Weiher vor mir erreichen sollte. Aber damit war mein Pferd nicht einverstanden. Als ich die Zügel straffer nahm, begann es, zornig zu schnauben. Ich konnte mich durch eine falsche Behandlung um sein Vertrauen, um seine Hingebung bringen; darum hielt ich es für besser, ihm seinen Willen zu lassen. Als wir auf der zweiten Höhe ankamen, hatte der Hadschi mich wieder eingeholt. Sein Gesicht strahlte. Körper, Geist und Seele waren bei ihm in gleicher Spannung. Das war es ja, was ich gewollt hatte! „Sihdi, gieb jetzt zu, daß ich dich besiege!“ rief er mir zu. „Nein!“ antwortete ich. „So paß auf!“ „Du willst doch nicht etwa das „Geheimnis“ anwenden?“ „Nein. Das thun wir ja nur in größter Not. Aber paß auf, ich siege doch!“ Er bog sich so weit wie möglich nach vorn nieder, um in aneiferndem Tone auf das Pferd einzusprechen: [204] „Rascher, rascher, mein Freund! Zeige nun deine Eilfertigkeit, du Edler! Erweise mir die Liebe, schneller zu sein, du liebster aller Lieblinge! Ich bin stolz auf dich! Dein Wert ist unvergleichlich, du größter meiner Schätze! Willst du zugeben, daß ich mich vor dem Sihdi da neben uns zu schämen habe? Du weißt, daß mein Ruhm auch dein Ruhm und deine Schande auch meine Schande ist. Erhöre mich! Meine Liebe wird dir deinen Eifer lohnen. Lauf, o, lauf! Flieg, o, flieg, du meine Freude, meine Wonne, meine Lust! Ich gebe dir eine ganze Handvoll Datteln; die besten, die aller-, allerbesten, die ich habe, die suche ich dir aus! Denke doch, denke doch: Datteln, Datteln, Datteln!“ Das Pferd verstand natürlich nicht den Sinn der Worte, aber die Bedeutung derselben. Das Wort Tamr, Datteln, aber war ihm wohlbekannt. Es senkte den Kopf tiefer und griff noch schärfer aus als bisher. Die Folge war, daß wir genau nebeneinander blieben. Unser Ritt war ein so schneller, daß der Berg, der unser Ziel war, in hoch emporstrebender Bewegung zu sein schien. Auch seine Breite gewann mit jedem Augenblick. Bald trennte uns nur noch eine muldenähnliche, grasige Bodensenkung von ihm. Es ging ventre-à-terre über dieses Gras. Da, rechts, floß Wasser von der Höhe. Saftiges Gebüsch bezeichnete seinen Lauf, bis, zwischen den Stämmen hoher Erlen und Eschen hervor, der Spiegel des Weihers uns entgegenglänzte. „Wasser, Wasser, Wasser! Endlich, endlich!“ rief Halef aus. Er gab seinem Rappen heimlich den Sporn der von mir abgelegenen Seite. Ich merkte das gar wohl an der Bewegung seines Pferdes, sagte aber nichts. Dieser kleine, etwas unehrliche Kniff mochte ihm immerhin gelingen. [205] Barkh schoß infolge desselben mit einemmal vor, und ohne daß mein Assil diesen schnell entstandenen Vorsprung einzuholen vermochte, waren wir am Ziele angelangt. Halef natürlich zuerst. Er wendete sein Pferd herum und fragte: „Nun, Sihdi, wer ist Sieger?“ „Du!“ antwortete ich. „Aber du lächelst ja!“ „Ist die Schande, von dir besiegt worden zu sein, so groß, daß ich weinen soll?“ „Du, Sihdi, verbirg dich nicht! Ich verstehe dieses Lächeln. Ich habe Barkh angetrieben; du aber hast Assil zurückgehalten. Gestehe es! Sei aufrichtig! Thatest du es?“ „Ja,“ antwortete ich. Ich konnte es ehrlich sagen, weil ich meinen Zweck, Halef in Spannung zu halten, doch erreicht hatte. „Also, ich wäre unterlegen, wenn du gewollt hättest?“ „Ja. Ich sage dir das so offen, weil es eine Ehre, ein großes Lob für dich ist.“ „Wieso?“ „Barkh stammt nicht von einem eurer Pferde. Assil ist ihm über, weil er bei euch geboren und von dir erzogen worden ist. Er ist unvergleichlich, weil Rih, sein Vater, unvergleichlich war.“ „Das ist richtig. Deine Worte machen mich stolz, Sihdi. Ich war nicht ehrlich gegen dich. Du sprachst kein Wort zu deinem Hengste; ich aber habe dem meinen zuletzt den Sporn gegeben. Verzeihe mir!“ Wir waren, während wir diese Worte wechselten, abgestiegen. Wie standen unsere Pferde da! Still, als hätten sie sich schon stundenlang hier befunden. Ihr Atem ging ruhig. Es gab keine einzige Flocke Schaum [206] und keine einzige schweißesnasse Stelle ihrer Haut. Wir liebkosten sie. Da faßte Barkh mit den Zähnen Halefs Aermel und ließ ihn nicht wieder los. „Weißt du, was er will?“ lachte der Hadschi. „Die versprochenen Datteln.“ „Ja. Der Mensch hat auch seinen Tieren Wort zu halten.“ Er öffnete den Futtersack und that genau das, was er versprochen hatte: Er suchte eine Handvoll der besten Datteln aus und gab sie dem gedächtnisstarken Mahner. Hierauf sattelten wir die Pferde ab, worauf sie ohne unser Zuthun augenblicklich in das Wasser gingen, bei in der Wüste geborenen Pferden eine Seltenheit! Die An- oder Aufregung war mit dem Ritte vorüber. Die Spannkraft ließ bei Halef schnell und sichtlich nach. Als er nach dem Einflusse des Baches ging, um von dem dort noch klaren und lebendigen Wasser zu trinken, sah ich, daß seine Schritte unsicher waren. Mich selbst überkam ein eigentümliches Gefühl. Es war mir, als ob ich von ebenso unsichtbaren wie unfühlbaren Händen langsam emporgehoben und dann in das Gras gelegt würde. Ich mußte mich setzen. Da begannen die Erlen um mich herum zu tanzen. Mein Kopf kam mir wie eine hohle Kugel vor, die immer größer und leerer wurde. Ich schloß die Augen. Sonderbar: Ich hörte mit den von ihm doch so entfernten beiden Ohren ganz deutlich das Klopfen meines Herzens. Jemand ergriff meine Hand. „Sihdi, Sihdi, was ist mit dir? Die Haut deines Gesichtes sieht wie Erde aus! Warum hast du die Augen zu?“ Es kostete Mühe, sie zu öffnen. Halef stand gebückt vor mir. Aus seinem Blicke sprach die Angst, die auch [207] in seiner Stimme klang. Das half. Ich sprang auf und antwortete: „Es war ein Tanz der Bäume um mich her, den ich vorüberlassen wollte.“ „Ganz wie jetzt oft bei mir! Die Gegend, durch welche wir kamen, drehte sich im Kreise; der Kopf schmerzte, und alle Eingeweide meines Innern wollten sich empören. Es hat mich alle meine Kraft gekostet, dir das zu verbergen und mich aufrecht zu halten. Allah verderbe dieses alte Weib! Kann sie sich nicht mit mir zufrieden geben? Bin ich ihr nicht genug, ich, der berühmte Scheik der Haddedihn, dem Tausende von tapferen Kriegern gehorchen? Muß sie ihre unbeschnittenen Fingernägel auch nach dir ausstrecken? Sie allein ist schuld, daß alles um uns tanzt! Wenn ich sie doch sehen und fassen könnte! Es sollte ihr vergehen, mit solchen Männern sich derartige Scherze zu erlauben. Komm und trink Wasser! Das kühlt das Blut und ärgert dieses Weib!“ Er behielt meine Hand zärtlich in der seinen und führte mich dorthin, wo er getrunken hatte. Er, der Kranke, leitete mich! Was sollte daraus werden! Es galt, mich zusammenzunehmen! Ich trank, trank und trank in langen Zügen. Ich fühlte förmlich die kühle Woge, die dabei langsam und kräftigend durch meinen Körper und meine Glieder ging. Als ich mich dann aufrichtete, war mein Auge wieder klar. „Und nun komm, wir müssen baden,“ forderte mich Halef auf. „Aber ja nicht entfernt voneinander. Wir haben beisammen zu bleiben, damit wir einander helfen können, falls auch das Wasser um uns tanzen sollte.“ Eine hierzu geeignete Stelle war bald gefunden. Ich stieg zuerst in die für uns jedenfalls außerordentlich wohlthätige Flut. Sie war am Rande seicht, wurde [208] aber bald sehr tief. Ich schwamm hinaus. Das war nach dem kaum vorübergegangenen Schwindelanfalle vielleicht eine Unvorsichtigkeit, aber ich nahm an, daß diese Bewegung mir nützlich sein werde. Jedoch nicht lange, so kehrte ich um. Ein Luftzug kräuselte die Oberfläche des Wassers, und dieses Kribbeln und Krabbeln und Flimmern und Funkeln ging mir durch das Auge ins Gehirn. Ich fühlte mich unsicher. Als ich wieder Grund gewann, mußte ich nach Halef suchen. War er denn noch nicht im Wasser? Da wurde ich durch eine Bewegung aufmerksam gemacht. Ich näherte mich der betreffenden Stelle. Da lag er, lang ausgestreckt, den Kopf hintenüber gebeugt, so daß nur Mund und Nase außerhalb des Wassers waren. Diese Situation war eine spaßhafte; aber das Lachen verging mir, als ich vollends herankam und den Körper sah. Der ganze Leib war voller Flecken, die eine livid-dunkle Färbung hatten. Typhus! Wirklich und wahrhaftig Typhus! War es denn eine Menschenmöglichkeit, daß sich jemand bis zu diesem vorgeschrittenen Stadium der Krankheit aufrecht halten und zuletzt sogar noch einen solchen Parforceritt mitmachen konnte?! Ein Kind der sogenannten „Zivilisation“ hätte das gewiß nicht fertig gebracht! Nur der durch und durch kerngesunde, abgehärtete Körper des enthaltsamen Nomaden, der die Laster und entnervenden Genüsse der „höher stehenden“ Intelligenz nicht kennt, kann eine solche Gegenkraft und Widerstandsfähigkeit zeigen. Neben diesen körperlichen Eigenschaften hatten auch die seelischen des kleinen Hadschi das Ihrige dazu beigetragen, daß er nicht schon längst zusammengebrochen war. Vielleicht hatten auch rein geopraphische Faktoren mitgewirkt. Aber mochte das sein, [209] wie es wollte, die Thatsache war jetzt da. Sie lag vor meinen Augen da im Wasser, bedeckt mit Petechien, deren vorher scharfe Ränder schon begannen, ineinander überzugehen. Als ich das sah, that mein Kopf mir plötzlich weh, und es ging, mich schüttelnd, ein Frost durch meine Glieder. Da kam Halefs Kopf schnell ganz nach oben. „Du frierst, Sihdi? Ich sehe es!“ sagte er. „Geh du ans Land! Ich werde noch liegen bleiben.“ „Das ist schon vorüber,“ antwortete ich. „Aber, Freund, wie siehst du aus?“ „Gefleckt wie ein Leopard! Nicht wahr? Aber, aber - - was sehe ich da?“ Er erhob sich ganz, zeigte auf meine Brust und fuhr fort: „Da ist es auch bei dir! Genau so hat es bei mir angefangen!“ Ich schaute an mir hernieder. Was ich vorher noch nicht bemerkt hatte, das sah ich jetzt: auch ich hatte Flecken, allerdings noch klein. Sie lagen unterhalb der Schlüsselbeine. „Bist du erschrocken?“ fragte der Hadschi. „Warum schweigst du? Warum sagst du nichts? Ist es eine Krankheit? Eine schwere oder eine leichte? Kennst du sie?“ „Ich kenne sie, Halef,“ antwortete ich. „Und damit du keine Fehler machst, muß ich aufrichtig mit dir sein. Sie ist fast ebenso gefährlich und langwierig wie die Pest, welche uns damals dem Tode nahe brachte. Von zehn Kranken sterben zwei - -“ „Aber warum sollen grad wir diese beiden sein?“ unterbrach er mich. „Es mögen nur erst noch die acht anderen kommen! Eher mitzurechnen, fällt mir gar nicht ein!“ „Auch ich hoffe, daß wir dem Schlimmsten entgehen. [210] Wir sind beide in Beziehung auf unsere Gesundheit keine Durchschnittsmenschen; also können die von mir erwähnten Ziffern nicht für uns gelten. Glücklicherweise bin ich im Besitze der besten Gegenmittel, Kampher und Chinin. Kalte Bäder müssen wir haben. Wenn es mir in den Sinn kommt, bleiben wir gleich hier. Unser Leben muß uns ebenso teuer sein, wie die Pflicht der Gastlichkeit. Aber wo nehmen wir die Pflege her, die uns so nötig ist?“ „Daher, von wo sie uns damals gekommen ist, vom Himmel Allahs, der uns nie vergessen hat und nie vergessen wird. Mein guter, mein lieber Sihdi, denke doch daran, daß wir auch damals keinen Menschen hatten, der sich unser annehmen konnte. Wir lagen in der größten Einsamkeit, unter uns die pesthauchende Erde, doch über uns das große, lichte Zelt, von welchem alle Engel auf uns niederschauten. Sie kamen mir im Traume, und auch im Wachen dachte ich an sie. Sind wir nicht gesund geworden ohne alle andere als allein nur ihre Hilfe?“ „Ja, du Wackerer, du Treuer! Sie haben uns gepflegt, erst dich durch meine und dann mich durch deine Hand, obgleich diese unsere Hände so schwach, so hager, so elend waren.“ „So werden sie es jetzt auch wieder thun! Oder glaubst du das nicht?“ „Ich glaube es. Aber damals wurde ich erst dann von der Pest ergriffen, als du bereits wieder am Gesunden warst. Jetzt jedoch werden wir wahrscheinlich zu gleicher Zeit - -“ „Zu gleicher Zeit?“ unterbrach er mich. „Fällt uns gar nicht ein! Wenn dieses alte Weib etwa denkt, daß alles genau so zu gehen hat, wie sie es will, da irrt [211] sie sich! Wir haben doch auch unsern Willen! Und den setzen wir durch! Es kommt mir gar nicht in den Sinn, daß wir miteinander krank werden! Wenn wir es nicht nacheinander werden können, so werden wir es lieber gar nicht! So lange der eine krank ist und der Pflege bedarf, hat der andere gesund zu bleiben! Der Anfang hierzu ist ja schon ganz richtig eingetreten! Diese Flecken haben sich bei mir eher eingestellt als bei dir. Die Höhe der Krankheit wird also nicht zu gleicher Zeit eintreten. Vor dieser Höhe aber lege ich mich nicht nieder! Ehe es mich nicht mit tausend Armen packt, habe ich den Dinarun Wort zu halten.“ „Halef - - -!“ „Sihdi - - -! Ich weiß, was du sagen willst. Morgen aber werden wir im ‚Thale des Sackes‘ sein, und wir sind nicht derart krank, daß wir hier liegen bleiben müssen. Uebermorgen ist der Kampf vorbei, und dann werde ich ohne Widerstreben thun, was du bestimmst. Bleiben wir hier zurück, so ziehen die Dinarun nicht als unsere Freunde, sondern als unsere Feinde weiter und kommen, sobald wir hilflos sind, zurück, um sich zu rächen. Hilflos! Das war ja das Wort des Scheiks. Lassen wir es nicht zur Wahrheit werden, Sihdi!“ Dieser Beweis hatte Hand und Fuß. Wie freute ich mich darüber, daß seine Denkkraft sich noch so scharf erwies! War das dem Einflusse des kalten Bades zuzuschreiben? Ich legte mich zu ihm, denn auch ich empfand, daß das Wasser wohlthätig auf mich wirkte. Unsere Pferde weideten draußen im saftigen Grase, ein lange entbehrter Genuß für sie. Die Schatten der hohen Eschen deckten uns so, daß uns der heiße Strahl der Sonne nicht belästigen konnte. Wir fragten nicht danach, ob ein zu langes Verweilen im Wasser uns schaden könne, [212] und verließen es erst dann, als wir anzunehmen hatten, daß die Dinarun nun bald eintreffen würden. Als sie sich hierauf einstellten, standen wir schon zur Fortsetzung des Weges bereit. Natürlich aber hielten nun auch sie erst Rast, auf welche jedoch nur eine halbe Stunde verwendet wurde. Dann ging es weiter, wobei wir uns, wie vorher, am Ende des Zuges hielten. Es war während dieses Aufenthaltes der Dinarun am Deiche zwischen uns und dem Scheik kein Wort gesprochen worden. Für seine Leute hatten wir freundliche Augen und höfliches Benehmen, aber auch keine Reden gehabt. Das höchst fatale Wort „Mißtrauen“ verschloß ihm und uns den Mund. Wir bemerkten mit Genugthuung, daß wir uns jetzt in einer wasser- und darum wald- und weidereicheren Höhenzone befanden. Das war ein Umstand, der uns Beruhigung gewährte. Uebrigens schien die Wirkung des Bades auf uns eine ganz verschiedene zu sein. Ich fühlte mich gekräftigt, während Halef mir mitteilte, daß er sehr ermüdet sei. Er war kalte Bäder nicht gewohnt, und das heutige hatte wohl eine zu lange Dauer für ihn gehabt. Später sah ich, daß er sich schüttelte. Die Sonne schien noch warm auf uns nieder, und darum nahm ich an, daß diese seine Bewegung eine rein zufällige sei. Als sie sich aber wiederholte, gestand er mir auf meine Frage, daß er von einem inneren Frost geschüttelt werde, und bat mich wieder um Chinin. Ich hielt es für geraten, ihm dieses Mittel jetzt vorzuenthalten und schlug ihm eine Wiederholung unseres Wettrennens vor. Sofort richtete er sich munter im Sattel auf und sagte: „Ich bin mit Freuden einverstanden, Sihdi. Aber ich mache eine Bedingung.“ [213] „Welche?“ „Daß wir die Pferde wechseln!“ Welch ein kleiner Schlaumüller! Ich erklärte mich selbstverständlich bereit dazu und gab ihm meinen Assil, während ich seinen Barkh bekam. Am liebsten hätten wir auf diesem Ritte den Weg eingeschlagen, den wir überhaupt zu nehmen hatten, wären da aber zu Fragen an den Scheik gezwungen gewesen, der mit uns schmollte. Wir beschlossen also, eine andere Richtung zu nehmen, und zwar rund um einen Berg, welcher zur Linken vor uns lag. Wir mußten, wenn wir ihn umritten hatten, wieder auf die Dinarun, und wenn nicht auf sie selbst, so doch auf ihre Spuren stoßen. Wir riefen also Nafar Ben Schuri zu, was wir beabsichtigten, und wollten schon die Pferde antreiben, da antwortete er: „Bleibt doch hier! Dort, jenseits des von euch erwähnten Berges, liegt ja der Kreuzungspunkt, auf welchem meine Krieger auf uns warten.“ „Das ist für uns kein Grund, uns in eure Langsamkeit zu fügen. Ihr kennt ja nun die Schnelligkeit unserer Pferde. Wahrscheinlich sind wir eher dort als ihr.“ „Aber ihr kommt gewiß?“ „Ja.“ „Schwöre es mir!“ „Was fällt dir ein! Einen Schwur giebt es selbst für viel wichtigere Dinge bei uns nicht. Du hast mein Wort, und das muß dir genügen!“ Nun ritten wir fort, aber zunächst langsam, denn Halef hatte eine Mitteilung auf seinem Herzen: „Er ist mißtrauisch, Sihdi.“ „Und beleidigend,“ fügte ich hinzu. [214] „Ja, es war eine Beleidigung, einen Schwur zu verlangen. Wir müssen ihm von großem Werte sein.“ „Das scheint freilich so!“ „Hast du eine Ahnung, warum?“ „Ja.“ „Welche?“ „Es ist eben nur eine Ahnung, das heißt, etwas Unklares. Von Wert sind wir ihm als Helfer gegen die Dschamikun. Er weiß, daß er sich auf unsere Erfahrung und auf unsere Fertigkeit im Schießen mehr verlassen kann, als auf sich selbst und alle seine Leute. Das hat er uns ja schon gesagt, ohne es eigentlich sagen zu wollen. Aber diese Betrachtung genügt mir nicht, verschiedenes zu erklären, was mir aufgefallen ist.“ „Was?“ „Er trachtet so auffallend und eifrig darnach, die Geheimnisse unserer Waffen und unserer Pferde kennen zu lernen. Warum? Diese Geheimnisse haben doch nur für den Besitzer Wert. Hat er etwa die Absicht, unser Eigentum an sich zu reißen?“ „Sihdi!“ rief Halef überrascht. „Ist er etwa unser Feind, der nach den Pferden und Gewehren trachtet, die ihm aber ohne vorherige Aufklärung unnütz sind? Und giebt er nur deshalb vor, unser Freund zu sein, weil er auf diesem Wege die Geheimnisse zu erfahren hofft? Wird er dann, sobald er sie kennt, uns sein richtiges Gesicht zeigen - - das Gesicht eines Räubers und Mörders?“ „Sihdi! Kann ein Mensch von so bodenloser Schlechtigkeit sein?“ „Das fragst du und hast doch schon solche Menschen kennen gelernt!“ [215] „Wie thöricht wäre ich gewesen, wenn du recht hättest!“ „Tröste dich! Auch ich habe keineswegs klug gehandelt. Wir haben die größte Vorsicht zu beobachten. Das ist um so schlimmer für uns, als wir von der Krankheit jeden Augenblick niedergeworfen werden können.“ „Du, Sihdi, die Krankheit ist nun bei mir Nebensache! Seit du deine Befürchtung ausgesprochen hast, giebt es für mich nicht eher Zeit, krank zu sein, als bis wir wissen, woran wir mit diesem Nafar Ben Schuri sind. Ist jetzt noch etwas zu besprechen?“ „Nein.“ „So wollen wir beginnen. Zu gleicher Zeit. Paß auf! Eins - - zwei - - - drei!“ Bei „drei“ begann die Jagd nach der Ehre, welche, wie ich wollte, dem Scheik der Haddedihn zufallen sollte. Leider sollte sie ihm nicht vergönnt sein, aber auch mir nicht. Es wurde eine ganz andere Jagd daraus. Wir hatten uns von den Dinarun auf einem Plateau getrennt, von welchem wir hinunterritten, um an den Fuß des Berges zu gelangen, den wir halb umkreisen mußten. Unten angekommen, sahen wir, daß sich das Terrain zunächst so sehr verengte, daß wir gezwungen waren, langsam zu reiten. Wir hatten uns vorsichtig durch ein fast unzugängliches Felsengewirr zu winden, wo es aber doch Spuren davon gab, daß zuweilen Menschen hier vorüberzukommen pflegten. Diese Enge trat dann mit einem Male weit auseinander, um sich in das Thal zu öffnen, dem wir rund um den Berg zu folgen hatten. Grad als wir aus ihr hervor wollten, tauchten kaum zwanzig Schritte entfernt zwei Reiter vor uns auf, welche da hineintrachteten, wo wir herauskamen. Und wer waren sie? [216] Sallab, der Fakir! Er ritt eine braune Stute, die sichtlich ein Pferd allererster Rasse war, jedenfalls „Sahm“, dem Ustad angehörig. Sein Begleiter, ein jüngerer Mann, sichtlich auch ein Fakir und ebenso unbewaffnet wie Sallab, saß auf einem dunkeln, halbedlen Hengste. Beide erschraken, als sie uns erblickten. „Die Dschamikun [Dinarun]!“ rief Sallab aus. „Nein, nur wir!“ antwortete ich. „Ihr beide allein?“ „Ja.“ „Das glaube euch der Scheitan! Komm! Zurück, zurück!“ Er wendete sein Pferd und jagte fort. Der andere folgte ihm. „Sihdi, was ist - - -“ rief Halef. „Still! Kein unnützes Wort!“ unterbrach ich ihn. „Diese beiden Fukara1) [1) Plural von Fakir.] sind die Schlüssel zum Rätsel, welches zu lösen ist. Wir müssen sie unbedingt haben!“ „Auch mit Gewalt?“ „Ja, wenn sie sich wehren! Nimm du den andern; ich fasse Sallab. Aber seine Stute ist pfeilschnell. Gieb mir meinen Assil! Jeder sein Pferd, welches er kennt. Rasch, rasch!“ Wir sprangen ab und wechselten die Tiere. Dann ging es vorwärts, hinter den Fliehenden her. „Nimm dich in acht!“ rief ich Halef noch zu. „Sie könnten doch verborgene Waffen bei sich führen!“ „Keine Sorge, Sihdi! Hamdulillah! Endlich, endlich einmal eine Hetze, eine wirkliche, wahrhafte Hetze! Wohlan! Jallah, jallah, jallah!“ Das Umtauschen unserer Pferde hatte keine Minute [217] in Anspruch genommen, dennoch waren die Fukara schon weit von uns entfernt; Sallab ritt voran. Wie die Sache lag, durfte ich mich auf keine lange Jagd einlassen. Da der Kreuzungspunkt jenseits des Berges lag, konnten die Dschamikun in der Nähe sein. Wir mußten die Flüchtlinge also so bald wie möglich fassen. „Assil - - Assil! Ramchchchchch, ramchchchchch!“ Das war die Aufforderung zum schnellsten Galopp. Ich streichelte ihm den Hals. Er flog. Die Vorderhufe berührten noch den Boden, so griffen die hinteren schon vor. Es war eine Lust, dieses Gefühl, als ob man nur den freischwebenden Sattel und gar kein sich bewegendes Tier unter sich habe! Ich kam den beiden Fukara schnell näher. Da sah Sallab sich um. Ich hörte, daß er einen Schrei ausstieß. Er trieb sein Pferd an; es vergrößerte die bisherige Schnelligkeit. Der andere schlug auf das seine ein, blieb aber zurück. Nach kurzer Zeit hatte ich ihn erreicht. Indem ich an ihm vorüberflog, that ich das so nahe, daß ich ihn erreichen konnte. Er saß halb nach vorn gebeugt. Ich stieß ihm die Faust in die Seite. Die Kraft meines Stoßes wurde durch Assils ungemeine Schnelligkeit verdoppelt. Der Fakir flog aus dem Sattel, und hinter mir erscholl die Stimme Halefs: „Ich ergreife ihn! Ich halte ihn! Ich bringe ihn. Schau nur noch nach dem andern, Sihdi!“ Ich sah gar nicht nach dem Hadschi zurück, denn ich wußte ja, daß er thun werde, was ich erwartete. Aber Sallab schaute sich wieder um, und da er mich in solcher Nähe hinter sich sah, mußte er erkennen, daß ich ihn in einer Minute eingeholt haben werde. Ich behielt ihn scharf im Auge und sah, daß er dreimal mit beiden Händen auf beide Halsseiten seines Pferdes schlug und [218] dabei ein Wort ausrief, welches ich nicht verstehen konnte. Sollte dies das Geheimnis der Stute sein? War dieser Fakir ein solcher Freund und Vertrauter des Ustad, daß dieser es ihm mitgeteilt hatte? Meine Frage wurde sofort beantwortet: Die Stute lief nicht mehr, sondern sie raste! Es war das Geheimnis gewesen. Kaum hatte er es gegeben, so war seine Entfernung von mir schon verdoppelt. Ich mußte also auch das meinige anwenden. Indem ich mich weit vorbog, legte ich Assil die Hand zwischen die Ohren und sagte dreimal seinen Namen. Dieses Zeichen war gewählt worden, weil es sehr schwer auszuführen ist. Nur ein Reiter, welcher eines arabischen Renners würdig ist, wird es fertig bringen, im schärfsten Galoppe die Ohren seines Pferdes mit der Hand zu erreichen. Die Wirkung war eine großartige. Zunächst schien es für einen Moment, als ob Assil haltenbleiben wolle. Es ging wie ein Zittern durch seinen ganzen Körper. Dann ließ er ein tiefes, schnaubendes Stöhnen hören, ein Stöhnen dankbarer Willensfreudigkeit. Und aber nun - - - nun kam es mir vor, als ob die Beine nicht mehr zu sehen seien, so unglaublich schnell bewegten sie sich. Die Büsche und Bäume flogen förmlich an mir vorüber. Der Boden des Thales kam wie auf einer sich drehenden Walze auf mich zugeflossen, um hinter mir zu verschwinden. Die stehende Luft des Thales wurde in blasenden Wind verwandelt. Meine Bewegung glich nicht mehr einem Ritte, sondern einem horizontalen Fallen. Ich konnte nicht anders: ich jauchzte auf, worauf Assil schnaubend frohe Antwort gab. Das war ein ganz anderes Wettreiten, als ich mit Halef beabsichtigt hatte! Die berühmte, pfeilschnelle Stute [219] des Ustad und das beste Blut der Haddedihn im Kampfe gegen einander! Nicht im Scherz, sondern im Ernste! Beide mit geöffneten Geheimnissen und sich anstrengend, ihr Bestes, ihr Alles herzugeben! Wer wird siegen? Diese Frage blieb mir höchstens eine Viertelminute lang eine Frage. Sie verwandelte sich in die Antwort, als ich sah, daß das Geheimnis die Stute aufgeregt hatte. Das Spiel ihrer Glieder war von wunderbarer Leichtigkeit, aber nicht regelmäßig. Sie zeigte bald die rechte, bald die linke Flanke. Bald sah ich ihren Kopf auf dieser, bald auf jener Seite. Schon nach kurzer Zeit kam es mir vor, als ob sie sich nicht immer gleich, sondern in bemerkbaren Pulsen vorwärts bewege. Wahrscheinlich hatte man sie seit langem nicht mehr geübt, im Geheimnisse zu rennen, und darum wurde ihr nun jetzt die Lunge kurz und schwer. Dazu kam, daß der Reiter kein Mann für ein Pferd dieser Gattung war. Ob man überhaupt gewohnt ist, einen Fakir reiten zu sehen, mag hier Nebensache sein. Mit Sallab mußte es in dieser Beziehung eine ganz besondere Bewandtnis haben. Aber er saß jetzt während des Geheimnisses nicht anders als bei einem ganz gewöhnlichen Galopp im Sattel. Ich vermutete, daß er seine eigne Lunge nicht zu regulieren und dem Pferde überhaupt keine Erleichterung zu geben wisse. Eine innere Fühlung zwischen ihm und dem Tiere gab es nicht, denn ich sah, daß er, um Steinen und anderen Hindernissen auszuweichen, die Zügel zu Hilfe nahm. Das thut man doch nicht, wenn die Energie des Reiters mit der seines Pferdes in guter, innerlicher Verbindung steht! Wie wunderbar glatt und gleich ließ dagegen Assil seine Kräfte spielen. Das war es ja: es glich einem Spiele, keiner Anstrengung. Es war, als ob er nicht [220] mehr Körper, sondern nur noch Willen sei. Er ging über Löcher und Steine hinweg, oder er vermied sie, ohne daß seine Rückenlinie sich dabei zu heben oder zu senken schien. Der Schlag seiner Hufe wettete an Regelmäßigkeit mit dem Ticken einer Uhr. Die Mitte seiner Stirn wich keinen Augenblick lang und keinen Zoll breit von der Gesamtrichtung seines Körpers ab. Von seinem Atem war kein Hauch zu spüren. Die Schnelligkeit, von der ich vorhin sprach, war nicht mehr da; an ihre Stelle war die Unbegreiflichkeit getreten. So kam ich dem Fakir näher und immer näher. Er drehte sich immer öfter um und begann, das Pferd zu schlagen. Ich war kaum zehn Längen hinter ihm, als er die Unvorsichtigkeit beging, es auch noch mit den Füßen zu bearbeiten. „Halt ein!“ rief ich ihm zu. „Im Geheimnisse schlägt und stößt man nie ein Pferd!“ Kaum hatte ich dies gesagt, so bewahrheitete es sich. Die Stute gab ihre Windeseile auf, fiel in Galopp, that einen Seitensprung, einen zweiten wieder zurück, und - - - der Fakir flog aus dem Sattel! Ich schoß sofort weit über ihn hinaus, gab aber schnell das Zeichen und nahm mit dem Zurufe Andak!1) [1) Halt!] das Geheimnis wieder zurück. Fast noch im Fluge ging Assil einen Bogen, fiel dabei durch Galopp und Trab in Schritt und blieb da stehen, wo der Fakir von der Erde aufstand und sich prüfte, ob und wo er vielleicht Schaden genommen habe. „Warum bist du vor uns geflohen?“ fragte ich ihn, indem ich abstieg. „Sihdi, dein Pferd ist kein Pferd, sondern ein Dschinni2) [2) Geist, überirdisches Wesen.]!“ antwortete er. [221] „Ich habe dich nicht nach meinem Pferde gefragt! Bist du verletzt?“ „Nein. Allah sei Dank!“ „So hole Sahm herbei!“ „Sahm?“ fragte er erstaunt. „Du kennst den Namen dieser Stute?“ „Ich weiß noch mehr, mehr als du denkst. Aber eins weiß ich nicht und kann es nicht begreifen: Warum bist du vor uns erschrocken und hast die Flucht ergriffen?“ „Weil - - weil - -“ Er sprach nicht weiter, sah mir forschend ins Gesicht und senkte dann den Kopf. Da trat ich nahe zu ihm hin und sagte: „Du scheinst früher von dem Scheik der Haddedihn und mir gehört zu haben?“ „Ja.“ „Gutes oder Böses?“ „Nur Gutes.“ „Und hältst uns doch für schlimme Menschen?“ „Nein.“ „Doch! Denn gute Menschen flieht man nicht!“ „So lange sie gut sind, ja!“ „Sind wir es etwa nicht mehr?“ „Ist der Mensch noch gut, wenn er sich in den Dienst der Bösen stellt?“ „Meinst du die Dinarun?“ „Ja.“ „Wir stehen nicht in ihrem Dienste!“ „Aber in ihrer Freundschaft. Und die Freundschaft solcher Leute macht den besten Ruhm zunichte.“ „Deine Worte klingen mir unverständlich; aber sie haben große Aehnlichkeit mit der Warnung, die mir meine Ahnung gab. Vor allen Dingen muß ich dir [222] sagen, daß wir nie beabsichtigt haben, die Freunde böser Menschen zu sein - - -“ Ich wurde unterbrochen, weil Halef kam. Er ritt neben dem andern Fakir. Beide unterhielten sich, als ob sie sich im herzlichsten Einverständnisse miteinander befänden. Sobald er mich erblickte, rief er mir zu: „Assil hat gesiegt?“ „Ja,“ antwortete ich. „Ich wußte es! Warte, was ich dir zu sagen habe, Sihdi! Es ist von größter Wichtigkeit.“ Er trieb seinen Barkh an, sprang, als er uns erreicht hatte, ab und fuhr eifrig fort: „Hier werden wir uns niedersetzen, um Beratung zu halten. Weißt du, Sihdi, wer und was unsere Dinarun sind?“ „Nun?“ „Wir sind dumm gewesen, ganz unendlich dumm! Sie sind gar keine Dinarun, sondern Ausgestoßene, Ausgestoßene aus allen Stämmen, die es in dieser Gegend giebt. Jeder Mensch, der ein Verbrechen, eine schlechte That begangen und sich mit Schande beladen hat, geht zu ihnen, um sich ihnen anzuschließen. Sie leben nur von Diebstahl, von Raub und ähnlichen Unternehmungen. O, Sihdi, wir haben diesen Leuten ein Vertrauen geschenkt, welches sie gar nicht verdienen. Du bist zwar ein ganz klein wenig klüger gewesen als ich, aber sehr viel trägt das auch nicht aus. Ich möchte dir eine Ohrfeige geben, mir selbst aber zehn oder zwanzig oder auch fünfzig. Aber weil ich dich viel zu sehr achte und liebe, als daß ich sie dir wirklich geben könnte, so muß ich natürlich auch auf meine fünfzig verzichten!“ Sein Aerger war sehr echt, denn ohne diese Echtheit wäre es ihm, der so viel auf seine persönliche Ehre hielt, [223] gar nicht eingefallen, in Gegenwart der beiden Fukara so despektierlich von sich selbst zu sprechen. Was mich betrifft, so war es mir willkommen, endlich Klarheit zu erlangen; aber ich wollte vermeiden, eine begangene Unvorsichtigkeit durch eine zweite, vielleicht noch größere wieder gutmachen zu wollen. Darum fragte ich ihn: „Weißt du gewiß, daß unsere bisherigen sogenannten Freunde keine Dinarun sind?“ „Ja.“ „Wer hat es dir gesagt?“ „Dieser Fakir.“ Er deutete auf ihn. „Und du glaubst ihm?“ „Natürlich! Unter Fukara darf keine Lüge sein!“ „Das ist erstens nicht ganz richtig, und zweitens muß ich dich fragen: Könntest du darauf schwören, daß diese beiden Fukara wirkliche Fukara sind?“ „Maschallah! Welche Frage! Richte sie doch nicht an mich, sondern an sie selbst!“ Da wandte ich mich an Sallab: „Sei aufrichtig! Meine Frage soll der Prüfstein deiner Ehrlichkeit sein. Bist du ein Fakir?“ Da antwortete er: „Du bist Kara Ben Nemsi, der Mann aus Dschermanistan, und wir wissen, daß aus Dschermanistan nie ein böser Mensch zu uns gekommen ist. Darum will ich ehrlich sein. Ich bin kein Fakir und dieser mein Begleiter ist auch keiner!“ „So heißest du gar nicht Sallab?“ „Nein.“ „Wie denn?“ „Ich legte mir aus guten Gründen den Namen des bekannten Fakirs bei. Aber wer ich eigentlich bin, das [224] darf ich dir so lange nicht sagen, als du dich für verbunden hältst, diesen Räubern Unterstützung zu erweisen.“ „Haben sie uns belogen, so ist das, was wir ihnen versprochen haben, so gut wie nicht gesprochen!“ „Nun, sie haben euch belogen!“ „Kannst du das beweisen?“ „Beweisen? Was verlangst du für Beweise?“ Ich muß gestehen, daß er mich mit dieser Frage in Verlegenheit brachte. Ich antwortete ihm: „Sie haben sich als Dinarun bezeichnet, und du behauptest, daß sie keine seien. Du selbst aber gestehst ein, daß du als Fakir Sallab eine Lüge seist. Von dir ist die Unwahrheit erwiesen, von ihnen aber nicht.“ Wir hatten uns niedergesetzt, alle vier. Der Alte senkte den Kopf, sah einige Zeit sinnend vor sich nieder, hob ihn dann wieder und fragte: „Ihr seid mit denen, die sich Dinarun nennen, gegen die Dschamikun ausgezogen. Wir sind Dschamikun. Ihr habt uns gefangen. Was werdet ihr mit uns thun?“ „Wir lassen euch frei. Ihr könnt reiten, wohin ihr wollt.“ „Gleich jetzt?“ „Ja.“ „Reiten?“ „Natürlich!“ „So wollt ihr nicht wenigstens unsere Pferde als Beute behalten?“ „Nein.“ „Aber bedenke, was für ein Pferd die Stute ist!“ „Kein Mann aus Dschermanistan wird jemals in euer Land kommen, um Beute zu machen!“ „So segne dich Allah, und so segne er auch alle, welche in deiner Heimat dieses menschenfreundlichen Ge- [225] dankens sind! Du hast dich soeben als ein Mann erwiesen, der das, was er zu sein vorgiebt, auch wirklich ist, nämlich ein Christ. Die Nächstenliebe und Selbstlosigkeit, welche Isa Ben Marryam1) [1) Jesus, Mariens Sohn.] von allen fordert, die sich nach seinem Namen nennen, ist bei dir nicht bloß ein leerer Schall, sondern sie leitet dein Leben, dein Reden und dein Thun. Ich aber kann dir leider jetzt, in diesem Augenblicke, nicht den von dir geforderten Beweis erbringen, daß das, was ich sage, mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Erst die Thatsachen des morgenden Tages werden dir zeigen, daß du mir heute Vertrauen schenken konntest. Wäre dieser Nafar Ben Schuri im gegenwärtigen Augenblick hier bei uns, so würde er eingestehen müssen, daß ich die Wahrheit über ihn gesprochen habe. Du sollst von mir erfahren, was diese Wahrheit sagt.“ Er machte eine kleine Pause und fuhr dann fort: „Nafar hat als Oberster der Ausgestoßenen unten in Bagdad und Bassora Späher, von denen er alles für ihn Wichtige erfährt, was dort geschieht. Von ihnen kam die Kunde von euren herrlichen Pferden, von den unvergleichlichen Gewehren, welche euch beiden die Stärke eines ganzen Stammes verleihen. Man teilte ihm mit, daß ihr kommen würdet, und er nahm sich vor, euch diese Schätze abzunehmen. Er ließ euch unterwegs beobachten, ohne daß ihr es bemerktet. So erfuhr er, wann und wo ihr kamt. Euch offen zu überfallen, das wagte er nicht, weil er eure Waffen fürchtete. Darum entschloß er sich zur List. Ihr solltet seine Gäste sein und einen Schurb en Nom2) [2) Trunk des Schlafens.] von ihm bekommen.“ „Bei ihm? Von ihm?“ unterbrach ihn Halef. „Das war doch nicht bei ihm!“ [226] „Höre mich nur weiter!“ antwortete der Alte. „Man hatte am Wasser auf euch gewartet, weil anzunehmen war, daß ihr dort bleiben würdet. Ihr kamt. Man stellte sich bescheiden; man hütete sich, euch durch Aufdringlichkeit mißtrauisch zu machen. Darum war man in Verlegenheit, wie man euch den Schurb en Nom werde beibringen können. Da aber batet ihr selbst um Kaffee. Man that den schon bereitgehaltenen Afiun1) [1) Opium.] hinein und gab euch das Getränk, welches ihr trotz seiner Bitterkeit bis auf den letzten Tropfen zu euch nahmt. Dann schlieft ihr ein. Man wollte euch nur berauben, nicht ermorden. Aber selbst als ausgeraubte Männer hatte man euch zu fürchten, eurer Erfahrung, eurer Klugheit, eurer Kühnheit wegen. Darum mußtet ihr über die, welche euch den Trank der Schläfrigkeit reichten, im Irrtum sein; also ließ sich Nafar Ben Schuri gar nicht bei euch sehen, und darum lauerte er nicht mit allen seinen Leuten auf euch, sondern er schickte nur wenige Männer an das Wasser, welche dann nach vollbrachter That leicht verschwinden konnten. - - - Diese That gelang, und der darauffolgende Regen deckte sogar ihre Spuren zu. Aber als man eben begonnen hatte, des vollbrachten Raubes froh zu werden, mußte man die Vergeblichkeit desselben erkennen. Eure Gewehre gingen von Hand zu Hand, doch niemand konnte entdecken, auf welche Weise man mit ihnen zu schießen habe. Sie waren für die Unwissenheit wertlos. Und eure Pferde ließen keinen Reiter aufsitzen. Man wollte sie zwingen, doch war die Folge, daß dabei zwei Männer verletzt wurden. Es galt also, die Geheimnisse der Pferde und der Waffen zu erfahren, und das konnte nur durch euch erreicht werden.“ [227] „Allah, wallah, tallah!“ rief Halef zornig aus. „Wir werden diesen Schurken unsere Heimlichkeit derart offenbaren, daß ihnen vollständig unheimlich dabei werden soll! Sprich weiter!“ „Nafar Ben Schuri faßte den klugen Plan, als euer Retter aufzutreten. Er war überzeugt, daß die Dankbarkeit euch verleiten werde, eure Geheimnisse gegen ihn nicht als Geheimnisse zu betrachten. Man mußte euch da zwar alles wiedergeben, aber doch nur für kurze Zeit. Er schickte also die Thäter nach einer bestimmten Stelle, wo sie sich ruhig überfallen lassen sollten, und ritt euch dann entgegen, denn er nahm ganz richtig an, daß ihr nicht umkehren, sondern weitergehen würdet, um nach den Uebelthätern zu suchen. Auf welche Weise er diesen seinen Plan ausgeführt hat, das wißt ihr besser, als ich es weiß. Ihr habt ihm ja dabei geholfen!“ „Ja, das haben wir allerdings!“ gestand Halef ein. „Wir haben diesem Manne geglaubt und ihm vertraut. Wir haben ihm die Gefangenen überlassen und nicht einmal nach den Leichen und Gräbern derer gefragt, die ihr ihm getötet habt!“ „Wir? Ihm? Ja, ich weiß gar wohl, welche Fabel euch erzählt worden ist; aber wo es keine Leichen giebt, kann es auch keine Gräber geben. Es ist ihm kein einziger Mann getötet oder auch nur verletzt worden.“ „Was? Wie? So ist auch das eine Lüge?“ „Ja. Wir töten nicht! Unser Glaube verbietet uns den Angriff gegen das Leben derer, die selbst dann unsere Brüder sind, wenn sie die Thorheit begehen, sich als unsere Feinde zu betrachten.“ „Allah! Welch ein Glaube! Welche Friedfertigkeit! So seid ihr also Christen?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht! Erst dann, wenn [228] ich Christen kennen gelernt habe, kann ich dir sagen, ob wir welche sind. Nicht wir haben Blut vergossen, sondern Nafar Ben Schuri hat es gethan. Seine That hat mir, grad mir das Herz so schwer, so tief verwundet. Und dieses Herz, es will laut auf um Rache schreien, weil ich ein Mensch mit menschlichen Gefühlen bin. Aber da oben, wo der Himmel in stillen Stunden für mich offen ist, da steht ein lichtes, großes Wort geschrieben, welches das irdische Gesetz der Rache überstrahlt. ‚Ed dem b'ed dem!‘1) [1) „Blut um Blut!“] schreit das Menschenherz zum Himmel auf, wenn der Rauch vergossenen Blutes aufwärts steigt; von droben aber rufen tausend Engel ihr ‚es Samah!‘2) [2) „Verzeihung“, „Gnade!“] nieder, und bei diesem heiligen Gebot muß jede Wunde schweigen!“ Er war aufgestanden und ging, innerlich erregt, eine kleine Weile hin und her. Ich sah jetzt nicht den Schmutz, der sein Gesicht entstellte, und nicht die Lumpen, die ihn häßlich machten. Aber ich sah den tiefen Schmerz, der seine Augen füllte, und ich sagte mir, daß wir diesem Mann wohl vertrauen dürften. Als er sich beruhigt und wieder niedergesetzt hatte, sprach er weiter: „Ich will annehmen, daß ihr euern Bund mit Nafar Ben Schuri für zerrissen halten werdet, und betrachte es darum als keinen Fehler, euch schon jetzt zu sagen, was ihr eigentlich erst später erfahren solltet. Nämlich der Tir3) [3) Unterabteilung.] unseres Stammes, zu welchem ich gehöre, hat sich von den andern Dschamikun abgesondert, weil wir Muhammed zwar für einen Propheten, seine Lehre aber nicht für seligmachend halten. Wir sind nicht mehr Nomaden, sondern wohnen in Häusern, welche wir nur im Sommer mit Zelten vertauschen. Wir haben Gärten und Felder, [229] welche wir bebauen, und Herden, deren Ertrag wir auf den Markt von Isfahan liefern. Unsere Ernten sind reich an Galläpfeln, Mastix, Mannah, Sesam und Tabak. Mit dem letzteren versorgen wir fast ganz Chusistan. In Beziehung auf den Ruf, in dem wir stehen, füge ich hinzu, daß sich unausgesetzt hundert unserer jungen Leute bei der Leibgarde des Schah-in-Schah befinden, obgleich der Beherrscher sehr wohl weiß, daß sie ihre Waffen niemals verwenden würden, unschuldiges Blut zu vergießen. Ich bin der Scheik und werde nicht bei meinem Namen, sondern Peder1) [1) Vater.] genannt. Hoch über mir und allen andern aber steht der Ustad, vor dessen Ehrwürdigkeit wir uns in Liebe und Gehorsam beugen. Ihr werdet ihn sehen; das hoffe ich.“ „Ist er in eurem Stamm geboren?“ erkundigte ich mich, indem ich an die Angabe Nafars dachte. „Nein. Wenn du Auskunft über ihn haben willst, so wende dich an ihn selbst. Er ist für uns ein Bote des Himmels, für den wir keine solchen Fragen haben. Wir leben in steter Eintracht unter uns und halten Frieden mit allen andern Menschen. Als wir uns um unseres Glaubens willen von den andern Dschamikun trennten, wurden wir eine Zeitlang von ihnen heftig angefochten und sehr hart bedrängt. Nun aber haben sie eingesehen, daß dieser Glaube auch für sie nur Güte und nur Vorteil hat. Sie sind uns wieder freund geworden. Zu hüten haben wir uns nur noch vor den Ausgestoßenen, welche euch gesagt haben, daß sie Dinarun seien. Sie leben nur vom Raube, wobei sie selbst den Mord nicht scheuen. Wir aber nennen sie nur Massaban2) [2) Die Unglücklichen.], weil unser Chodeh3) [3) Gott.] nicht will, daß wir diejenigen, welche uns leid [230] thun, mit einem bösen Wort bezeichnen. Diese Massaban, deren oberster Anführer Nafar ben Schuri ist, schwärmen in einzelnen Trupps überall herum, in der Absicht, zu ernten, wo sie nicht gesäet haben. Aber wenn es einen größeren Streich gilt, finden sie sich schnell zusammen. Ein solcher war es, der uns betroffen hat. Unsere Männer waren fast alle auf einem Fest der Leng-i-Karun abwesend - - -“ „Ich denke, Nafar Ben Schuri war auf einem solchen Feste?“ fiel Halef ein. „Das ist nicht wahr. Er überfiel uns während der Nacht, raubte alles, was er zusammenraffen konnte, und führte auch einen Teil unserer Herden mit sich fort. Hierbei wurden von den wenigen Männern, welche daheim geblieben waren, sechs ermordet. Unter den Toten befand sich mein einziger Nachkomme, mein Enkelsohn, die Freude meiner Augen, die geliebte Abendröte meiner letzten Lebenstage. Als wir am andern Tage heimkehrten, sah ich ihn vor mir liegen, blutbefleckt und mit weit aufgerissenen Augen und im Todesschmerz geballten Händen. In meinem Innern erklangen zwei Stimmen. Die eine rief mir ‚Ed dem b'ed dem!‘ zu; die andere aber ließ ihr ‚Samah, samah!‘ tönen. Es war ein kurzer, aber schwerer Kampf. Das ‚Samah‘ unseres gnadenreichen Chodeh siegte. Ich ließ alle meine Männer zusammenkommen, um zu beraten. Der Ustad stieg von seinem hohen Hause nieder und wohnte der Versammlung bei. Wir sprachen lange hin und her; da gab er seinen Plan und mit demselben unserm Willen Festigkeit. Es wurde beschlossen, der Plage des Landes, welche die Massaban bilden, mit einem einzigen kräftigen Streiche ein Ende zu machen. Wir wollten sie fangen ohne alles Blutvergießen; keiner sollte entgehen. Dann sollten sie [231] dem Sipahsalar1) [1) Kriegsminister.] geschickt werden, welcher grad jetzt nach Soldaten für Farsistan sucht und keine findet, weil kein Angeworbener hinab nach der ungesunden Grenze gegen Indien will. Wir sandten also einen Boten nach Isfahan, um diese Nachricht hinzubringen, und machten uns zur Verfolgung der Massaban auf. Als sie von uns erreicht wurden, bemerkten sie unsere große Ueberzahl und verloren den Mut, sich zu verteidigen. Sie ließen ihren Raub stehen und liegen und ergriffen die Flucht. Hierauf verwandelte ich mich und meinen Begleiter hier in Fukara und ritt ihnen mit der Stute des Ustad nach, weil für meinen Zweck unter Umständen das schnellste unserer Pferde nötig war. Als sie sich gelagert hatten, ließ ich den Begleiter an einem verborgenen Orte mit den Tieren zurück und ging zu ihnen. Ich gab mich für Sallab aus, dessen Namen sie kannten. Ein Fakir darf nicht fortgewiesen werden. Man duldete mich. Auch ist er ein Mann, der sich nur um religiöse Dinge zu bekümmern pflegt. Man war also in meiner Gegenwart nicht so vorsichtig, wie man es gegen einen andern gewesen wäre. Ich hörte verschiedenes. Es waren Bruchstücke. Aber wenn ich sie zusammensetzte, bekam ich ein fast ganz vollständiges Bild. Das veranlaßte mich, abends, als es dunkel war, mich scheinbar zu entfernen. Aber ich kehrte zurück und belauschte Nafar Ben Schuri, als er mit einigen seiner Leute zusammensaß. Ich hörte, was man gegen euch vorhatte. Gern hätte ich euch gewarnt, aber ich kannte ja die Oertlichkeiten nicht, und ihr mußtet auch schon dort angekommen sein, wo ihr den Schlaftrunk bekommen solltet. Als ich dann wiederkam und bei ihnen saß, hörte ich, daß man eure Waffen gegen [232] uns brauchen wollte. Wir sollten verfolgt werden, denn die Massaban wollten uns ihre verlorene Beute wieder abnehmen. Das war mein Augenblick, den ich sogleich benutzte. Ich that, als ob ich gar nicht aufgepaßt und darum auch gar nichts verstanden hätte, und begann, von dem „Thale des Sackes“ zu sprechen. Dahin wollten wir sie nämlich locken, weil dies der einzig passende Ort war, sie so einzuschließen, daß sie sich gar nicht wehren konnten. Nafar Ben Schuri griff meine Worte sofort auf. Er ahnte meine Absicht nicht im geringsten. Sein Gehirn begann, an der Falle zu bauen, deren Entwurf ich ihm hingeschoben hatte, um ihn selbst zu fangen. Um ihn sicher zu machen, stellte ich mich ganz unwissend und erzählte, daß ich auf meinem Wege eine Schar von Dschamikun gesehen habe, welche sehr eilig nordwärts geritten sei. ‚Hatten sie Herden?‘ fragte er. ‚Nein.‘ ‚Wie viele waren es?‘ ‚Wohl einige Hundert.‘ Er glaubte es und dachte nun, wir hätten uns getrennt, und es seien bei den Herden, denen er folgen wollte, nur wenige unserer Leute geblieben. Sein Vorhaben erschien ihm also als sehr leicht ausführbar, und als ich mich dann zum Schlafen niederlegte, konnte ich es mit dem Bewußtsein thun, daß mein Anschlag eine gute Statt gefunden habe. Am andern Morgen erfuhr ich dann auch wirklich, daß beschlossen worden sei, die Dschamikun zu verfolgen und in dem „Thale des Sackes“ einzuschließen. Ich hätte nun gehen können, denn meine Absicht war erreicht; aber der Gedanke an euch hielt mich noch fest. Eure Namen sind bekannt. Ich wollte wissen, ob der gegen euch gerichtete Anschlag gelungen sei. Ich [233] wünschte, euch nützen zu können. Da kamen die Massaban, welche euch beraubt hatten. Sie brachten alles mit, was euch abgenommen worden war. Man jubelte. Da aber stellte es sich heraus, daß eure Pferde störrisch und eure Gewehre unbrauchbar seien. Es wurde schnell Rat gehalten, und man nahm sich vor, sich euer scheinbar anzunehmen, bis man die Geheimnisse eurer Tiere und Waffen erfahren habe. Wie man das ausführte, wißt ihr ja. Ich bekam dadurch Zeit, meine Dschamikun zu unterrichten. Ich ritt zu ihnen, um ihnen meine Anweisungen zu erteilen, und als ich am anderen Tage zurückkehrte, setzte ich mich zu euch. Ich erfuhr, daß ihr die Massaban wirklich für Dinarun hieltet und ihnen gegen uns helfen wolltet. Nun wußte ich genug und ging. Von der nächsten Anhöhe aus sah ich Kara Ben Nemsi auf dem Berge stehen und winkte ihm warnend zu. Das war für so erfahrene Männer, wie ihr seid, hinreichend, zur Vorsicht zu mahnen. Ich wollte euch helfen. Ich gedachte nicht, euch als unsere Feinde zu betrachten. Ihr solltet zwar mit gefangen genommen, dann aber sofort wieder freigelassen werden. Ich hatte gesehen, daß der Scheik der Haddedihn krank sei. Ich kenne diese Krankheit genau. Sie wird sehr häufig vom Euphrat und vom Tigris zu uns heraufgeschleppt, und wir kennen ein Mittel, welches ganz unfehlbar wirkt. Ich machte darum den Hadschi aufmerksam, wo er das Leben gegen den Tod finden werde, weiß aber nicht, ob ihr mich verstanden habt. Ich wußte alles, auch daß uns Kundschafter nachgeschickt worden waren. Als ich wieder zu meinen Dschamikun kam, beeilten wir uns, die Falle so zu stellen, daß die Massaban ganz gewiß glauben werden, wir seien es, hinter denen sie sich zuzuschließen habe. Auch wir haben Kundschafter. Sie haben euch [234] scharf beobachtet. Als ich den Ort eures letzten Nachtlagers erfuhr, setzte ich mich mit diesem meinem Begleiter zu Pferde, um euch mit eigenen Augen zu beobachten. Wir dachten nicht an die Möglichkeit, daß es jemandem von euch einfalle, von euerm Wege abzuweichen. Da trafen wir auf euch.“ „Und wendetet sogleich die Pferde, um die Flucht zu ergreifen! Warum thatet ihr das?“ fiel hier Halef ein. „Durften wir euch trauen?“ fragte der alte Scheik lächelnd. „Nein. Du hast recht. Aber wie steht es nun jetzt? Wie denkt ihr nun von uns?“ Da stand Peder wieder von seinem Platze auf, stellte sich in feierlicher Haltung vor uns hin und antwortete: „Ihr habt uns gefangen, aber wieder freigegeben. Das war eine That des Vertrauens und der Ehrlichkeit. Ich will nicht minder ehrlich sein als ihr. Ja, ich bin es schon gewesen! Ich habe euch gesagt, daß wir den Massaban eine Falle gestellt haben, in welche sie gehen sollen. Wenn ihr ihnen das mitteilt, falls ihr ihnen mehr glaubt als uns, so ist diese unsere Mühe vergeblich gewesen. Ich spreche keine Bitte aus. Dieses mein Schweigen mag euch sagen, was ich von euch denke.“ Nun sprang auch Halef auf. Ich sah ihm an, daß er seinem schnellen Temperamente folgen wollte. Er besann sich aber, wendete sich zu mir und fragte: „Hörst du es, Sihdi? Der Scheik der Dschamikun giebt sich wehrlos in die Hände unserer Rechtschaffenheit! Ich wollte ihm sagen, was wir thun werden; aber sag du es ihm!“ Ich folgte dieser Aufforderung, indem ich mich erhob und dem Alten die Hand reichte: [235] „Wir glauben dir! Deine Falle wird sich ganz gewiß bewähren, denn wenn die Massaban zögern sollten, hineinzugehen, werden wir sie hineinführen. Am liebsten ritte ich jetzt mit dir zu deinen Leuten; aber wir betrachten uns von diesem Augenblicke an als deine Freunde und Verbündete und wollen nicht der unverdienten Ruhe pflegen, sondern das unsere dazu beitragen, daß euer Vorhaben gelinge und diese Landplage unschädlich gemacht werde.“ „Das, das wollt ihr wirklich thun?“ fragte Peder im Tone der Freude. „Ja. Darum bitten wir dich, uns das Nötige über die Lage des ‚Daraeh-y-Dschib‘ mitzuteilen, damit wir keine Fehler machen. Aber thue das schnell und kurz, denn wir müssen nun zu den Massaban zurückkehren, wenn sie nicht wegen unseres zu langen Ausbleibens mißtrauisch werden sollen.“ Ich kann diese seine Instruktionen hier übergehen, weil sich ihr Inhalt aus dem Nachfolgenden ergeben wird. Peder beschrieb die Oertlichkeiten so genau, daß ich eine hinreichende innere Anschauung von ihnen bekam. Auch über die Falle, in welche die Massaban geführt werden sollten, sprach er sich in der Weise aus, daß wir nicht im Zweifel darüber waren, wie wir uns zu verhalten hatten. Dann trennten wir uns von ihm und seinem Begleiter, und zwar in ganz anderer Weise, als wir vorhin mit ihnen zusammengetroffen waren. Sprachlich will ich hier noch bemerken, daß das persische Wort Peder (Vater) nicht etwa wie der deutsche Name Peter, sondern mit dem Tone auf der letzten Silbe, also Pedehr, ausgesprochen wird. Als wir hierauf nun Seite an Seite um den nördlichen Fuß des Berges herumritten, sagte Halef zu mir: [236] „Jetzt wissen wir nun endlich genau, woran wir mit diesen Lügnern und Betrügern sind. Wie schwer wird es mir fallen, nun auch Betrüger zu sein!“ „Betrüger? Wieso?“ „Weil wir ihnen doch nicht merken lassen dürfen, daß wir alles wissen. Wir müssen uns verstellen, müssen uns als Freunde gebärden, und das, das fällt mir ganz entsetzlich schwer, Sihdi! Wenn ich nicht sagen darf, was ich denke, so sage ich lieber nichts!“ „Ganz richtig! Ich bitte dich, genau nach diesem Worte zu handeln, doch nicht nur in Beziehung auf das Sprechen. Auch alles, was du thust, muß verschwiegen sein. Du darfst durch keine Bewegung, durch keine Miene verraten, daß du mehr weißt, als du wissen sollst.“ „Das ist es ja eben, was mir schwer fällt!“ „Es ist leichter, als du denkst. Man muß sich nur hüten, gesprächig oder gar geschwätzig zu sein. Wir brauchen uns nur genau so zu verhalten, wie wir es gethan haben, seit wir auf die Spuren getroffen sind. Dann wird es einer großen Verstellungskunst gar nicht bedürfen. Auch ich gebe mich nicht gern anders, als ich bin; aber wenn in diesem gegenwärtigen Falle Klugheit gegen Arglist und Schweigsamkeit gegen Verstellung gehalten wird, so kann das ganz unmöglich eine Sünde sein. - Hat dich unser Eilritt angegriffen, Halef?“ Ich fragte so, weil ich sah, daß er jetzt nicht mehr stramm im Sattel saß. Da nahm er sich sofort zusammen, richtete sich auf und antwortete: „Angegriffen? Mich? Wie kann mich ein Ritt angreifen, der die größte Wonne ist, die ich mir zu Pferde vorstellen kann? Sei doch so gut, jetzt ja nicht an die Krankheit zu denken! Du siehst doch jedenfalls ein, daß der Hauptteil unseres Erlebnisses mit den Massaban erst [237] jetzt beginnen soll. Meinst du, daß ich da dem alten Weibe erlauben werde, mich von den Thaten, welche geschehen sollen, auszuschließen? Wir werden es kurz machen. Wahrscheinlich sind wir schon morgen mit diesen Leuten fertig. Und so sage ich dir: So lange wir sie nicht in der Falle haben, so lange würde selbst der Tod nichts über mich vermögen. Und wenn er mich niederwürfe, ich würde doch wieder aufstehen, um ihnen zu beweisen, daß sie sich in uns verrechnet haben. Laß uns machen, daß wir schnell zu ihnen kommen!“ Nicht lange hierauf hatten wir den Berg umkreist und stießen auf die Fährte der Massaban, welcher wir folgten, bis wir den Reiterzug an einer Stelle einholten, wo von dieser und der nächsten Höhe aus sich ein ebenes Tafelland nach Osten zog. In diese Ebene ritten wir nun hinaus, ohne daß uns jemand nach dem Verlauf unserer Reitpartie gefragt hätte. Man verhielt sich still gegen uns, und das war uns nur lieb. Nach einiger Zeit sahen wir auf der Fläche vor uns mehrere Reiter erscheinen, welche, als sie uns erblickten, schnell auf uns zukamen. Nafar Ben Schuri ritt ihnen entgegen und sprach längere Zeit mit ihnen. Dann gab er das Zeichen zum Weiterreiten. Diese neu zu uns gestoßenen Massaban machten nun die Führer. „Ob das wohl die erwarteten Kundschafter sind?“ fragte Halef. „Jedenfalls,“ antwortete ich. „Warum meldet er uns nicht, was sie ihm berichtet haben?!“ „Laß ihn! Es ist die Laune des bösen Gewissens. Er spielt den Gekränkten, freilich ohne zu wissen, daß dieses sein Schmollen uns sehr willkommen ist.“ „Aber, haben wir es uns gefallen zu lassen? Wir [238] sind nicht seine Untergebenen, sondern stehen über ihm. Er ist doch der Meinung, daß wir ihm helfen sollen, und da hat er uns doch unbedingt zu berichten, welche Meldung ihm gebracht worden ist!“ „Hätten wir uns noch als seine Helfer zu betrachten, so würde ich mir diese Zurücksetzung freilich verbitten. Nun aber, da sich die Sache so ganz anders gestaltet hat, kommt mir sein Schweigen sehr gelegen. Dein Selbstgefühl kann sich beruhigen, lieber Halef. Du weißt ja doch, daß die Strafe nicht auf sich warten lassen wird.“ „Das läßt mich allerdings den Verweis, den ich ihm geben möchte, in den Abgrund meines Zornes fallen lassen. Dort mag er bis zur Stunde der Vergeltung liegen bleiben!“ Das gekränkte Ehrgefühl meines kleinen Hadschi brauchte nicht länger als ein kleines Viertelstündchen zu warten, um zu Worte kommen zu können. Schon nach dieser kurzen Zeit stießen wir auf eine von Süden herüberstreichende breite Fährte, welche diejenige der Dschamikun mit ihren Herden war. Gleich der erste Blick belehrte uns, daß diese Pferde- und Wiederkäuerspuren über einen Tag alt waren, ein außerordentlich wichtiger Umstand, den aber weder die Kundschafter, noch Nafar Ben Schuri beachteten. Jetzt hielt er es nun für an der Zeit, einige Worte an uns zu richten: „Das ist der Kreuzungspunkt, von dem ich zu euch sprach. Ihr seht, daß wir die Dschamikun glücklich eingeholt haben.“ Eingeholt! Wie er sich irrte! Sie waren ja schon gestern hier vorübergekommen und hatten also mehr als genug Zeit gehabt, ihre Falle zu stellen. Seine Kundschafter taugten nichts. Natürlich hüteten wir uns, ihn [239] darauf aufmerksam zu machen, daß seine Ansicht eine durchaus falsche sei. Er fuhr fort: „Diese Räuber und Mörder machen hier, indem sie weit nach Osten hinaus abbiegen, den Umweg, der sie in unsere Hände bringen wird. Indem wir ihnen nicht folgen, sondern geradeaus nach Norden reiten, kommen wir ihnen zuvor und gewinnen mehr als genug Zeit, das Daraeh-y-Dschib zu besetzen.“ „Wie weit ist es von hier bis dorthin?“ erkundigte ich mich. „Wir sind schneller gewesen, als wir vorher dachten. Wenn wir uns sputen, können wir es noch vor dem Eintritt der Dunkelheit erreichen.“ „Meinst du, daß die Dschamikun dann morgen kommen?“ „Eher keinesfalls.“ „Und unser Nachtrab? Wo bleibt der?“ Diese Frage schien ihm ganz unerwartet zu kommen. Er machte eine verlegene Miene. Ich hatte sie ausgesprochen, weil mir daran lag, die Massaban alle zusammen in das Netz zu bekommen. Auch die, welche sich noch hinter uns befanden, sollten mit dabei sein. „An den Nachtrab habe ich gar nicht gedacht, weil es nicht nötig ist,“ erklärte er. „Nicht nötig? Willst du haben, daß deine Absicht durch ihn verraten und die Ausführung desselben dadurch verhindert werde?“ „Wieso verhindert?“ „Sonderbare Frage! Wann wird der Nachtrab am ‚Thale des Sackes‘ ankommen?“ „Morgen.“ „Und die Dschamikun kommen auch morgen? Sie werden ihn sehen und sofort über ihn herfallen!“ [240] „Maschallah! Das ist richtig! Das muß verhütet werden! Sihdi, gieb uns deinen Rat! Was meinst du, daß wir thun?“ „Es ist nur eines möglich: Deine Dinarun haben uns zu folgen und sich noch während der Nacht bei uns im Thale einzustellen.“ „Im Thale?“ „Ja.“ „Nicht an oder bei dem Thale?“ „Nein. Wenn du fähig wärest, einen so unverzeihlichen Fehler zu begehen, würde ich mit dem Scheik der Haddedihn sofort umkehren und euch keinesfalls weiter begleiten, weil wir überzeugt sein würden, daß dein so schön angelegter Plan dann für uns unheilvoll werden müßte. Wir haben diese Nacht natürlich in dem Thale, keineswegs aber bei demselben zuzubringen.“ „Warum?“ Ich gab mir den Schein der Ungeduld, indem ich antwortete:“ „Denkt ihr denn gar nicht nach? Wenn wir eine ganze Nacht lang in der Nähe des Thales lagern, so giebt das Spuren, welche noch wochenlang zu sehen sind. Die Dschamikun müßten doch blind sein, wenn sie diesen unverzeihlichen Selbstverrat nicht bemerkten! Und nach einer so handgreiflichen Warnung wäre es nur Wahnsinnigen zuzumuten, in die Falle zu gehen. Der Felsengrund des Thales aber nimmt keine Spuren an, die zur vorzeitigen Entdeckung führen können. Außerdem bieten uns die hohen Steinwände Schutz gegen jede Unbill der Nacht. Und drittens befinden wir uns, wenn die Entscheidung naht, gleich frühmorgens an Ort und Stelle und können so wunderbar schön versteckt bleiben, daß bis [241] zum letzten Augenblicke kein Dschamiki ahnen kann, wie nahe sein Verderben ist.“ Ich sah ihm an, daß ich ihn überzeugt hatte. Auch auf den Gesichtern seiner Leute, welche meine Worte gehört hatten, war nichts als Zustimmung zu lesen. Da sagte er: „Ich höre, daß du dir die Sache gut überlegt hast. Auch ich hatte schon so ähnliche Gedanken. Wir sind bereit, deinen Vorschlag auszuführen. Die Kundschafter mögen hier bleiben, um den Nachtrab, sobald er ankommt, hinunter nach dem Daraeh-y-Dschib zu geleiten. Nun aber müssen wir uns beeilen, weil es im Thale eher finster wird als außerhalb desselben.“ Die Späher stiegen von den Pferden und setzten sich nieder. Der Zug ritt weiter, ich mit Halef hinterdrein. Der letztere sprach, als uns niemand hörte: „Sihdi, das hast du pfiffig gemacht! Jede Lüge vermieden und doch unseren Zweck erreicht! Leider haben diese Menschen keine Ahnung von der Lehre, die du ihnen jetzt gegeben hast.“ „Welche Lehre, Halef?“ „Das fragst du mich? Du selbst, der sie erteilte?“ „Sprich sie nur aus, damit sie hörbar werde!“ „Beide können klug sein, der Böse sowohl als auch der Gute. Aber wenn es zum Schlusse kommt, so stellt sich unbedingt heraus, daß nur der Gute wirklich und wahrhaftig klug gewesen ist.“ „Was folgt hieraus?“ „Nichts, als was ich gesagt habe. Das ist doch wohl genug!“ „Drehe es einmal herum!“ „O, Sihdi, was mutest du mir zu! Du weißt ja, daß ich nicht gern Rätsel löse! Und wenn man etwas [242] herumdreht, so wird es verkehrt, und ich werde mich wohl hüten, etwas Verkehrtes zu sagen! Drehe du doch selbst es um, damit ich höre, wie es aus deinem Munde klingt!“ „Jedenfalls nicht verkehrt. Aus deinen Worten geht hervor, daß es die wahre Klugheit ist, nur gut, nie aber bös zu handeln. Nafar Ben Schuri ist stolz auf seinen Plan, den er für ungeheuer schlau hält. Von wem aber hat er ihn bekommen? Von dem Peder!“ „Ganz recht! Hast du dir die Augen dieses Mannes betrachtet?“ „Ja.“ „Ich auch. Droben im Lager der Massaban, als er noch als Fakir galt, habe ich ihnen keine Aufmerksamkeit geschenkt. Jetzt aber möchte ich mich fragen, ob ich wohl schon einmal etwas so Schönes wie diese Augen gesehen habe. Es ist mir da ein Gedanke gekommen, und ich kann mir nicht helfen, ich muß ihn dir sagen.“ „Sprich!“ „Wirst du mich auslachen?“ „Nein!“ „Im Herzen des Menschen wohnt entweder der Himmel oder die Hölle, und das Auge ist das Fenster, durch welches entweder Allah oder der Scheitan seinen Blick nach außen richtet. Dieser Peder trägt den Himmel in sich. So oft er seinen Blick auf mich lenkte, war es mir, als ob Allah mich anschaue. Ich könnte diesem Manne niemals etwas thun, was ihn betrüben müßte. - - Gieb mir die Medizin!“ Diese letzte Aufforderung kam so unerwartet, daß ich ihn betroffen ansah. „Habe ich dich erschreckt?“ fragte er. „Es ist nichts, wirklich gar nichts! Du brauchst keine Sorge zu haben. Aber ich fühle plötzlich den Hals nicht mehr. Es ist [243] mir, als ob der Kopf frei in der Luft schwebe. Und doch wird er mir ganz plötzlich so schwer, daß ich das Gefühl habe, er werde mir herunterfallen.“ Das war ein schlimmes Zeichen. Nach der bisherigen Aufregung begann das Gegenteil nun einzutreten. Auch ich fühlte eine bedenkliche Eingenommenheit des Kopfes, gab aber doch nur Halef von dem Mittel, obgleich ich es wohl auch hätte nehmen sollen. Unsere bisherige gute Stimmung war plötzlich eine ganz andere geworden. Die Sonne schien nicht mehr, und nun sie hinter den Bergen verschwunden war, breitete sich die Dämmerung mit der jenen Gegenden eigenen Schnelligkeit über das Land. Dieser äußere Vorgang wollte sich auch in unserm Innern fortsetzen. Kein Mensch, und sei er ein noch so ausgeprägter, kräftiger Charakter, bringt es fertig, sich den Einflüssen der Natur ganz zu entziehen. Er hat an den Leiden und Freuden der Schöpfung teilzunehmen, welche auf ihn, so lange er lebt, niemals verzichten wird. Halef saß jetzt zusammengedrückt im Sattel, er ließ den Kopf hängen. Was mich betrifft, so fühlte ich mich nicht nur ermüdet, sondern matt. Diese Mattigkeit lag nicht in meiner Natur; sie war mir fremd, war - - Krankheit. Wie kam es doch, daß ich grad jetzt an das Hammelfleisch denken mußte, welches wir im Lager der sogenannten Dinarun gegessen hatten? Ich fühlte, daß es mir unmöglich sein würde, gegenwärtig auch nur einen einzigen Bissen davon zu genießen. Schon bloß der Gedanke daran schüttelte mich! War das ein Wink von innen heraus? Wer vermag die dort wohnenden Geheimnisse zu ergründen! Unser Weg war jetzt ein unausgesetzt abwärts gehender. Der voranreitende Nafar Ben Schuri hatte sicht- [244] lich Eile. Es ging in schnellem Tempo teils an Berghängen, teils auch über freie Bodensenkungen hin, bis uns ein kurzes, schmales Thal aufnahm, dessen Mündung uns an den Rand eines „Warr“ brachte, welches mich an gewisse Gegenden der inneren Sahara erinnerte. Unter Warr hat man einen Ort zu verstehen, dessen Boden mit wirr liegenden Felsentrümmern bedeckt ist. Ein solches Warr im wahrsten Sinne sahen wir hier vor uns liegen. Als ob vor Jahrtausenden da ein riesiger feuerspeiender Krater vorhanden gewesen sei, so gerade und steil stieg ringsum das schwarze Gestein zum Himmel auf. Wo lebten die Giganten, welche die Spitzen der rundum ragenden Berge abgebrochen und in solche Tiefen geschleudert hatten, daß sie in tausend Trümmer zerschmettert worden waren? Es sah ganz so aus, als ob von unheilvollen Urkräften hier einst irgend eine erschreckliche Teufelei ausgeführt worden sei. Die Zwischenräume der gewaltigen Steinbrocken waren mit Farnen, Dornen und allerlei Gestrüpp so dicht ausgefüllt, daß es gewiß unmöglich gewesen wäre, hindurchzukommen, wenn es nicht ein jetzt leeres Wasserbett gegeben hätte, welches in zwar zahlreichen, aber doch gangbaren Windungen nach der anderen Seite hinüberführte. Wir folgten diesem Wege. Drüben angekommen, trafen wir auf ein zweites, noch breiteres Wasserbett, welches sich mit dem unserigen vereinigte. Nafar Ben Schuri deutete in die Richtung desselben zurück und rief uns zu: „Das ist der Weg, auf dem die Dschamikun kommen werden. Und da, gerade vor uns, seht ihr das Thor, durch welches man in das Daraeh-y-Dschib gelangt.“ Zwei früher senkrecht stehende Felsenwände hatten sich einander zugeneigt, bis sie hoch oben aufeinander ge- [245] troffen waren. Sobald uns dieses finstere, aus gewaltigen Massen bestehende und doch einsturzdrohende Thor aufgenommen hatte, war es so dunkel um uns her, daß es einiger Zeit bedurfte, bis wir die Augen hieran gewöhnt hatten und die nächste Umgebung zu unterscheiden vermochten. Da habe ich mich freilich wohl falsch ausgedrückt, denn es gab nur eine „nächste“ und gar keine weitere Umgebung. Das Thal bestand hier aus dem Wasserbette und einem nicht viel breiteren Ufer rechter Hand, welches unsere Pferde zu erklettern hatten. Links gab es keinen solchen Rand, weil das Wasser - nämlich wenn es welches gab - direkt von der Felsenwand begrenzt wurde. Indem wir nun langsam und vorsichtig auf diesem einen und auch einzigen Ufer hinritten, begleitete uns hoch oben ein Himmelsstreifen, welcher nicht breiter als eine Hand zu sein schien. Die Schritte unserer Pferde erregten hier einen wahren Höllenlärm, von den zurückgeworfenen Schallwellen verzehnfacht, dumpf, hohl, ohne Höhe oder Tiefe, unbegrenzt, vollständig klang- und wesenlos. Es war ein Spektakel schattenhafter Geräusche, denen mit dem Inhalte auch das Leben fehlte. Später senkte sich das Wasserbett tiefer, und das Ufer wurde breiter. Wir bekamen mehr Platz. Es gab sogar Büsche solcher Arten, die keiner direkten Sonnenstrahlen bedürfen. Wir atmeten eine dicke, stehende, feuchtmodrige Luft, welche die Lungen beschwerte. Das wurde erst besser, als die Felsen oben weiter auseinander traten und uns vom Ausgange des Thales oder vielmehr der Schlucht her ein frischer Odem entgegenwehte. Dann gab es plötzlich Raum genug für uns alle und auch für unsere Pferde. Der „Sack“ war zu Ende. Eigentlich war der Name „Dschib“ nicht zutreffend [246] gewählt für die vorhandene Oertlichkeit. Sie glich weniger einem Sacke, als vielmehr einer lang- und dünnhalsigen, weitbauchigen Phiole oder einer jener Flaschen, in welche der Steinwein abgezogen wird. Der lange, schmale Gang verbreiterte sich mit einem Male zu einem großen, halbkreisähnlichen Platze, auf dem wir ganz bequem lagern konnten. Und doch hatte der Ausdruck Sack, wenigstens im vergleichenden Sinne, auch seine Richtigkeit, weil der Weg von hier nicht weiter ging. Die Bodenlinie der Flasche wurde nämlich von einem tiefen Felsenrisse gebildet, dessen Ende wir nicht ersehen konnten. In diesen Riß mündete unser Wasserlauf. Es mußte bei gefülltem Bette Grauen erregen, die Wassermasse spurlos da unten in der Tiefe verschwinden zu sehen! Der jenseits des Risses liegende Teil des Berges war nicht steil gerichtet; er bildete vielmehr eine moosig grüne Böschung, auf welcher einzelne uralte Eichen und andere Laubhölzer standen. Das lockte hinüber; aber leider konnten wir nicht, weil der Felsenspalt uns von ihm trennte! Es hatte eine Brücke hinübergeführt, deren Reste wir noch sahen: zwei Urwaldstämme, darüber Querstämme und dann Steine darauf. Die Steine waren verschwunden. Von den Querstämmen reichte nur noch einer von oben bis in den Felsenriß hernieder, wo er sich eingestemmt hatte, um zu verraten, daß die Brücke nicht von der Natur, sondern durch Menschenhand zerstört worden sei. Die Dschamikun hatten Stämme und Steine in die Tiefe gestürzt, damit den Massaban die Flucht von hier aus abgeschnitten sei. Als der Anführer der letzteren die Vernichtung sah, war er nicht etwa enttäuscht, sondern er rief ganz im Gegenteil sehr erfreut aus: „Die Brücke ist eingestürzt! Welch ein Glück für uns! Wenn die Dschamikun morgen kommen, können sie [247] nicht hinüber und sind gezwungen, sich uns zu ergeben! Wir haben nun gar nicht nötig, die Brücke zu besetzen, und können uns also alle daran beteiligen, die Feinde hier hereinzutreiben!“ Das gab eine allgemeine Freude, an welcher wir beide uns freilich nicht beteiligten. Halef war nämlich mehr vom Pferd herabgefallen, als herabgestiegen. Ich nahm ihn in den Arm und führte ihn zu einer Stelle, welche ich zum Lagern für die beste am ganzen Platze hielt. Dort legte ich ihn nieder, holte seinen Sattel zum Kopfkissen und wickelte ihn in seine und in meine Decke ein, denn ich sah, daß der Frost ihn förmlich schüttelte. Die Zähne schlugen ihm zusammen. Er schien am Ende seiner Kräfte angekommen zu sein. Noch hatte ich ihn nicht ganz eingehüllt, so riß er die Decken wieder weg, richtete sich in sitzende Stellung auf und sagte, indem er mich mit weit aufgerissenen Augen angstvoll anstarrte: „Sihdi, müssen wir hier bleiben?“ „Ja,“ nickte ich. „Die ganze, ganze Nacht?“ „Ja.“ „Da sterbe ich! Ich fühle, daß ich es hier nicht aushalte, daß ich fort muß, daß es mein Leben kostet, wenn ich bleibe!“ „Zurück können wir unmöglich!“ „Aber vorwärts?“ „Die Brücke ist weg!“ „Wir haben die Pferde! Der Spalt ist schmal. Wir springen hinüber!“ „Halef!“ rief ich erschrocken. „Das würde Wahnsinn sein!“ Da preßte er die Lippen zusammen und ballte die Fäuste, als ob er alle seine Kräfte herbeizwinge. Es ge- [248] lang ihm, die Schwäche noch einmal zu besiegen. Er stand ganz auf, ging hin an den Spalt, wo die Brücke gelegen hatte, und maß die Entfernung der gegenüberliegenden Kante mit scheinbar ruhigem Auge. Dann drehte er sich zu mir um und sprach: „Sihdi, erhöre mich! Es ist vielleicht die letzte, die allerletzte Bitte, die ich in diesem Leben zu dir sage. Ich habe dich belogen, denn ich wollte dich nicht beängstigen. Meine Krankheit ist schlimmer, als du denkst. Ich habe mit allen Kräften gegen sie gekämpft, ohne es dir einzugestehen. Diese Kräfte sind alle; sie reichen nur noch zu dem letzten Sprunge dort hinüber. Dann breche ich zusammen, und du sollst mich pflegen. Willst du diesen Sprung mit mir wagen?“ „Halef, mein lieber, lieber Halef!“ antwortete ich kopfschüttelnd, nicht aus Angst vor dem Wagnis, sondern aus Herzenssorge um ihn. „Laß mich nicht viele Worte machen, denn sie rauben mir die Kraft, die ich nötiger brauche. Durch den Gang können wir nicht zurück. Das erfordert zu viel Zeit, und die Massaban würden uns auch nicht lassen. Bleiben wir aber hier, so weiß ich, daß ich verloren bin. Allein aber kann ich unmöglich fort. Sihdi, mein Sihdi, hast du mich noch lieb?“ „So lieb, wie noch nie, mein Halef!“ „So denk an den fürchterlichen Sprung damals, den du auf deinem herrlichen Rih über die „Spalte des Verräters“1) [1) Siehe Karl May, „Der Schut“, pag. 499.] thatest. Assil leistet im Springen ganz dasselbe wie sein Vater Rih, und dieser Riß hier ist ganz gewiß nicht so breit, wie jene Spalte war!“ Ich legte ihm beide Hände an die Wangen, küßte [249] ihn auf den Mund und sah ihm dann in das Gesicht. Es hatte noch nie einen so liebevollen, aber auch noch niemals einen so entschlossenen Ausdruck gehabt. Es war wirklich sein Leben, um welches es sich handelte. Es mußte gerettet werden! „Wirst du denn fest im Sattel sitzen?“ fragte ich. „Nur noch zwei Minuten fest?“ „Ich schwöre es dir bei Allah zu, Sihdi!“ „Gut, dann sei es gewagt! Bleib du ruhig stehen. Ich werde die Vorbereitungen treffen.“ Die Massaban hatten damit zu thun, ihre Pferde zu versorgen und es sich dann möglichst bequem zu machen. Sie achteten infolgedessen nicht besonders auf uns. Ich legte Barkh den Sattel wieder auf, schnallte die Decken an Ort und Stelle und untersuchte mit ganz besonderer Vorsicht die Lage und die Festigkeit der Bauchgurte. Während ich das that, sagte Halef: „Sihdi, die Pferde können keinen weiten Anlauf nehmen. Sage ihnen also, um was es sich handelt! Sie werden dich verstehen.“ Ich führte die Rappen also ganz hart an die Spalte, so daß sie mit den Köpfen gegen dieselbe standen. „Natt, natt - springen, springen!“ sagte ich, indem ich sie streichelte. Da hoben sie die Schwänze; ihre Ohren legten sich vor und ihre Nüstern weiteten sich, tief Atem holend. Sie wußten gar wohl, was das Wörtchen „natt“ zu bedeuten und was hierauf zu erfolgen hatte. „Wer zuerst?“ fragte Halef. „Du. Doch beachte, daß auf der Kante drüben der Felsen unter einer Schicht von Erde und faulem Holze liegt. Barkh wird abrutschen, wenn er nur mit den Vorderhufen faßt. Nimm die Peitsche in die Hand, um [250] unglücklichen Falles nachzuhelfen, und schaue dich ja nicht erschrocken um, wenn ich es für nötig halte, den rettenden Schwung durch einen Schuß zu unterstützen!“ „Es wird das alles gar nicht bedürfen. Du kommst gleich hinter mir?“ „Sobald ich sehe, daß du drüben bist und mir Platz gemacht hast. Eher nicht.“ „Kann es losgehen? Jetzt?“ „Ja.“ „So sei Allah unsere Hilfe! Ich denke an Hanneh, der ich mein Herz gegeben habe, und an Kara Ben Halef, meinen Sohn, welcher der Stolz und die Hoffnung meines irdischen Lebens ist. Sihdi, wir bleiben beisammen, jenseits dieser Felsenspalte, lebend, lebend hier oder lebend dort. Du warst und bist mein Freund; ich danke dir! Schaff Platz! Nun soll's beginnen!“ Im Hintergrunde unseres Lagerplatzes war es vollständig Nacht. Vorn gab es noch einen letzten, langsam ersterbenden Dämmerungshauch. Ueber dem Felsenriffe aber stand der offene Himmel, und da reichte die Helle grad noch zu, den jenseitigen Bord des Abgrundes deutlich zu erkennen, aus welchem uns das „Sterben“ entgegen gähnte, denn „Tod“ giebt es ja doch nicht! Sollte uns da unten in der schauerlichen Spalte vielleicht Halefs Frage: „Sihdi, wie denkst du über das Sterben?“ beantwortet werden? Er griff nach seinem Gewehre, um es sich am Riemen über den Rücken zu hängen; da aber nahm ich es ihm weg und sagte: „Halt, du sollst nicht beengt sein. Ich werde es mit zu den meinigen nehmen.“ „Aber du hast ja schon zwei!“ warf er ein. „Thut nichts. Ich bin nicht so krank wie du, und [251] mein Assil Ben Rih springt besser als dein Barkh. Ich habe dich also zu entlasten.“ Er wollte es trotzdem nicht zugeben; ich schnitt aber alle weiteren Einwendungen dadurch ab, daß ich unsere beiden Pferde an den Zügeln nahm und sie um des Anlaufs willen so weit wie möglich in die Schlucht zurückführte. Als dies Nafar Ben Schuri sah, fragte er: „Warum verlaßt ihr eure gute Stelle? Wollt ihr da hinten schlafen, wo die Luft so schlecht und so schwer zu atmen ist?“ „Nein,“ antwortete ich; „sondern wir wollen euch zeigen, wie ihr es machen müßt, wenn ihr morgen die Dschamikun fangen wollt.“ „Uns das zeigen? In welcher Weise?“ „Wir reiten über die Spalte.“ „Unmöglich! So einen Sprung bringt kein Pferd fertig. Wer ihn wagte, der wäre unbedingt wahnsinnig. Er würde nicht nur Allah versuchen, sondern in den sicheren Tod stürzen!“ „Wir verlassen uns allerdings auf Allahs Schutz; aber wahnsinnig sind wir nicht. Was euch mit euren Pferden verderblich sein würde, das dürfen wir den unseren wohl zutrauen. Macht Platz, und keiner stelle sich etwa in den Weg oder mache sonst eine Bewegung, uns zu hindern. Wir würden ihn niederreiten!“ „Aber, Sihdi, ich sage dir, daß ihr unbedingt da hinunter in den Riß - - -“ „Schweig!“ unterbrach ich ihn hart. „Du hast uns gar nichts zu sagen!“ Ich hatte die Absicht, ihn durch diesen meinen strengen Ton derart zu verblüffen, daß er jeden Schritt und jeden Griff nach uns unterließ. Und das gelang. Hatten wir einmal zum Sprunge angesetzt, so konnte jede Störung [252] uns das Leben kosten. Als kluger Mann hätte er sich nach dem eigentlichen Grunde dieses unseres Wagnisses fragen müssen, und da wäre er gewiß auf die einzige richtige Antwort gekommen, daß wir uns von ihm und seinen Leuten trennen wollten; aber dieses Vorhaben erschien ihm so ungeheuerlich, daß der Schreck darüber ihn zu gar keiner Ueberlegung kommen ließ. „Denkt euch, ihr Männer,“ schrie er seinen Massaban zu, „unsere Gäste wollen über den Spalt springen! Das nenne ich eine Verwegenheit, die ganz unglaublich ist!“ Sie antworteten in ihrer wirren, lärmenden Weise. Wir achteten nicht darauf. Halef hatte Barkh bestiegen. Die Peitsche in der Hand, sah er mich mit zuversichtlichem Lächeln an und sagte: „Ich bin bereit. Mein Rappe muß es verzeihen, wenn er in diesem seltenen Falle einmal einen Schlag von mir bekommt. Es kann dadurch ihm und mir das Leben gerettet werden. Soll ich jetzt?“ „Ich will erst vollständig freie Bahn machen und bitte dich noch einmal, ja nicht zu erschrecken oder dich umzusehen, wenn ich etwa schieße!“ Der ganze Vorgang spielte sich natürlich viel schneller ab, als ich ihn erzählen kann. Ich warf nochmals einen forschenden Blick auf Halef. Seine Haltung war fest und gut, und sein Gesicht hatte den Ausdruck eines solchen Selbstvertrauens, als ob an ein Mißlingen des Sprunges gar nicht zu denken sei. Nun warf ich mir zwei Gewehre über den Rücken, machte das dritte schußfertig, schwang mich in den Sattel und ließ Assil derart nach der Spalte courbettieren, daß die wenigen Massaban, welche noch im Wege standen, zurückweichen mußten. [253] „Ileri - vorwärts!“ rief ich nun Halef zu. „Bi aun illah - mit Gottes Hilfe! Jatib, jatib, ia Barkh - spring, spring, o Barkh!“ Indem er diese Worte ausrief, trieb er sein Pferd an, welches nun wohl wußte, um was es sich handelte. Es flog, nein, es schoß in der Weise vorwärts, daß mein Ohr die einzelnen Hufschläge nicht voneinander unterscheiden konnte. Es gab in mir ein Gefühl, welches ich noch nie empfunden hatte und das mich wahrscheinlich auch jetzt nicht ergriffen hätte, wenn der Hadschi nicht so krank und matt gewesen wäre. Mein ganzes Wesen schien ein einziger, großer, lauter Hilferuf zu sein. Da setzte Barkh hüben an - - jede seiner Muskeln war federnde Energie - - jetzt schwebte er über dem Abgrunde - - nun faßte er drüben Boden - - mit allen vieren - - schon war es mir, als müsse ich vor Freude jauchzen - - - da gab die jenseitige Kante unter seinen Hinterhufen nach - - sie rutschten ab - - - Halef erkannte die fürchterliche Gefahr - - - er hieb mit der Peitsche hinter sich nach der Weiche des Hengstes - - - dieser wollte empor, brachte es aber nur zu einem vergeblichen Kratzen des nun von der trügerischen Humusschicht befreiten, glatten Felsenrandes - - - sie mußten, mußten, mußten abstürzen, beide, Reiter und Pferd, wenn nicht mein Schuß noch Rettung gab! - - - Ich drückte ab. Der Krach wurde mit verzehntfachter Stärke von den Felsen zurückgeworfen und schien von hundert Echos wiederholt zu werden - - - es war, als ob dieser gewaltige Knall die mechanische Kraft besitze, die Hinterhand des Pferdes emporzuheben - - - oder war es die bewundernswerte Geistesgegenwart Halefs? - - - Er zog die Beine empor, legte beide Hände auf die Schulter des Rappen und schleuderte sich [254] seitwärts am Kopfe desselben vorüber nach vorn, wodurch er glücklich den festen Boden erreichte - - - das dadurch entlastete und durch den Schuß zur Anspannung aller Nerven getriebene Tier gewann die felsige Kante, that einige krampfhafte Sätze vorwärts und blieb dann, am ganzen Leibe zitternd, zwischen den Bäumen stehen. Halef folgte ihm wankend - - - drehte sich um - - - erhob den Arm, um mir zu winken - - - brach dann aber in einer Weise zusammen, als ob ein Schlag ihn zu Boden geworfen habe. Ich glaube nicht, daß ich jemals im Leben so tief, so unendlich tief und erleichtert aufgeatmet habe, wie in jenem Augenblicke! Die Massaban hatten, wie vom Schreck gelähmt, vollständig still und unbeweglich gestanden; nun aber machten sie ihren Gefühlen durch ein Geschrei Luft, welches infolge des Echos gar nicht aus menschlichen Kehlen zu kommen schien. Sie sprangen hin und her, schlugen mit den Armen in die Luft und gebärdeten sich so, als ob sie toll geworden seien. „Ruhe! Macht Platz!“ brüllte ich sie an, denn nur durch diese allerstärkste Art des Tones konnte ich mich ihnen hörbar machen. „Bleib doch, bleib!“ schrie Nafar Ben Schuri. „Hast du denn nicht den sichersten, schauerlichsten Tod vor deinen Augen gesehen?!“ „Hast du denn nicht gesehen, daß dieser Tod gar nicht so sicher ist, wie du sagst?“ antwortete ich. „Gebt Raum! Nehmt euch in acht!“ Indem ich mein Pferd mitten unter sie hineintrieb, zwang ich die Horde, die Bahn wieder frei zu geben. Dann streichelte ich den schönen, warmen Hals des Rappen und bat ihn in ruhigem Tone: [255] „Jatib, ia Assili, jatib - spring, o mein Assil, spring!“ Er wußte seinen Freund Barkh drüben, und er verstand diese meine Worte. Da bedurfte er gar keines Antriebes. Ich hörte, daß er die Brust voll Atem nahm, und hob mich in den Bügeln. Das gab ihm freie Spannung. Er that die wenigen Sammelsprünge in wunderbarer und nervenruhiger Sicherheit, kam ganz genau am Rande des Abgrundes zum Ansatze und ging leicht wie ein Gedanke über die Spalte hinüber. Noch vier, fünf Schritte, dann blieb er drüben, ohne daß ich ihn anzuhalten brauchte, genau neben Barkh stehen. Dies war mit so verblüffender Leichtigkeit vor sich gegangen, daß die Massaban da hinten dieses Mal ganz still blieben. Ich sprang ab, warf die Gewehre weg und zog mit beiden Händen den Kopf des herrlichen Tieres an meine Brust. Assil hatte es verdient, daß ich vor allen Dingen erst ihm einige dankbare Schmeichelworte sagte; dann aber mußte ich nach Halef sehen. Er lag am Boden und regte sich nicht. Tot war er natürlich nicht, sondern nur besinnungslos und zwar nicht etwa vor Schreck oder Angst, sondern infolge der Ueberanstrengung aller seiner körperlichen und geistigen Kräfte. Der längst von mir befürchtete Augenblick des endlichen Zusammenbrechens hatte sich nun eingestellt! Was war zu thun? Da - - - horch! War das nicht eine halblaute Stimme, welche mich rief? „Sihdi - - - Sihdi!“ Das klang hinter einem der starkstämmigen Bäume hervor. „Wer ruft?“ fragte ich. „Ich! Der Scheik der Dschamikun.“ „Peder?“ [256] „Ja. Ich darf nicht hinter dem Baume hervor, weil mich die Massaban da drüben trotz der Dämmerung doch vielleicht sehen würden. Komm her zu mir!“ Ich ging hin. Ja, da stand er, noch als Fakir, wie wir ihn vorher gesehen hatten. „Wirklich du!“ sagte ich. „Wie ist es möglich, daß du schon hier sein kannst. Wir sind so schnell geritten, und zwar, wie es scheint, den allerkürzesten Weg!“ „Wir aber noch schneller, und zwar auf einem Wege, welcher auch nicht länger als der eure ist. Ich wollte vor euch hier sein, um wo möglich noch heut abend die Falle schließen zu können. Ich habe sowohl hier, als auch am Eingange des Daraeh-y-Dschib meine Wachen stehen, welche mir alles melden, was geschieht. Sie sahen euch kommen und haben hinter euch das Thal so gut besetzt, daß die Massaban nur dann wieder heraus können, wenn wir es ihnen erlauben.“ „So muß ich dir vor allen Dingen sagen, daß noch während dieser Nacht auch noch der Nachtrab ankommen wird.“ „Das ist mir wichtig. Ich danke dir und werde meine Vorkehrungen darauf treffen. Ich postierte mich hierher, um die Enttäuschung der Massaban zu beobachten, sobald sie sähen, daß die Brücke nicht mehr vorhanden sei. Ich hatte vergessen, dir zu sagen, daß wir sie zerstört haben. Es war anzunehmen, daß du mit dem Scheik der Haddedihn bis morgen früh bei ihnen hier im Thale bleiben und dich dann in unauffälliger Weise von ihnen trennen würdest, um zu kommen. Ihr habt das aber schon heut und zwar derart gethan, daß meiner Bewunderung die Worte fehlen. Sihdi, habt ihr denn nicht an den Tod gedacht?“ „O doch! Grad weil wir das thaten, wurde der [257] Sprung unternommen. Es galt, Halef zu retten. Er konnte es unmöglich da drüben bis morgen früh aushalten. Das Wagnis mußte unternommen werden.“ „Es war mehr, viel mehr als bloß das, was man Wagnis nennt! Ich fühlte mich bis jetzt so sehr beschämt, daß ich mit der berühmten Stute des Ustad von dir auf deinem Rappen eingeholt worden bin; nun ich aber hier gesehen habe, was ihr euch und euren Pferden zuzumuten versteht, sehe ich ein, daß es keine Schande ist, von euch übertroffen worden zu sein. Es war auch für mich ein schrecklicher Augenblick, Hadschi Halef an der Kante über dem Abgrund hängen zu sehen. Sein kühner Schwung und dein Schuß haben ihn gerettet. Als ich dann sah, daß du bereit warst, ihm zu folgen, bebte mir das Herz. Der Araber war auf dem Araber nicht glatt angelangt; so gab es also für den Europäer noch weniger Hoffnung, auf einem nichtfränkischen Pferde diesen entsetzlichen Sprung mit Glück zu thun. Wie gern hätte ich dir zugerufen, dies zu unterlassen; aber es war mir ja verboten, meine Gegenwart zu verraten! Da kamst du angesaust, so leicht, so glatt, so unbeschreiblich sicher! Du saßest nicht; du standest hoch im Bügel. Noch nie war das von mir gesehen worden! Das war so ungewohnt, so fremd, so über mir, und doch kam augenblicklich die Gewißheit über mich, daß für dich nichts zu fürchten sei. Dein Rappen ging in kühnem, festem Bogen in die Luft. Es war nur ein Moment, aber doch so hell, so deutlich, was ich sah: du warst es zwar, doch war's auch ein Gesicht, ein Blick ins ferne Land, das wir die Zukunft nennen: du warst das Abendland, auf fehlerfreiem, morgenländischem Pferde! Der Abgrund zwischen hier und dort, er schwand; dein Assil trug das Christentum mir zu. Die finstere Schlucht dort ist ver- [258] schwundenes Land. Ich heiße dich, den Westen, hoch willkommen! Krank liegt der Osten hier zu unsern Füßen, in tiefer Ohnmacht, ganz wie Halefs Körper. Doch du und ich, wir werden ihn erwecken, und unsere Liebe soll ihm Rettung sein!“ Er zog mich an sich und küßte mich. Ich erwiderte diesen Kuß so gern, so gern, obwohl er noch als Fakir gekleidet und darum in diesem Augenblicke nicht etwa ein Ideal körperlicher Sauberkeit war. Dann fuhr er fort: „Das war das Gesicht, welches über mich kam, für einen einzigen, noch weniger als kurzen Augenblick; aber dieses Schauen in die Ferne der zukünftigen Zeit wird von seiner Deutlichkeit nichts verlieren, denn was die Seele unserm Auge zeigt, das darf von dem Geiste nicht vergessen werden! - - Nun erlaube mir, für Hadschi Halef zu sorgen. Ich gehe fort, um Befehle zu erteilen, werde aber schnell zurückkehren.“ Er entfernte sich. Welch ein sonderbarer Empfang von seiten dieses Mannes! Es war ein ganz eigentümlicher Eindruck, den er mit seinen Worten auf mich machte. Dazu die nun hereingebrochene Nacht. Ueber mir die hochragenden Bäume, durch welche ein schweres, ernstes Rauschen ging. Vor mir ein vollständig unbekanntes Terrain, mit Menschen, die mir fremd und dennoch Freunde waren. Hinter mir die durch unsere Entschlossenheit besiegte Tiefe, über welche die rufenden Stimmen der Massaban herüberklangen. Sie wollten Antwort von mir haben; ich gab sie ihnen nicht. Mit diesen Leuten wollte ich nichts mehr zu thun haben. Ich war entschlossen, wenn möglich, keinen von ihnen jemals wiederzusehen. Ich nahm an, daß wir uns mit ihnen gar nicht mehr zu beschäftigen brauchten; die Dschamikun hatten jedenfalls Leute genug, mit ihnen fertig zu werden. [259] Halef lag noch genau so da, wie er niedergefallen war. Dem Atem fehlte die Stärke, die Brust zu bewegen, und den Puls konnte ich kaum fühlen. Ich rief seinen Namen, sogar ganz nahe bei dem Ohre; es machte keinen Eindruck auf ihn. Seine Hände, seine Arme, seine Glieder waren vollständig schlapp. Es lag vor mir ein Körper, der weder Kraft noch Willen und kaum noch Leben hatte. Das war der hochenergische, strotzende und sprühende Hadschi Halef, der sich so gern „den größten Helden des Morgenlandes“ nannte. Als ich ihn so vor mir liegen sah oder vielmehr ihn unter meinen Händen fühlte, vergaß ich natürlich ganz, auch an mich selbst zu denken. Dennoch bemerkte ich, daß mir, wenn ich mich bückte, der Kopf schwer nach vorn fallen wollte. Es war, als ob in meinem Gehirn eine reibende und darum schmerzende Bewegung vorhanden sei. Die Augenlider wollten nicht geöffnet bleiben. Es ging durch mich, wohl ebenso geistig wie auch leiblich, eine Empfindung, welche nur durch die Worte ausgedrückt werden kann: du hast dich gesträubt, so lange du mußtest; jetzt aber sind alle Gefahren vorbei; nun bist du mein! Da kam Peder wieder. Er hatte mehrere seiner Leute bei sich. Ich hatte mich neben Halef niedergesetzt und stand auf. Das wurde mir schwer, so schwer, daß ich mich mit den Händen stützen mußte. Einige von den Dschamikun nahmen den Hadschi auf und trugen ihn fort. Andere ergriffen die Zügel unserer Pferde, um sie zu führen. Der Scheik faßte meine Hand und sagte: „Der Ustad läßt euch bitten, bei ihm zu wohnen. Ich habe ihm einen Boten gesandt; er weiß, daß ihr kommt.“ „Ist es weit?“ fragte ich. Fiel ihm nur diese meine Frage oder auch der matte [260] Ton auf, in dem ich sie ausgesprochen hatte? Er erkundigte sich: „Bist du etwa auch krank?“ „Ganz plötzlich müd, sehr müd!“ „Hast du Flecken am Körper?“ „Ja, auf der Brust.“ „Allah jesellimak - Gott erhalte dich! In diesem Zustande habt ihr einen solchen Todessprung gewagt! Ganz unbegreiflich, ja eigentlich eine Menschenunmöglichkeit!“ Ich versuchte, zu scherzen: „Du hast vorhin in mir das Abendland gesehen. Verzeihe mir, daß es so krank zu euch gekommen ist!“ Da drückte er mir die Hand, an welcher er mich führte, fester und antwortete: „Ich kenne euer Leiden. Es geht so gern auf die gesunden Andern über. Doch tragt ihr es uns ja nicht heimlich zu und gebt die Schwäche nicht für Stärke aus. Wer uns nicht täuscht, der täuscht sich nicht in uns. Komm, lieber Mann, ich will dir Bruder sein!“ Es war unter den Bäumen so dunkel, daß ich die Hand vor den Augen nicht sehen konnte. Der Peder hielt mich fest. Er kannte das Terrain genau und machte auf jede Eigentümlichkeit desselben aufmerksam. Dennoch wurde mir das Gehen schwerer, als die Umstände es eigentlich begründeten. Ich stolperte und schwankte oft. Da schlang er, um mich zu stützen, stets und schnell den Arm um mich. Am liebsten wäre ich in diesem starken, liebevoll besorgten Arme liegen geblieben, um mich von ihm weitertragen zu lassen! Wie lange wir so, oft auf-, oft abwärts gingen, weiß ich nicht. Das Gefühl für die Bestimmung der Zeit war mir vollständig abhanden gekommen. Dann [261] war der Wald zu Ende. Die Sterne standen über uns, und unsere Füße schritten über ebenen Boden und auf weichem Grase. Wir hatten bei der Entfernung von der Felsenspalte den Schluß gemacht, waren also die letzten und beide allein. Von dem Hadschi und den Pferden sah ich nichts. Als ich nach ihnen fragte, bekam ich die Antwort: „Habe keine Sorge! Du wirst deinen Freund beim Ustad finden, eure Pferde auch und ebenso die Gewehre.“ Die Gewehre! Da kam noch nachträglich der Schreck über mich. Ich hatte sie vergessen, vollständig vergessen, gar nicht an sie gedacht, als ich vom Peder fortgeführt worden war. Erst jetzt fiel mir ein, daß ich sie, als ich nach dem Sprunge aus dem Sattel stieg, neben mich hingeworfen hatte. Diese im andern Falle ganz unmögliche Vergeßlichkeit brachte mich zu der Ueberzeugung, daß die Krankheit auch bei mir viel weiter vorgeschritten sei, als ich gedacht hatte. Kaum hatte ich diesem Gedanken Raum gegeben, so begann er, mich zu beherrschen. Ich mußte stehen bleiben. Meine Beine zitterten, die Füße versagten mir den Dienst. „Was ist mit dir?“ fragte der Peder, „fällt dir das Gehen schwer?“ „Nicht schwer, nicht leicht; es giebt eben kein Gehen mehr. Erlaube, daß ich mich für einen Augenblick setze!“ Er umfaßte mich, um mich langsam niederzulassen. Ja, sitzen! Das war nicht möglich; ich mußte sofort liegen; es fehlte mir die Kraft, den Oberkörper aufrecht zu halten. Da sanken auch die Lider herab und waren nicht wieder in die Höhe zu bringen. Was nun mit mir geschah, das weiß ich nicht. Ich war wie ganz im festen Schlafe, zuweilen auch wie nur im Traume. Ich hörte [262] zuweilen die gütige, besorgte Stimme des Peder. Er sprach zu mir; er sprach auch zu Andern, doch klang es wie aus weiter, weiter Ferne. Ich fühlte mich gehoben und getragen. Ich war so leicht; ich hatte keinen Körper. Ich bestand aus nichts als nur aus froher Zuversicht und glücklichem Vertrauen, und diese gänzliche Hingebung lag wie auf Engelsflügeln ausgebreitet. Dann war es mir, als schwebe ich durch tausend, tausend selige Ewigkeiten, unendlich lang und doch so kurz, so kurz! Was für Töne erklangen da? Waren das die Harfen verklärter Geister? Oder war es der Psalter des alttestamentlichen Sängers, der da spricht: „Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen, von denen mir Hilfe kommt!“ Und da legte sich eine Hand auf meine Stirn. Es war, als ob von ihr aus eine gütig reine, immaterielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe, wohllautende Stimme sprach die letzten Worte ganz desselben Psalms: „Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!“ Die Stimme schwieg. Leise Schritte entfernten sich. Tiefe, fromme Stille herrschte in mir und auch rund umher. Aber ich hatte die Empfindung, daß ich nicht allein und verlassen sei. Es umwehte mich ein feiner, gottesdienstlicher Duft, wie von Weihrauch und Myrrhen. Da erklangen hoch über mir zwei Glöcklein. Sonderbar, daß ihr schönes Harmonieverhältnis mir sofort in die Ohren trat! Die eine, tiefe, war in die untere Dursexte der oberen gestimmt. Es war gewiß ganz eigentümlich, daß mir trotz meines Zustandes die Frage kam, warum in diesem Grundakkorde doch die Quinte fehle! Nun wieder tiefe Stille. Dann hörte ich in kurdischer [263] Sprache ein vierstimmiges, feierliches Lied erklingen, dessen erste Strophe deutsch zu lauten hätte: „Herr, ich trete Im Gebete Vor dein heilig Angesicht. Laß dir sagen Meine Klagen; Höre, was mein Flehen spricht!“ Es waren nicht Orgel-, sondern Harfentöne, welche dieses Lied begleiteten. Gab es hier eine Kirche? War ich überhaupt auf der Erde? Träumte oder wachte ich? Ich hatte keine Macht über meine Augen. Besaß ich überhaupt jetzt welche? War ich jetzt vielleicht nur Geist, nur Seele? Wo war mein Körper geblieben? Ich fühlte ihn nicht! Da gab es neben mir ein leises, leises Rauschen wie von einem feinen, sich bewegenden Gewande. Zwei warme, weiche Frauenhände ergriffen meine Hand, und eine innig sprechende Altstimme betete: „Herr, es treten, Um zu beten Zu dir Alle, die du liebst. Laß den Glauben Uns nicht rauben, Daß du nichts als Leben giebst!“ Meine Hand wurde lange festgehalten. Das merkte ich, obgleich ich den Sinn für Zeit und Raum kaum noch zu besitzen schien. Dann gab es eine Berührung, als ob zwei Lippen sich auf diese meine Hand legten. Ich wollte sie zurückziehen, ohne daß ich diese Bewegung ausführen konnte. Wer war es, der, vor mir knieend, um mein Leben gebetet hatte? Ich wünschte so dringend, dies zu erfahren, doch gelang es mir nicht, ein Wort der Frage [264] auszusprechen. Aber ich fühlte, daß meine Augen sich öffneten; das war so eigenartig, so ganz als ob es nicht meine leiblichen, sondern die seelischen seien. Da sah ich in ein liebes, ernstes, reines Frauengesicht. Es war von einer so frommen, edlen Schönheit, wie man Heilige abzubilden pflegt. Die Augen waren dunkel und trotzdem doch so hell, so licht, so klar. Es ging von ihnen eine Wärme aus, welche auf mich überfloß. Mir war, als ob ich dieses Antlitz schon einmal gesehen habe, nicht gleichgültig und vorübergehend, sondern sorgsam und mit derselben Herzenswärme, welche ich jetzt zurückempfand. Nun breitete sich ein frohes Lächeln über die so kinderholden und doch so frauenhaft sinnigen Züge, und die Lippen, welche vorhin meine Hand berührt hatten, fragten mich: „Erkennst du mich, Sihdi? Ich bin Schakara, welche du vom Tode errettet hast.“ Ich wollte antworten, konnte aber nicht. Ich hörte nichts, als ein unverständliches Flüstern, welches aus meinem Munde kam. Da fuhr sie fort: „Ich bin das Mädchen, welches damals in Amadijah die Oelim kires1) [1) Todeskirsche.] gegessen hatte. Deine Hand brachte mir das schon fast entflohene Leben zurück2) [2) Siehe Karl May „Durchs wilde Kurdistan“ pag. 205 ff.]. Kannst du dich erinnern?“ Ich bewegte meine Augenlider, um ihr anzudeuten, daß ich sie verstanden habe. Zu sprechen war mir nicht möglich. Da legte sie ihre Rechte auf meine Stirn und sagte: „Die Krankheit hat dir das Reden verboten. Aber sei getrost! Chodeh ist die Barmherzigkeit. Er wird uns nicht das schreckliche Leid anthun, dich bei uns sterben [265] zu lassen. Der Ustad hat für euch gebetet, und die Güte des Himmels wird ihn ganz gewiß erhören. Schau, da kommt er. Siehst du ihn?“ Sie fragte mich so, weil mir jetzt die Augen zugefallen waren; ich konnte sie nicht wieder öffnen. Doch hörte ich Schritte, welche sich näherten. „Kam er noch nicht zu sich?“ wurde Schakara gefragt. Das war dieselbe tiefe, wohllautende Männerstimme, welche ich schon gehört hatte. „Er öffnete die Augen und sah mich an,“ antwortete sie. „Sprechen konnte er nicht.“ „Hat er dich erkannt?“ „Ich glaube es.“ „So liegt er nun wieder in der vorigen Bewußtlosigkeit. Ihn werden wir wohl retten. Von seinem Gefährten dort aber kann ich das leider nicht sagen. Er steht bereits sehr nahe am Tode.“ Da hörte ich Halefs Stimme laut und zornig erklingen: „Am Tode? Sein Gefährte? Also ich? Ihr glaubtet wohl, ich schlafe? Ich bin soeben aufgewacht und habe euch gehört. Ich stehe nicht am Tode! Nein, nein, nein! Ich bin Hadschi Halef Omar, der Haddedihn vom Stamme der Schammar. Mich kennt man überall; einen Tod aber giebt es nicht! Darum ist das, was ihr sagt, ganz unmöglich. Ich befinde mich nicht am Tode - - - am Tode - - - nicht, nicht - - - am - - - - - Tode!“ - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - Ich hörte diese Worte meines Hadschi, wußte aber nicht, wo er lag. Es war, als ob irgend eine Frage nach ihm sich in mir emporringen wolle; sie trat aber [266] weder in das Bewußtsein noch in den Willen, denn ich hatte die Empfindung, als ob ich jetzt emporgehoben und weit, weit fortgetragen werde, und wie in unendlicher Ferne hörte ich die Worte verklingen: „Am Tode - - - am Tode - - -!“ - - - Wie lange ich fern von mir gewesen war, oder, durch die gewöhnliche Redensart ausgedrückt, wie lange ich nun wieder ohne Bewußtsein dagelegen hatte, das weiß ich nicht. Hierauf schien es, als ob mir Harfenklänge nahten. Es war aber umgekehrt: ich kam zu ihnen; die Besinnung kehrte mir zurück. Es bedurfte jetzt keiner Anstrengung für mich, die Augen zu öffnen, doch fühlte ich eine mir unbekannte Schwere in den Lidern. Ich war außerordentlich matt. Als ich versuchte, den Kopf zu bewegen, dauerte es eine ganze Weile, bis es mir gelungen war, das Gesicht auf die von der Wand abgewendete Seite zu legen. Ich hatte den Mund offen, und sonderbarerweise war es mir, als ob dies so sein müsse; es fiel mir gar nicht ein, ihn zu schließen. Und doch war ich mir zu derselben Zeit vollständig darüber klar, daß dies zu den Krankheitserscheinungen des exanthematischen Fiebers gehöre. Nun sah ich, wo ich mich befand. Es war ein hoher, lichter, weiß getünchter Raum, dessen Wände augenscheinlich aus starken Mauersteinen bestanden. Die beiden Seiten waren nicht durchbrochen. In der Hinterwand gab es eine breite Doppelthür, für die Gegend, in welcher wir uns befanden, eine große Seltenheit. An der Vorderseite standen zwei Säulen, die mit den Mauerwerken drei offene Bogen bildeten, durch welche Luft und Licht mehr als genugsam Zugang fanden. In der einen Ecke lag ich, in der andern Halef, mit den Füßen nach der Thür gekehrt, damit die vorn hereinbrechenden [267] Sonnenstrahlen nicht direkt in unsere Augen fallen möchten. Längs der ganzen Hinterwand waren blühende Pflanzen aufgestellt, zur Augenweide für uns, wie ich später hörte. Rechts, wo ich lag, stand in einer breiten Nische ein thronähnlicher Sessel. Vor ihm lag ein Teppich ausgebreitet, mit persischen Sitzkissen nach rechts und links. Ich schloß daraus, daß ich mich nicht in einem Wohnraume befand. In der Folge erfuhr ich, daß der Ustad hier die Aeltesten des Stammes zu empfangen und mit ihnen zu beraten pflege. Es war ein kaum genug zu schätzender Vorzug für uns, daß er grad dieses Gelaß für uns bestimmt hatte. Ich sah an den Wänden Sprüche stehen; aber ich las sie nicht. Selbstdenken konnte ich; aber geschriebene Zeichen in Gedanken zu verwandeln, das brachte ich nicht fertig. Bettstellen gab es natürlich nicht, doch waren unsere Lager von der größten, hier zu Lande ganz ungewohnten Reinlichkeit. Man hatte weiche Kissen hoch aufeinander gerichtet, so breit, daß mehrere Personen hätten nebeneinander liegen können, und die hellen, saubern Kamelhaardecken waren so fein und leicht, als ob sie aus Seide gewebt worden seien. Halef lag still, ganz bewegungslos. Sein Gesicht war außerordentlich eingefallen; es glich dem einer Leiche. Seltsamerweise machte mich das nicht im geringsten bange. War das Vertrauen? Oder war es die Gleichgültigkeit, welche man bei Kranken oft zu beobachten pflegt? Unweit der Thür saß Schakara mitten im Pflanzengrün. Weiß war ihr Gewand. Sie hatte den Schleier nach hinten geschlagen. Ihr dunkles Haar hing in langen, schweren Flechten herab. Die schlanken Finger glitten über die Saiten der Sandurah1) [1) Orientalische Harfe.]. Darf man ein [268] menschliches Wesen mit einem Gedicht vergleichen? Man sagt ja, daß der Mensch das herrlichste Gedicht der ganzen Schöpfung sei. Wenn nicht das herrlichste, aber gewiß eines der frömmsten sah ich hier! Hätte wohl ein europäischer Arzt erlaubt, in der Nähe so schwerkranker Personen Musik zu machen? Wahrscheinlich nicht! Es kommt ja wohl auch auf die Art des Instrumentes an. Der Harfenton ist der am wenigsten künstliche. Er bietet Klänge der Natur, wohllautend für das Menschenohr gestimmt. Dieser Wohllaut ist auch für kranke Nerven angenehm. Man darf einer Kurdin nicht zumuten, Künstlerin zu sein. Schakara griff nur die vorgestimmten Akkorde; sie wußte nichts von einer chromatischen Veränderung der Töne; aber grad durch diese diatonische Einfachheit war jede Mitthätigkeit des Ohres ausgeschlossen; es empfing die Töne ebenso leicht und selbstverständlich, wie die Brust die Luftwellen, von denen sie herbeigetragen wurden, atmete. Daher kam es, daß diese Klänge die Seele unmittelbar berührten; sie schienen zur Atmosphäre dieses Hauses zu gehören und einen die Lebenskräfte hebenden, wohlthuenden Einfluß auszuüben. Ich fühlte diesen Einfluß. Es war, als ob es in mir etwas gebe, was den Harfentönen verwandt sei, was lange, lange geschwiegen habe und nun endlich, endlich einmal mit erklingen dürfe. Darum berührte es mich fast wie eine Entsagung, wie ein Verlust, als Schakara aufhörte und die Harfe auf die Seite lehnte. „Bitte, spiel weiter!“ bat ich sie. Ich hatte diese Worte ganz unwillkürlich, fast ohne Willen ausgesprochen. Nun überkam mich eine Art von Verwunderung darüber, daß ich wieder sprechen konnte. Die Kurdin kam schnell zu mir herüber, ließ sich an meiner Seite nieder und sagte: [269] „Suhker Chodeh!1) [1) Gott sei Dank!] Ich höre deine Stimme! Siehst du mich, und verstehst du, was ich sage?“ „Ja,“ antwortete ich. „Du befindest dich im hohen Hause des Ustad. Er wünscht, daß ich euch pflege. Erlaubst du es mir?“ „Ja.“ „Hast du einen Befehl für mich?“ „Nein, nie!“ „Warum nicht?“ „Für dich nur Bitte, nie Befehl.“ Da ergriff sie meine Hand, sah mir mit einem langen, frohen Blick ins Angesicht und sagte dann: „Du bist noch ganz so voller Güte, wie du damals warst. Sag, Effendi, welcher Wohlgeruch ist dir der liebste?“ „Benefsesch2) [2) Veilchen.].“ Da küßte sie mir die Hand, stand auf und eilte aus der Stube. Warum hatte sie mich nach meinem Lieblingsdufte gefragt? Der Grund sollte mir leider nur zu bald zur Erkenntnis kommen. Er war mir nicht fremd, aber meine Gedanken waren jetzt zu schwach, ihn augenblicklich zu erraten. Da drüben bei Halef hatte man eine Menge in Erdkästen gepflanzte Rosen aufgestellt; bei mir hier gab es keine Blumen, doch fragte ich mich nicht, woher das kommen möge. Mich fror ganz plötzlich, durch und durch und so intensiv, als ob ich ganz in Schnee und Eis begraben sei. Es war ein von starkem Fieber begleiteter Schüttelfrost, der mich an die Petechien erinnerte, welche ich unterwegs auf meiner Brust bemerkt hatte. Ich sah nach, die Flecke hatten sich jetzt über den ganzen Ober- [270] leib verbreitet; auch auf den Armen bemerkte ich sie. Diese Entdeckung ließ mir den Kopf heiß erglühen, während der Körper vor Kälte bebte. Da sah ich den Peder hereintreten und leisen Schrittes zunächst hin zu Halef gehen. Er trug natürlich die Fakirlumpen nicht mehr, sondern war ganz weiß in weite, kurdische Hosen und ein bis auf die Kniee reichendes Obergewand gekleidet, welches an der Taille von einer blauen Schärpe zusammengehalten wurde. Da steckten anstatt der Messer und Pistolen einige schön erblühte, purpurglühende Schirasrosen. Sein langes, seidengrau glänzendes Haar war von vorn nach hinten zurückgekämmt und hing bis über die Schultern herab. Sein heut vom gestrigen Schmutze freies, Ehrfurcht erweckendes Angesicht wurde von jenem Hauche innerer Jugend verschönt, welche aus der Seele auf den Körper überstrahlt und selbst im höchsten Lebensalter nicht vergeht. Man sah ihm an, daß er mit vollem Rechte Pedehr genannt wurde, ein Vater, der den Seinen nichts als Liebe giebt, Liebe mit verständiger Einsicht gepaart, und von ihnen dafür wieder Liebe erntet. Er betrachtete Halef aufmerksam, kniete dann bei ihm nieder und sprach zu ihm, ohne aber eine Antwort zu erhalten. Hierauf strich er ihm wiederholt über das Gesicht und ergriff seine Hände, um sie zu bewegen. Auch das war ohne Erfolg; der kleine, liebe Hadschi gab kein Zeichen, daß er lebe. Da kam der Pedehr zu mir. Er sah, daß ich die Augen offen hatte, ließ sich bei mir nieder und fragte: „Siehst du mich, Sihdi?“ „Ja,“ antwortete ich. Nun richtete er seine großen, klaren Augen auf die meinigen. Es war, als ob er mit diesem seinem langen [271] Blicke in die Tiefen meines Innern hinabsteige, um es zu erforschen. Dann fuhr er fort: „Schmerzt es deinen Kopf, wenn ich zu dir spreche?“ „Wenig, aber doch.“ „So wollen wir nur das sagen, was unbedingt nötig ist. Ich kenne diese Krankheit und weiß, daß du nicht an ihr sterben wirst, es trete denn eine unvorhergesehene Ursache zur Verschlimmerung ein. Ihr habt in der verflossenen Nacht unser Heilmittel wiederholt getrunken, wovon du aber nichts weißt, weil ihr beide ohne Bewußtsein waret. Es wird gewiß seine Wirkung thun.“ „Auch bei meinem Halef?“ Er zögerte mit der Antwort. Da bat ich ihn: „Sag die Wahrheit! Ich bin ein Mann und muß, muß, muß sie wissen!“ Er neigte zustimmend den Kopf und sprach: „Ja! Von einem andern würde ich denken, daß ich ihn schonen müsse; dir aber bin ich die Wahrheit schuldig. Du wirst in einen langen, tiefen, schweren Schlaf verfallen, und wenn du aus ihm erwachst, wird das, was an deinem Freunde unsterblich ist, von ihm geschieden sein. Das ist es, was menschliches Ermessen zu dir aus meinem Munde sagt. Er wird vielleicht noch einigemal für kurze Augenblicke zu sich kommen, dann aber einschlummern und erst im Verscheiden wieder erwachen. So denke ich. Aber ich hoffe, daß Chodeh, welcher die allmächtige Liebe ist, es anders und viel besser weiß. Nun sag auch mir die Wahrheit! Bist du erschrocken?“ „Nein. Ich danke dir! Deine Aufrichtigkeit hat mich geehrt. Sie beweist mir, daß du mich nicht für einen Schwächling hältst. Halef darf nicht sterben. Chodeh wird helfen.“ [272] „Ja, wenn wir glauben, wird er uns wohl den Melek esch Schefa1) [1) Engel der Genesung.] senden!“ „Ich bin überzeugt davon. Aber wir dürfen uns nicht unthätig auf diesen Engel verlassen, sondern müssen seiner Hilfe entgegenkommen. Laßt mich nachdenken!“ Ich war doch schwächer, als ich gedacht hatte. Nicht nur das Sprechen, sondern auch das aufmerksame Zuhören, um zu verstehen, griff mich an. Ich schloß die Augen, um nachzudenken; aber es kamen mir keine Gedanken. Ich fieberte, und dieses Fieber brachte mir allerlei verworrene, unklare Bilder vor das innere Angesicht. Es war, als ob sich ein nur halb durchsichtiger, sich unausgesetzt bewegender Vorhang vor mir befinde, hinter welchem sich Ereignisse abspielten, die ich nicht deutlich zu erkennen vermochte. Da geschah etwas ganz Sonderbares: der Vorhang stand plötzlich still; er teilte sich nach rechts und links, und ich sah eine liebe, liebe Gestalt vor mir erscheinen. Ihr Anblick wurde mir nur für einen ganz kurzen Moment gewährt, aber das Bild hatte so scharfe Umrisse und so lebendige Züge und Farben, daß ein Irrtum darüber, wer es sei, ganz ausgeschlossen war. Es kam ein Reiter, erst in der Ferne klein, doch immer größer werdend, in schlankem Galoppe auf mich zugeritten; gerade vor mir parierte er sein Pferd, senkte die Hand zum Gruße und war dann verschwunden. Der Vorhang schloß sich und begann, sich wieder zu bewegen wie vorher. Wer war es gewesen? Unser Kara Ben Halef, meines kranken Freundes Sohn. Sogar das Pferd hatte ich erkannt. Es war der dunkelbraune, noch nicht vier Jahre alte „Ghalib“2) [2) „Sieger“, „Ueberwinder“.], den die Haddedihn als Leihgebühr für die Pferdezucht des [273] Stammes der Abu Hammed-Beduinen gewonnen hatten. Dieser Braune berechtigte zu den schönsten Hoffnungen und war unsern beiden Schwarzen ebenbürtig. Ich überlegte nicht lange, sondern fragte, die Augen wieder öffnend, den Pedehr: „Willst du den Hadschi retten? Du kannst es!“ „Wie gern!“ versicherte er. „Habt ihr einige sehr schnelle, ausdauernde Pferde?“ „Ja.“ „Und jemand, der die Gegend am Tigris jenseits von Qalat el Aschig, gegenüber von Samara, kennt?“ „Ich habe einen sehr zuverlässigen Mann, der ein guter Reiter und schon einigemale am Dschebel Sindschar gewesen ist. Er kennt die Gegend, von welcher du sprichst.“ „Sende ihn, und gieb ihm einige Begleiter mit. Im Westen von Qalat el Aschig wird er auf die Haddedihn treffen. Er soll um keinen Preis verraten, daß Halef krank ist; aber er soll unbedingt den Sohn des Hadschi bringen, welcher Kara Ben Halef heißt und den Ritt hierher auf dem dunkelbraunen Pferde ‚Ghalib‘ zu machen hat! Das Denken und das Sprechen fällt mir schwer. Gieb die Befehle so, wie du sie für nötig hältst!“ Da erhob er sich, faßte meine Hand und sprach: „Ich verstehe dich, Effendi. Wenn Halef erwacht, um zu sterben, soll er seinen Sohn vor sich sehen. Dadurch wird seine Seele vielleicht festgehalten werden. In nicht mehr als einer Stunde werden drei vertrauenswerte Männer unser Urd1) [1) Lager, Dorf.] verlassen, um deinen Wunsch so schnell wie möglich auszuführen!“ [274] Hierauf entfernte er sich. Ich aber fühlte mich in hohem Grade ermattet und versank in einen lethargischen Zustand, der aber nicht Bewußtlosigkeit und auch nicht Schlaf zu nennen war, denn meine inneren und äußeren Sinne blieben in, wenn auch nur geringer, Thätigkeit. Ich hörte das leise Rauschen von Schakaras Gewand wieder, und ich bemerkte, daß ein süßer Veilchenduft in meine Atmosphäre trat. Und dann - ob gleich hierauf oder später, das weiß ich nicht - war es mir, als ob ich im Gelobten Lande sei, und zwar in El Chalil1) [1) Hebron.]. Ich ritt auf dem alten Pflasterweg nach dem Haine Mamre hinaus und ließ mir im russischen Hospize dort den Schlüssel zum Aussichtsturme geben. Ich sah die unterhalb desselben stehende „Eiche Abrahams“ so deutlich, wie sie in Wirklichkeit absterbend dort zu sehen ist, und ritt dann zwischen Weinbergsmauern weiter, die Jerusalemstraße hinaus und rechts hinüber nach dem Brunnen Abrahams. Er liegt in der unteren, rechten Ecke des Mauerfeldes, und die strenggläubigen Bewohner von El Chalil sehen es nicht gern, wenn ein Christ von seinem Wasser trinkt. Ich schöpfte aber doch und trank und trank. Hierauf sammelte ich, wie ich schon früher gethan, den Samen der dort massenhaft wachsenden Kompositenblumen, um ihn daheim in meinem Garten anzusäen. Da erklang eine Stimme hinter mir: „Friede sei mit dir!“ Ich richtete mich auf und wandte mich um. Wer war die hohe, patriarchalische Gestalt, welche leuchtenden und doch so gütigen Auges vor mir stand? War es der erste der Erzväter, zu dem zu dritt die Engel kamen, um bei ihm einzukehren? War es Abraham, Tharahs Sohn, der aus Ur, im Lande der Chaldäer, [275] stammt? Ja, gewiß, er war es; er mußte es sein; aber nicht so alt wie im Haine Mamre und auch nicht so jung wie in Mesopotamien, und doch beides, alt und jung zugleich! Ich schaute in ehrerbietigem Staunen zu ihm auf. Ja, ich schaute! Ich hatte die Augen wieder geöffnet. Ich war nicht mehr geistig dort in El Chalil, sondern wirklich hier im kurdisch-persischen Gebirge. Ich befand mich auf meinem Krankenlager. Es war ringsum mit duftenden Veilchen geschmückt. Zu meinen Füßen saß Schakara, die Spenderin derselben, und zur Seite stand - - - Abraham, der Erzvater? Vielleicht hat dieser ein ganz genau solches einfaches, kamelhaarenes Gewand getragen wie der hochgestaltete, ehrwürdige Greis, den ich jetzt vor mir sah. Greis? Ja, denn der schneeweiße Bart, welcher ihm bis herab zur Gürtelschnur reichte, konnte nur eine Gabe des höchsten Menschenalters sein; aber das Ehrfurcht gebietende Angesicht war hochbetagt und jugendlich zugleich, und die voll und schwer vom Kopfe herniederhängenden Haarflechten zeigten eine nicht etwa stumpfe und künstliche, sondern so echte und lebenswahre Schwärze, wie sie nur den Jünglings- und den kräftigsten Mannesjahren eigen ist. Ich sah wie vorhin mit geschlossenen, nun mit offenen Augen staunend zu ihm auf. Da lächelte er mild zu mir hernieder, breitete die Hand wie segnend über mich und sprach: „Friede sei mit dir!“ Das war dieselbe tiefe, klangvolle Stimme, welche ich vorhin am Brunnen Abrahams gehört hatte. Es ging ein geheimnisvolles, köstliches Imponderabil von diesem Manne aus. Es kam zu mir, durchflutete mich, zog mich zu ihm hin. Ich konnte gar nicht anders, ich durfte ihm nur die eine Antwort geben: [276] „Du bringst ihn mir. Mein Dank und Segen sei dein Eigentum!“ „Die Jugend ist beim Alter, der Sohn beim Vater eingekehrt,“ fuhr er fort. „Die Liebe soll dich hier mit mir vereinen. Vertraue uns, so wirst du bald gesunden. Ich lege dir die Hand auf das kranke, müde Haupt. Aaleïk essallam u rahhmet Chodeh - der Friede und die Barmherzigkeit Gottes sei mir dir!“ Er ließ seine Hand fast eine Minute lang auf meiner Stirn liegen. Sie war so warm und doch so eigen frisch. Ich griff nach ihr und führte sie an meine Lippen. Er ließ das geschehen, hob aber dann den Finger und sprach, indem sein Mund fast schalkhaft lächelte: „Verschweige dies daheim! Wie darf das Abendland die Hand des Morgenlandes küssen! Man würde dich wohl kaum begreifen können!“ Hierauf wendete er sich von mir und ging zu Halef hinüber. Das also war der „Ustad“, der „Meister“! Ich folgte ihm mit meinen Augen, weil es mir unmöglich war, sie vom ihm abzuwenden. Fieberte ich etwa schon wieder? Es kam mir der sonderbare Gedanke: „Soeben hast du in das Angesicht des Orients geschaut.“ So eine Idee kann doch nur bei einem Kranken möglich sein! Er stand einige Zeit am Lager des Hadschi, ohne etwas anderes zu thun, als ihn zu betrachten; dann legte er auch ihm die Hand auf das Haupt, worauf er sich sehr ernsten Angesichts entfernte. „Das war er!“ sagte Schakara. „Dein Herz wird ihm gewiß bald angehören. Willst du nun die Harfe hören?“ Ich nickte. Sie ging nach der Stelle, wo die Sandurah lag, hatte sie aber noch nicht erreicht, so blieb sie stehen. Der Hadschi hatte sich bewegt. [277] „Sihdi - Sihdi - Sihdi!“ rief er laut. „Hier bin ich, Halef,“ antwortete ich. „Ich war ganz nahe, ganz nahe!“ fuhr er fort, ohne daß er die Augen öffnete. „Wo?“ „Am Sterben, am Sterben! Ich habe sie gesehen, beide, beide, ihn und ihn!“ „Wen?“ „Den Hadschi und den Halef! Der Hadschi war ein anderer; der Halef aber, der war ich! Der Halef lenkte seine Schritte hinauf nach dem Paradiese; der Hadschi aber hielt ihn fest, um ihn hinab zur Dschehenna1) [1) Hölle.] zu zerren. Es war ein schwerer Kampf. Der Halef war nicht stark genug, und der Hadschi wollte eben siegen; da fühlte ich eine Hand auf meiner Stirn und war gerettet. Hamdulillah!“ Seine Stimme hatte einen eigentümlichen, angstvollen, erschütternden Klang. „Warum antwortest du mir nicht?“ rief er. „Ich will noch leben; ich darf noch nicht sterben. Der Halef in mir ist noch nicht geschickt dazu; der Hadschi würde ihn zur Tiefe reißen. Die Hand, die Hand, sie soll so oft wie möglich wiederkommen! Sie soll dem Halef helfen - helfen - - hel - - - hel - - - -!“ Er sprach immer langsamer, langsamer und leiser, bis bei der letzten Silbe die Bewußtlosigkeit wieder über ihn kam. Schakara griff zur Harfe, deren Akkorde ich erst deutlich hörte; dann schien es, als ob sie sich entfernten, bis sie endlich ganz verklangen - - - ich war eingeschlafen. Eingeschlafen? Es war mehr als bloß nur Schlaf. Ich erfuhr später, daß ich fast zwei Tage lang gelegen [278] hatte, ohne mich ein einziges Mal zu bewegen. Ein ganz entsetzlicher Frost war die Veranlassung, daß ich erwachte. Drüben in der andern Ecke waren mehrere Männer beschäftigt, Halef mit kaltem Wasser und Tüchern zu frottieren. Die Luft kam mir verschlechtert vor. Es roch trotz der frischen Veilchen, welche ich sah, so dumpf, so moderig, fast wie nach Leiche. Ah! Da kam die Erkenntnis: Ich selbst war es, von dem dieser Geruch ausging, der ein Symptom des Petechialtyphus ist! Nun wußte ich, daß eine wochenlange Betäubung sich meiner bemächtigen werde. Also darum die Veilchen! Diese Blumen hatten bei mir denselben Zweck wie dort bei Halef die Rosen. Es wurde mir himmelangst, mehr um ihn als um mich. Ich wollte die Männer fragen, brachte aber kein Wort über die Lippen. Doch dauerte dieser Zustand nicht lange, da mir das Bewußtsein sehr bald wieder schwand. Später erinnerte ich mich, zuweilen kaltes Wasser an meinem Körper gefühlt und scharfen Salmiak gerochen zu haben. Auch war es mir, als ob Halef mich gerufen und vom Sterben gesprochen habe. Dann, als ich zwei volle Wochen so gelegen hatte, stellte sich die erste, deutliche Empfindung bei mir ein: Ich fühlte die Hand des Ustad auf meiner Stirn. „Er lächelt!“ sagte er. „Wie todesmatt! Vielleicht schlägt er die Augen auf!“ Ich versuchte, es zu thun, doch gelang es mir nur halb. Da beugte sich der Ustad zu mir nieder und sagte: „Ich sehe, daß du mich verstehst. Sei getrost; du bist gerettet! Auch Halef lebt noch. Er ist noch nicht erwacht. Wenn er es thut, ist es vielleicht zum Leben!“ Hierauf schlief ich sogleich wieder ein. Die späteren [279] Erinnerungen erzählten mir, daß Schakara sehr oft bei mir kniete und mir wie einem Kinde mit einem Löffel dünne Speise gab. Ich war so schwach, daß ich kaum schlucken konnte. Hierbei freute ich mich unendlich über die Entdeckung, daß der schlimme Geruch verschwunden war. Fast noch größere Freude bereitete mir der Anblick einer vor meinem Lager errichteten Pyramide, an welcher meine Waffen, meine Kleidungsstücke und Assils Zaum- und Sattelzeug hingen. Das war ein Zeichen liebevollster Aufmerksamkeit. „Assil!“ entfuhr es meinen Lippen. „Ich sehne mich nach ihm.“ „Willst du ihn sehen?“ fragte die Kurdin. „Ja.“ Sie ging nicht, ihn bringen zu lassen, sondern sie trat nur unter den Eingangsbogen hin und rief den Namen des Rappen. Er war also da draußen in der Nähe. Ich hörte seine nahenden Schritte und sein mir so liebes, zutrauliches Schnauben. Es gab vom Vorplatze aus ein Dutzend Stufen zu ersteigen. Einige Schmeichelworte von ihr veranlaßten den Rappen, heraufzukommen. Daraus erkannte ich, daß sie sich viel mit ihm beschäftigt hatte. Ich sah neben der Säule, an der sie stand, seinen charaktervollen, schön gezeichneten Kopf erscheinen, den sie liebkosend an sich drückte. Er legte seine Lippen an ihre Wange. Das war der Kuß, mit dem er außer mir nur noch Halef auszuzeichnen pflegte. Er hatte sich also mit Schakara ganz ungewöhnlich zusammengefreundet. „Assil!“ rief ich ihn. Meine schwache Stimme klang allerdings gar nicht laut dabei. Er stutzte. „Assil, lihene - hierher!“ Da kam er mit einem schnellen, kurzen Satze vollends herein und schaute sich um. Ich [280] streckte ihm die Hand entgegen. Er näherte sich, blieb bei mir stehen und sah mich lange zweifelnd an. „Er kann dich nicht erkennen, denn du siehst dir nicht mehr ähnlich,“ sagte Schakara. „Assil, mein Lieber, mein Braver, mein Treuer, mein Liebling!“ Da kam er ganz zu mir heran, um mich in nächster Nähe zu beriechen. Er berührte meine Hände, mein Gesicht. Und nun warf er plötzlich den Kopf hoch empor und stieß ein drei-, viermal wiederholtes und so eigenartiges Wiehern aus, wie ich es noch nie von ihm gehört hatte. Hierauf ließ er Schwanz und Ohren spielen und ging unter allerlei drolligen, aber unendlich rührenden Kapriolen bald vorn, bald hinten in die Luft. Diese seine Bewegungen glichen den freudigen Sprüngen eines Hundes, der seinen lange entbehrten Herrn wieder vor sich sieht. Schakara ging hinaus, um einige Handvoll grüner Kischr1) [1) Schoten von Erbsen oder Bohnen.] herein zu holen, welche sie ihm auf meine Decke streute. Sie hatte also entdeckt, daß dies seine Lieblingsspeise sei. Aber er fraß sie nicht; er nahm nicht eine einzige davon, sondern er scharrte, wie dies vor dem Schlafen seine Weise war, mit den Vorderhufen den aus Steinfliesen bestehenden Boden und legte sich dann lang und eng an meinem Bette nieder, so daß ich seinen Kopf mit der linken Hand erreichen und dankbar streicheln konnte. Jede Kreatur will Liebe haben und giebt sie doppelt wieder, wenn sie sie empfängt! Von jetzt an hatte ich nicht mehr mit der Krankheit, sondern nur noch mit der allerdings außerordentlichen Schwäche zu kämpfen, welche ihre Folge war. Ich bekam kräftige, aber leicht verdauliche Nahrung. Der Ustad [281] und der Pedehr kamen täglich wiederholt, um nach mir zu sehen, doch thaten sie das nur, wenn sie wußten, daß ich schlief. Sie wollten vermeiden, mich durch das Sprechen mit ihnen anzustrengen, aber tausend Beweise stiller, liebevoller Aufmerksamkeit sagten mir, daß sie mit ihren Gedanken immer bei mir und Halef seien. Schakara war Tag und Nacht unausgesetzt im Raume. Sie verließ ihn nur dann, wenn kräftige Männerhilfe für uns nötig war. Und aber Halef? Der lag nun schon drei Wochen lang in tiefster Betäubung. Er atmete nur leise; der Schlag seines Herzens war kaum noch zu spüren. Ich ließ mich einmal zu ihm hintragen, um ihn anzusehen. Welch ein Anblick bot sich mir! Ich konnte die Thränen, welche aus meinen Augen brachen, nicht hinunterkämpfen. Man ist als Genesender ja überhaupt weicher als sonst gestimmt. Ich hatte ein Skelett vor mir, dessen Anblick durch die dunkle Petechialhautfarbe doppelt schmerzlich wirkte. Die Augenlider lagen konkav in ihren Höhlen; die Wangen hatten sich in Vertiefungen verwandelt, und weil der Hadschi sehr gesunde Zähne besaß, trat die untere Partie des Gesichtes wie bei einem Totenkopfe hervor. Genau so wie ihn hatte ich im Gizehmuseum bei Kairo die Mumien von Ramses II, Thutmosis und anderer altägyptischer Herrscher vor mir liegen sehen. Dort die toten Zeugen einstigen Strebens, den Körper ewig zu erhalten, und hier der kaum noch atmende Beweis, daß der Leib, sobald die Seele sich von ihm zu lösen beginnt, der unerbittlichen Zersetzung anheimzufallen hat! Der Anblick that mir wehe; ich ließ mich nach meinem Lager zurücktragen. Dort kam mir der Gedanke, nach einem Spiegel zu fragen. Ja, es gab einen. Man [282] brachte ihn mir, und ich schaute hinein. Du lieber Himmel, ich sah nicht viel besser als Halef aus. Es war gar kein Wunder, daß Assil mich nicht erkannt hatte. Wenn ich nicht gewußt hätte, daß ich es sei, so wäre ich wohl kaum auf den Gedanken gekommen, in diesem dunkeln, hippokratischen Schemen mein eigenes Bild vor mir zu haben! Aber das besserte sich nun von Tag zu Tag. Ich genoß viel Milch, mein Lieblingsgetränk, und erhielt sehr reichlich ausgepreßten Saft von Hühnerfleisch. Bald konnte ich aufrecht sitzen, ohne gleich wieder umzufallen. Das Sprechen strengte mich nicht mehr an, und ich machte an mir die bei Genesenden sehr häufige Beobachtung, daß geistig ganz wertlos scheinende Kleinigkeiten mir ein ungewöhnliches, wenn auch fast kindliches Interesse abgewannen. Es war an einem dieser Tage. Die Sonne stieg dem Untergange zu. Da trug man Kissen hinaus ins Freie, und Schakara fragte mich, ob ich nicht einmal draußen sitzen möge. Der erste Ausflug, zwanzig Schritte weit bis vor die Säulen hin! Ich stimmte freudig ein. Zwei Männer hoben mich auf und brachten mich hinaus. Das war keine schwere Arbeit, denn ich war sehr leicht geworden. Nun sah ich zum erstenmal die Gegend, in welcher wir uns befanden. Sie mußte auch jedem, der nicht Rekonvaleszent war, als ein Paradies erscheinen. Von da, wo ich mich befand, führten zwölf Stufen auf eine weite, grasige Terrasse hinab, auf welcher Assil und Barkh spazieren gingen oder vielmehr spazieren sprangen. Sie war von Blumenbeeten und blühenden Rosenbäumchen eingefaßt. Mehrere hoch- und breitkronige Dilbiplatanen breiteten schützend ihre Wipfel [283] über diesen freien Platz, von welchem ein gut unterhaltener Zickzackweg hinab zur Sohle des Thales führte. Das Haus des Ustad stand hoch auf stolzer Höhe. Es war auf gewaltigen, altpersischen Mauerresten errichtet und glich mehr einer Burg als einem Wohngebäude, doch konnte ich das jetzt noch nicht sehen. Das vor mir liegende Thal hatte eine elliptische Form, an deren westlicher, schmaler Seite ich hier saß. Es war wohl eine Wegesstunde lang und halb so breit. In der Mitte flimmerten die vom Windeshauche bewegten Wellen eines Sees, welcher rundum von saftig grünem Weideland umgeben war. Ich sah da Pferde, Maultiere, Kamele, Rinder und eine Menge Kleinvieh grasen. Hieran schlossen sich wohlbebaute Felder, welche bis an die rings emporragenden Berge reichten, an denen sich Wein-, Maulbeer-, Frucht- und Blumengärten bis da hinaufzogen, wo der Wald sich seiner Herrschaft nicht berauben ließ. Ich sah lebhafte Wasser von den Höhen fließen, um ihren Weg zum See zu suchen, auf dem - ein Wunder hier in Persien! - ein kleines Boot sein helles Segel blähte. Ueberall standen Häuser, meist mit platten Dächern, aus festen Steinen aufgeführt und freundlich weiß getüncht. Sie wurden im Winter bewohnt. Für die jetzige Jahreszeit hatte man luftige Zelte errichtet oder auf den Dächern aus Laub und Stangen Hütten gebaut, in denen man des Nachts zu schlafen pflegte. Diese Hütten sind auch in andern Gegenden des Orients gebräuchlich. Man sieht sie z. B. besonders auf den alten, dumpfigen Gebäuden von Beled esch Schech und El Jadschur, welche an der Straße von Haïfa nach Nazareth liegen. Die Berge erreichten hier eine solche Höhe, daß ihnen der Wald nicht ganz hinauf zu folgen vermochte. Die Kuppen bildeten alpine Weiden, [284] auf denen die dort grasenden Ziegen dem Auge als ganz winzige Tüpfelchen erschienen. Die Mehrzahl der Häuser und der Zelte lag im Vordergrunde, von welchem aus ein breiter, straßenähnlicher Weg hinauf nach einem Felsenvorsprunge führte, wo ich ein Bauwerk liegen sah, dessen Stil meine Verwunderung erregte. Es war ein nach allen Seiten offener Tempelbau, dessen Dach nur von Säulen, nicht von geschlossenen Wänden getragen wurde. Es gab kein einziges Zeichen, welches verriet, welcher Art von Verehrung es zu dienen habe. Ich sah nur die Säulen und das Dach, sonst weiter nichts. Es gab keinen Altar, keinen einzigen Sitz, keinen Rednerstuhl. Aber an allen Säulen rankten sich blühende Kletterrosen und andere Schlingpflanzen empor, und der ganze Platz rund um den Tempel bildete einen sichtlich mit großer Liebe gepflegten Blumengarten, durch welchen zahlreiche, mit reinlichem Sand bestreute Wandelgänge führten. Noch hing mein bewundernder Blick an dieser Herrlichkeit da drüben, da kam jemand durch den Raum gegangen und blieb hinter mir am Pfeiler stehen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ganz deutlich, daß es der Ustad war. Es verging einige Zeit, ohne daß er sich bewegte oder sprach. Auch ich war still. Ich sah hinauf zu den Bergen. Das Licht hatte begonnen, sich aus dem Thale zurückzuziehen. Die leise schreitende Dämmerung stieg empor. Als sie den Fuß des Waldes erreicht hatte, erschienen die freien Höhen wie in flüssiges, leuchtendes Gold getaucht. Die scheidende Sonne gab ihnen den letzten, glühenden Abschiedskuß. Das Gold ging in tiefere Orange- und Purpurtöne über, denen ein kurzer, violetter Schatten folgte; dann schwang sich das Abendrot von den Bergen himmelwärts, um sich dort für eine [285] andere Welt ins Morgenglühen zu verwandeln. „Gute Nacht!“ klang es mir durch die Seele. Ich hatte das bloß gedacht, und doch ertönte sogleich neben mir die tiefe Stimme des Ustad: „Gute Nacht für uns; für andere aber bedeutet es den Morgen! Erlaubst du mir, Effendi, eine kurze Zeit bei dir zu sein?“ „Du bist mir, wie kein anderer, hochwillkommen!“ antwortete ich ihm. Da trat er zu mir heran, legte mir die Rechte auf das Haupt und sprach: „Seit du bei mir in meinem Hause bist, ist's heut zum erstenmal, daß deine Krankheit nicht zwischen meinen Worten und dem Verständnisse derselben steht. Sie ist gewichen; du kannst nun, ungehindert von ihr, das, was ich sage, empfangen und begreifen. Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem höhern Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet.“ „Du? Auf mich?“ fragte ich erstaunt. „Ja. Schon seit langer, langer Zeit. O, ihr wißt gar nicht, wie lange wir schon auf euch warten, auf euch, auf euch, auf euch!“ Er hielt einen Augenblick inne, wie um mir Zeit zu gewähren, über seine Worte nachzudenken; dann fuhr er weiter fort: „Und nun du endlich, endlich gekommen bist, und zwar in einer Weise, wie ich kaum hoffen konnte, so segne ich dich mit dem besten Segen, den ein Mensch vom Himmel zu empfangen und einem andern Menschen zu geben vermag. Nimm ihn hin von mir, diesen Segen, und glaube nicht, daß er in leeren Worten bestehe! Er [286] kommt nicht von mir, sondern von dem, der die einzige Quelle alles Segens ist!“ Als er das gesagt hatte, trat er von mir weg und setzte sich zu meinen Füßen auf die erste der hinabführenden Stufen nieder. Das war so bescheiden und anspruchslos; das war so klein, und doch war es so groß! Nun herrschte eine Weile zwischen uns Schweigen. Die schnelle Dämmerung verwandelte sich in Nacht. Die Häuser waren verschwunden, aber freundliche Lichter tauchten auf, um uns die Stellen zu bezeichnen, an denen Menschen wohnten. Am Himmel wurden die Sterne immer sichtbarer. Ihr Schein reichte hin, uns die erhabenen Gestalten der Berge sichtbar zu machen, um deren baumlose Häupter lichtere Töne webten, welche mein Auge unausgesetzt auf sich zogen. Da deutete der Ustad empor und sagte: „Ich sehe, daß du hinauf zu unsern Bergen schaust. Wollte das Abendland doch stets dasselbe thun! Aber es scheint nur unsere Thäler kennen zu wollen! Wenn es von uns redet, so spricht es nur von unsern Tiefen, nicht von unsern Höhen! Von unserm Alter, nicht von unserer Jugend! Von unserer Vergangenheit, nicht von unserer Zukunft! Von unserem Tode, nicht von unserm Leben! Von unserer Ohnmacht, nicht von unserer Stärke! Von unserm Verfall, doch nicht von unsern Hoffnungen! Ich weiß nur einen einzigen Europäer, der anders und besser von uns denkt, und dieser Mann bist du, Effendi.“ „Ich habe noch nicht mit dir hierüber gesprochen. Solltest du mich trotzdem kennen?“ fragte ich. „Ja. Wir haben nicht die Mittel des Verkehrs, die ihr besitzt; aber der Ilahn1) [1) Kunde, Bericht, Fama.] ist ein schneller Reiter. [287] Er eilt von Duar1) [1) Lager, Dorf.] zu Duar, um zu verkünden, was er sah und was er hörte. Er hat schon längst, schon längst von dir erzählt. Du warst wiederholt ein Gast der Haddedihn, und von ihnen bis herauf zu uns ist gar nicht weit. Du warst schon einigemal in den Bergen Kurdistans. Was da geschah, das haben wir erfahren. Ich habe geahnt, daß deine Seele dich auch zu uns führen werde, und darum sagte ich soeben, daß du von uns erwartet worden seist. Aber es giebt noch eine andere, bessere und zuverlässigere Quelle, aus deren reinem, klarem Wasser mir dein geistiges Angesicht entgegenblickte. Ahnest du vielleicht, wer diese Quelle ist?“ „Nein.“ „Ihr Name ist Marah Durimeh.“ „Sie? Meine liebe, liebe Freundin und Beschützerin?“ fragte ich da schnell. „Kennst du sie?“ „Wahrscheinlich kennt sie keiner so gut, wie ich sie kenne. Doch, schweigen wir jetzt von ihr! Es giebt noch eine andere Person, an die ich jetzt zu denken habe. Als ich am Morgen, nachdem man euch zu mir gebracht hatte, eure Waffen sah, fiel mir ein Chandschar2) [2) Dolch.] auf, der bei dir gefunden worden war.“ „Kennst du ihn?“ fiel ich rasch ein. „Ja. Es kennen ihn sehr viele. Ist er ein Geschenk?“ „Ja.“ „Wo hast du ihn bekommen?“ „In Amerika.“ „Von wem? Verzeih, daß ich dich frage! Es ist nicht müßige Neugierde, die mich zu dieser Erkundigung veranlaßt.“ „Von einem Perser, Namens Dschafar.“ [288] „Mirza Dschafar, der Sohn von Mirza Masuk?“ „Ja, von ihm.“ „Er gab dir die Waffe mit der Versicherung, daß derjenige, der ihm diesen Chandschar vorzeige, sei er, was er sei, darauf rechnen könne, daß er alles für ihn thun werde?“ „So ist es. Also auch diese Worte sind dir bekannt!“ „Nicht nur sie und nicht nur alles, was Mirza Dschafar mit dir erlebte, sondern auch alles, was er mit dir gesprochen hat. Du siehst also, daß ich dich besser kenne, als du wohl ahnen konntest. Darum weiß ich ganz genau, wie du über das Morgenland und sein Verhältnis zum Abendlande denkst. Ich begreife, daß du näheres über Mirza Dschafar erfahren möchtest, bitte dich aber, mich jetzt nicht zu fragen. Du gehst ja noch nicht fort von mir, und wir haben also Zeit genug, über diesen mir so wichtigen Mann zu sprechen. Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich weiß jetzt noch nicht, ob ich es dir so weit, wie ich es kenne, enthüllen darf.“ Er schwieg. Auch ich war still. Wie wunderbar die Fäden des menschlichen Lebens gesponnen werden! So fern die Maschen von einander liegen, es kommt ganz unerwartet ein Faden, der sie eng vereinigt. Wer sind die Arbeiter, die an unsern Webstühlen sitzen? Wir selbst? Wer liefert uns das Garn? Wer bringt es auf die Spule? Wer legt die Kette um den drehenden Rahmen? Wer legt die Muster auf? Wer lenkt das unermüdliche Schiffchen Tag für Tag, Stunde für Stunde, vom ersten bis zum letzten Augenblicke unserer Erdenzeit? Immer und immer nur wir selbst? Wir armen, armen, kurzsichtigen Thoren! Es lag in diesem Gedankengange, daß mein Blick [289] hinüber nach dem Blumentempel geführt wurde. Ich fragte den Ustad, was das für ein Gebäude sei. „Es ist unser Beit-y-Chodeh1) [1) Gotteshaus.],[“] antwortete er. „Du kannst es auch Beit Allah nennen. Chodeh und Allah ist ja gleich. Ihr nennt ihn Gott!“ Da aber wendete er, der mir bisher die Seite zugekehrt hatte, sich plötzlich ganz zu mir herum und sagte: „Gott - Allah - Chodeh - welche eine Todsünde, zu behaupten, daß diese drei Worte nicht Verschiedenes bedeuten! Ich sah einen englischen Missionar, welcher seinen Schülern befahl, den Schöpfer und Erhalter aller Dinge nur englisch „God“ zu nennen; Allah und Chodi seien ganz andere Götter! Als ob der Ewig-Ewig-Eine von irgend einem sich überhebenden Menschenkinde gezwungen werden könne, für jede andere Sprache und für jede andere Art, in der die Sterblichen zu ihm lallen, auch ein anderes Wesen anzunehmen! So ein Thor stellt sich hoch über Gott, indem er es in seiner Verblendung wagt, zu bestimmen, welches Wort der einzig richtige Name des Weltenlenkers sei! Hast du als Christ den Mut, Gott Allah oder Chodeh zu nennen, Effendi?“ „Wenn ich überhaupt schon den Mut besitze, von Gott oder gar im Gebete mit Gott zu sprechen, so ist der Mut, den du meinst, wohl selbstverständlich. Ich besitze nicht die Macht, Gott vorzuschreiben, wie er sich in den verschiedenen Ländern der Erde nennen zu lassen habe. Und ich bin auch nicht so wahnsinnig, zu behaupten, daß Gott ein Wesen sei, dessen Namen nur aus Buchstaben des deutschen Alphabetes zusammengesetzt werden könne.“ [290] „So denke ich auch. Man giebt ihm in jeder Sprache und in jeder Anbetungsweise so viele und so verschiedene Namen; aber er ist und bleibt stets derselbe. Welches Menschenwort könnte ihn umfassen? Von welchem irdischen Gebäude dürfte man sagen, daß er hier ausschließlich wohne? Darum haben wir zwar die Säulenhalle da drüben errichtet, aber wir nennen sie nicht „sein“ Haus, sondern „unser“ Gotteshaus. Dieses haben wir für uns gebaut, nicht aber zur Wohnung dessen, der allgegenwärtig ist und sich nicht etwa von einem andern Orte und von andern Menschen entfernen kann, um, uns zum Vorzuge, bei uns einzuziehen. Wer einen besondern Ort für Gott bestimmt, der begeht die Sünde, dem allumfassenden Geiste die Fesseln von Raum und Zeit anlegen zu wollen. - - - Warum ist es zu allererst Chodeh, von dem ich zu dir spreche? Warum habe ich nicht mit etwas anderem begonnen? Du solltest vor allen Dingen und zunächst wissen, wem dieses Haus und dieses kleine Reich gehört, dessen Lichter du da unten glänzen siehst. Ich wollte dir damit sagen, daß du dich bei Leuten befindest, welche wissen, wem sie angehören. Und wir sagen nicht bloß, daß wir ihm dienen, sondern wir sind jederzeit bereit, dieses Wort in Thaten zu verwandeln. Horch! Da hast du gleich Gelegenheit, so eine That zu hören.“ Die beiden Glocken begannen, über uns zu klingen. „Warum läutet man?“ fragte ich. „Um zum Gebete aufzufordern. Irgend ein Bewohner unsers Thales sendet in diesem Augenblicke seine Seele zu Chodeh empor; er hat das hier gemeldet; die Glocken klingen, und so weit ihre Stimmen zu hören sind, faltet jedermann die Hände, und tausende von Herzen beten mit. Ich thue es auch!“ [291] „Ich ebenso!“ Es war, als ob diese meine zwei Worte mit Willen begabte Wesen seien, welche meine Hände faßten, um sie ineinander zu legen. Muß man wissen, um was jemand bittet, um mit ihm beten zu können? Nein! Der Glaube trägt die Nächstenliebe himmelan; der Gegenstand des Wunsches braucht nicht genannt zu werden. „Euer Vater weiß, was ihr bedürfet, noch ehe ihr darum bittet.“ Giebt es vielleicht ein Dogma oder irgend ein Glaubensbekenntnis, gegen welches ich gesündigt hätte, indem ich hier als Mensch mit andern guten Menschen meiner brüderlichen Pflicht gedachte? Ich hoffe: keines! Es sei denn, daß eine Religion existiere, welche die Verknöcherung des Herzens zur unbedingten Folge hat! Es war eine ganz eigenartige Atmosphäre, aus welcher ich hier an diesem Orte und in dieser Stunde körperlich und geistig Odem sog. Da unten in Basra hatten wir die pest- und fieberschwangern Dünste einer nicht bloß orographischen Tiefe eingeatmet; hier oben aber umwehte mich, auch nicht bloß äußerlich, eine Lebensluft, die frei von Keimen zum Erkranken war. Ich hätte behaupten mögen, daß nie ein Glockengeläut so rein erklungen sei wie dieses hier. Vielleicht waren die aufsteigenden Fürbitten von eben derselben Lauterkeit, weil niemand wußte, um wen und um was es sich handelte. Dieser von jeder Aeußerlichkeit erlöste Gottesdienst wirkte so unmittelbar und siegreich auf das Gemüt, daß eine Frage nach Knigges „Umgang mit Andersgläubigen“ gar nicht aufkommen konnte. Nur einem vollständig herz- und gemütslosen Menschen wäre es zuzutrauen gewesen, hier ohne sowohl innere als auch äußere Teilnahme zu bleiben. Als der letzte Ton der Glocken zwischen den Bergen [292] verklungen war, verharrte der Ustad noch einige Zeit im Schweigen; dann wendete er sich mir wieder zu und sagte: „So wie jetzt wurden die Glocken geläutet, mitten in der Nacht, als man dich und den Scheik der Haddedihn hier bei mir eingebettet hatte. Es gab keinen einzigen Dschamiki, der sich nicht dem Schlafe entriß, um für euch zu beten. Und alle, alle, sind auch dann noch mit dieser Fürbitte einverstanden gewesen, als sie erfuhren, daß ihr unsern Chodeh „Gott“ und „Allah“ nennet. Wäret ihr beide bei uns gestorben, so hätten wir euch nicht etwa abseits eingescharrt, sondern ihr wäret unter Glockenklang und Liedersang auf den Berg getragen worden, wo alle unsere Brüder und Schwestern liegen, die sich verwandelt haben. Wir hätten euch gesegnet, wie wir sie gesegnet haben, und euch die schönsten und duftendsten unserer Rosen auf die Gräber gepflanzt. Denn wir verheimlichen nicht, was wir wissen und was wir glauben und was kein guter unbefangener Mensch bezweifeln kann, nämlich daß nicht wir die Richter sind, welche über die Seligkeit oder Verdammnis der Sterblichen zu bestimmen haben. Sag, würde man auch bei euch Christen einem Andersgläubigen die Glocken läuten und den Segen geben? Ich frage dich nicht, um eine Antwort zu erhalten, denn ich weiß, daß du sie mir nicht geben darfst.“ Als er jetzt schwieg, blieb ich still. Warum? Bloß wegen meiner körperlichen Schwäche als Genesender? Oder aus Klugheit, um ein Wortgefecht zu vermeiden? Warum soll man, wenn man von Achilles redet, grad von der Ferse sprechen! Mein Auge war hinunter auf das Thal gerichtet. Ich sah Lichter, welche sich hin und her bewegten. Waren das Fackeln? Vereinzelte Stimmen [293] drangen herauf; sie klangen wie Kommandorufe. Da fragte mich der Ustad: „Bemerkst du, daß sich da unten das Dorf belebt?“ „Ja,“ antwortete ich. „Fühlst du dich schwach oder wohl?“ „Wohl. Warum willst du das wissen?“ „Weil ich eine Mitteilung für dich habe, welche dich wahrscheinlich sehr bewegen wird.“ „Sprich sie aus! Ich fürchte nichts für mich.“ „Sie ist eine doppelte. Das eine klingt nicht froh. Das will ich dir zuerst sagen, damit das andere dich wieder beruhigen möge. Mein Pedehr vermutet, daß Hadschi Halef Omar in dieser Nacht erwachen werde.“ „Zum letzten Male?“ „Das weiß allein Chodeh. Ich bin überzeugt, daß die Erwartung des Pedehr sich erfüllen werde, denn er kennt diese Krankheit so genau, wie kein zweiter sie kennt.“ „Wo werden die Boten sein, die wir nach den Weideplätzen der Haddedihn gesandt haben!“ „Das ist das zweite, was ich dir mitzuteilen habe. Der Gedanke, Kara Ben Halef holen zu lassen, wurde zwar von dir ausgesprochen, aber er kam nicht von dir. Daß er dir gegeben wurde, läßt mich für unsern dem Tode so nahen Freund noch Hoffnung hegen. Unser Können ist erschöpft; es giebt nur noch die Möglichkeit, daß der unerwartete Anblick seines Sohnes ihn rettet.“ „Aber der ist nicht hier!“ „Er kommt.“ „Wirklich? Gewiß? Noch heut?“ fragte ich in freudiger Ueberraschung. „Ja; noch heut, noch diesen Abend, noch vor Mitternacht.“ Ich lehnte mich zurück und holte tief, tief Atem. [294] Es war, als ob der Odem mir bisher gefehlt und sich nun wieder eingestellt habe. Ich schloß die Augen. Mein Blick richtete sich nach innen. Da sah ich nun so recht, wie schwer die Sorge um meinen Halef auf mir gelastet hatte. Jetzt teilte sich die unheilschwangere Wolke, und ein lichter Strahl gab mir die Hoffnung wieder! „Sind die Boten denn schon zurück?“ erkundigte ich mich. „O nein! Sie sind mit dem jungen Scheik der Haddedihn nur bis zu einem Duar gekommen, welcher fast drei Tagesritte von hier liegt. Da müssen sie bleiben, um sich zu erholen. Auch ihre Pferde konnten nicht weiter! Der Sohn, welcher kommt, um seinen Vater wo möglich noch lebend anzutreffen, hat weder sich noch sie geschont. Nur die Rücksicht auf sein abgetriebenes, edles Pferd hat ihn vermocht, eine volle Nacht in jenem Duar zu bleiben, damit es einmal länger ruhen könne. Aber er hat sogleich nach seiner Ankunft dort zwei Boten vorausgesandt, von denen ich erfuhr, daß er heut abend sicher kommen werde.“ „Warum sagst du mir das erst jetzt?“ „Weil ich es selbst nicht früher wußte. Der Vorsprung, den sie vor ihm hatten, wird durch die Eile, mit welcher er ihnen folgt, derart ausgeglichen, daß er nur ganz kurze Zeit nach ihnen hier einzutreffen gedenkt. Nun siehst du die Lichter, welche sich da unten im Thale bewegen. Es versammelt sich da eine Schar meiner Dschamikun, um den beiden entgegenzureiten.“ „Den - - beiden? Sind es zwei?“ „Ja.“ „Wer noch, außer ihm?“ „Ein Haddedihn, welcher nicht zu Pferde mit ihm kommt, sondern sich zweier Eilkamele bedient, um mit ihnen wechseln zu können.“ [295] „Wie heißt er?“ „Das weiß ich nicht. Die Boten waren über seine Hedschan1) [1) Plural von Hedschin – Reitkamel.] der Bewunderung voll; sie versicherten, noch nie im Leben so herrliche Tiere gesehen zu haben.“ „Tragen diese Kamele etwa einen Tachtirwahn2) [2) Kamelsänfte.]?“ „Nein. Meinst du, daß der junge Haddedihn eine Frau mitbringe? Es giebt kein Weib, welches, selbst in der Sänfte, eine solche Anstrengung auszuhalten vermöchte. Die Boten sagten, der Begleiter Kara Ben Halefs scheine ein vornehmer Christ zu sein, der zwar wenig, aber sehr gebieterisch spreche. Er trage eine blaue Brille und darunter noch einen blauen Schleier, um seine Augen zu schützen. Wahrscheinlich sei er einer der gelehrten Abendländer, welche nach der Dschesireh kommen, um in den dortigen Ruinen alte Ziegel auszugraben. - - Nun sag, hat dich diese Nachricht aufgeregt?“ „Nein. Um aufgeregt sein zu können, bin ich wohl noch zu schwach. Wir stehen vor einer Entscheidung. Fällt sie ungünstig aus, so trifft sie mich nicht unvorbereitet, und ich weiß, daß das Leben des Menschen nicht mit dem Tode aufhört. Selbst wenn Hadschi Halef stürbe, würde er mir unverloren bleiben. Die Nachricht von der Ankunft seines Sohnes erfüllt mich mit herzlicher Freude. Das Wiedersehen wird nicht schädlich auf mich wirken.“ „So bin ich beruhigt. Ich kam, dich vorzubereiten. Ich weiß, daß du wohl viele Fragen hast, deren Beantwortung du dir wünschest. Mein Pedehr wird das gern thun. Ich sorge für die Seelen unserer Dschamikun; alles andere ist in seine Hand gegeben.“ Er erhob sich, strich mir mit der Hand wie liebkosend über das Haar und kehrte dann nach dem Innern [296] des Gebäudes zurück. Bei dieser Berührung meines Hauptes hatte ich wieder das Gefühl, als ob dabei eine gütig reine, nicht materielle Kraft durch mein ganzes Wesen gehe. Kann man den von einem wohlwollenden Menschen ausgehenden Segen in dieser Weise fühlen? Oder giebt es ein uns noch unbekanntes Fluidum, welches in dieser Weise von dem einen auf den andern übertragen werden kann? Nun war ich allein und dachte an Halefs Sohn. Endlich, endlich! Ich hatte eine Zuversicht in mir, welche an die Gewißheit grenzte, daß er seinen Vater retten werde. Wer aber war der Fremde, den er mitbrachte? Einen Augenblick lang hatte ich an seine Mutter gedacht, an Hanneh, die „lieblichste und schönste unter allen Blumen des Morgenlandes“. Ich war durch die Sänfte zu diesem Gedanken geführt worden. Aber ich hatte doch angeordnet, daß Hanneh nichts von Halefs Krankheit erfahren solle, und mußte mit der Ansicht des Ustad einverstanden sein, daß ein weibliches Wesen einen solchen Parforceritt unmöglich aushalten könne. Zwar war sie eine außerordentlich resolute Frau; sie verstand, jedes Pferd nach Männerart zu reiten, und sie hing mit so inniger Liebe an Halef, daß ihr der Entschluß, jetzt mitzukommen, sehr wohl zugetraut werden konnte; aber anzunehmen, daß sie diesen Gedanken in Wirklichkeit ausgeführt habe, das schien mir doch viel zu gewagt zu sein. Ein europäischer Gelehrter! Man hielt ihn wohl nur seiner blauen Brille wegen für einen solchen; er brauchte es ja trotzdem nicht zu sein. Auch ich hatte solche Brillen bei mir gehabt, um sie aufzusetzen, wenn die Sonnenstrahlen allzu blendend von den hellen Sand- oder Felsenflächen zurückgeworfen wurden. Ich war von dem damals noch kleinen Kara gebeten worden, sie ihm [297] zu schenken, und hatte es gethan. Also, die Brille macht noch nicht den Gelehrten; ich habe nie im Leben die Absicht gehabt, „gelehrt“ zu sein, denn es ist mir nie gelungen, mir dieses Wort sympathisch werden zu lassen. Wer aber war dieser Mann? Unser David Lindsay jedenfalls nicht. Nur allein diesem, der sich aber unterwegs nach Schiras befand, konnte die kühne Schrulle beikommen, sich Hals über Kopf einer solchen Hetzpartie nur aus dem Grunde anzuschließen, weil es etwas Ungewöhnliches war. Ich sann hin und her, konnte mir aber außer ihm niemand denken, und hielt es darum für das beste, jetzt einmal dem Beispiele Halefs zu folgen, der, wenn es etwas zu erraten gab, sich stets mit der Bemerkung aus der Schlinge zu ziehen pflegte, daß er sich mit der Lösung von Rätseln nicht abzugeben habe. Unten im Thale gab es wieder Ruhe; die Schar der Dschamikun, von welcher der Ustad gesprochen hatte, war fortgeritten. Auf dem freien Platze zu meinen Füßen, wo sich unsere Pferde befanden, wurden an den dazu vorhandenen Einfassungsstützen Fackeln aufgesteckt, welche später angebrannt werden sollten. Dann kam der Pedehr mit einigen Bedienten in den Raum, an dessen Säule ich sitzend lehnte. Er gab leise Befehle. Dann kam er heraus, setzte sich bei mir nieder und fragte: „Der Ustad hat dir gesagt, wer heut noch kommt?“ „Ja.“ „Ich weiß, daß du dich auf das Wiedersehen mit dem Sohne freust, und ich hoffe, daß der Himmel den Vater dir erhält. Denkst du, stark genug für diesen vielleicht schweren Abend zu sein?“ „Wenn ich will, wird der Körper gehorchen.“ „Ich habe Befehl erteilt, die Kerzen der Beratung hereinzubringen. Sie werden nur dann angebrannt, wenn [298] die Aeltesten des Stammes sich bei dem Ustad befinden, um mit ihm wichtige Angelegenheiten zu beraten. Doch soll auch an dem heutigen Abend der Raum so tageshell erleuchtet sein, wie er es bei diesen Gelegenheiten ist. Ich habe über das Leben des Kranken zu wachen und brauche Licht, um die Schrift seines Angesichts lesen zu können. Was ich verbiete, darf nicht geschehen. Bist du damit einverstanden, Effendi?“ „Sehr gern!“ „Wenn er erwacht und aber nicht spricht, so wird er sterben. Findet jedoch seine Seele den Weg zu seinem Munde noch frei, so kann er uns erhalten bleiben. Unser Freund kann sich nur durch sich selbst, durch seinen eigenen Willen retten. Besitzt er diesen noch, so hoffe ich für ihn. Wenn er einen Wunsch äußert, so haben wir ihn zu erfüllen, falls dies möglich ist, denn dieser Wunsch ist die Stütze, an welcher das niedergesunkene Leben sich aufzurichten hat.“ „Ich bitte dich, mich hineinschaffen zu lassen. Ich möchte, wenn er erwacht, an seiner Seite oder doch wenigstens in seiner Nähe sein.“ „Dies wird geschehen, doch warum schon jetzt? Macht dich der Aufenthalt im Freien schwach?“ „Nein. Warten wir also bis später! Jetzt möchte ich gern wissen, was aus den Massaban geworden ist. Ich habe noch nichts wieder über sie gehört.“ „Ich werde dir das morgen oder übermorgen ausführlich erzählen. Heut aber wird dein Inneres so sehr beschäftigt werden, daß ich dir nur das eine sagen will: Es ist uns keiner entgangen. Genügt dir das?“ „Wenn du willst, ja. Horch! War das nicht ein Schuß? Noch einer! Und noch einer!“ „Drei Schüsse. Sie kommen. Viel eher, als ich dachte!“ [299] „Mit Kara Ben Halef?“ „Ja. Bist du innerlich gerüstet, Effendi?“ „Gewiß!“ „Prüfe dich! Es wird ein Sturm sein, welcher an deiner Seele, an deinem Leben rüttelt!“ „Diese Seele ist stark; ich kenne sie.“ „So sei es denn! Wir wagen viel, sehr viel, doch meine Hoffnung blickt zu Chodeh auf, der nur allein es ist, dem wir vertrauen müssen. Ich will nach Halef schauen und dann am Thor die Gäste begrüßen; hierauf kehre ich mit ihnen hierher zurück zu dir.“ Er ging hinein, und ich hörte, daß er befahl, die Kerzen anzubrennen. Gleich hierauf drang eine Fülle des Lichtes durch die offenen Bogen heraus auf den Vorplatz. Ich sah deutlich unsere zwei Pferde liegen und mehrere Dschamikun damit beschäftigt, die aufgesteckten Fackeln schnell anzuzünden. Auch die andern Räume des „hohen Hauses“ schienen hell erleuchtet worden zu sein, denn die Strahlen vereinten sich zu einem glänzenden Lichtstrome, welcher weit hinaus bis an den See und tief hinunter bis auf die Sohle des Thales flutete. Von dort klangen laute Stimmen herauf. Ich hörte Pferde wiehern. Eine Fantasia oder gar ein lärmendes Pulverspiel gab es nicht. Die Nähe des Todes verbietet solche Dinge. Bald hörte ich fernleisen Hufschlag, welcher lauter wurde. Er kam den Berg herauf. Nun ertönte das langgezogene, ungeduldige „Chchchchchuuuuh“ eines Kameles. Ich kannte diesen Ton. So klagt das Hedschihn der ebenen Wüste, wenn es gezwungen wird, auf ungewohnten Bergwegen zu schreiten. Von rechts unten her erklang die laute Stimme des Pedehr. Ich verstand die Worte nicht, doch waren sie das Willkommen, welches [300] er den Gästen sagte. Hierauf erschienen einige Dschamikunreiter auf dem Vorplatze. Sie waren die Führer. Hinter ihnen kam, von den Fackeln genügend beleuchtet, Kara Ben Halef, auf seinem „Ghalib“ sitzend. Ihm folgten zwei aus der edelsten Bischarizucht stammende Eilkamele. Das eine war ledig; auf dem anderen saß der verschleierte Fremde. Seine Waffen hingen am Sattelknopfe. Er sprach mit dem Pedehr. Er war ebenso wie Kara in den gewöhnlichen Wüstenanzug gekleidet. Kara Ben Halef sprang vom Pferde und trat zu dem Kamele hin, um dessen Reiter beim Absteigen zu unterstützen. Dieser aber glitt ohne die beabsichtigte Hilfe schnell aus dem Sattel herab und fragte so laut und pressant, daß ich die Worte verstehen konnte: „Nun sag, wo liegt der Scheik der Haddedihn?!“ Welch eine Stimme! Die kannte ich ja! Täuschte mich mein Ohr, oder war es Wirklichkeit? „Hier oben in der Halle,“ antwortete der Pedehr. „So komm!“ Mit diesen Worten ergriff der Fremde Karas Hand, um mit ihm die Stufen emporzueilen. „Ich ersuche euch, nicht so schnell zu gehen,“ bat der Pedehr. „Es ist notwendig, daß ich vorher - - -“ Dem Verschleierten aber fiel es gar nicht ein, auf diese Worte zu achten. Er zog Kara von Stufe zu Stufe in größter Ungeduld hinter sich her, bis er die oberste erreicht hatte. Da fiel sein Blick auf mich. Er blieb stehen, um mich zu betrachten. Seine Gestalt schien plötzlich alle Möglichkeit, sich zu bewegen, verloren zu haben. Er stand starr, wortlos, eine ganze, ganze Zeit. Dann hob er langsam die Arme und schlug die Hände laut zusammen. „Sihdi?“ rief er aus. [301] „Ich bin es,“ antwortete ich. Da that er die drei Schritte zu mir her, warf sich vor mir nieder, zog meine beiden Hände unter seinen Schleier und drückte sein Gesicht hinein. Es waren glatte, bartlose Wangen, die ich fühlte. Sein Körper bewegte sich konvulsivisch. Er wollte den Ausbruch des Schmerzes, das Schluchzen unterdrücken und konnte es doch nicht. Aus seinen Augen floß eine Flut von Thränen über meine Hände. Kara stand still auf der vorletzten Stufe. Auch er erkannte mich, ließ aber dem Andern das Vorrecht, zuerst mit mir zu reden. Da hob dieser Andere den Kopf empor, sah mir noch einmal forschend ins Gesicht und sagte schluchzend: „Das, das ist mein Sihdi! Der einzige Freund meines irdischen Lebens! Der kluge Berater meines Herzens! Der treue Leiter meiner irrenden Seele! Der unerschütterliche Fels in jeder Not! Kennst du mich?“ „Hanneh!“ Ich konnte dieses kleine Wort kaum über die Lippen bringen, so tief erschüttert war ich. Meine Augen standen voller Thränen, und meine Stimme bebte. Da warf sie den Turban vom Kopfe, riß den Schleier herab und rief jammernd aus: „Ja, ich bin es! Aber bist du der noch, der du warst?“ „Ich werde es wieder sein!“ „Ja, du mußt, du mußt, du mußt es wieder sein! Ich mache dich gesund, ich, ich, ich! Und ich beginne damit gleich, gleich jetzt, in diesem Augenblick! Kennst du das Märchen von Chakika1) [1) Die „Wahrheit“.], welche vom Himmel kam [302] und dem Tode begegnete? Sie küßte ihn; da wurde aus ihm das Leben.“ „Ich kenne es. Diese lichte, himmlische Chakika ist die herrlichste Wahrheit, die es giebt.“ „So laß mich dieses Märchen sein, und zürne mir wegen meiner Kühnheit nicht!“ Sie rutschte auf den Knieen ganz zu mir heran, zog meinen Kopf an sich und küßte mich auf beide Wangen und dann noch auf die Stirn. Dann fuhr sie unter Thränen fort: „Wer war es, der dich jetzt mit den Lippen berührte? Nicht Hanneh, das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn! Der Kuß dieser Frau könnte dir nichts nützen trotz aller Liebe und Dankbarkeit, die sie in ihrem Herzen für dich pflegt. Oh, mein Sihdi! Oh, mein Effendi! Ich wußte, daß du uns allen teuer bist, aber wie, wie, wie teuer, das wußte ich noch nicht! Das habe ich erst jetzt begriffen, wo du, von Todes Hand noch festgehalten, mit einem Lächeln auf mich niederblickst, so schwach, so matt und doch so lieb und gut, daß es mir das Herz zerreißen will! Kara Ben Halef, mein Sohn, tritt herbei, und leg deine Hände auf das Haupt dieses Mannes, der zu uns kam, um uns allen nichts als nur Liebe, Liebe, Liebe zu erweisen!“ Er biß die Zähne zusammen, um nicht lautauf zu weinen; aber seine Lippen zitterten und seine Augen standen voll Wasser. Er legte mir nicht nur die Hände sondern auch die Wange auf den Kopf; er hatte mich lieb, so recht von ganzer Seele lieb. Da faltete seine Mutter ihre Hände und sprach weiter: „Sihdi, ich segne dich! Ich segne dich nicht so, wie andere segnen. Ich gebe dir mehr, als was nur ich dir geben könnte. Ich segne dich durch die Hände meines [303] Kindes, auf dem der Segen seines Vaters und seiner Mutter liegt. Dreifach also ist der Segen, der auf dir ruhen soll in alle Ewigkeit!“ Da erklang die tiefe, klare Stimme des Ustad, der, von uns unbemerkt, hinter uns an der Säule gestanden hatte: „Nicht nur dreifach soll er sein, und nicht nur gesegnet sollst du haben, sondern auch gesegnet werden!“ Er trat aus der Halle heraus, breitete seine Hände über sie und fuhr fort: „Ich sehe dich heut zum erstenmal, und doch ist es mir, als seist du mir schon längst bekannt. Ich höre, daß du Hanneh bist, unsers Hadschi Halef Weib; aber für mich und uns bist du in diesem Augenblicke mehr. Du bist die Seele des weiblichen Geschlechtes, die aus der Höhe niederstieg, um Geist in Seele zu verwandeln. Wie hast du mich gerührt! Wie ward mein Herz bewegt von deinem Herzen! Es wallt in mir ein großes Wünschen auf, für welches ich das rechte Wort nicht finde. Du, eines Moslem Weib, verurteilt zu des Harems Einsamkeit, hast einem Nasarah1) [1) Christ.] gegenüber dies Gesetz gebrochen, um dem höheren des Herzens zu gehorchen. Wie wert muß doch sein Christentum deines dreifachen Segens sein! Und so gern, wie es noch nie geschah, will ich für dich zu Chodeh beten, an dir zur Wahrheit zu machen, daß, wer da segnet, selbst gesegnet wird!“ Sie schaute zu ihm auf, aus weitgeöffneten Augen, mit einem langen, langen Blicke. „Bist du der Ustad?“ fragte sie. „Man nennt mich so,“ antwortete er. [304] „Du sagtest, es sei dir so, als habest du mich schon längst gekannt. Habe nicht auch ich dich schon gesehen? Doch wo und wann? Ich kann mich nicht besinnen. In diesen Bergen ist es nicht gewesen. Du hast den Gebieter meines Stammes und meines Zeltes bei dir aufgenommen. Ich danke dir! Erlaubst du mir, daß ich jetzt zu ihm gehe?“ „Ich führe dich,“ antwortete er. „Der Pedehr ist bei ihm. Doch, meine Tochter, bist du stark genug, den Hadschi so zu sehen, wie man nur Leichen sieht?“ Da richtete sie sich auf. Ihre Augen blitzten. Sie war ganz Entschlossenheit. „Kennst du das Weib, Ustad?“ fragte sie. „Ich kenne es,“ lächelte er, „und ich sehe, daß du es bist!“ „Vielleicht erschrecke ich, doch eine Klage wirst du nicht aus meinem Munde hören. Auch mein Sohn ist stark. Komm, Kara, laß uns zum Vater gehen!“ Welch eine Frau! Der Ustad ergriff ihre Hand, um sie zu leiten. Sie gab die andere Kara; so gingen sie hinein. Ich horchte. Sie schritten langsam nach der Ecke, in welcher Halef lag; dann war es still, kein Wort, kein Laut zu hören. Wie war sie über mein leidendes Aussehen erschrocken! Halefs Anblick aber war noch schlimmer. Und doch diese Ruhe hinter mir! Ich wiederhole: Welch eine Frau! Ich schaute den Dschamikun zu, welche Karas Dunkelbraunen und die beiden Kamele abgeschirrt hatten und ihnen nun Wasser und Futter gaben. Aber meine Gedanken waren natürlich weniger dort als in der Halle am Lager des Freundes. Erst nach langer Zeit hörte ich wieder Schritte. Der Pedehr kam zu mir. „Sie ist eine Heldin und ihr Sohn ein Held,“ flüsterte [305] er mir zu. „Sie sind bei ihm. Auch der Ustad wird bleiben, denn wir vermuten, daß Halef bald erwachen werde. Ich sah, daß sich die Falten seiner Stirn bewegten.“ „Und ich? Darf ich hinein?“ fragte ich. „Ich bitte dich darum. Er darf dich nicht vermissen.“ Er holte einige Leute, welche mich samt den Kissen hineinbrachten. Hanneh und Kara saßen zur Seite Halefs, der Ustad zu seinen Füßen. Ich bekam einen Platz in der Nähe. Der Pedehr hatte sich auf der Ecke des Lagers niedergelassen. Er beobachtete den Kranken unausgesetzt. Schakara war auch da, und an der Thür standen zwei Männer, um etwaige Befehle sofort auszuführen. Ich konnte das Gesicht Halefs deutlich sehen. Die Halle war von Wachskerzen hell erleuchtet. Die Bienenzucht der Dschamikun lieferte dieses außerhalb ihres Gebietes seltene Material. Ich wiederhole, daß das Gesicht des Hadschi ganz dem einer Mumie glich. Hanneh bewegte sich nicht. Ihre Züge waren wie aus Stein geformt. Kara saß so, daß ich die seinigen nicht beobachten konnte. Was mich betrifft, so gab es in mir eine zwar erwartungsvolle, sonst aber ruhige Stille. Es war, als ob jedes Wünschen und Wollen verschwunden sei; aber das bedeutete nicht etwa eine Ergebung in das Unvermeidliche, sondern es war eine Zuversicht, die ich vor der Ankunft Hannehs und Karas keineswegs empfunden hatte. „Sihdi!“ Was war das? Hatte mich wer gerufen? Ich schaute die Andern fragend an. Sie blickten ebenso fragend zu mir herüber. Keiner hatte dieses Wort gesprochen, aber alle hatten es gehört. [306] „War es Halef?“ erkundigte ich mich. Niemand wußte es. Seine uns bekannte Stimme war es nicht gewesen. Auch hatte man keine Bewegung seiner Lippen gesehen. Nun hingen wir mit unsern Augen an seinem Munde, welcher ein wenig offen stand. „Sihdi - - - Sihdi - - -!“ Jetzt hörten wir genau, daß Halef es war, obwohl die Stellung seiner Lippen sich nicht im geringsten verändert hatte. Das war eine ganz eigentümliche Stimme, nicht laut, nicht leise, ganz ohne allen Ton und Klang und doch so gut verständlich. Wenn es Schatten oder Schemen gäbe, welche sprechen könnten, so würden sie es ganz gewiß in dieser Weise thun. „Halef, mein lieber Halef!“ antwortete ich. „Der bin ich nicht!“ erwiderte er. „Nicht mein Hadschi?“ „Der bin ich auch nicht!“ „Also mein Hadschi Halef?“ „Ich bin es nicht!“ „Wer bist du denn?“ „Ich weiß es nicht!“ „Sag mir deinen Namen!“ „Ich habe keinen!“ „Aber du kennst dich doch?“ „Ich bin ich!“ „Wo bist du?“ „Hier!“ „Wo ist das?“ „Bei dir, bei meinem Sihdi! Jetzt bei den Haddedihn! Wo ist Hanneh? Sie ist nicht da! Wo ist Kara, mein Sohn? Er ist auch nicht da. Ich suche sie!“ „Wo gehst du hin, sie zu finden?“ Er antwortete nicht. Darum schwieg auch ich. [307] Er hatte alle diese kurzen Antworten gegeben, ohne die Lippen zu bewegen. Darum waren die Labiallaute nicht zu hören gewesen. Das hatte aber nicht verhindert, ihn zu verstehen. „Sihdi - - - Sihdi - - -!“ erklang es nach einer längeren Pause wieder. „Ja,“ sagte ich. „Ich bin bei dir.“ „Wieder?“ „Ja. Ich habe deine Augen.“ „Wirklich?“ „Wirklich! Und was du siehst, das sehe ich auch! Nun habe ich sie gefunden. Ich sehe sie! Kara und Hanneh, die ich liebe. Ich sehe noch mehr. Ich sehe - - - wer - - - wer ist das? Das ist der - - - Pe - - - der Pe - - - Pedehr und - - - und - - - ich muß fort - - - fort von dir! - - - Wer - - - wer - - - wer bin - - - bin - - - wer bin ich und wer - - - -“ Da stand der Ustad mit einer unerwartet schnellen Bewegung auf und rief ganz auffallend laut und deutlich: „Du bist Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn! Hörst du? Hadschi Halef Omar, der Scheik der Haddedihn vom Stamme der Schammar!“ „Had - - - Hadschi Hal - - - Halef - - - - - - - -“ Er brachte nur diese Silben zusammen; dann verhauchte seine Stimme und wurde nicht mehr gehört. Nun ließ sich der Ustad wieder nieder, bog sich zu mir herüber und fragte mich, leise flüsternd: „Begreifst du, was ich that?“ „Nein.“ [308] „So denke nach! Ich habe ihn zu sich zurückgeführt.“ „Ist es denn möglich, eine Seele, welche bereits im Begriffe steht, ihre Verbindung mit dem Körper zu lösen, durch Worte festzuhalten?“ „Ja, das hast du jetzt erfahren und wirst den Beweis bald kommen sehen. Für euch Abendländer ist das freilich ein Rätsel. Eure Seelenlehre ist noch nicht einmal so weit gekommen, daß sie sagen kann, was und wo die Seele ist. Wer die sonderbare Ansicht hegt, daß der Offizier im Körper des Soldaten stecke, der wird alle Bewegungen dieses Soldaten als Regungen des Offiziers erklären; über die Seele aber Auskunft zu geben, das wird ihm ganz unmöglich sein!“ Das klang so alt und doch so neu, in jedem Falle aber wahr! Nun wieder störte kein Laut die Stille um uns her. Wir konnten nichts thun, als warten. Es verging wohl über eine halbe Stunde; da sahen wir, daß die bisherige Starre im Gesicht des Hadschi weichen wollte. Die Mumienähnlichkeit begann, sich zu verlieren, obgleich von einer eigentlichen Wiederbelebung der Züge noch nicht gesprochen werden konnte. Jetzt bewegte er die Lippen, doch wir hörten nichts. Es war zu bemerken, daß seine Augäpfel sich unter den geschlossenen Lidern regten. Es gab ihm eine Anstrengung, welche vergeblich nach dem Erfolge rang. Hierauf zuckten seine Arme und Beine unter der Decke; es ging ein Leben durch seinen ganzen Körper, und fast schreiend erklangen die Worte: „Sihdi - - Sihdi - - bist du bei mir?“ Ich sage, „fast schreiend“, aber es war doch kein eigentliches Schreien, nicht einmal ein Rufen, auch nicht das, was man „laut“ zu nennen pflegt. Und doch klang es so deutlich, so heftig, so todesängstlich! Man hörte [309] dieser Stimme die außerordentliche Schwäche an, und trotzdem war sie im fernsten Winkel der Halle zu vernehmen. „Ich bin hier,“ antwortete ich. „Sag, wie heiße ich?“ „Du bist mein Freund Halef Omar.“ „Der Scheik der Haddedihn?“ „Ja.“ „Ich liege bei den Dschamikun?“ „Ja.“ „Bin ich noch krank?“ „Jetzt noch; bald aber wirst du gesunden.“ „Du bist Kara Ben Nemsi?“ „Ja.“ „So staune! Ich weiß, was sterben heißt!“ „Sag es mir!“ „Nicht jetzt. Das Sprechen fällt mir schwer. Sihdi, hast du nicht Glocken hier gehört?“ „Ja, die Glocken des Gebetes.“ „Laßt sie läuten; laßt beten, daß ich leben bleibe. - Ich will zurück zu Hanneh, meiner Seele. Sie ist - - -“ Er hielt inne. Sein Gesicht bekam zum erstenmal wieder einen Ausdruck, nämlich den der Spannung. Er suchte in sich nach. Dann fuhr er fort, so langsam, als ob er die Worte mühsam aus der Ferne herbeiholen müsse: „Wie ist mir denn? - - - habe ich nicht - - - meine Hanneh - - - hier gesehen? - - - Saß nicht auch - - - - Kara, mein Sohn - - - bei mir - - - an diesem Lager? - - - Ich hatte nicht - - - meine Augen - - - sondern andere. - - - Mit diesen Augen - - - sah ich meine – [310] - - - meine eigene Leiche. - - - Bei ihr saß Hanneh - - - wie ein Mann gekleidet - - - hier, hier - - - zu meiner rechten Hand - - - - Ich kann den Kopf nicht wenden - - - - die Augen nicht öffnen - - - sie nicht sehen - - - und doch, und doch - - - Hanneh, Hanneh - - - mein Glück und meine Retterin - - - ich weiß - - - du bist bei mir!“ Da war es für einen Augenblick um ihre ganze Selbstbeherrschung geschehen. Sie stieß einen fast überlauten Schrei aus, sprang empor und rief: „Allah, ich danke dir! Fast wäre ich erstickt vor lauter Qual und Herzeleid! Nun aber kann ich wieder atmen, denn ich weiß, daß mein Geliebter nicht sterben, sondern leben wird. Du, Allbarmherziger, hast ihn mir zurückgegeben!“ Wir hatten während dieser ihrer Worte nur auf sie geschaut und nicht auf Halef gesehen. Nun aber staunten wir über die Wirkung, welche der Klang ihrer Stimme auf ihn hervorgebracht hatte. Er bewegte den Kopf; seine Züge hatten Leben bekommen; seine Augen waren geöffnet und mit dem Ausdrucke des Entzückens auf Hanneh gerichtet. Kara war auch aufgestanden; er trat an die Seite seiner Mutter. Halef sah ihn neben ihr. Da konnte er plötzlich auch die Hände bewegen. Er faltete sie und sprach: „Auch du bist hier, mein Liebling? Ich bin nicht gestorben und habe doch die Seligkeit, den ganzen, ganzen Himmel hier bei mir!“ Hierauf schloß er die Augen. Mutter und Sohn knieten bei ihm nieder. Sie nahmen seine Hände und sprachen ihre überquellende Liebe in zärtlichen Worten aus. Er antwortete nicht. Da erklangen über uns die [311] Glocken, denn einer der an der Thür stehenden Dschamikun war, sobald Halef diesen Wunsch ausgesprochen hatte, fortgegangen, um ihn zu erfüllen. Der Kranke hörte es und lächelte. Jetzt beteten Tausende für ihn. Wir hier in der Halle auch. Er schlief indessen ein. Mit ihm auch noch ein anderer, nämlich ich. Das war nach den Anforderungen, welche dieser Abend an mich gestellt hatte, gar nicht verwunderlich. Ich wurde so plötzlich von einer ganz unwiderstehlichen Müdigkeit befallen, daß mein aufrecht sitzender Oberkörper den Halt verlor. Ich fiel um. Man trug mich nach meiner duftenden Veilchenecke, in welcher ich einen so langen und tiefen Schlaf that, daß, als ich am nächsten Tag von ihm erwachte, die Sonne sich fast schon wieder zum Untergange neigte. Ich fühlte sogleich, daß diese lange Ruhe mich außerordentlich gekräftigt hatte. Wer saß bei mir, als ich die Augen öffnete? Hanneh! Sie hatte einen mitgebrachten Frauenanzug angelegt. Als sie sah, daß meine Augen offen und auf sie gerichtet waren, reichte sie mir die Hand und sagte: „Ich grüße dich aus vollem Herzen und mit meiner ganzen Seele, mein Effendi. Ich wartete auf dein Erwachen. Inzwischen sitzt mein Kara dort bei Halef, um mir sofort zu melden, wenn ich nötig bin. Jetzt mußt du sogleich essen. Ich werde es Schakara sagen, daß sie dir die Speise bringe.“ „Weißt du, wo sie ist?“ „Ja. Sie ist schnell meine Freundin geworden, denn sie besitzt ein siegreiches Herz, dem niemand widerstehen kann.“ Hanneh stand auf und eilte hinaus, um bald darauf mit der Kurdin zurückzukehren. Während die letztere mir beim Essen behilflich war, ging die erstere zu Kara [312] und Halef, welcher, wie Schakara mir sagte, seit gestern abend in einem immerwährenden, tiefen und wahrscheinlich wohlthätigen Schlafe gelegen hatte. Hanneh beugte sich über ihn und berührte seine Stirn mit ihren Lippen. Sie schien ihn dadurch aufgeweckt zu haben, denn er begann, sich zu regen. Schakara verließ sofort die Halle, um den Pedehr zu holen, welcher das Verlangen geäußert hatte, bei dem Erwachen des Scheikes gegenwärtig zu sein. Ich hörte, daß Halef leise vor sich hin sprach. Zu verstehen war aber nichts. Auch hatte er die Augen nicht geöffnet. Da kam der Pedehr. Er beobachtete den Kranken kurze Zeit und winkte dann Hanneh, mit ihm zu reden. Sie that es, indem sie laut einige Worte sprach, die seine Kosenamen waren. Da ging ein Lächeln über sein Angesicht. Er lauschte. Sie wiederholte die Worte und knüpfte an sie die Frage, wie er sich befinde. Da hörte ich seine außerordentlich matte und doch so deutliche Stimme erklingen: „Hamdulillah - - - es war - - - kein Traum - - -! Mein Leben - - - ist zu mir - - - gekommen! Hanneh - - - Hanneh - - - und - und - - und - - -“ Er schwieg, um nachzusinnen. Da fuhr Kara an seiner Stelle in dem angefangenen Satze fort: „Und ich ebenso, mein Vater! Kara Ben Halef, dein Sohn; ich bin auch bei dir!“ „Kara - - - mein - - - mein Sohn - - der junge Held - - - der Haddedihn - - -?“ Er bewegte den Kopf; er kehrte das Gesicht dem Sohne zu, doch ohne die Augen aufzuschlagen. Dann sprach er weiter: „Auch hier - - -? Zu mir - - - ge- [313] kommen? - - - Ich sah ihn schon - - -! Geritten - - -?“ „Ja, mein Vater.“ „Auf - - - auf welchem Pferde?“ „Auf Ghalib, den du mir schenktest, damit er mich lieben und meinen Willen verstehen lerne.“ Da ging ein schneller, energischer Ruck durch Halefs Körper. „Steig auf!“ sagte er. „Auf Ghalib?“ fragte Kara. „Ja.“ „Jetzt? Hier?“ „Ja - - -! Der Stamm der Haddedihn - - - bist du - - -! Ich will - - - die Tapfern sehen!“ Dieser Befehl erklang in mattestem Tone und trotzdem so willenskräftig. Kara sah den Pedehr fragend an. Dieser nahm ihn bei der Hand, um ihn von dem Lager weg und hinaus auf den Vorplatz zu führen. Dabei hörte ich, daß er ihm die Unterweisung gab: „Der Braune muß so schnell wie möglich gesattelt werden. Du legst alle deine Waffen an und kommst so, wie man sich in den Kampf begiebt, herein und bis zu deinem Vater hingeritten. Das muß so sein! Dein Anblick giebt ihm neue Lebenskraft. Beeile dich, mein Sohn!“ Halef war jetzt still; aber er wartete. Seine zwar nur leisen, aber ungeduldigen Bewegungen verrieten das. Nach einigen Minuten - es waren wohl kaum mehr als fünf - erklang seine Stimme wieder: „Kara - - - schnell - - - schnell - - -! Ich habe - - - habe - - - keine Zeit - - -!“ Der Ton war so ängstlich, daß Hanneh rasch auf- [314] stand und an die nächste Säule trat, um nachzuschauen. Da kam der Pedehr auch schon herein. „Es eilt!“ sagte sie zu ihm. „Er kommt sofort,“ antwortete er. „Sei mutig, und sei still! Dieser Augenblick wird viel entscheiden. Knie hin zu ihm; du wirst ihm nötig sein!“ Sie folgte dieser Aufforderung soeben, als Halef die nur noch mit Mühe hervorgebrachten Worte hören ließ: „Er - - - er kommt nicht - - -! Ich muß - - - muß gehen!“ Da aber gab es draußen lauten Schlag der Hufe. Treppenstufen zu ersteigen, das war dem edlen Ghalib ungewohnt; er schien sich zu weigern. „Jallah, kawahm, kawahm - vorwärts, schnell, schnell!“ erscholl Kara's aufmunternde Stimme. Da nahm der Braune mehrere Stufen auf einmal und kam von der letzten aus in einem weiten, ärgerlichen Sprung hereingeflogen, um hart an Halefs Lager angehalten zu werden und dort, wie aus Erz gegossen, still zu stehen. Der junge Haddedihn hatte das Messer und die Pistolen in den Gürtel gesteckt, die kunstvoll ausgelegte Beduinenflinte quer über dem Rücken und die lange, doppelschneidige Lanze in der Hand. Das kraftvoll schöne Bild eines Beduinenkriegers, so sah er blitzenden Auges auf den kranken Vater nieder. Dieser öffnete die Augen und richtete den Blick zu seinem Sohn empor. Er schien es gar nicht zu bemerken, daß Hanneh ihm die Arme unter Kopf und Schultern schob, um ihn ein wenig aufzurichten. „Ghalib - - - der Unbesiegliche - - -!“ sagte er. „Er trägt - - - die Zukunft - - - meiner Haddedihn - - -! Doch die - - - Vergangenheit [315] - - - stirbt nicht - - - stirbt nicht - - -! Die bin - - - bin ich - - - mit ihm die - - - Gegenwart - - -! Ich bleib bei euch - - - bei euch - - -! Ich will - - - ich will - - - ich will - - -! Kara - - - Hanneh - - - mein Leben - - - kehrt zurück!“ Er hielt den frohen Blick noch einige Zeit auf Kara gerichtet; dann schloß er die Augen. Hanneh bettete ihn wieder bequem in die Kissen. Mir kam es vor, als ob sein Gesicht jetzt einen ganz, ganz andern Ausdruck habe, nicht mehr den leichenhaften wie vorher. Kara stieg vom Pferd und führte es so leise wie möglich hinaus. Hanneh sah den Pedehr ängstlich fragend an. Er nahm sie bei der Hand, zog sie empor und sagte: „Die Hoffnung ist erwacht! Komm mit! Wir wollen ihm einen stärkenden Trank bereiten. Wenn er ihn zu sich nimmt, so wird er gerettet sein!“ Als sie miteinander fortgegangen waren, kam Kara wieder herein, erst für einige Augenblicke zu mir; dann setzte er sich zu seinem Vater, welcher zwar nicht ganz wach zu sein aber auch nicht zu schlafen schien. Er bewegte bald dieses und bald jenes Glied in einer Weise, welche darauf schließen ließ, daß es nicht unwillkürlich, sondern absichtlich geschehe. Dann kehrte der Pedehr mit Hanneh zurück. Ich vermutete, daß in dem Gefäße, welches sie trug, von demselben ausgepreßten Fleischsaft sei, der auch mich so gestärkt hatte. Er wurde Halef mit Hilfe des Löffels gegeben; er weigerte sich nicht, ihn anzunehmen, und fiel dann sogleich in einen ruhigen Schlaf, von dem der Pedehr sagte, daß er wenigstens bis zum nächsten Morgen dauern werde. Hanneh und Kara waren unbeschreiblich glücklich [316] hierüber und stellten, als ich mich jetzt wieder wie gestern hinaus in das Freie schaffen lassen wollte, die Bitte an mich, ihnen da draußen zu erzählen, was ich seit unsererTrennung von den Haddedihn mit Halef erlebt hatte. Dagegen aber erhob der Pedehr ganz entschieden Einspruch. Er wies sie auf die Anstrengungen ihres eigenen Rittes hin und machte sie allen Ernstes darauf aufmerksam, daß sie sich jetzt unbedingt ganz gründlich auszuruhen hätten. Halef bedürfe ihrer heut nicht mehr, da sowohl er als auch Schakara in bester Weise für ihn sorgen würden. Sie mußten gehorchen, und so kam es, daß ich dann später ganz allein draußen vor der Halle saß, um dasselbe Schauspiel des Sonnenuntergangs zu genießen, welches mich gestern schon so erhoben hatte. Wie viele Menschen habe ich schon sagen hören, daß man die Schönheiten der Natur niemals allein, sondern stets in Gesellschaft genießen müsse. Ich bin da ganz anderer Meinung. Schon das Wort „genießen“ scheint mir da falsch gebraucht zu sein. Ich könnte mit ganz demselben Rechte sagen, daß ich eine Predigt, ein Oratorium, ein Kirchenlied „genießen“ wolle. Auf mich wirkt die Natur erhebend, und zugleich veranlaßt sie mich zur Einkehr in mich selbst. Ich bin ein Teil von ihr und kann sie nicht schauen, ohne mit ihr auch mich zu betrachten. Gesellschaft anderer Leute würde mir da nur hinderlich sein. Durch den Wald will ich allein spazieren, außer ich bin gesellschaftlich gezwungen, noch jemand mitzunehmen. Plauderei entheiligt mir die That. Denn ein solcher Gang zum predigenden Walde ist für mich eine That, und zwar nicht bloß eine körperliche, sondern mehr noch eine seelische. Werde ich begleitet, so bringe ich fast nichts mit heim, als nur die Erinnerung an das, was gesprochen worden ist. [317] Ganz ebenso ist es mit dem Sonnenauf- und mit dem Sonnenuntergang. Jede Bemerkung, jede Interjektion, sei sie auch noch so begeistert, muß, falls ich sie anzuhören habe, die Erhabenheit und Heiligkeit des Augenblickes mindern. Ich habe menschliche Gesellschaft gern, wie ich überhaupt die ganze Menschheit herzlich liebe; aber die Natur will ich in ungestörter Einsamkeit auf mich wirken lassen, und meine schönsten und gewiß auch besten Lebensstunden sind die, in denen ich in stiller Nacht und ohne einen Plauderer neben mir dem ewig frommen und ewig treuen Sternenhimmel in seine leuchtend hellen Augen sehe. So auch heut, wo ich allein und von höflicher Rücksicht frei vor der Halle des „hohen Hauses“ saß. Ich kenne ein Bild, „Die Genesende“ unterzeichnet. Eine weibliche Gestalt sitzt bleichen Angesichtes in hochgelegener, offener Laube, von welcher aus einer der herrlichsten Punkte des Rheintales zu überschauen ist. Soeben dem Tode entronnen, hat sie das Krankenzimmer mit dieser freien, vom Blumendufte umwehten Stelle vertauscht, um neues, sonniges Leben einzuatmen. Sie nimmt es mit einem stillen, milden, unendlich dankbaren Lächeln entgegen; aber die großen, ernsten Augen sind nicht hinunter auf die glitzernden Fluten des Stromes oder die grünenden Rebenhänge, sondern weit, weit hinaus in die grenzenlose Ferne gerichtet, die selbst den Horizont unter sich nur als trügerische Vorspiegelung des Menschenauges kennt. Es ist, als ob diese Augen, welche nur Unbegrenztes schauen, noch immer nach der unsichtbaren Pforte jener Geheimnisse suchten, deren Schlüssel in der verschwiegenen Erde des Friedhofes vergraben liegt. Die Seele, welche sich von dem Körper trennen wollte, hat die Verbindung mit ihm noch nicht vollständig wieder hergestellt. Sie [318] zieht den Blick hinaus, dorthin, wohin sie heimwärts gehen wollte, dem Taucher gleich, der nach vollbrachtem Tagewerke sich von der schweren, unbehilflichen Rüstung trennt und sie am Strande liegen läßt, um, wonnig atmend, wieder frei zu sein. - An dieses Bild dachte ich am heutigen Abend, was leicht erklärlich war. Auch ich stand im Genesen und fühlte jenen weichen, tief empfänglichen Ernst in mir, dem es ein Bedürfnis ist, über den Horizont der Endlichkeit hinauszuschreiten. Dort, jenseits dieser Grenze, giebt es dann ebenen Weg; die Zeit der Schlagbäume ist überstanden, und kein niederes Interesse kann den Blick von jenen Höhen lenken, in denen nicht einmal die Sterne mehr die Namen tragen, die ihnen von den Menschen gegeben worden sind. Sie wandeln groß und erhaben über uns, und wer ihnen mit dem Herzen, nicht mit dem Rohre folgt, dem offenbaren sie viel mehr, viel mehr, als man durch dieses Rohr über sie erfahren kann. Keine noch so kunstvoll gearbeitete teleskopische Linse wird jemals an Schärfe das Auge der Seele erreichen! Während ich mich bis fast Mitternacht im Freien befand, saß Schakara bei Halef. Der Pedehr war bei dem Ustad, in dessen Wohnung heut eine wichtige Beratung stattfand, welche nicht in der Halle abgehalten werden konnte, weil diese ja uns überlassen worden war. Der Scheik der Dschamikun kam grad, als ich mich wieder hinein nach meinem Lager bringen ließ. Er teilte mir mit, worüber verhandelt worden war. „Wir haben über das beabsichtigte ‚Fest der fünfzig Jahre‘ gesprochen,“ sagte er. Ein persisches Fest dieses Namens war mir nicht bekannt. Darum sah ich ihn fragend an. [319] „Hat dir noch niemand etwas hiervon gesagt? erkundigte er sich. „Nein.“ „Auch Schakara nicht?“ „Nein.“ „Sie hätte gewiß sehr gern davon gesprochen, denn dieses Fest beschäftigt uns alle schon seit längerer Zeit; wahrscheinlich aber ist ihre Meinung gewesen, auch in diesem Punkte gehorsam sein zu müssen. Der Ustad hat nämlich befohlen, euch nicht mit fremden, also auch nicht mit unsern Angelegenheiten zu behelligen. Ihr mußtet unberührt von jeder innern Störung bleiben. Deine Genesung aber, Effendi, ist so weit vorgeschritten, daß ich nun unbedenklich zu dir von diesem Feste sprechen kann. Es gab einen Kampf zwischen dem Ustad und uns, der ein Kampf der Liebe war. Unser Herr wünschte nicht, daß dieses Fest gefeiert werde. Heut abend aber haben wir ihm die Erlaubnis durch unsere vereinten Bitten abgerungen. In zwei Wochen nämlich werden es fünfzig Jahre, daß er zum erstenmal in ein Zelt unseres Stammes trat, und die Dankbarkeit gebietet uns, diesen Tag feierlich zu begehen. Er hat sich bisher ablehnend verhalten; heut aber ließ er sich überzeugen, daß es ein Herzensbedürfnis für uns sei, und hat uns die Genehmigung erteilt - nicht seinet-, sondern unsertwegen, sagte er. Ihr seid zu dieser Zeit noch hier bei uns, ein Umstand, über den wir uns alle freuen - - -“ „Wird euch diese Freude nicht vielleicht von Hadschi Halef getrübt werden?“ fiel ich ein. „Diese Frage war natürlich von dir zu erwarten. Ich möchte dir gern sagen, was ich denke, befürchte aber, daß du über mich lächeln wirst.“ „Dann bin ich beruhigt! Wenn es nichts Schlimmeres [320] als nur ein Lächeln ist, was du von mir erwartest, mußt du in Beziehung auf ihn wohl gute Hoffnung hegen!“ „Ja, die habe ich. Mein Ausdruck ‚Lächeln‘ aber war anders gemeint. Ich bezog ihn nicht auf Halefs Genesung, sondern auf deine Gedanken. Ich habe als sein Arzt Ansichten, welche vielleicht sehr fern von den deinen liegen, das ist es, was ich meinte.“ „Du bist der Hekim1) [1) Arzt.]; ich aber bin der Laie. Wie könnte es mir beikommen, über dich zu lächeln!“ „Und doch! Denn was ich dir sage, wird nicht die Ansicht allein des Hekim sein. Ich habe es mit einem schwerkranken Menschen zu thun. Wer und was ist das Wesen dieses Menschen? In welcher Beziehung stehen seine Teile zu einander? Das muß ich wissen, wenn ich ihn richtig behandeln soll. Ich vermute aber, daß du über diese Fragen ganz anderer Meinung bist als ich.“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Keinesfalls aber werde ich für deine Gedanken nichts anderes als ein Lächeln haben. Ich bitte dich, sie auszusprechen!“ „So höre!“ Er sprach zwar diese beiden Worte, doch ließ er mich zunächst nichts weiter als nur sie hören. Er hatte sich an meinem Lager niedergesetzt, das Gesicht mir voll zugewendet. Jetzt hob er den Kopf und schaute in das stille, bescheidene Licht der Kerzen, welche in der Nische brannten. Es war, als ob er durch dieses Emporblicken ein ganz anderes Gesicht bekommen habe. Wie rein, wie edel erschienen mir die Linien desselben, die bei unserm ersten Zusammentreffen von häßlichem Schmutz bedeckt gewesen waren! Die Kerzen sandten ihm ihre Flämmchen als winzig kleine und doch fast strahlend helle Punkte in [321] die schönen Augen. Das lange, graue Haar gab einen ganz eigenartigen, lebendig wallenden Rahmen zu diesem Bilde. Da kam eine Erinnerung über mich. Ich sah mich im Atelier eines Freundes. Er arbeitete an einer Darstellung aus der Offenbarung Johannis. Ich sah die Studienblätter durch. Eines von ihnen fesselte mich ganz besonders. Unter einem eingefallenen, nach oben offenen Mauerbogen saß der Seher und schaute himmelan, nach einer Oeffnung in den dunklen Wolken, aus welcher eine Fülle jenseitigen Lichtes auf ihn niederstrahlte. Darunter war zu lesen: „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde waren vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ Das mit diesen Worten wunderbar harmonierende Gesicht des Inspirierten hatte einen tiefen Eindruck auf mich gemacht; es war mir lange, lange geistig gegenwärtig geblieben, bis neue Regungen es in Vergessenheit hatten geraten lassen. Und nun sah ich es plötzlich wieder, in mir und auch außer mir. Denn die Züge des Pedehr glichen in diesem Augenblicke fast ganz genau denen jener Studie, und es war gewiß nicht zu verwundern, daß sie auch dieselbe Wirkung auf mich hatten. Es ging etwas durch mein Inneres, was mich begreifen ließ, daß man unter den Trümmern des Veralteten sitzen könne, um den Blick empor zum Neuen, wirklich Wahren zu erheben. Grad so, als ob dieser mein Gedanke für ihn laut und vernehmlich geworden sei, wendete sich jetzt der Pedehr mir wieder zu und sagte: „Es ist für dich wohl ein Neues, was ich dir mitteilen werde. Ich bitte dich, mir meine Frage zu beantworten: Weißt du, was Geist ist?“ „Nein.“ „Weißt du, was Seele ist?“ [322] „Nein.“ „Meinst du, daß beides das Gleiche sei?“ „Nein.“ „Weißt du, was Körper ist?“ „Auch nicht.“ Da ging ein so liebes, kluges Lächeln des Einverständnisses über sein Gesicht, und er sprach: „Ich würde dir das Lob deiner Bescheidenheit nicht versagen, aber du hast es nicht verdient. Du erwartest, von mir zu hören, was du mir nicht sagen willst. Und weil dir die Wahrheit dessen, was du mir sagen könntest, als nicht ganz zweifellos erscheint, so ziehest du vor, diese Zweifel nicht an deine, sondern lieber an meine Worte legen zu können. Du sollst deinen Willen haben. Wer Schonung bietet, der darf wohl selbst auch auf sie rechnen.“ Wie das so klang! Saß da wirklich nur ein ungebildeter Dschamiki vor mir? Zwar der Scheik des Stammes, aber doch ein Mann, der in Beziehung auf seinen äußern und auch innern Werdegang allen andern Dschamikun gleichzurechnen war? Wenn seine geistige Persönlichkeit bedeutend höher stand, als man nach seiner Lebensstellung schließen durfte, so konnte das nur eine Folge seines langjährigen Verkehres mit dem Ustad sein. Hatte ich aber dieses angenommen, so trat sogleich die weitere Frage an mich heran, in welcher Weise und auf welchem Wege wohl dieser letztere zu einer so hohen Entwickelung seiner Individualität gelangt sein könne. Dieser mein Gedankengang wurde durch den Pedehr unterbrochen, welcher weiter sprach: „Hast du Geist, Sihdi?“ „Ich hoffe es,“ antwortete ich. „Nein, hoffe es nicht! Du hast zwar dieses Phan- [323] tom, aber eigentlich hat es dich: du bist sein Sklave! Hast du Seele?“ „Meinst du eine Seele oder Seele überhaupt?“ „Sei nicht der spitzfindige, gelehrte Europäer, sondern antworte mir. Hast du Seele?“ „Ja.“ „Nein, sondern auch sie hat dich; aber sie ist kein Phantom, sondern eine erhabene, göttliche Wahrheit, der wir unser Anrecht auf die Seligkeit verdanken. Das sagt ein halbwilder Asiat dem von der Weisheit dieser Welt erzogenen Abendländer. Ob letzterer es glauben wird, das ist wohl sehr die Frage. Der Osten hat den Westen schon so manches gelehrt, was entweder nicht geglaubt oder nicht verstanden worden ist. Und nun der Orient dieser vergeblichen Belehrung müd geworden ist, behauptet man, daß er alt und schwach geworden sei. Doch, ich wollte ja nicht vom Ilmi ahwali nefs1) [1) Psychologie.], sondern nur als Hekim von der Krankheit unseres Hadschi Halef zu dir sprechen. Ueber die Seele magst du mit dem Ustad reden, der von ihr wohl noch mehr weiß, als was in seinen Büchern steht.“ „Bücher?“ fragte ich. „Er hat Bücher?“ Da schaute mich der Pedehr mit einem Blicke an, der mir die Röte in die Wangen trieb, und antwortete: „Ob - er - Bücher - hat -! Er besitzt sogar vier große, große Bibliotheken! Die erste besteht im Kitab el mukkades2) [2) Bibel.]; die zweite ist sein Herz, in welchem tausend herrliche Suren stehen; die dritte umfaßt alles, was die Schöpfung seinem Auge lehrt, und die vierte wirst du sehen, wenn du so weit genesen bist, daß du die Treppe emporsteigen kannst, um ihn in seiner Wohnung aufzu- [324] suchen. Da wirst du viele, viele Bände finden, die in Sprachen geschrieben sind, von denen ich ein Wort weder lesen noch verstehen kann. Wenn ich ihn nach dem Inhalte frage, so antwortet er, daß die ganze Summe alles dessen, was geschrieben ist, nichts anderes als der Ausruf sei, den die Pilger ausstoßen, wenn sie nach langer, mühsamer Wanderung endlich Mekka liegen sehen: ‚Hier bin ich, o mein Gott!‘ Die noch viel längere und viel schwerere Reise durch diese Bände schließe ganz genau mit denselben Worten ab. Ich habe einen großen Teil meines Lebens da oben bei ihm und seinen Büchern gesessen, um seinen Worten zu lauschen und sie in mir nachklingen zu lassen. Daß ich meinen Stamm durch Kampf und Leid zum Frieden führte, habe ich ihm zu verdanken, und daß man mich als einen guten Hekim kennt, ist auch eines seiner Werke, für welche ihm die Liebe der Dschamikun zu danken hat. Grad die Krankheit, welche auch dich und deinen Halef ergriff, hat früher große und schwere Opfer von uns gefordert. Der Ustad aber hat ihre Macht gebrochen, indem er uns lehrte, wie sie zu behandeln sei. Ahnst du, warum sie so gefährlich sei, gefährlicher als viele, viele andere?“ „Sage es mir!“ „Du weißt es nicht, und eure Aerzte wissen es auch nicht.“ „Ich vermute, der langen Betäubung wegen, die sie mit sich bringt.“ „Du triffst das Richtige. Aber sage mir, was der Grund dieser Betäubung ist!“ „Die Seele zieht sich vom Körper zurück.“ „Ja. Aber warum?“ „Natürlich der Krankheit wegen.“ „Du wandelst im Kreise, Effendi. Und du kennst [325] die Seele nicht. Hast du einmal den Ausdruck ‚gute Seele‘ gehört?“ „Ja.“ „Böse Seele?“ „Nein.“ „Jetzt kommt das Neue, was ich dir sagen wollte. Nämlich es giebt keine böse Seele. Die Seele scheut alles Böse, sogar schon alles Häßliche. Das Böse und das Häßliche hat nur darum so große Macht über uns, weil die Seele davon abgestoßen wird. Sie zieht sich zurück; dann stehen wir ohne ihren Schutz allein. Der Mensch soll seine Seele nicht versuchen, sondern alles meiden, was sie, die sich nicht beflecken will, beleidigen muß. Er soll sie ja nicht zwingen, sich von ihm, wenn auch nur für die kürzeste Zeit, zu trennen. Hast du schon einmal gesehen, daß ein Mensch in Ohnmacht fällt?“ „Schon oft.“ „So wirst du wissen, daß der Grund fast stets ein böser oder häßlicher war. Bei bösen Dünsten, bei häßlichen Gerüchen oder gar bei wirklichem Gestank befindet sich der Mensch nicht wohl; er atmet schwer; er kann sogar das Bewußtsein verlieren. Die Seele zieht sich von den Sinnen zurück, welche ihr diese Schmerzen bereiten. Wird dir dein Haus oder Zelt so verunreinigt, daß du es nicht mehr aushalten kannst, so verlässest du es. Nun denke über deine Veilchen und über Halefs Rosen nach!“ „Ah! Ich beginne zu begreifen!“ „Diese Krankheit löst gewisse feine Körperteilchen auf, ohne sie aber ausscheiden zu können. Der Verwesungsprozeß beginnt bei lebendem Leibe. Der Geruch wird dir das bewiesen haben. Ich fürchte dein Lächeln und will dir deshalb und einstweilen nur sagen, daß wir die duftenden Rosen und Veilchen nicht etwa nur darum [326] zu euch gestellt und dein Lager mit ihnen bestreut haben, um unsere Nerven des Geruches zu schonen. Es ist vorzugsweise aus andern und tiefern Gründen geschehen. Bin ich ein guter Hekim, so habe ich mein Augenmerk nicht allein auf den Körper, sondern auch auf die Seele zu richten. Ich muß aus allen Kräften und mit allen Mitteln dahin wirken, daß sie sich nicht gänzlich vom Körper loslöse. Du ahnst nicht, wie oft du während deiner langen Bewußtlosigkeit im reinigenden Wasser gelegen hast. Diese Bäder haben noch ganz andere Gründe als nur die Säuberung des kranken Körpers! Lächelst du?“ „Nein.“ „Es schien mir so! Wenn die Zersetzung des Körpers so weit vorgeschritten ist, daß die Seele die Sinne nicht mehr berühren kann, dann ist der Kranke aufzugeben. Darum setzte ich bei Halef meine Hoffnung darauf, daß er noch werde sehen, hören und sprechen können. Sie hat mich nicht betrogen. Aber die Seele des Leidenden darf nicht bloß können, sondern sie muß auch wollen. Es war ein wunderbar glücklicher Gedanke von dir, zu den Haddedihn zu schicken, daß Kara Ben Halef kommen solle. Und die vortreffliche Wirkung wird dadurch verstärkt, daß er seine Mutter mitgebracht hat. Der Anblick dieser beiden Lieben hat die Seele gezwungen, mit dem Körper verbunden bleiben zu wollen. Denn, glaube mir, der Leib hat keine Macht, die Seele zu halten, wenn sie sich nicht halten lassen will oder halten lassen darf! Gelingt es dem Arzte, dieses seelische Wollen zur Energie zu steigern, so kann er doppelt frohe Hoffnung hegen. Halef kam mir da mit seinem Wunsche entgegen, seinen Sohn zu Pferde und als Krieger sehen zu wollen, und du weißt, wie gern und schnell ich hierauf eingegangen bin. Ich glaube nun, daß er gerettet ist.“ [327] „Du glaubst es nur?“ „Ja.“ „Wie gern möchte ich hören, daß du überzeugt seist!“ „Warte bis morgen!“ „Giebt es da eine Entscheidung?“ „Wahrscheinlich. Halef ist doch, wie ich gesehen habe, ein ausgezeichneter Reiter?“ „Nicht nur das. Er ist mit ganzer Seele bei allem, was das Pferd betrifft.“ „Mit ganzer Seele! Das ist das, was ich wünsche, denn diese seine Seele ist dadurch zu fassen. Ich denke dabei an den Wettritt zwischen euch beiden und uns. Du wirst dabei bemerkt haben, daß ich wahrscheinlich ein guter Scheik oder Hekim, aber kein tadelloser Reiter bin. Der innige Umgang mit dem Ustad hat mir nicht erlaubt, in der notwendigen, immerwährenden Uebung zu bleiben. Wäre das nicht, so hätte ich die Stute besser geritten und wäre von dir wenigstens nicht so schnell eingeholt worden. Ich erinnere mich, daß Halefs Augen leuchteten. Liebt er solche Anstrengungen der Pferde?“ „Ein Wettreiten auf edlen Rossen geht ihm über alles!“ „Wohl! Es wird bei dem geplanten Feste ein solcher Ritt stattfinden - - -“ „Das ist ja in zwei Wochen schon!“ unterbrach ich ihn. „Ich befürchte, daß er da noch zu schwach ist.“ „Allerdings. Er soll auch nicht etwa mitreiten. Aber schon das Wort, der Gedanke wird von guter Wirkung auf ihn sein. Ich vermute, daß er morgen nicht nur für einige kurze Minuten erwacht. Finde ich, daß ich es wagen darf, so werde ich ihm über diesen Wettritt eine Bemerkung machen. Wirkt sie so, wie ich erwarte, so wird das geschehen, was du vorhin wünschtest: Mein [328] Glaube, meine Vermutung wird sich in Ueberzeugung verwandeln. Aber freilich, kein Mensch und also auch kein Hekim ist allwissend. Wo wäre ein Sterblicher, der zu sagen vermöchte, was schon im nächsten Augenblicke mit ihm geschehen kann. Aber nach menschlichem Ermessen bist du gerettet, Effendi, und ich hoffe, von dem Hadschi morgen dasselbe sagen zu dürfen.“ „Das, o Pedehr, haben wir nur euch zu verdanken, eurer Nächstenliebe und der aufopfernden Pflege, welche - - -“ „Still, still!“ unterbrach er mich. „Sprechen wir lieber von dem Geschenk, welches ich dir morgen zu machen gedenke!“ „Ein Geschenk? Auch noch?“ „Ja.“ „Darf ich schon heut erfahren, was es ist?“ „Ja. Denn ich meine, daß man eine Freude nie zu früh bereiten könne.“ „Nun, so sage es! Was ist es?“ „Rate einmal, Sihdi!“ „Unmöglich! Es giebt so vieles, womit du mich in deiner Güte erfreuen und stützen könntest.“ „Stützen, stützen! Das ist es ja! Du hast es fast erraten!“ „Also stützen? Etwa ein Stock?“ „Ja. Ein Stock. Du sollst morgen versuchen, zum erstenmal wieder aufrecht zu gehen. Und wenn es nur einige Schritte sind, so wird es dich doch stärken.“ „Stärken! Jetzt bist nun du es, der das richtige Wort getroffen hat. Stärken! Daß ich daran denken darf, morgen diesen Versuch zu unternehmen, das läßt schon jetzt mich fühlen, daß es mir gelingen wird. Wie doch schon im Gedanken eine so große Wirkung liegt.“ [329] „So schlafe dich recht aus! Es ist schon spät geworden. Chodeh behüte dich!“ Er ging, und ich that, was er gesagt hatte: Ich schlief tief bis in den nächsten Vormittag hinein. Als ich erwachte, sah ich Hanneh und Kara bei Halef sitzen. Eben kam Schakara vom Vorplatze herein. Sie sah meine Augen offen, nickte mir still zu und glitt wortlos hinaus, um mir meinen Morgentrank zu holen. Da sie ihn mir brachte, wurden die beiden andern auf mich aufmerksam und kamen zu mir herbei. Ich hörte von ihnen, daß Halef zwar noch schlafe, aber sich zuweilen leise bewege. Der Pedehr hatte angeordnet, sofort zu ihm zu schicken, sobald der Kranke die ersten Zeichen gebe, daß er wieder bei sich sei. „Wieder bei sich sei!“ Diese Worte ließen mich an meine gestrige Unterhaltung mit dem Genannten denken. „Wieder bei sich!“ Wer ist dieser „Sich“? Dieser „Er“ oder diese „Sie“? Dieses Wesen, diese Persönlichkeit? Nach der Ansicht des Pedehr ist es die Seele. Der „Geist“ ist ihm Phantom. Er kennt am Menschen nur den Körper und die Seele. Die letztere ist das eigentliche Wesen. Was nun aber ist der Leib? Die Seele kann sich von ihm trennen. Unter gewissen Umständen wird aus diesem Können ein Wollen, welches sich sogar - jedenfalls beim Sterben - zum unbedingten Müssen steigert. Ist sie die Herrin und der Leib der Diener? Oder ist dieses Verhältnis für ihn vielleicht ein noch viel niedrigeres? Gleicht er einer, allerdings aus Organen zusammengesetzten, Maschine, welche im Schlafe zu ruhen hat, während sie zu dieser Zeit heimkehrt, um für den morgenden Tag neue Aufgaben und neue Kräfte zu empfangen? Bleibt sie auch während dieses seines Schlafes und während dieser ihrer Abwesenheit durch geheimnis- [330] volle Fäden oder Beziehungen so mit ihm verbunden, daß sie bei jeder Störung zu seinem Schutz zurückgerufen wird? Und wenn es so ist, wo liegt das Heim, zu dem sie einst am Grabe völlig Rückkehr feiert? Im Leibe keinesfalls! Die chemisch-mechanische Thätigkeit gewisser Organe in ihm wird selbst durch die tiefste Ohnmacht nicht beendet, denn diese Kräfte wirken unaufhörlich weiter, bis der dazu nötige Stoff vollständig aufgezehrt worden ist. Aber das willkürliche Leben ist unterbrochen, und alle ihm zugehörigen Bewegungen sind eingestellt, bis sie, die Herrin, wiederkehrt, um den „entseelten“ Körper aufs neue zu „beseelen“. Was gestern vom Pedehr hierüber gesagt worden war, das hatte so einfach, so naiv geklungen. Natürlich hatte er unrecht, er, der geistig arme Mann im unkultivierten Kurdenlande! Mit welch einem unendlich zusammengesetzten und ebenso imponierenden Apparate behandelt dagegen unsere gelehrte Psychologie dieses „Seele“ genannte, mit hundert Armen und Beinen zappelnde Gliedertier! Natürlich hat sie recht, diese auf allen Akademien gepflegte und von allen seelenvollen Menschen anerkannte Wissenschaft! Und Geist? Ein Phantom? Ist es nicht grad der Geist, dem wir diese tiefeingehende, beglückende Wissenschaft über die Seele verdanken? Ist nicht er es, der uns mit dem Animismus, dem Okkultismus, dem Spiritismus, der Pneumatologie und ähnlichen übersinnlichen Geschenken gesegnet hat? Und dieser Geist, der die Menschen sogar Geister sehen und mit Geistern sprechen läßt, soll ein Phantom sein? Pedehr, Pedehr, du bist ein lieber, guter Mensch, bist mein und Halefs Retter, ragst seelisch über Tausende empor, doch muß ich dir es sagen: Du hast nicht eine einzige Spur von Geist! - Man kann sich denken, daß ich an den Stock dachte, [331] der mir für heut versprochen worden war. Die liebe Ungeduld verleitete mich zu der Bitte an Schakara, ihn mir doch recht bald zu bringen. Sie versprach es lächelnd, that es aber nicht, wenigstens nicht gleich. Es mochte gegen Mittag sein, als Halef die ersten Zeichen gab, daß er erwache. Kara eilte sofort aus der Halle, um den Pedehr zu holen. Als dieser kam, hatte er den Stock in der Hand; er gab ihn mir. „Ich halte mein Versprechen,“ sagte er, „doch warte noch ein wenig. Ich werde dich hinab zu Assil tragen lassen. Dort wirst du im Schatten der Platanen bis zum Abend ungestört sein und dich wohlbefinden.“ Kaum hatte er das gesagt, so ließ sich Halefs Stimme hören: „Kara, mein Sohn!“ „Hier, mein Vater,“ antwortete der Gerufene, der neben dem Pedehr gestanden hatte und nun hin zu dem Hadschi eilte. „Ich sah dich auf dem Ghalib. Weißt du, wann das war?“ „Gestern war's.“ „Wo?“ „Hier.“ „Hier? Wo ist das?“ „In dieser Halle.“ „Halle? Warte! Ich will sie sehen!“ Er kehrte seinem Sohne langsam das Gesicht zu und öffnete die Augen. Ihr Blick ging, soweit er reichen konnte, von Person zu Person, von Stelle zu Stelle. Als er mich in meiner Ecke sah, fragte er: „Wer liegt dort? Ist das nicht mein Sihdi?“ „Ja, ich bin es, mein Halef,“ antwortete ich. „O, Sihdi, Sihdi, ich besinne mich. - Ich war sehr [332] krank. - Ich bin es noch. - Ich starb bereits. - Da rief man mich zurück. - Ich hab sehr viel gesehen. - Doch weiß ich es nicht mehr. - Vielleicht fällt es mir wieder ein. - Ich will nicht sterben. - Ob ich wohl noch leben bleibe?“ Er sprach nur in kurzen Sätzen, leise, aber hörbar. Nach jedem Satze sammelte er sich und holte tief Atem. Als eine Weile vergangen war, bat er: „Hanneh - Kara - - steht auf! - Ich will euch ganz sehen. - Ich liebe euch!“ Sie thaten nach seinem Willen. Da begann sein Auge, sich mehr zu beleben. „Mein Weib! Wie danke ich dir! - Mein Sohn! Wie schön warst du auf deinem Pferde! - War Ghalib sehr ermüdet?“ „Nur ein einziges Mal,“ antwortete Kara. „Hast du für ihn gesorgt?“ „Ja.“ „Für Barkh auch?“ „Ja, mein Vater.“ „Wenn ich sie sehen könnte!“ Im Nu eilten Hanneh und Kara hinaus, um die Pferde zu holen. Als sie die beiden brachten, kam Assil aus eigener Machtvollkommenheit hinterher gelaufen. Er wußte, wo ich lag, und wendete sich zu mir. Die zwei andern wurden hin zu Halef geführt. Dieser bekam plötzlich Kraft, den Arm erheben zu können. „Barkh, mein Liebling! - Komm her zu mir!“ sagte er, indem er die Hand nach dem Rappen ausstreckte. Dieser trat ganz zu ihm heran, spielte mit den Ohren und nahm die dargebotene Hand in die Lippen. „Mein Guter! - Mein Treuer! - Du hast dich nach mir gesehnt! - Ich sehe es dir an!“ klagte der [333] Kranke. „Er hat gehungert! - Wie ist's damit? - Sag es mir, o Pedehr!“ „Es ist so, wie du sagst,“ antwortete der Gefragte. „Wenn sie auch nicht gehungert haben, so konnte Schakara sie doch oft nur dadurch zum Fressen bringen, daß sie ihnen ihr grünes Lieblingsfutter gab.“ „Wenn ich gesund bin - - - wird Barkh wieder fressen - - wie vorher. - - Aber ob ich nicht - - doch sterben werde?!“ „Du wirst leben bleiben!“ „Glaubst du das?“ „Ja.“ „Wirklich?“ „Gewiß! Du wirst von heut an so schnell genesen, daß du wahrscheinlich schon bei unserm großen Wettrennen zugegen sein kannst.“ „Wettrennen?“ fiel Halef rasch und hörbar kräftig ein. „Giebt es ein Rennen?“ „Ja.“ „Wo?“ „Hier. Rund um den See.“ „Wann?“ „In zwei Wochen.“ „So ein kleiner Ritt? - Ganz gewöhnlich und gelegentlich?“ „O nein! Es wird ein großes Fest bei uns gefeiert, zu welchem Tausende von Menschen herbeiströmen werden. Es dauert mehrere Tage, und wir werden vieles thun, die Gäste zu unterhalten. Das Hauptstück wird ein Wettrennen sein, welches aus mehreren Abteilungen besteht.“ „Groß? - Mehrere? - Hanneh, Hanneh! - Gieb mir deinen Arm! - Richte mich auf! - Das muß ich weiterhören! - Alles, alles will ich hören!“ [334] Es hatte sich seiner eine Energie bemächtigt, die man vorher für vollständig unmöglich gehalten hätte. Sein Gesicht, sein Blick, seine Stimme, alles, alles war im Handumdrehen anders geworden. Es schien, als ob ganz plötzlich die volle Lebenskraft durch seine Adern pulsiere. „Reg dich nicht auf! Schone dich!“ warnte der Pedehr. „Aufregen? Schonen?“ antwortete er. „Ich spreche doch bloß! Ich strenge mich ja gar nicht an!“ Er machte jetzt zwischen den Sätzen nicht mehr, wie vorher, eine Pause, um Atem zu suchen. „Sag, was für Pferde werden laufen?“ erkundigte er sich. „Es werden nicht bloß Pferde sein. Wir lassen alle Arten der Tiere laufen, die es bei uns giebt, Schafe, Ziegen, Esel, Maultiere, Lastkamele, Reitkamele, gewöhnliche Pferde, und zum Schlusse wird es mehrere Rennen zwischen Tieren edelster Rasse geben.“ „Wem gehören sie?“ „Das weiß ich noch nicht. Jeder Gast darf sich beteiligen, und es werden viele kommen, welche gute Renner besitzen.“ „Allah, wallah, tallah! Darf ich mich mit melden?“ „Du?“ „Ja, ich!“ „Verzeihe mir, o Scheik der Haddedihn! Eure drei Pferde werden wahrscheinlich die besten sein, und ich bin sehr überzeugt, daß du rasch gesunden wirst; aber die zum Reiten nötige Stärke wirst du in zwei Wochen doch noch nicht besitzen!“ „Wer hat das gesagt? Wer wagt es, das zu behaupten?“ [335] „Jeder Hekim muß das sagen!“ „Allah verderbe alle Hekims, die es - - - Nein, Allah verzeihe mir! Ich will nie wieder solche böse Worte sprechen!“ Hanneh hatte ihn durch Kissen so gestützt, daß er mit dem Oberkörper halb aufrecht lag. Er machte einen geradezu mehr als bloß Hoffnung erweckenden Eindruck. Der Pedehr aber ließ ihn keinen Augenblick aus dem Auge. Wenn er sich auch nichts merken ließ, so war es für ihn doch selbstverständlich, daß auf die jetzige An- oder vielmehr Aufregung die unausbleibliche Abspannung folgen werde. „Wird mein Sihdi in zwei Wochen wieder hergestellt sein?“ erkundigte sich Halef. „Ja; aber wettrennen darf er mir noch nicht!“ „Du bist grausam. Aber Kara, meinem Sohne, wirst du es nicht verbieten? Er ist nicht krank.“ „Ich wünsche sogar, daß er sich beteilige.“ „In drei Rennen? Mit jedem unserer Pferde einmal?“ „Wenn du es wünschest, gern!“ „Oh, wüßte ich doch schon jetzt, was für Renner zu besiegen sein werden!“ „Ich kann dir sagen, daß es feine Perser, vorzügliche Turkmenen und echte Araber geben wird.“ „Das ist für heut genug. Kara, mein Sohn, du wirst von jetzt an mit jedem unserer Pferde täglich einen Eilritt unternehmen! Ueberwache sie beim Füttern und beim Tränken! Laß sie - - - laß sie bis zur - - - zur Schnelligkeit der Geheimnisse gehen - - - aber zwinge sie - - - ja zu dieser nicht - - -!“ Er begann jetzt wieder, Pausen zu machen. Seine Stimme wurde matter. [336] „Hanneh, laß mich wieder nieder!“ bat er. Sie nahm die stützenden Kissen weg. Nun lag er wieder wie vorher. Da fuhr er langsamer und leiser fort: „Ghalib wird siegen - - - ganz gewiß! - - - Barkh überholt jedes - - - jedes andere Pferd! - - - Assil Ben Rih aber wird - - - sie alle mit Leichtigkeit - - - mit Wonne in ihre - - - in ihre Schande rennen! Mit dem reinen - - - echten Blut der Haddedihn - - - ist kein anderes - - - kein anderes zu vergleichen - - -!“ Er schloß die Augen. Alle waren still. Nach einiger Zeit hörte ich ihn wie befehlend sagen: „Kara - Kara, der Bügel - - - ist zu scharf - - -!“ Der Pedehr nickte befriedigt vor sich hin. Was er dann leise zu Hanneh und ihrem Sohn sagte, konnte ich nicht mehr verstehen. Dann aber kam er her zu mir und sagte: „Ich fürchtete entweder die Gleichgültigkeit oder eine größere Aufregung. Nun bin ich doch zufrieden!“ „Und deine Hoffnung - - -?“ fragte ich. „Ist zur Gewißheit geworden. Wenn keine unvorherzusehende Störung kommt, wird er gerettet sein. Das Rennen wird ihn beschäftigen, auch wenn er zu schlafen scheint. Ja, es wird ihn vielleicht sogar bis in den Traum begleiten. Er wird, wie du gestern sagtest, ‚mit seiner ganzen Seele‘ ununterbrochen bei diesem Rennen sein und sich an diesem Gedanken zum neuen Leben stärken. Dich aber werde ich jetzt hinunter zu den Platanen tragen lassen. Dort magst du den Stock versuchen, bis er dir später nicht mehr nötig ist.“ Er ging, und gleich hierauf kamen drei Dschamikun, welche mich hinausbringen sollten. Sie trieben zunächst Assil hinaus, was Kara Veranlassung gab, auch Barkh [337] und Ghalib wegzuführen. Hierbei war das laute Geräusch der Hufe nicht zu vermeiden. Halef bewegte sich. Grad als man mich vom Lager hob, öffnete er die Augen. „Komm her zu mir, Sihdi - - -!“ sagte er, „du sollst - - etwas hören - - etwas sehr - - sehr Wichtiges - - !“ Man setzte mich bei ihm nieder. „Gieb mir deine Hand!“ bat er. Ich ergriff die seinige. Er sah mir mit seiner alten Innigkeit in die Augen und fuhr mit leiser Stimme fort: „Sihdi - - - wie denkst du - - - über das Sterben?“ „Ich denke überhaupt nicht mehr daran,“ antwortete ich. „Ich auch nicht! - - - Das alte - - - alte Weib - - - ohne Zähne - - -! Weißt du - - -? Sie ist fort - - - ! Sie wollte - - - mich zwingen - - - zum Sterben - - -! Da erfuhr ich - - - daß auch dieses Sterben - - - eine große, große Lüge ist - - - so groß - - - wie es gar keine - - - keine zweite giebt! - - - Sihdi, leg dein Ohr - - - an meinen Mund - - -!“ Ich folgte dieser Aufforderung, da flüsterte er mir zu: „So lange ich lebte - - - steckte ich im Tabuth1) [1) Sarg.] - - - das ist der Leib - - -! Ich sollte - - - sollte, nein - - - ich wollte - - - wollte, nein - - - ich durfte - - - durfte auferstehen! - - - Da rief jemand - - - im Sarg meinen ganzen - - - ganzen Namen! - - - Das hielt mich in - - - in ihm - - - von neuem in ihm fest! - - - Ich war - - - war nicht allein - - -! [338] Es standen - - - standen - - - ich sah - - - Sihdi, ich kann - - - mich nicht besinnen! Es fällt mir - - - schon noch wieder ein - - - dann sage - - - sage ich es dir!“ Ich behielt seine Hand in der meinen, während er hierauf längere Zeit ohne Wort und Bewegung lag. Plötzlich zuckte er zusammen und rief mit erhobener Stimme aus: „Sihdi, es giebt ein großes Rennen - - -! Ich muß essen - - - muß trinken - - - muß stark werden - - -! Assil - - - mein Barkh - - - und Ghalib, der Ueberwinder - - -! Ich bin froh - - - daß ich lebe - - -! Wir werden siegen - - - siegen - - - siegen - - -! Hamdulillah - - - Hamdulillah - - - Hamdulillah!“- - - [339] Viertes Kapitel. Ein Bluträcher. Viele meiner Leser sind, wie ich weiß, in Palästina gewesen. Die Meisten von diesen werden wohl auch, wie einst der Mann im Gleichnisse Christi, von Jerusalem hinab nach Jericho gegangen sein. Er-Riha wird diese Stadt vom heutigen Araber genannt. Von ihr aus geht es über eine alte, verfallene Brücke nach dem fernliegenden „Toten Meere“. Nach der andern Seite führt, an zerlumpten, niedrigen Beduinenzelten vorüber, ein bequemer Weg nach Aïn es Sultan1) [1) Sultansquelle.], wo die eingeborenen Bettler gern unter Wasser tauchen, um die für sie hineingeworfenen Geldstücke herauszuholen. Trinken aber mag man lieber vor als nach dieser Prozedur! Geht man von hier aus noch weiter, so sieht man den imposanten Dschebel Qarantel vor sich liegen, der sich aus dem Abgrunde wie ein böser Traum aus tiefem Schlaf erhebt. Seine Einsamkeit hat schon in den frühesten Zeiten anziehend auf fromme Anachoreten gewirkt. Die Höhlen wurden von ihnen bewohnt. Zelle gesellte [340] sich zu Zelle. Sie sind hoch am schwindelnd steilen Fall der Felsen gelegen. Heute wird diese Siedlung als Strafkolonie für griechisch-katholische Priester gebraucht. Warum diese scheinbar unmotivierte Abschweifung nach dem gelobten Lande? Der Aehnlichkeit der Orte wegen. Ich kann die Lage des von dem Ustad bewohnten „hohen Hauses“ eigentlich nur Denen deutlich machen, welche den Dschebel Qarantel gesehen haben. Und doch wie so verschieden sind sie beide von einander. Bei Jericho jeder Nomade ein geborener Bettler; hier in dem abgelegenen, kurdischen Orte jeder Bewohner ein Ehrenmann. Dort Einöde, hier das gepflegteste Tier- und Pflanzenleben. Dort abgrundtiefes Grauen und hier ein herzerfreuender Blick von der Höhe in die Tiefe. Dort die unerbittlich geballte Faust der geistlichen Oberbehörde und hier aber die stets gütig geöffnete Hand dessen, der nur von der Liebe zu seiner dominierenden Würde emporgehoben worden war. Auch in Jericho habe ich unter freiem Himmel wiederholt ganze Nächte durchgewacht. Warum? Der Unsauberkeit und des Ungeziefers wegen, welches mich aus der Wohnung heraus bis an den verwilderten Garten trieb. Da strahlten mir auch die Sterne; aber die körperliche Qual ließ auch nur häßliche geistige Bilder zu. Ich sah am Tel ed Dem1) [1) Bluthügel.] den Chan Chadrur vor mir liegen, welcher die Herberge sein soll, in die der barmherzige Samariter seinen Pflegling brachte. Dort habe ich für eine Flasche allerschlechtesten Bieres drei Mark bezahlt. Ein Glas widerlich parfümiertes Wasser kostete einen Frank. Wer aus Sparsamkeit nicht einkehrt, ist des fernern Weges nicht sicher. Die Verhältnisse sind nach zweitausend Jahren noch ganz die- [341] selben. Das ist „das gelobte Land“! Wie herrlich weit hat man es dort gebracht! Damals war der Samariter, der verachtete Ketzer, der Barmherzige. Wie ist es jetzt? Wenn ich mir diese Frage unter dem Sternenhimmel Jericho's vorlegte, so stand kein Stern mehr über Bethlehem, und keine Schar Engel fand sich ein, um ihr „Et in terra pax, hominibus bonae voluntatis“ zu singen. Vor christlicher Zeit wurde der Jude von Räubern überfallen, beraubt und fast erschlagen. Jetzt, nach zwanzighundert Jahren, steht es nicht besser um diese und ähnliche, oft intellektuelle und moralische Wegelagerei. Jetzt fallen Christen über Christen her. Besonders wer es wagt, nicht den von jedermann betretenen sondern, seinen eigenen Glaubensweg von oder nach der heiligen Stadt zu gehen, der kann sehr leicht an sich selbst erfahren, was Lucas 10 Vers 30 zu lesen ist. Christus wußte gar wohl, weshalb er grad dem Schrift- und Buchstabenstolz mit seinem Gleichnisse vom barmherzigen Samariter diese ewig unheilbare Wunde schlug. Auch wir Christen haben unser Jerusalem und unser Jericho mit dem „Toten Meere“ in der Nähe. An dem Wege zwischen beiden liegt das un- mit dem egogläubigen Strauchrittertum im Hinterhalte. Wo ist die Humanität, die wahre christliche Liebe und Barmherzigkeit? Soll sie auch noch in der Gegenwart nur dem ketzerischen Samariter überlassen bleiben? Gehen etwa auch jetzt noch Priester und Leviten an dem Angefallenen vorüber, ohne sich seiner anzunehmen? Solche Fragen kamen mir in den Sinn, als ich des Nachts unter den staubigen Oleandern von Jericho saß und an die göttliche Lehre von der Nächstenliebe dachte. Dagegen hier im christenfernen Kurdistan! Welch eine herrliche Auslegung hatte da das Gleichnis des [342] Herrn an uns selbst gefunden. Wer und was waren hier die Barmherzigen? Etwa Christen? Priester und Leviten? Vielleicht auch nur Ketzer, denn ich hatte ja ihre Glaubenssatzungen noch gar nicht kennen gelernt. Es war bisher nur von Chodeh, also von Gott gesprochen worden. Gab es bei ihnen überhaupt Satzungen? Waren sie mir verschwiegen worden, weil man annahm, daß nur die Liebe, nicht aber die Konfession barmherzig sei? Was für ganz andere, viel tröstlichere Gedanken waren mir gestern abend unter dem hiesigen Sternenhimmel gekommen! Hier war ich nicht um meines Dogma willen, sondern als Mensch von guten Menschen aufgenommen und mit größter Aufopferung gepflegt worden. Niemand hatte mich gefragt, wo ich getauft und wo ich konfirmiert oder gefirmt worden sei. Giebt das der Liebe einen mindern oder höhern Wert? „Wer ist mein Nächster?“ - „Der, welcher die Barmherzigkeit an mir that!“ Wenn aber ein Christ mir Haß oder Neid anstatt der Liebe giebt, was ist er dann für mich? Mein Nächster? Oder noch schlimmer als nur fremd? Ist er dann überhaupt ein Christ? Wie herrlich war der Nachmittag unter den Platanen, in deren Schatten man für mich die Kissen zum Sitzen aufgerichtet hatte. Die Sonne brannte, doch konnten die Strahlen nicht durch die dichten Wipfel dringen. Die Rosen dufteten; jede Pflanze schien Wohlgeruch auszuatmen. Ich befand mich nicht weit genug vom Hause entfernt, um es und seine Lage ganz überschauen zu können. Es stand auf kompaktem Felsengrund, dessen Spalten durch festes Mauerwerk ausgefüllt worden waren. Sein hinterer Teil nahm die natürlichen Höhlungen des Gesteines ein. Der vordere Teil ragte frei empor, mehrere Stockwerke hoch und war von ansehnlicher Breite. [343] Das Dach war glatt, vorn mit einer assyrischen Mauerkrönung; wie man sie in Dur-Sargon zu sehen bekommt. Doch habe ich ganz ähnliche Krönungen auch in alten Orten des obern Niles getroffen. Ueber dem Dache gab es in dem Felsen offene Höhlungen, zu denen schmale Stege emporführten. Das erinnerte mich lebhaft an den „Stabl Antar“ bei Siut, der ganz ebenso zu ersteigen ist. In einer dieser Höhlen sah ich die beiden Glocken hängen. Sie war halbkugelförmig ausgebaucht. Die Tonschwingungen konnten nur nach der einen, offenen Seite fließen, was ihnen eine erhöhte Stärke und beträchtlich erweiterte Hörbarkeit verlieh. Glocken hier im persischen Kurdistan? So wird wohl mancher fragen. Ich habe freilich viele, viele Menschen kennen gelernt, welche der falschen Ansicht sind, daß nur das Christentum Glocken besitze und daß es in früherer Zeit noch keine gegeben habe. Wenn sogar im Konversationslexikon von Pierer zu lesen ist, daß die Glocken eine Erfindung der christlichen Kirche seien, so darf man sich nur wundern. Kleinerer Glöcklein bediente man sich schon im frühesten Altertume; aber schon im alten China gab es größere und sogar große. Die zu Peking ist über zwölfhundert Zentner schwer und fast fünf Meter hoch. In Aegypten wurden die Osirisfeste durch Glockenspiele eingeläutet. Man hat kleine Bronzeglocken in Assyrien ausgegraben. Im alten Indien wurden die Buddhisten durch große, metallene Glocken zum Gottesdienste zusammengerufen. Bei den Griechen bedienten die Priester der Kybele und der Persephone ihre Glocken, und Kaiser Augustus ließ eine Glocke vor dem Tempel des Jupiter aufhängen. Glocken indischer oder assyrischer Form kamen nach Persien. Die griechische Kirche liebte und verbreitete besonders das Glockenspiel. Im Quellenlande des Euphrat [344] und des Tigris, wo es heut noch Christen uralten Bekenntnisses giebt, besaßen wohlhabende Gemeinden schon zu frühen Zeiten ihre Glocken. Der Islam verhielt sich ablehnend, doch geduldete Christen durften ihre Glocken behalten. So war es also gar kein Wunder, daß auch die Dschamikun zwei besaßen, zu denen sie, wie ich später erfuhr, durch den Ustad auf ganz eigentümliche Weise gekommen waren. Es führte eine bequeme Treppe zu ihnen hinauf, so daß man also auch des Nachts ohne Besorgnis emporsteigen konnte. Von da aus, wo ich saß, konnte man den Eingang zu dem freien Platze sehen. Man verschloß ihn durch ein großes Thor, welches jetzt offen stand. Von diesem Platze aus stieg man die Stufen zu der Halle empor. Links führte ein Weg nach einer breiten, hohen Thür, deren starke Steinpfosten gewiß schon seit Jahrtausenden standen. Rechts ging man nach einem Garten, in welchem zwischen Obstbäumen Blumen und Gemüse gepflegt wurden. Dorthin beschloß ich, meinen ersten Spaziergang zu machen. Ich griff zum Stocke und stand auf. Die Beine zitterten zunächst ein wenig, und die Füße wollten lieber auf dem Kissen liegen bleiben. Aber sie mußten gehorchen, und als sie sahen, daß ich bei meinem Willen blieb, fügten sie sich in das Unvermeidliche. Ich kam über den ganzen Platz hinüber bis zur Garteneinzäunung, an der ich aber halten blieb, um auszuruhen. Nachdem ich dies gethan hatte, ging es weiter, in den Garten hinein. Er war sehr groß. Es gab da eine ganze Menge Beete, von deren Erträgnissen ein großer Haushalt bestritten werden konnte. Zwischen ihnen standen viele Bäume, welche Früchte trugen. In leidlicher Entfernung sah ich ein Weichselgebüsch, an welchem eine Bank stand. Dort wollte ich mich nieder- [345] setzen. Ich ging also hin. Hierbei kam ich an zwei nahe beieinander stehenden, persischen Erikan1) [1) Pflaumenbäume.] vorüber, welche so voller Früchte hingen, daß ihrer fast mehr als Blätter waren. Es war eine frühe, eigroße, köstlich blaurot gefärbte Pflaume! Ja, köstlich!!! Wenn ich hier erst ein und dann sogar drei Ausrufezeichen mache, so hat das seinen guten Grund. Obst geht mir über jede andere Speise. Ich esse da gewiß so viel, wie sogar meine vier Ausrufezeichen schwerlich vermuten lassen. Und Pflaumen? Gar von dieser geradezu zum Stehlen einladenden Sorte? Man würde staunen, wenn ich sagen wollte, wieviel ich da essen und aber auch vertragen kann. Ich sage es also lieber nicht. Das alles gilt aber nur vom Obste. In Beziehung auf andere Speisen sind die sogenannten Tafelfreuden für mich nichts als Tafelarbeiten. Ich weiß, und ich schmecke, was gut ist oder nicht; ich kann sogar auch tadeln; aber ich esse nicht, um zu essen, sondern weil ich leben bleiben will. Gekünsteltes oder Complicirtes schiebe ich zurück. Ich will einfach essen, womöglich nur eine einzige Speise, aber gut. Das Zusammengesetzte ist keineswegs so zuträglich wie man denkt. Ich habe das an mir und tausend Andern erfahren. Wenn die Menschen doch wüßten, was die Art und Zubereitung der Nahrung für einen Einfluß, für eine Wirkung hat! Doch, hierüber könnte man Bücher schreiben, und es würde doch vergeblich sein. Aber, daß ich jetzt als Sechzigjähriger mich körperlich und geistig noch genau so jung und arbeitsfreudig wie ein Zwanzigjähriger fühle, das habe ich wohl vorzugsweise dem Umstande zu verdanken, daß ich so einfach und so wenig wie nur möglich esse. Obst aber, so viel [346] ich immer kann, das ganze Jahr hindurch. Nach dem Preise soll man da nicht fragen. Und Pflaumen! Solche, wie grad hier - - -! Da stand ich unter den Bäumen und schaute sehnsüchtig hinauf. Wem gehörten sie? Wer war der Glückliche, der da pflücken oder gar schütteln konnte, ohne erst jemand fragen zu müssen? Der Ustad? Der Pedehr? Weder der eine noch der andere war da. Es gab überhaupt im ganzen Garten keinen Menschen, an den ich eine Bitte hätte richten können. Was nun thun? Soll ich? Oder soll ich nicht? Darf ich überhaupt? Adam und Eva im Paradiese wußten wenigstens, daß sie nicht durften; ich aber wußte nicht einmal das! Doch wozu diese übermäßige Zartheit des Gewissens! Bei solcher Art von Pflaumen! Ich war ja Gast! Und der Garten gehörte einem Orientalen, nicht einem abendländischen Besitzer, bei dem das Bäumeschütteln nicht mit zu den unveräußerlichen Rechten des bei ihm Aufgenommenen gerechnet wird! Ich legte also beide Hände an den einen Stamm und - - - schüttelte. Hei! Was gab das für einen Erfolg! Es regnete förmlich Pflaumen auf mich nieder! Das freilich hatte ich nicht gewollt! Es hatten nur einige fallen sollen; aber sie waren beinahe überreif, und in Anbetracht meiner jetzt noch so geschwächten Kräfte hatte ich mich zu energisch in das Zeug gelegt: Weit über die Hälfte der Früchte lagen nun jetzt unten. Ich stand da mit wohl demselben Gefühle wie jener Reiter, der sich links so kräftig auf das Pferd geschwungen hat, daß er rechts, auf der anderen Seite wieder hinuntergefahren ist. Jedes Zuviel ist eben schädlich! Aber da ich die herabgefallenen Pflaumen doch unmöglich wieder oben anheften konnte, so füllte ich mir die Taschen, ließ die andern liegen und ging dann [347] nach der erwähnten Bank, um dort zu thun, was nun das beste war, nämlich meinen Raub genießen. Ich saß nun so, daß ich die beiden Pflaumenbäume nicht mehr sehen konnte. Das minderte die Kraft der Vorwürfe, welche ich mir zu machen hatte. Ich aß! Aber, es ist nichts so fein gesponnen, El Aradsch bringt es an die Sonnen. Wer ist El Aradsch? Das wird man sogleich sehen und sogar auch hören. El Aradsch heißt: der Lahme. „Auch Frenk maidanosu mit, zur Abendsuppe!“ rief hinter mir eine eigentümlich fette Stimme. Frenk maidanosu ist ein türkisches Wort und heißt zu deutsch Kerbel. Also für heute abend stand eine Potage von Kerbel in Aussicht. Das war zwar gut und auch leicht verdaulich, aber für mich sollte das in meiner gegenwärtigen Eigenschaft als Pflaumendieb außerordentlich verhängnisvoll werden. Zunächst noch ganz ahnungslos, drehte ich mich um, zu sehen, wer gesprochen hatte und wem die Worte galten. Ich mußte mit der Hand das Weichselgezweig auseinander schieben, um nach dem Hause hinschauen zu können. Ich erblickte zunächst eine unendlich lange, männliche Gestalt, welche bis über die Kniee hinauf barfuß war. Von dieser Gegend an war ein blaues, sackähnliches Hemd zu sehen, welches mit Mühe und Not den Hals erreichte. Dann kam ein unverhältnismäßig kleiner Kopf mit einem Gesicht, welches mir ein Lächeln abnötigte. Dieser Mann war ganz gewiß nicht unter vierzig Jahre alt, hatte aber so junge, kindlich weiche Züge, daß der Kontrast zwischen Gesicht und Gestalt allerdings zum Staunen nötigte. Dazu kam, daß er eine kurdische Ledermütze trug, deren Streifen ihm hinten bis in das Genick und vorn über die Nase herabhingen. Man denke sich einen aus Leder geschnittenen [348] Stern, dessen Mitte auf dem Scheitel liegt, während die Strahlen wie die Beine eines präparierten, monströsen Spinnentieres nach allen Seiten herunterflattern! Seine Arme schienen noch länger zu sein als seine Beine, von denen das eine kürzer als das andere war; er hinkte. Er trug einen leeren Korb in der Hand und ging grad nach der Gegend hin, wo die beiden Pflaumenbäume standen, der eine noch als Zeuge meiner Ehrlichkeit, der andere aber als Beweis der Missethat, die ich begangen hatte. Das war die Person, welcher die Anweisung zur Kerbelsuppe gegolten hatte. Wer aber hatte sie gegeben? Ich sah eine jetzt geöffnete Thür, welche ich vorher nicht beachtet hatte. Da stand ein weibliches Wesen, so strahlend weiß wie eine abendländische Festjungfrau gekleidet. Festjungfräulich waren auch die langen Zöpfe, in welche sie ihr herabhängendes Haar geflochten hatte. Festlich auch die beiden Rosen, die rechts und links auf die Ohren niederschauten. Und das Gesicht? Könnte ich es doch beschreiben! Dieses Gesicht war zwar etwas Ganzes, sogar etwas seltsam Harmonisches, und aber doch schien es, als ob jeder einzelne seiner Teile sich bestrebe, herauszutreten und für sich selbst zu bestehen. Jede Wange bildete ein blühend rotes, nach ganz besonderem Ansehen trachtendes Halbkügelein. Das Kinn that sich weiter unten fast noch mehr hervor; es schien auf sein mehr als neckisches Grübchen ganz besonders stolz zu sein. Das Näschen begann erst da, wo andere Nasen fast schon zu Ende sind, und schaute zwischen den beiden Wangen so frohsinnig heraus und in die Welt hinein, als ob seinesgleichen nirgends mehr zu finden sei. Auch die glatte, faltenlose Stirn trat heiter vor. Und die Aeuglein unter ihr! Ja, diese Aeuglein! Wer kann über- [349] haupt Augen beschreiben? Und nun gar so liebe, kleine, gute, außerordentlich lebendige! Und wie das Gewand, so war auch dies Gesicht ein Abglanz allergrößter Sauberkeit. Man darf ja nicht denken, daß es häßlich gewesen sei. O nein! Es war zwar nicht schön, nicht hübsch, nicht lieblich, nicht - - ja, was noch nicht? Es war überhaupt alles nicht, aber es war gut, ja wirklich gut! Aber wie alt? Zwanzig? Dreißig? Vierzig? Wer das nur sagen könnte! Ich wollte genauer hinsehen, da aber drehte sie sich um und verschwand nach innen. Wenn diese personifizierte Reinlichkeit etwa die Gebieterin der Küche war, so konnte man von ihr alles, ganz gleich, ob mit oder ohne Kerbel, mit Vergnügen essen! „Maschallah - - Wunder Gottes!“ hörte ich jetzt von seitwärts her einen Ruf. Ich wendete mich zurück und machte nach dorthin eine Lücke ins Gezweige. Da stand der Lahme vor den Pflaumen, so lang, wie er war, vollständig starr und steif vor Schreck. Hierauf kam einige Bewegung in ihn, aber nicht viel; er schüttelte den Kopf. „Ahija - o wehe!“ klagte er. Hierauf sah man, daß er eine Anstrengung machte, nachzudenken. Es gelang. „Ja charami - o, du Spitzbube!“ rief er aus, indem er sich nach allen Seiten umschaute. Es ging ihm also eine Ahnung auf, daß die Pflaumen nicht von selbst heruntergefallen seien. „Iil'an Daknak - verflucht sei dein Bart!“ schimpfte er, und als er den Thäter nicht erblickte, fügte er noch viel zorniger hinzu: „Allah jelisak borneta - Allah setze dir einen Hut auf!“ Mit diesem Wunsche leistete er sich die allergrößte Schande für den Dieb. Wer einen europäischen Hut, [350] vielleicht gar einen hohen Cylinder, occidentalisch „Angströhre“ genannt, aufgewünscht bekommt, mit dessen Ehre ist es nach streng orientalischen Begriffen ganz gewiß für immer aus! Nun griff der lange Mensch unter die Mütze und rieb sich die Stirn. Er that dies einigemal. Wahrscheinlich wollte er die Antwort auf die Frage, wer der Spitzbube wohl sein könne, herausreiben. Es gelang ihm aber leider nicht. „Allah ja'lam el gheb - Allah kennt das Verborgene!“ seufzte er endlich erleichtert. Das war das einzige und, wie es schien, ihn sehr beruhigende Resultat, welches er sich aus der Stirn frottiert hatte. Dann kniete er nieder, um die Pflaumen in den Korb zu lesen. Dabei betrachtete er jede einzelne mit einem Blicke, als ob er sie sich ganz besonders vorgemerkt habe. Aber plötzlich fuhr er halb empor. Er hatte etwas Wichtiges gesehen. Das waren die Fußstapfen, welche ich in dem weichen Boden zurückgelassen hatte. „Men schabar nahl - wer Ausdauer hat, dem gelingt es!“ rief er aus. Er glaubte wohl, auch jetzt noch immer gerieben und nachgedacht zu haben. Nun erhob er sich und hinkte den Spuren langsam nach. Sie führten ihn natürlich her zu mir. Als er um die Ecke des Gebüsches trat, steckte ich soeben eine Pflaume in den Mund. Zunächst blieb er wie eine Salzsäule vor mir stehen. Er bewegte kein Glied. Nicht einmal seine Wimper zuckte. „Wer bist du?“ fragte ich. „Du - - du - - du hast die Pflaumen - - - meines Ustad gestoh - - -“ Weiter kam er nicht. Die Stimme versagte ihm. Also diese Früchte waren für den Ustad reserviert! Da [351] konnte ich ruhig sein; der gönnte sie mir gewiß. Aber dieser meiner Ruhe stand ein ebenso schnelles wie gewaltsames Ende bevor, denn der Lahme bekam plötzlich seine ganze Bewegungsfähigkeit, sogar zehnfach gesteigert, wieder, und ehe ich nur den Gedanken hätte fassen können, daß so etwas möglich sei, warf er sich mit aller Macht über mich her, schlang die überlangen Arme anderthalbmal um mich herum und begann, aus Leibeskräften um Hilfe zu schreien. Nach den Ausdrücken, die aus seinem Munde flossen, war eigentlich zu schließen, daß er eine ganze Bande von Dieben, Räubern und Mördern ergriffen habe. Er war ein außerordentlich kräftiger Mann, mich aber hatte die Krankheit so geschwächt, daß ich vergeblich versuchte, von ihm loszukommen. Glücklicherweise dauerte es nur ganz kurze Zeit, bis mir die von ihm herbeigerufene Hilfe kam. Wahrscheinlich sah er sie, denn er hörte auf mit Schreien; statt seiner aber hörte ich die fette Stimme der sich eiligst nähernden „Festjungfrau“. „Wo sind denn die Räuber, die Mörder?“ fragte sie. „Hier, hier! Komm, komm!“ antwortete er. „Wen haben sie ermordet?“ „Die Pflaumen, die Pflaumen des Ustad, die Früchte meines lieben, hohen Herrn!“ „Unsinn! Pflaumen werden doch nicht ermordet!“ „Komm nur; komm, und sieh ihn an!“ Sie kam; sie stand schon da. „Zeig, Tifl !“ gebot sie ihm. Tifl heißt „mein Kind“, sogar „mein kleines Kind“. Er ließ mich los. Ich hatte im Gefühle meiner Ohnmacht mich ganz passiv verhalten und konnte nun gar nicht anders, ich mußte ihm lachend in das grimmige Kindergesicht sehen. Wenn dieser Mann ein „kleines Kind“ war, welche Länge mußten da die großen Kinder [352] wohl hier zu Lande haben! Die „Festjungfrau“ war zunächst auch ganz ohne Worte. Sie schien nicht recht zu wissen, aus wem von uns dreien sie klug zu werden habe. „Das ist er!“ sagte er, indem er beide Zeigefinger schnurstracks auf mich richtete. „Wer?“ fragte sie. „Der Dieb.“ „Was hat er gestohlen?“ „Die Pflaumen! Dort liegen noch welche!“ Er deutete nach den Bäumen. Sie schaute hin, sah die Früchte unten liegen, schlug die dicken Händchen patschend zusammen und jammerte: „Die besten, grad die allerbesten!“ „Aufgehoben haben wir sie für unsern Herrn!“ klagte er mit. „Bis zur Stunde der höchsten Reife!“ fuhr sie fort. „Dann erst ißt er sie, seine Lieblinge!“ fügte er hinzu. „Er hat wohl noch genug!“ tröstete ich. Da sahen beide mich so erstaunt an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches gesagt habe. Dann fuhr mich der Lange zornig an: „Sie sind alle sein, alle, alle! Wer bist du denn?“ „Ja, wer bist du? Das wollen wir wissen!“ erklärte mir die Besitzerin des frohsinnigen Näschens. „Das wißt ihr nicht?“ antwortete ich. „Nein,“ sagte sie. „Ihr habt mich noch nicht gesehen?“ „Noch nie! Doch, wer du auch seiest, wie darfst du es wagen, hier Früchte zu stehlen! Kein einziger Dschamiki stiehlt. Du mußt ein Fremder sein!“ „Aus der Fremde kam ich allerdings, doch gehöre ich zum Hause. Ich bin des Ustad Gast.“ [353] „Gast? Seit heut?“ „Seit Wochen schon.“ „Seit Wo - - Wo - - - Wochen - - Wo - - -!“ Das runde, kleine Mündchen blieb ihr offen stehen, so offen, daß man die kerngesunden, perlengleichen Zähne sehen konnte. Die Wänglein verloren die Farben; das Kinn zeigte sich ängstlich gespannt; das Näschen wollte verschwinden, und die Aeuglein schlossen sich, zwar langsam aber ganz. Hatte sie etwa einmal von einer Europäerin gesehen, welche Ritterdienste in solchen Fällen von einer kleinen Ohnmacht zu erwarten sind? Nein! Die Aeuglein öffneten sich wieder. Sie wurden sogar noch größer, als sie vorher gewesen waren. „Heut - heut - verläßt der - - der fremde Effendi - - zum erstenmal - - das Haus - - -“, stotterte sie. „Du hast ihn wirklich noch nicht gesehen?“ fragte ich. „Nein. Niemand von uns - - durfte die Halle betreten. Bist du - - du etwa der - - - der Effendi?“ „Ja, ich bin's.“ Da fuhr sie vor Entsetzen zwei Schritte zurück. Ihr liebes Gesicht verlor nun alle, alle Farbe. Der Lange aber schoß in seinem Schreck noch höher empor, als er eigentlich gewachsen war. Wahrscheinlich wollte er mit der gedankenreichen Stirn so hoch hinaus, daß ihr meine Rache unmöglich etwas anhaben konnte. Diese Bewegung brachte ihn auf eine rettende Idee: „Ich hole Kerbel!“ rief er aus. Mit drei Sätzen seiner langen Beine war er bei den beiden Bäumen, raffte den Korb auf, schüttete die hineingelesenen Pflaumen wieder heraus und rannte fort, um [354] die fernste Ecke des Gartens zu erreichen. Ich sah ihm lachend nach und hatte dabei nicht acht auf meine „Festjungfrau“. Da erklang es neben mir: „Und ich muß in die Küche!“ Da drehte ich mich um. Sie war schon weg. Ich schob die Zweige auseinander, um ihr nachzusehen. Sie schoß in größter Eile auf einige Hausbedienstete zu, welche auch von den Hilferufen angelockt worden waren, aber nicht gewagt hatten, näher zu kommen. „Fort! Weg mit euch!“ rief sie, indem sie an ihnen vorüberkam. „ ‚Das Kind‘ hat wieder eine Dummheit gemacht. Stört dort den Effendi nicht!“ Hierauf verschwand sie in ihrem wohlthätigen Reiche. Vor mir lag eine ihrer beiden Rosen, die ihr entfallen war. Ich hob sie auf und steckte sie zu mir. - Warum erzähle ich dies eigentlich nichts weniger als bedeutende Ereignis hier? Weil im Menschenleben oft das, was gleichgültig erscheint, später größere Wichtigkeit gewinnt, als man vorher vermuten konnte. Nach einiger Zeit kam „das Kind“ aus seiner Gartenecke zurück, hütete sich aber wohl, an mir vorbeizugehen. Es machte vielmehr einen Bogen hinterwärts, um wieder in die Küche zu gelangen. Hierauf verließ auch ich den Garten, versäumte aber nicht, mir die Taschen noch einmal mit Pflaumen zu füllen. Noch hatte ich mich nicht lange niedergesetzt, da kam der Pedehr. Er war in der Küche gewesen, und die Köchin hatte ihm erzählt, was geschehen war. Er fragte mich, ob mir „das Kind“ sehr wehe gethan habe. Ich beruhigte ihn mit Vergnügen. „Er wird von uns nur ‚Kind‘ genannt,“ sagte er. „Andere pflegen ihn El Aradsch, den Lahmen, zu nennen. Es hat mit ihm eine eigene Bewandtnis, welche du später auch noch kennen lernen wirst. Du liebst das Obst?“ [355] „Ja. Ich esse es sehr gern, und zwar ungewöhnlich viel.“ „Thue das, so lange du lebst! Die reine, keusche Lebenskraft ist nicht im Fleische des ausgewachsenen Tieres vorhanden. Genießt man welches, so soll es nur ganz junges sein. Das reife Tier giebt auch dem Menschen, der es genießt, tierische Reife. In der Frucht des Baumes aber ist das reinste Leben aufgespeichert, weil Wurzeln, Stamm und Zweige das Unreine zurückbehalten haben. Nun weißt du, warum der Ustad uns gelehrt hat, nicht nur Felder, sondern auch Gärten anzulegen.“ Hatte der Pedehr recht? Ich habe mich später an seine Weisung gehalten und befinde mich sehr wohl dabei! Hanneh und Kara kamen abwechselnd zu mir auf den Vorplatz heraus. Ich erfuhr von ihnen, daß Halef still und ruhig schlafe. Später hatte ich das Vergnügen, die Köchin und „das Kind“ wiederzusehen. Sie wollten miteinander hinunter in das Dorf und mußten da an mir vorübergehen. Das Kind hatte jetzt ein längeres Gewand angelegt, welches fast bis an die Knöchel reichte. Die Gebieterin der Küche hatte sich mit einem langen, weiten, weißen, schleierähnlichen Stoff geschmückt, welcher, ihr Gesicht freilassend, von dem Kopfe aus hinten niederfiel und, nach vorn zusammengerafft, die ganze Gestalt einhüllte. Es war an ihr überhaupt, jetzt und auch später, nichts als nur Weiß zu sehen. Man sah Beiden an, daß sie sich meinetwegen in Verlegenheit befanden. Sie näherten sich nur zögernd. Sie sagte ihm etwas und schob ihn dann mit der Hand, voranzugehen. Da ermannte er sich, that einige schnelle, lange Schritte bis zu mir her, verbeugte sich und sagte: „Effendi, ich bin Tifl.“ [356] Das war ganz genau dasselbe, als wenn er in deutscher Sprache gesagt hätte: „Effendi, ich bin ein kleines Kind.“ Ich mußte lächeln und nickte ihm zu. „Aber ich bin nicht klein!“ fuhr er fort. Ich nickte wieder. „Ich bin ein Mann!“ versicherte er. Ich nickte abermals. „Ich habe Mut, sehr viel Mut. Ich fürchte mich niemals, vor keinem einzigen Menschen!“ „Das hast du an mir bewiesen,“ bestätigte ich. „Ja, an dir! Sogar an dich habe ich mich gewagt! Man hat mich dafür sehr gescholten; aber ich behaupte, daß ich richtig gehandelt habe. Sage du es selbst: Hattest du die Pflaumen meines Herrn herabgeworfen?“ „Ja, das hatte ich.“ „Und mir aber sind sie anvertraut. Habe ich gegen meine Pflicht gesündigt?“ „Nein, du bist ein treuer Wächter im Garten deines guten Herrn.“ Da breitete sich der Ausdruck herzlichster Befriedigung über sein kleines Gesicht. Er drehte sich zu der Köchin um und sagte: „Hast du es gehört, o Pekala?“ Pekala ist ein türkischer Name und bedeutet „die Köstliche“. Sie machte ein sehr ernsthaftes Gesicht, womit sie aber fast grad das Gegenteil von der beabsichtigten Wirkung hervorbrachte, und antwortete ihm: „Ich habe es freilich gehört, aber der Effendi ist gütiger gegen dich, als du verdienst. Merke dir: Man hat sogar auch Pflaumendiebe höflich zu behandeln, falls man nicht genau weiß, wer oder was sie sind. Du bist eben unser kleines, unerfahrenes Kind, welches nichts [357] als Fehler macht. Und nun thu, was ich dir befohlen habe!“ Er wendete sich mir wieder zu, und zwar mit einer so komisch verlegenen Miene, daß sein Gesicht jetzt ganz genau demjenigen eines ausgescholtenen kleinen Knaben glich. „Soll ich es wirklich machen, Effendi?“ fragte er mich. „Was?“ „Pekala hat mir befohlen, dich um Verzeihung zu bitten.“ „Wofür?“ „Daß ich dich als Spitzbube behandelt und festgehalten habe.“ „Höre, lieber Tifl, das hast du recht gemacht!“ „Recht?“ fragte er in freudiger Ueberraschung. „Ja. Pekala meint es gut mit mir. Sie will das Unrecht, welches ich that, entschuldigen. Aber ich war wirklich ein Pflaumendieb. Ich habe dir also nichts zu verzeihen, sondern ich lobe dich, denn du hast deine Pflicht gethan.“ Da nahm sein Gesicht einen frohen, weichen, und doch beinahe männlichen Ausdruck an. „Du tadelst mich also nicht?“ fragte er. „Nein.“ „Sondern du hast mich gelobt, wahrhaftig gelobt?“ „Ja.“ „Effendi, das werde ich dir nie und nie vergessen! Mein Herz ist dein Eigentum. Wir gehen jetzt miteinander hinunter in das Dorf. Hast du vielleicht eine Besorgung? Soll ich dir etwas mitbringen?“ „Nein, lieber Tifl.“ „Lieber Tifl! Hast du es gehört, meine gute Pekala? [358] Lieber Tifl hat er gesagt! Andere Europäer sind ganz anders als er. Er ist grad so wie ich: er ist nicht stolz. Es bleibt dabei: mein Herz ist sein. Komm!“ Er griff nach ihrer Hand, um sie fortzuziehen. Aber sie blieb noch stehen. Ihr Auge war auf meine Brust gerichtet; ich dachte nicht daran, weshalb. „Hast du die Rosen lieb, Effendi?“ fragte sie mich. „Ja, sehr,“ antwortete ich. „Jede Blume. Blumen gleichen den Seelen guter Menschen; sie erfreuen uns, ohne daß diese Freude uns später betrübt. Warum fragst du mich?“ „Weil du die Rose aufgehoben hast, welche ich verloren habe. Es ist die Rose einer niedrigen Dienerin. Erlaubst du mir, dir täglich einige zu pflücken?“ „Ja. Ich nehme sie sehr gern von dir, o Pekala.“ „Ich danke dir! Oemürün tschok ola!“ Das sind türkische Worte. Sie bedeuten den Wunsch: Möge dein Leben lang sein! War sie etwa osmanischer Abstammung? „Allah billingdsche olsun - Gott sei mit dir!“ antwortete ich. Da schlug sie die kleinen, dicken Hände freudig zusammen und sagte: „Du verstehst türkisch?“ „Ja.“ „So darf ich in meiner Muttersprache mit dir reden, wenn du zu mir sprichst?“ „Das sollst du sogar, damit ich von dir lerne!“ Da war sie es, die sich stolz mit der Frage an ihren Tifl wendete: „Hast du es gehört? Lernen will er von mir! Auch mein Herz ist sein Eigentum. Jetzt komm!“ Sie machten mir eine sehr tiefe und darum sehr höf- [359] liche Verbeugung, bei welcher er, der Lange, natürlich weit herablassender verfahren mußte als sie. Dann entfernten sie sich. Wie leicht es doch ist, Menschenherzen zu erfreuen! Warum thut man das so wenig? Kurze Zeit hierauf kam Kara aus der Halle. Er sagte mir, daß sein Vater für einige Augenblicke aufgewacht sei, und dabei, wie noch halb im Schlafe, mit leiser Stimme die Worte gesagt habe: „Kara muß die Pferde üben!“ Er hatte darum die Absicht, jetzt, wo die Hitze des Tages vorüber war, bis zum Abend auszureiten, und zwar mit allen drei Pferden, weil Assil und Barkh so lange Zeit nicht vom Hause fortgekommen waren. Er sattelte auch sie, weil er es nicht für vornehm hielt, sie nackt nebenherlaufen zu lassen, setzte sich auf Ghalib und ritt dann zum Thore hinaus. Hierauf mochten kaum zehn Minuten vergangen sein, so hörte ich von der Gegend dieses Thores her ein lautes, schnaufendes Atemholen. Ich drehte mich um. Tifl kam wieder, aber wie! Er machte Sprünge, als ob es sich um sein Leben handle. Seine langen Beine flogen nur so! Um bei dem so eiligen Laufe die Mütze nicht zu verlieren, hatte er sie abgenommen und trug sie in der Hand. „Was ist geschehen?“ fragte ich, als er an mir vorüber wollte. Er blieb für einen Augenblick stehen. „Der junge Haddedihn!“ antwortete er, indem er die Hand mit der ledernen Spinne durch die Luft schwang. „Kara Ben Halef?“ „Ja.“ „Der ist soeben fort.“ „Ich weiß es, Effendi.“ [360] „Er reitet aus.“ „Und ich darf mit! Ich habe ihn gefragt! Hamdulillah! Ich bin schnell heraufgerannt, um das Pferd zu holen!“ Hierauf rannte er weiter, nach dem Garten hin, hinter dem sich, was ich noch nicht wußte, eine grasige Weide für Pferde an der Seite des Berges hinzog. Wie „das Kind“ sich freute! Für Kara war es freilich nützlich, jemand, der die Gegend kannte, mitzunehmen. Aber grad diesen Tifl? Und wer weiß, auf welchen alten Gaul er sich wagen durfte! Es sollte doch wohl eine Schnelltour mit unsern edlen Tieren werden! So waren meine Gedanken. Ich kannte „das Kind“ eben nicht. Man soll sich stets hüten, vorschnell zu urteilen! Wer kam nach kaum einer Minute im eiligen Trabe aus dem Garten? Sahm, der Braune des Ustad. Ohne Sattel und Zaum! Nicht einmal eine Leine um den Hals! Er sprang nach dem Thore zu. Hinter ihm her rannte „das Kind“, strahlende Wonne im ganzen Gesicht. „Den willst du reiten?“ rief ich ihm zu. „Er geht dir ja durch!“ Da lachte er laut auf. Mit zwei, drei weiten Sätzen hatte er das Pferd erreicht. Ein kühner, wundervoll abgemessener Sprung, und er saß oben. Die langen Beine legten sich fest an den Leib des Pferdes. Ein Wehen mit der Kurdenmütze nach mir zurück, dann flog der seltsame Centaur zum Thore hinaus. Wer hätte denken können, daß dieser so willenlos und unbehilflich erscheinende Tifl ein solcher Reiter sei! Es war zum Verwundern! Wie aber hatte Kara auf den Gedanken kommen können, grad „das Kind“ und keinen andern mitzunehmen? Das war folgendermaßen geschehen: [361] Als der junge Haddedihn den Berg hinabritt, hatte er die Absicht, den Weg einzuschlagen, den er mit seiner Mutter gekommen war. Dies war ja der einzige, den er kannte, doch auch nicht genau, weil es bei der Ankunft ja nicht mehr Tag, sondern Abend gewesen war. Als er jetzt nun durch den Duar ritt, sah er die Köchin und Tifl vor einem Hause stehen, mit dessen Bewohnern sie sprachen. Er wollte an ihnen vorüber, doch ging das nicht so glatt, wie er gedacht hatte. Assil und Barkh zeigten nämlich die Absicht, stehen zu bleiben. Sie drängten nach Pekala und ihren Begleiter hin. „Kennen euch die Pferde?“ fragte er. „Sehr gut,“ antwortete die „Köstliche“. „Sie haben sogar sehr innige Freundschaft mit uns geschlossen.“ „Wie ist das gekommen? Ich habe noch nie gesehen, daß sie Fremden eine solche Zuneigung schenkten.“ „Wahrscheinlich ist es Dankbarkeit. Sie grämten sich; sie weigerten sich, zu fressen. Da habe ich ihnen die besten und grünsten Leckerbissen aus der Küche hinausgetragen oder durch „unser Kind“ geben lassen. Das nahmen sie. So lernten sie uns kennen. Nun freuen sie sich stets, wenn sie uns sehen.“ „Ja, Tiere sind für die ihnen erwiesenen Wohlthaten oft dankbarer als die Menschen. Auch ich danke Euch!“ „Aber diese ihre Dankbarkeit hat die beiden Rappen nicht verleiten können, ihren Herren ungehorsam zu sein.“ „Wie meinst du das? Was deutest du da an?“ Da zeigte sie auf Tifl und antwortete, indem sie pfiffig lächelte: „Richte deine Frage an diesen hier, an unser Kind! Ich habe es nur gesehen; er aber hat es gefühlt!“ Da sprach der Lange in vorwurfsvollem Tone: [362] „Warum sprichst du davon, o Pekala? Du solltest es doch nicht verraten! Was habe ich dir gethan, daß du mich so beschämen willst?“ „Es geschieht zu deiner Erziehung. Kinder müssen erzogen werden. Ich hatte es dir verboten, und du thatest es aber doch. Da flogst du freilich herab!“ „Ah, du bist aufgestiegen?“ fragte Kara. „Ja,“ gestand Tifl, indem sein Gesichtchen einen unendlich kläglichen Ausdruck annahm. „Auf welchen? Assil oder Barkh?“ „Ich habe es mit beiden probirt.“ „Nun, weiter?“ Da riß er sich mit der linken Hand die Spinnenmütze vom Kopfe, um mit der Rechten kratzend in die Haare zu fahren, und antwortete: „Ich mußte herunter!“ „Ja, das glaube ich! Wir haben es sie so gelehrt. Du warst kaum oben, so flogst du wieder herab!“ Da richtete sich „das Kind“ in seiner ganzen Länge auf und rief: „Kaum oben? Oho! Ich bin Tifl, der nur dann aus dem Sattel geht, wenn er will! Es hat mich noch kein Pferd zwingen können, es unfreiwillig zu verlassen!“ „Aber diese beiden doch!“ „Ja. Aber ich würde schwören, daß es eine Lüge sei, wenn ich nicht selbst der heruntergeworfene Tifl wäre! Doch so sehr schnell, wie du meinst, ist es nicht geschehen. Es gab einen Kampf, einen schweren Kampf, doch, doch - - - doch - - -“ Er zögerte mit den Worten; es fiel ihm schwer, seine Niederlage einzugestehen. Da fiel die Köchin lachend ein: „Ich stand dabei; ich sah den Kampf. Tifl glaubte, [363] es erzwingen zu können; aber die Pferde wollten nun einmal nicht, und so mußte das Kind fliegen.“ „Erst nach längerer Zeit? Nicht gleich?“ fragte Kara. „Das ist sonderbar! Dann müßtest ja du eigentlich ein besserer Reiter sein, als ich je einen gesehen habe!“ „Der? Das Kind? Ein Reiter? Bloß eigentlich?“ fragte Pekala. „Natürlich ist er das! Er ist ja Sa'is1) [1) Pferdejunge.] beim Schah-in-Schah gewesen!“ „Maschallah! Sa'is? Beim Beherrscher von Persien? Warum ist er das nicht geblieben?“ „Weil das Kind zu sehr wuchs. Es brauchte mit jeder neuen Woche auch eine neue Uniform,“ scherzte die Köchin. „Darüber wurde es dem Schah-in-Schah himmelangst; er konnte das nicht aushalten und schickte Tifl also fort. Hier bei uns kann er wachsen, so hoch er will. Wir haben keine kostbaren Stallungen, welche er dadurch demoliert, daß er mit dem Kopfe durch die Decken stößt.“ „O, meine Pekala, was hast du heut wieder einmal für ein böses Herz!“ klagte der Lange. „Ich weiß ja, daß ich dem Schah-in-Schah zu lang, zu dünn und also zu häßlich wurde; aber grad dieser meiner Länge wegen sitze ich auf dem schlimmsten Pferde fest, weil meine Beine seinen ganzen Leib umfassen - - -“ „Und mit den Füßen kannst du unten sogar noch einen besonderen, festen Knoten knüpfen“, fiel sie ein. „Darum bist du der einzige, der unsern Sahm richtig zu reiten versteht.“ „Wer ist Sahm?“ fragte Kara. „Das ist die berühmte, echtblütige Stute des Ustad, [364] auf welcher unser Pedehr von Kara Ben Nemsi eingeholt worden ist. Hätte ‚das Kind‘ auf ihr gesessen, so - - -“ Tifl ließ sie den begonnenen Satz nicht vollenden; er fiel schnell und eifrig ein: „Ich hätte mich ganz gewiß nicht einholen lassen!“ „Assil schlägt jedes andere Pferd!“ behauptete Kara. „Kennst du unsere Stute?“ fragte Tifl. „Nein.“ „Hast sie aber gesehen?“ „Noch nicht.“ „Soll ich sie holen?“ „Hierher? Warum holen? Ich darf sie wohl später sehen!“ „Du reitest aber jetzt spazieren. Mit deinen edlen Pferden. Wohin?“ „Das weiß ich nicht genau. Ich kenne eure Gegend noch nicht. Ich will unsere Tiere im Laufen üben. Weißt du, des Wettrennens wegen!“ „Bei diesem Rennen werde ich Sahm reiten. Erlaube mir, daß ich jetzt mit dir übe. Ich eile. Ich hole die Stute. Warte hier! In zehn Minuten bin ich wieder hier!“ Er rannte fort, ohne die Antwort Karas abzuwarten. Diesem blieb nichts anderes übrig, als zu verweilen, bis nach noch nicht zehn Minuten Tifl auf ungezäumtem und ungesatteltem Pferde wieder bei ihm eintraf. Er ritt die Stute, damit Kara sie beobachten möge, in den verschiedenen Gangarten einigemale hin und her und fragte ihn dann, was er zu ihr sage. Kara besaß zwar viel von der großen Lebhaftigkeit seines Vaters, hatte dazu aber von seiner Mutter jene Bedachtsamkeit geerbt, welche vor- [365] schnelles Reden oder Thun vermeidet. Er hütete sich also, ein Urteil auszusprechen, und lobte ihre sichtbaren Vorzüge, ohne zu sagen, ob er einen Fehler an ihr entdeckt habe. Dann fragte er Tifl, nach welcher Gegend man einen Spazierritt, wie der beabsichtigte sei, am besten machen könne. Der Gefragte antwortete, seinem Namen „Kind“ gar nicht entsprechend, außerordentlich sachgemäß: „Wir müssen einen großen, freien Platz zum Galoppieren haben, dann aber auch steile, beschwerliche Wege, welche uns zeigen, was unsere Pferde auf ihnen zu leisten vermögen. Von hier aus nach Osten liegt eine weite Ebene, welche erst grasig und dann nur noch sandig ist. Jenseits von ihr erhebt sich das Gebirge, über welches zwei Pässe führen, der Boghaz-y-Chärgusch1) [1) Hasenpaß.], welcher so heißt, weil es dort in den Büschen viele Hasen giebt, und der Boghaz-y-Ghulam2) [2) Courierpaß.], den man so nennt, weil dort einmal ein Bote des Beherrschers ermordet worden ist. Wenn wir einen dieser Pässe hinaufreiten und durch den andern zurückkehren, lernst du die Gegend kennen, durch welche sich die östliche Grenze unsers Gebietes zieht.“ „Ist es weit?“ „Für gewöhnliche Pferde, ja; für unsere aber nicht.“ „Da mein Vater krank ist, möchte ich nicht erst spät des Nachts heimkehren.“ „Wir kehren um, sobald du willst!“ „Ist die Gegend sicher?“ „Ja.“ „Du siehst, daß ich nur mein Messer bei mir habe; du aber bist ganz unbewaffnet. Auf eurem Gebiete duldet [366] ihr wohl keinen bösen Menschen, doch kommen wir ja, wie du sagst, bis an die Grenze desselben. Und die Massaban sind sogar bis hierher zu euch gedrungen, um euch zu überfallen. Wirklich und unausgesetzt sicher ist wohl kein Ort hier in den Bergen.“ „Das ist richtig. Aber wer solche Pferde reitet wie wir, der kann jedem Uebel schnell und leicht entgehen. Fürchtest du dich vielleicht?“ Welch eine Frage für Kara! Ob er sich fürchte! Das war bei ihm ein vollständig unmögliches Gefühl. Er war zu verständig, sich als beleidigt zu betrachten, und als Gast der Dschamikun hatte er sich zu hüten, selbst beleidigend zu werden. Darum hielt er es für das beste, so zu thun, als ob diese Frage ganz ungehört an seinem Ohre vorübergegangen sei. „Komm! Vorwärts!“ sagte er, indem er seinem Ghalib das Zeichen zum Weitergehen gab. Assil und Barkh hatten ihren Willen gehabt und folgten ohne Widerstreben. „Kommst du noch vor Nacht zurück?“ wurde ‚das Kind‘ von der Köchin gefragt. „Sehnst du dich schon jetzt nach mir?“ antwortete er lachend. „Nicht an dich, sondern an Kara Ben Halef denke ich. Ich weiß, daß es weder Zeit noch Schranken für dich giebt, wenn du auf Sahm sitzest. Er aber hat noch von der Reise auszuruhen. Ich werde dich sehr streng bestrafen, wenn du dich verspätest!“ „Welche Strafe wird das sein?“ „Du bekommst nichts zu essen!“ „Das kenne ich! Mit dem Munde entziehst du mir die Kost, aber schon nach einer Viertelstunde giebst du mir sie mit den Händen doppelt, weil mein [367] Hunger nicht meinem Magen, sondern deinem Herzen wehe thut!“ „Da sehe ich, wie schlecht ich dich erzogen habe! Die Liebe ist verderblich für solche Kinder, du sollst aber von jetzt an meine Strenge kennen lernen!“ „Die giebt es ja gar nicht! Leb wohl, o Pekala. Hast du noch einen Wunsch?“ „Bring frohe und hungrige Gäste mit!“ Das ist ein oft gebrauchter, beduinischer Abschiedsgruß. Die Köchin sagte das wohl nur, um überhaupt etwas zu sagen. Sie ahnte nicht, daß, oder gar in welcher Weise er in Erfüllung gehen werde. Der Ritt ging zunächst des Sees entlang und dann über das ganze Thal desselben hin, bis es zwischen den Bergen einen tiefen Einschnitt gab, welcher sich jenseits auf die von Tifl erwähnte Ebene öffnete. Dort wurde den Pferden erlaubt, zu galoppieren. Tifl erwies sich als ein unübertrefflicher Naturreiter. Von den feineren, erzieherischen Verhältnissen zwischen Mensch und Tier aber wußte er wohl nichts. Wer ihn so sicher, so fest, so ganz wie mit dem Pferde zusammengewachsen, im Sattel sitzen sah, der mußte es freilich für fast unmöglich halten, daß er sowohl von Assil als auch von Barkh abgeworfen worden sei; aber diese unsere Hengste waren nicht, wie die braune Stute des Ustad, gewohnt, augenblicklichen Instinkten, sondern einem zielbewußten, sich stets gleichbleibenden Willen unterthan zu sein. ‚Das Kind‘ machte verschiedene Versuche, den jetzigen Ritt zu einem Wettrennen zu gestalten, hatte aber damit bei dem bedachtsamen Kara keinen Erfolg. Dieser war einerseits viel zu klug, eine Niederlage der ‚Sahm‘ sich wiederholen zu lassen, während andererseits sein Stolz ihm nicht gestattet hätte, etwa aus Höflichkeit freiwillig [368] auf den Sieg zu verzichten. Es blieb also bei dem, was er sich vorgenommen hatte, nämlich bei einem Uebungsreiten, welches keinem leidenschaftlichen Zweck zu dienen hatte. Die Stute hielt, so lange der Boden grasig war, sehr leicht den gleichen Schritt mit unsern Pferden; aber später im tiefen Sande fiel sie bemerklich ab. Das konnte ihr aber nicht zur Schande gereichen, weil sie kein Pferd der sandigen Steppe war. Als dann der Hasenpaß erreicht wurde und der langsame Aufstieg auf steinigem Boden begann, mußten dafür nun unsere Tiere sich anstrengen, es ihr gleichzuthun, worauf Kara von Tifl wiederholt aufmerksam gemacht wurde. Die Gegend war hier felsig und unfruchtbar. Niedriges, trockenes Gestrüpp überzog die Berge mit schmutzigem Grau, und nur hier oder da gab es einen Baum, dessen dünn benadelte Zweige keinen Schatten spendeten. Als die Höhe des Passes erreicht worden war, konnte man darum die Aussicht nach allen Seiten frei genießen. ‚Das Kind‘ deutete auf einen der aufgerichteten Steinhaufen und sagte: „Das ist das Grenzzeichen. Bis hierher gehört das Land den Dschamikun.“ „Und wem sodann?“ fragte Kara. „Allen Menschen.“ „Giebt es keinen besonderen Besitzer?“ „Das ist der Schah-in-Schah, dem ja das ganze Reich gehört. Die Gegend hier ist so öd und dürr, daß niemand sie haben will. Wer sie bekäme, müßte Steuern zahlen; wer aber kann diese hier aus solchen Felsen ziehen? Wenn der Muhassil kommt, so fragt er nicht, ob der Boden etwas getragen hat, sondern er nimmt alles mit, was man besitzt.“ [369] „Wer ist der Muhassil?“ „Das weißt du nicht?“ „Nein.“ „Das ist der unwillkommenste aller Gäste, die es giebt. Jedermann in Persien soll Steuern zahlen. Auch die freien Stämme werden dazu angehalten. Unser Ustad hat versprochen, es zu thun, und wir halten Wort. Darum wird kein Muhassil zu uns kommen. Andere aber zahlen nicht eher, als bis sie dazu gezwungen werden, denn sie behaupten, ein freier Mann sei auch von Steuern frei. Zu ihnen wird ein möglichst strenger, vielleicht gar hartherziger Offizier oder Beamter gesandt, der Soldaten mitbringt, die ihm helfen müssen, den Mal-i-Divan1) [1) Grundsteuer.] und den Sadir Avariz2) [2) Unregelmäßige Steuern.] mit Gewalt einzutreiben. Sobald er diese Gewalt auszuüben beginnt, hat man ihn mit dem Titel Muhassil zu ehren. Er nimmt zunächst das, was er für den Beherrscher haben will. Sodann nimmt er das, was er für sich selbst haben will, und das ist gewöhnlich alles, was noch da ist.“ „Leistet man ihm denn da nicht Widerstand?“ „Widerstand? Er würde nur gehen, um dann mit noch mehr Soldaten zurückzukehren. Das beste Mittel, ihm zu entrinnen, ist die Flucht. Aber er kommt meist so unerwartet, daß sie unmöglich ist. So hat er kürzlich auch die Kalhuran überrascht, welche eigentlich noch gar keine Steuern zu bezahlen haben.“ „Wer sind diese Kalhuran?“ „Ein Nomadenstamm, dessen Land nicht mehr ausreichte, ihn zu ernähren. Eine Abteilung von ihm bat um neues Land und bekam die Gegend, welche du hier östlich vor uns liegen siehst. Sie beginnt zwar erst jen- [370] seits dieser Felsenberge, ist aber von so geringer Fruchtbarkeit, daß lange Jahre dazu gehören, den Boden zu verbessern; darum wurde den Kalhuran gesagt, daß sie erst nach dem zehnten Sommer Steuern zu bezahlen hätten. Sie sind nun erst vier Jahre hier; dennoch sandte man ihnen einen Boten, welcher sie benachrichtigte, daß sie jetzt schon zu bezahlen hätten. Sie weigerten sich. Da stellte sich ganz unversehens ein Muhassil mit einer ganzen Schar von Soldaten bei ihnen ein. Der hat es sich bei ihnen so bequem gemacht, als ob er jahrelang bleiben wolle. Er wird so lange an ihrer Habe saugen, bis sie kein einziges Pferd, kein armes Schaf mehr haben.“ „Maschallah! Der sollte das einmal bei unsern Haddedihn versuchen! Weißt du, welchen Namen dieser Dschady1) [1) Blutsauger, Vampyr.] hat?“ „Er heißt Omar Iraki. Der Scheik der Kalhuran ist ein junger Mann, dem der Ustad eine Tochter unsers Stammes zum Weibe gegeben hat. Sein Name ist Hafis Aram. Ich kenne ihn, denn er war ja bei uns, als er sie hinüber zu sich holte. Chodeh beschützte ihn! Vor dem Muhassil aber bewahre er alle Menschen. Grad von diesem Omar Iraki hat man nur Böses, aber kein einziges gutes Wort gehört. Komm, reiten wir hinab! Unten wenden wir uns dann nördlich, um durch den Paß des Couriers heimzukehren.“ Auf dieser Ostseite fielen die Berge steil zur Tiefe. Der Weg ging in zahlreichen Windungen hinab, so daß er immer nur für kurze Strecken zu überschauen war. Um so freier war die Aussicht in die Ferne, über die steppenähnliche Fläche hinüber, zu welcher die beiden jetzt hinunterritten. [371] Als sie die letzte, unterste Krümmung des Weges überwunden hatten und schon daran dachten, wieder galoppieren zu können, bot sich ihnen plötzlich ein unvorhergesehenes Hindernis dar. Da standen nämlich zwischen den Felsblöcken zerstreut, wohl gegen zwanzig Pferde, deren Reiter an einer versteckten Stelle plaudernd bei einander saßen. Einer hockte als Wächter auf einem hochgelegenen Steine, von welchem aus man einen weiten Ausblick in die Steppe hatte. Das waren persische Soldaten, und zwar Kavalleristen. Eigentliche Uniformen trugen sie nicht. Auch ihr Anführer war an keinem Rangabzeichen, sondern nur an einem langen, schweren Schleppsäbel zu erkennen, den er trug. Ihre Waffen taugten nicht viel; desto besser aber waren ihre Pferde. Die persische Kavallerie ist überhaupt recht gut beritten. Als sie die beiden Reiter sahen, sprangen sie alle auf. „Sallam!“ grüßte Kara kurz, aber in höflichem Tone und indem er ihnen die Hand entgegensenkte. Sie antworteten nicht. Ihre Augen waren bewundernd auf die vier Pferde gerichtet. Kara hielt nicht an. Er wollte an ihnen vorüber. Da aber stellte sich ihm der Anführer in den Weg. „Halt!“ sagte er in befehlendem Tone. „Wer seid Ihr?“ Man darf nicht vergessen, daß Kara der Sohn meines wackeren Hadschi Halef war, dem, außer wenn er wollte, niemand imponieren konnte. „Sag vorher, wer bist du?“ forderte er den Perser auf. „Du siehst, daß ich Soldat bin!“ antwortete dieser stolz. „Und du siehst, daß ich keiner bin! Ich diene nicht; ich bin ein freier Mann!“ „Ein Mann?“ lachte der andere. „Schau meinen [372] Bart und greif an den deinen dann! Ich stehe hier im Namen des Schah-in-Schah und frage dich nochmals, wer du bist!“ „Und ich sitze hier in meinem eigenen Namen im Sattel und antworte nur dann, wenn es mir beliebt! Allah schütze deinen Bart! Zum Fürchten ist er nicht!“ Als er dies sagte, richtet er seine dunklen Augen mit einem solchen Ausdrucke auf den Perser, daß dieser die Hand, welche er schon erhoben hatte, um Ghalib am Zügel zu fassen, wieder sinken ließ und von ihm zurücktrat. „Ich höre an deiner Sprache, daß du ein Araber bist,“ sagte er. „Ich bin Mülazim ewwel1) [1) Oberlieutenant.], des Beherrschers aller Herrscher. Nun weißt du es.“ „Der Beherrscher aller Herrscher kann nur Allah sein! Ich bin Kara Ben Hadschi Halef, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.“ „Wo kommst du her?“ „Woher es mir beliebt!“ „Wo willst du hin?“ „Wohin es mir behagt!“ „Maschallah! Denn für ein großes Wunder Gottes scheinst du dich zu halten! Ich habe hier zu fragen!“ „So frage die, welche dir zu antworten haben; zu ihnen aber gehöre doch nicht ich!“ Das war keineswegs verwerflicher Hochmut von Kara, sondern das wohlberechtigte Selbstbewußtsein des freigeborenen Arabers der Dschesireh. Wenn die Fragen in höflichem Tone und nicht in der Weise eines Verhöres ausgesprochen worden wären, so hätte er sie wahrscheinlich beantwortet. Auch gefielen ihm die höhnischen Blicke [373] nicht, mit denen Tifl von den sich herandrängenden Soldaten betrachtet wurde. Das verächtliche Lächeln dieser Leute forderte ihn heraus, ihnen zu zeigen, daß zum Lachen gar kein Grund vorhanden sei. „Auch du gehörst zu Ihnen!“ behauptete der Offizier. „Ich stehe an des Gesetzes Stelle. Ich bin hier Polizei!“ „Ich auch!“ Da fuhr der Perser um einige Schritte zurück. Er hatte imponieren wollen und sah und hörte nun aber, daß ihm dies nicht gelungen sei. „Wagst du vielleicht, mit mir zu scherzen?“ „Sehe ich etwa so spaßhaft aus?“ Sein jugendlich schönes, wie aus dunklem Marmor gemeißeltes Gesicht zeigte allerdings keine Spur von Lust zum Scherzen. Der Grundzug unseres Kara war ein steter Ernst, welcher durch einen elegischen Hauch eher erhöht als gemildert wurde. In seinen Augen, die er von der Mutter hatte, lag etwas, was keine zudringliche Berührung duldete. Das wirkte auch jetzt. Der Oberlieutenant wagte es nicht, seinen Zorn hervortreten zu lassen; ja es klang sogar, als ob er sich entschuldigen wolle, als er nun sprach: „Du weißt es nicht; aber ich stehe hier über dir, über jeden, der da kommt. Ich habe diesen Platz zu bewachen.“ „Warum?“ „Weil ich die Mörder des Muhassil fangen will.“ „Welches Muhassil?“ „Omar Iraki.“ „Wallah! Ist er ermordet worden?“ „Ja.“ „Von wem?“ [374] „Von Hafis Aram und seinem Weibe.“ „Chodeh, Chodeh!“ rief da „das Kind“ erschrocken aus. „Kennst du Hafis Aram?“ fuhr der Offizier fort. „Nein,“ antwortete Kara. Dann schwang er sich vom Pferde. Sein Interesse war erwacht. Er gedachte dessen, was Tifl ihm erzählt hatte, und es stieg eine Ahnung in ihm auf, daß sich hier ein Ereignis vorbereite, in welches er vielleicht nützlich eingreifen könne. Und mit der Bedachtsamkeit, die weit über seine Jugend ging, ließ er ein interessiertes Lächeln über seine Züge gleiten und sagte: „Eine Mordthat ist begangen worden! An einem Muhassil! Das ist eine schreckliche That! Kann man erfahren, warum und wie sie geschehen ist?“ „Ja. Ich werde es dir erzählen. Aber vorher mußt du mir sagen, woher du kommst und wohin du willst.“ „Aus welchem Grunde willst du das wissen?“ „Weil du von jenseits gekommen bist, aus dem Gebiete der Dschamikun. Ich sage dir, daß ich es auf sie abgesehen habe! Du aber bist ja kein Dschamiki, sondern ein Haddedihn aus der Dschesireh.“ Da machte Kara eine stolze wegwerfende Handbewegung und fragte: „Hafis Aram hat den Muhassil ermordet?“ „Ja.“ „Er ist der Scheik der Kalhuran?“ „Ja.“ „Sein Weib ist Dschamikeh?“ „Ja. Sie hat den ersten Schuß auf den Ermordeten gethan. Wir stehen also in Blutrache mit den Dschamikun. Nun sage mir, woher du kommst!“ Es war ein sehr ruhiges und überlegenes [375] Lächeln, welches sich über Karas Lippen legte, als er antwortete: „Ich sage es dir gern. Hier dieser mein Begleiter kommt mit mir von dem hohen Hause des Ustad. Er ist ein Dschamiki, und ich bin Gast der Dschamikun. Sie und ich, wir sind eins. Was sie thun, verantworte auch ich. Eure Blutrache trifft also auch meine Person!“ Da trat der Perser noch einen Schritt von ihm zurück und rief erstaunt aus: „Kara Ben Halef - - so nanntest du dich?“ „Kara Ben Hadschi Halef, ja!“ „Also, Kara Ben Hadschi Halef, bist du bei Sinnen?“ „Warum diese Frage?“ „Siehst du nicht, daß wir zwanzig Personen gegen euch beide sind? Das genügt doch wohl!“ „Aber es ist falsch! Richtiger ist, daß wir zwei Personen gegen nur zwanzig sind. Das genügt noch besser!“ „Du bist toll, wirklich toll! Hättest du nicht verschweigen können, daß du Gastfreund der Dschamikun bist?“ „Ja, ein anderer hätte das wohl gethan.“ „Warum nicht du?“ „Aus zwei Gründen: Erstens sage ich niemals eine Lüge, selbst wenn sie mir das Leben retten könnte. Und zweitens fürchte ich mich nicht vor euch. Wie ihr von mir denkt und was ihr von mir wollt, das ist für mich von keiner großen Wichtigkeit; die Hauptsache ist, daß ich mich vor mir selbst schämen müßte, wenn ich euch die Unwahrheit gesagt hätte. Und wenn ein Mensch sich selbst verachten muß, so ist dies das allerschlimmste, was ihm im Leben geschehen kann.“ Der Offizier schaute ihn eine ganze Zeitlang an, ohne ein Wort zu sagen. Dann fragte er: [376] „Du sagst niemals eine Lüge?“ „Nie!“ „Auch nicht in der Not?“ „Nein. Es giebt keine Not, welche die Lüge rechtfertigt, denn die Lüge ist die größte und entsetzlichste Not, an der die Menschen leiden!“ „Aber deine Aufrichtigkeit wird euch euer Leben kosten!“ „Du irrst!“ „Ich irre? Du bist zweifellos verrückt!“ Und sich an seine Leute wendend, fuhr er fort: „Ihr habt es gehört. Da steht ein Mensch, ein junger Mensch, der niemals eine Lüge sagt, selbst wenn es ihm das Leben kosten sollte. Was sagt ihr dazu?“ Ein allgemeines Gelächter war die Antwort. „Ich lache ebenso wie ihr,“ stimmte er ihnen bei. Dann drehte er sich wieder nach Kara um: „Ihr seid natürlich unsere Gefangenen. Eure Pferde gehören uns!“ „Versuche es, sie dein zu nennen!“ „Ich brauche es nicht zu versuchen, denn ich habe es bereits gethan. Wir bringen hier die größte Beute heim, die jemals gemacht worden ist! Du, Knabe, bist der allerdümmste Kerl, den es auf Erden giebt! Dieser deiner Dummheit darf ich beantworten, was du mich vorhin fragtest. Setze dich!“ Er deutete auf einen Stein, der neben Kara lag. Dieser ließ sich auf ihn nieder. Dies schien Gehorsam zu sein. Auch Tifl war von seiner Stute gestiegen. Er trat zu Kara und setzte sich neben ihm auf den Boden nieder. Die Soldaten umringten die Pferde, um ihre bewundernden Bemerkungen über diese ebenso unerwartete wie unschätzbare Beute zu machen. Der Offizier aber sprach zu Kara weiter: [377] „Du hast also den Muhassil Omar Iraki nie gesehen?“ „Nie,“ antwortete der Gefragte. „Er war ein Herr, der einen starken Willen hatte. Kein Steuerverweigerer konnte ihm widerstehen. Daher wurde er überall hingesandt, wo Andere vor ihm nichts erreicht hatten. So kam er auch zu den Kalhuran, den räudigen Hunden, welche nicht zahlen wollten. Grad hundert Reiter waren bei ihm, welche von den Verweigerern als teure Gäste aufgenommen und verpflegt werden mußten. Nun waren nicht nur die Steuern, sondern auch unsere Löhne zu bezahlen. Die Schuld wurde von Tag zu Tag größer. Wir nahmen erst nur die Wolle, dann auch die Schafe selbst. Das reichte nicht. Wir griffen natürlich auch nach den anderen Herden. Da rotteten sich die Hunde zusammen, um uns zu widerstehen. Der Muhassil ließ den Scheik Hafis Aram ergreifen und zu sich in das Zelt bringen. Dort wurde er gepackt, niedergeworfen und zu den Füßen des Muhassil festgehalten. Dieser verlangte Geld. Der Scheik behauptete, keines zu haben. Da drohte der Muhassil mit der Peitsche. Hafis Aram aber leugnete fort. Da begann der Muhassil, ihn zu züchtigen, mit eigener Hand, denn er war ein sehr starker Mann, der die Peitsche zu führen verstand. Der Scheik wollte sich losreißen, aber acht Hände hielten ihm am Boden fest. Da war er still. Er nahm die Hiebe auf sich, ohne eine Klage, einen Laut hören zu lassen. Aber seine Augen waren unheimlich starr auf den Muhassil gerichtet, ohne daß er diesem auf seine bei jedem Schlag wiederholte Frage nach dem Gelde eine Antwort gab. Was sagst du zu solcher Hartnäckigkeit, Kara Ben Hadschi Halef?“ „Wißt ihr, was es heißt, einen freien Beduinen zu [378] peitschen? Den Scheik eines ganzen Stammes?“ fragte Kara. „Was soll es weiter heißen, als daß er eben Prügel bekommt? Auch wir alle, die wir jetzt in des Beherrschers Diensten stehen, sind von freien Eltern geboren worden. Haben wir uns etwa dadurch, daß wir den Ungehorsam zwingen, die Gesetze zu erfüllen, in verächtliche Sklaven verwandelt? Stehen wir nicht im Gegenteile höher als die Widerspenstigen? Scheik Hafis Aram wäre ganz gewiß von dem Muhassil erschlagen worden, und zwar mit vollstem Rechte, wenn ihm nicht eine so ganz unerwartete Hilfe gebracht worden wäre, daß wir alle vor Ueberraschung versäumten, ihr zu widerstehen. Rate, von wem sie kam!“ „Ich rate nicht. Sage es!“ „Sie wurde dem Scheik von seinem Weibe gebracht, der Dschamikeh, welche Allah verdammen möge! Sie haßte und fürchtete den Muhassil. Als sie, von einem Gange zurückkehrend, vernahm, daß er ihren Mann habe holen lassen, wurde sie von ihrer Angst herbeigetrieben. Sie lauschte am Zelte, vor dem kein Wächter stand. Sie hörte die Streiche, welche fielen. Da trat sie ein. Sie sah, was geschah, und sprang zum Muhassil hin, um seinen Arm festzuhalten. „ ‚Herr, du schlägst einen freien Moslem?‘ schrie sie ihn an. ‚Keinen Hieb weiter!‘ “ „Er riß sich von ihrer Hand los, gab ihr selbst einen Schlag und dann dem Scheik einen zweiten. Da sprang sie zum Sufra1) [1) Niedriges, orientalisches Tischchen.], auf welcher die zwei geladenen Pistolen des Herrn lagen. In der Kürze eines einzigen Augenblickes hatte sie die eine ergriffen, gespannt, auf [379] ihn gerichtet und schoß ihm die Kugel in die Brust. Er war nicht sofort tot, griff, indem er die Peitsche fallen ließ, mit den Händen nach der Wunde und stieß einen Schrei aus. Dann begann er, zu wanken. Wir eilten zu ihm, um ihn zu halten. Die vier Männer, welche den Scheik festhatten, erschraken ebenso wie wir. Sie ließen ihn los und sprangen auf, nur für den Muhassil besorgt. Da schnellte sich Hafis Aram empor, riß die zweite Pistole von der Sufra, jagte dem schon Verwundeten die Kugel in die Stirn und rief: „So zahlt man Peitschenhiebe heim!“ „Hierauf ergriff er die Hand seines Weibes und riß sie mit sich fort, zum Zelt hinaus. Der Muhassil glitt in unsern Händen tot zur Erde nieder. Wir hatten nur Augen für ihn. Darum konnten die beiden so schnell entkommen. Aber ich faßte mich doch bald und eilte fort, um sie ergreifen zu lassen. Da traf ich den Suari juzbaschysy1) [1) Rittmeister.]. Einige Worte genügten, ihn zu unterrichten. Wir rannten nach dem Zelte des Scheikes, kamen aber schon zu spät. Er hatte mit der Frau auf zwei von seinen Pferden sofort die Flucht ergriffen. Diese Hunde laufen schneller, als man denkt!“ Kara war der Erzählung mit gespannter Aufmerksamkeit gefolgt. Jetzt fragte er: „Habt ihr erfahren, wohin sie sich gewendet haben?“ „Ja. Die Spuren haben es uns gesagt. Denn keiner der Kalhuran wollte uns Auskunft geben. Schakale pflegen einander zu helfen. Zum Glücke hatte Hafis Aram nicht schnell genug gute Pferde erwischen können. Die zwei, welche ihm bequem gestanden hatten, sind alt und keine ausdauernden Renner. Wir sind besser, viel [380] besser beritten als er. Darum hätten wir ihn wohl bald eingeholt, wenn er auf dem geraden Wege geblieben wäre. Aber die Angst vor uns hat ihn zu einem Umwege über felsigen Boden getrieben, wo seine Spuren nicht mehr zu sehen sind.“ „So seid ihr ihm dorthin nicht gefolgt?“ „Nein.“ „Und wißt also nun nicht, wo er sich befindet?“ „Nicht ganz genau, aber doch so, daß er uns nicht entkommen kann. Er will zu euch, zu den Dschamikun, weil sein Weib von ihnen stammt und weil er euern sogenannten Ustad für mächtig genug hält, ihn gegen uns zu beschützen. Dieses Ziel aber kann er nur durch den Paß der Hasen oder den Paß des Kuriers erreichen. Darum sind wir schleunigst hierhergeritten und haben beide besetzt.“ „Weißt du genau, daß es keinen andern Weg giebt?“ „Einen Weg nicht, aber wenn er jene felsigen Berge gut kennt, ist es vielleicht möglich, über sie hinweg so weit nach Norden zu entkommen, daß er die Pässe hier umgehen kann. Dem aber ist der Suari juzbaschysy auch zuvorgekommen, indem er mit unsern schnellsten Pferden und besten Reitern einen Bogen dorthin schlägt. Sieht er die Flüchtigen, so wird er sie mir hierher entgegentreiben. - So, das ist es, was ich dir aus Dankbarkeit erzählen wollte.“ „Dankbarkeit?!“ lächelte Kara. „Ja.“ „Wofür?“ „Zunächst für euch und sodann noch viel mehr für eure Pferde.“ „Du nennst sie jetzt wieder ‚unsere‘ Pferde. Dies ist richtiger als das, was du vorhin sagtest!“ [381] „Lächle nicht! Du thust es doch nur aus Verlegenheit! Ihr seid unsere Gefangenen. Wenn wir den Scheik und sein Weib nicht ergreifen sollten, so haben wir doch euch. Ihr werdet die Dijeh1) [1) Blutpreis.] mit eurem Leben zahlen. Und eure Pferde sind uns noch viel, viel mehr wert als ihr selbst und der Scheik mit samt seinem Weibe. Sie gehören uns als rechtmäßige Beute. Wir werden sie dem Schah-in-Schah anbieten, welcher gewiß eine sehr große Summe für sie bezahlt, um in den Besitz solcher Zierden seines Stalles zu kommen.“ „Herrscher zahlen zuweilen ganz anders als mit Geld!“ „Das laß getrost nur unsere Sorge sein; dich gehen diese Pferde nichts mehr an!“ „Gut! Einverstanden! Nimm sie dir!“ Kara sagte das so gleichmütig, als ob es sich nur um eine Bagatelle handele. „Ja, ich nehme sie. Du hast also eingesehen, daß du dich darein ergeben mußt. Ich werde sofort einmal diesen Rappen da probieren.“ Er meinte Barkh. Als seine Leute diese Worte hörten, wichen sie von den Pferden zurück, um ihm Platz zu machen. Sie waren natürlich nicht weniger als er über den vermeintlichen Fang erfreut, weil auch ihnen ein Teil des Ertrages zuzufallen hatte. Er ging hin und schwang sich so schnell in den Sattel, daß der Hengst gar keine Zeit fand, sich zu weigern. Aber schon im nächsten Augenblicke ging Barkh so rasch hintereinander erst vorn und dann hinten in die Höhe und bockte hierauf so kräftig zur Seite, daß der Offizier grad da auf die Erde zu liegen kam, wo das Pferd vorher gestanden hatte. Seine [382] Leute lachten laut. Aber als er sich erheben wollte und es doch nicht zu können schien, kamen sie von dieser respektwidrigen Lustigkeit zurück. Er sagte zunächst kein Wort, hielt ihnen aber die Arme auffordernd hin, ihm behilflich zu sein. Nun richteten sie ihn auf. Er konnte stehen. Aber als er vorwärtsschreiten wollte, stöhnte er. „Hast du Schmerzen?“ fragte Kara. „Ich bin auf den Säbel gefallen,“ lautete die Antwort. „Warum bliebst du denn nicht oben?“ „Schweig!“ gebot er in donnerndem Zorne. Dann hinkte er unter allerlei Gesichtsverzerrungen nach einem niedrigen Felsenstück, um sich da niederzusetzen und die schmerzenden Körperstellen prüfend zu betasten. „Gebrochen habe ich nichts. Aber der Säbel ist kaputt, und gequetscht hat er mich. Das werde ich noch lange fühlen.“ Hierbei erinnerte er sich, daß über ihn gelacht worden war. „Sellab!“ rief er. Der Genannte trat zu ihm. „Ihr habt gelacht. Du am meisten. Hinauf auf diesen Hengst, der den Scheitan im Leibe zu haben scheint! Das sei deine Strafe. Wehe dir, wenn du auch herunter mußt!“ Der Mann gehorchte. Er kam ganz gut hinauf und wollte sich eben festsetzen, da saß er aber auch schon wieder unten. Der Oberlieutnant gebot einem andern Soldaten, den Versuch zu machen; den ließ aber Barkh gar nicht heran. Er hatte die Geduld verloren und schlug nach ihm aus. [383] „Eine Bestie!“ konstatierte der Offizier. „Sind die andern ebenso?“ fragte er Kara. „Das mußt du doch wissen!“ antwortete dieser. „Ich? Wieso?“ „Es sind ja ‚deine‘ Pferde! Das sagtest du!“ Der Zurechtgewiesene senkte den Kopf. Er dachte nach. Dann sagte er: „Der Stute ist am meisten zu trauen. Wer will es mit ihr versuchen?“ Ein Mutiger näherte sich und begann damit, daß er sie vorsichtig liebkoste. Sie that, als ob er gar nicht vorhanden sei. Kara kannte sie noch nicht und warf deshalb einen forschenden Blick auf Tifl. Dieser machte ein Auge zu und blinzelte ihn mit dem anderen lustig an. Das war genug gesagt. Der Soldat klopfte die Stute an verschiedenen Stellen. Sie bewegte nicht einmal die Spitze eines Ohres. Grad diese wartende, lauschende Unbeweglichkeit hätte ihm verdächtig vorkommen müssen; er aber gewann im Gegenteile durch sie den Mut, erst einen Vorder- und dann einen Hinterfuß der ‚Sahm‘ aufzuheben, um die Hufe zu betrachten. Sie ließ auch das ruhig geschehen. Das machte ihn sicher. Er stieg auf. Auch jetzt noch stand sie still; aber sie wendete den Kopf, um ihr Auge auf ‚das Kind‘ zu richten. Kara war höchst gespannt, welche ‚Mucke‘ man zu sehen bekommen werde. Der Offizier aber freute sich des scheinbar guten Erfolges. Er sagte: „Es ist also doch wohl nur dieser Rappe, dem man nicht trauen darf. Reite aber doch einmal vom Fleck!“ Der Soldat wollte gehorchen, aber damit war für die ‚Sahm‘ die Zeit gekommen. Sie that nicht etwa [384] einen Sprung, o nein. Sondern sie fiel einfach um, blitzschnell, als ob ein Schlag sie getroffen habe, wälzte sich zwei-, dreimal auf dem Reiter hin und her, sprang auf der andern Seite wieder auf und stand dann so ruhig und sanftäugig wieder da, als ob sie ganz außer stande sei, auch nur das kleinste Wässerlein zu trüben. Für Reiter, welche stürzen, lautet im Abendlande der schonende Sportausdruck: „Er hat sich vom Pferde getrennt.“ Hier aber hätte man berichten müssen: „Madame Sahm hat sich vom Reiter getrennt.“ Dieser letztere blieb zunächst ein ganzes Weilchen vollständig still neben der nun harmlos mit dem Schwanze wedelnden Stute liegen. Dann begann er, sich mit den tastenden Händen in der Weise über sämtliche Teile seines Körpers zu fahren, wie man es bei Stubenfliegen beobachtet, wenn sie mit den Beinen die anhaftenden Lebestäubchen und Ansteckungsstoffe vom Leibe zusammenstreichen, um sie zum Heile der Menschen zu verzehren. Sein Gesicht war während dieser anatomischen Untersuchung ein nichts weniger als fröhliches. Als er zu der Ueberzeugung gekommen war, daß er trotz der dreifachen Umwälzung noch alles wohl beisammen habe, kam er zu dem Entschlusse, erhebend auf sich einzuwirken. Er richtete sich vorläufig nach löblicher Quadrupedenart auf Hände und Füße auf, schaute sich nach allen Seiten prüfend um, ob nicht vielleicht ein doch abhanden gekommenes Glied zu sehen sei, und ging endlich sehr langsam und höchst vorsichtig in jene aufrechte Stellung über, in welche selbst ein abgeworfener Reiter schließlich doch zurückzukommen strebt. Hierauf wankte er wie ein ängstlicher Quartaner, der zum erstenmal Schlittschuh fahren soll, vom Schauplatze der erlittenen ‚Trennung‘ weg und verschwand hinter einem Felsenstücke, um sich da, fern von der verständnislosen [385] Menschheit anzusiedeln. Es darf nämlich nicht verschwiegen werden, daß diese seine schmerzliche Auferstehung leider von seinen Kameraden mit lautem Gelächter begleitet wurde. Selbst der Offizier stimmte zunächst mit ein; dann aber fragte er ‚das Kind‘ in zornigem Tone: „Du saßest, als ihr kamt, auf diesem Pferde. Ist es dein?“ „Nein,“ antwortete Tifl. „Wem gehört es?“ „Dem Ustad.“ „Wußtest du, daß es sich wälzt?“ „Ja.“ „Auf welches Zeichen hin thut es das?“ „Frag das Pferd, nicht mich! Ich habe mich nicht gewälzt!“ Da sprang der Oberlieutenant auf, ging, obgleich er noch kurze Zeit vorher solche Schmerzen gehabt hatte, schnell zu ihm hin und fuhr ihn an: „Mensch, so spricht man nicht mit mir! Wagst du das noch einmal, so antworte ich mit der Peitsche!“ Da richtete sich ‚das Kind‘ in seiner ganzen Länge, ihn weit über Kopfeshöhe überragend, vor ihm auf und sagte: „Denk an den Muhassil! Was hat seine Peitsche ihm gebracht? Mehr sage ich dir nicht!“ Wer hätte diesem Tifl wohl ein so männliches Verhalten zugetraut! Seine Kinderzüge hatten einen so ernsten, ja strengen Ausdruck angenommen, daß der Ausbruch von Thätlichkeit nun unvermeidlich zu sein schien. Da aber ertönte die Stimme des Wächters, welcher von seiner Warte herunterrief: „Ich sehe zwei Reiter!“ „Wo?“ fragte der Offizier, der sogleich seine ganze Aufmerksamkeit von Tifl weg nach oben richtete. [386] „Ganz draußen.“ „Wie weit?“ „So weit, daß sie nur wie kleine Punkte sind.“ „Welche Richtung haben sie?“ „Das sieht man nicht sogleich. Warte!“ Man kann sich denken, daß nun eine allgemeine Spannung eintrat. Es vergingen mehrere Minuten, bis der Mann dann meldete: „Sie nähern sich, aber nicht gerade.“ „Wie denn?“ „Sie sind jetzt schon viel weiter südlich als vorhin.“ „Da scheuen sie sich vor den beiden Pässen. Sie werden den Suari juzbaschysy gesehen haben, der sie mit seiner Schar zurückgetrieben hat. Paß auf, ob wohl noch andere Reiter kommen!“ „Sie sind schon da!“ „Wo?“ „Im Norden, hinter ihnen, aber sehr weit zurück.“ „Dann ist es so, wie ich sage. Der Suari juzbaschysy hat sie dort im Norden nicht durchgelassen. Sie sind umgekehrt, und er folgt ihnen. Sie kommen nicht hierher; sie hegen Verdacht. Sie versuchen, einen Ausweg nach Süden zu finden. Den muß ich ihnen verlegen. Zehn Mann mit mir auf die Pferde! Schnell, vorwärts! Wir treiben sie hierher. Die andern zehn bleiben hier, um sie zu empfangen und diese beiden Gefangenen zu bewachen!“ Einige Augenblicke später jagte er mit der Hälfte seiner Leute davon. Daß die, welche er seine ‚Gefangenen‘ nannte, an Flucht denken könnten, das schien ihm gar nicht in den Sinn gekommen zu sein. Die Zurückbleibenden waren nicht weniger unbesorgt. Sie eilten zu dem Wächter hinauf, um von dort aus die Jagd besser sehen zu können. [387] Sogar der Soldat, von welchem sich die Stute in so unceremonieller Weise ‚getrennt‘ hatte, krabbelte den andern langsam nach, um sich den Genuß, den sie dort oben suchten, ja nicht entgehen zu lassen. So waren also Kara und Tifl allein miteinander unten geblieben. Hatten sie sich schon vorher nicht als Gefangene betrachtet, so konnte es ihnen jetzt erst recht nicht einfallen, dies zu thun. Tifl war sehr ernst. Er hatte sich im höchsten Grade lobenswert benommen. War er etwa, wie so mancher Mensch von sich behauptet, aus zwei verschiedenen Naturen zusammengesetzt? Oder besaß er die Eigenheit, sich dem über ihn genährtem Vorurteile gegenüber anders zu zeigen, als er eigentlich war? Er kletterte auf einen der nahen Felsen, schaute gen Osten und sagte dann: „Sie sind es. Du hast alles gehört, o Kara Ben Hadschi Halef. Sag mir, was du zu thun gedenkst!“ „Wir müssen ihnen helfen,“ antwortete der Haddedihn. „Ja, das müssen wir!“ „Wie denkst du dir das? Den Mülazim mit seinen Leuten fürchte ich nicht; aber am Passe des Couriers steht eine zweite Schar, und da draußen kommt der Suari juzbaschysy mit der seinigen geritten. Wir haben keine Angst; aber der feigste Mensch kann, wenn er ein Gewehr besitzt, den tapfersten, der wehrlos ist, mit seiner Kugel oder Lanze töten; ohne selbst nur die geringste Gefahr zu laufen. Wir müssen uns also fern von diesen ihren Waffen halten. Was siehest du jetzt?“ „Die Pferde der Flüchtlinge sind schlecht. Nicht lange, so werden sie eingeholt sein.“ „Sie mögen sie stehen lassen. Wir geben ihnen Barkh und Assil dafür. Wie gut, daß ich diese mithabe! Ist das dir so recht?“ [388] „O, wie so recht! Chodeh segne dich, o Kara Ben Hadschi Halef! Es ist die höchste Zeit!“ „So komm!“ Tifl kam vom Felsen herab. Beide stiegen in die Sättel und ritten dann in die Steppe hinaus. Als die Soldaten sie sahen, erhoben sie zwar ein lautes Geschrei, konnten aber damit nichts an der Thatsache ändern, daß ein Vorteil, den man nicht festzuhalten versteht, stets nur zum Nachteil wird. Kara und Tifl galoppirten. Weil sie sich nun nicht mehr am höher liegenden Felsen, sondern in gleicher Ebene mit den sich weit draußen bewegenden Reitern befanden, konnten sie zunächst von diesen gar nichts sehen. Bald aber tauchte die Linie, auf welcher diese Bewegung vor sich ging, als Horizont vor ihren Augen auf. Da konnten sie nun zunächst drei verschiedene Gruppen erkennen; die einzelnen Reiter waren noch nicht von einander zu unterscheiden. Es gab eine mittlere, kleine und rechts und links von ihr je eine größere. Das Verhältnis dieser Gruppen zu einander veränderte sich nur sehr langsam; dennoch aber war nach und nach immer deutlicher zu erkennen, daß die innere Gruppe von den beiden äußeren am seitwärtigen Ausbrechen verhindert und auf den Paß des Hasen zugedrängt wurde. Kara und Tifl hielten sich jetzt eng neben einander. Sie ritten voran, während Assil und Barkh ledig hinter ihnen folgten, ohne geführt zu werden. Nun sie einmal im Gange waren, fiel es diesen edlen Tieren nicht ein, auch nur um einen Schritt zurückzubleiben. Der schlanke Galopp brachte die beiden Reiter so schnell vorwärts, daß die erwähnten Gruppen sich schon nach Kurzem vor ihren Augen in Einzelpersonen aufzulösen begannen. Aber sobald dies geschah, war allerdings auch zu erkennen, daß die allergrößte Eile nötig sei. [389] Die beiden Reiter in der Mitte waren jedenfalls Hafis Aram, der Scheik der Kalhuran mit seiner Frau. Rechts von ihnen sah man den Oberlieutnant mit seinen zehn Kavalleristen. Diese konnten die größere Schnelligkeit entwickeln, weil sie wohlausgeruhte Pferde hatten. Links kam der Rittmeister mit seinen Leuten, welche gewiß nicht weniger als zwei Dutzend zählten. Die Verfolger waren den Verfolgten wohl um das Vierfache näher als Kara und Tifl. „Müssen wir die Geheimnisse anwenden?“ fragte darum der Letztere besorgt. „Nein,“ antwortete der Haddedihn. „Das thun wir nur im allerschlimmsten Falle.“ „Aber es steht doch schlimm!“ „Noch nicht!“ „Man wird sie gleich einholen.“ „Sie kommen ja grad auf uns zu! Mit jedem Sprunge der Pferde wird es besser.“ Kaum hatte er das gesagt, so geschah etwas, was dieses Wörtchen ‚besser‘ Lügen strafen zu wollen schien. Der Scheik der Kalhuran nämlich hatte bisher angenommen, daß er es nur mit zwei feindlichen Abteilungen zu thun habe; nun aber sah er auch noch andere Reiter, die sogar genau von vorn grad auf ihn zukamen. Er mußte auch sie für Gegner halten. Die Entfernung war ja noch so groß, daß vom Erkennen der Gesichter keine Rede sein konnte. Er glaubte sich also in der allerhöchsten Not und versuchte, noch Rettung dadurch zu finden, daß er von der bisherigen Richtung schief nach rechts abwich. Er konnte freilich hoffen, hierdurch an den neuerschienenen Feinden glücklich vorüberzuschneiden, gab damit aber dem „Rittmeister“ eine bedeutend größere Chance, ihn einzuholen. [390] „Das ist falsch!“ rief Tifl erregt aus. „Das sollte er nicht thun!“ „Er weiß doch nicht, wer wir sind, und daß wir ihn retten wollen!“ antwortete Kara. „Giebt es denn nicht vielleicht ein Zeichen, welches er kennt?“ „Nein!“ Aber schon nach einigen Augenblicken hatte er sich auf etwas besonnen. Er fügte hinzu: „Doch, aber doch! Ich habe einen Gedanken. Ich werde einen Raum zwischen dir und mir lassen. Hoffentlich sieht er dann, daß hier die Stute unseres Ustad läuft. Und meine Mütze, die ich so oft vor ihm vom Kopf genommen habe! Ich zeige sie ihm. Wenn er scharfe Augen hat, so erkennt er mich an ihr!“ Er ließ zwischen sich und Kara so viel Abstand entstehen, daß die „Sahm“ von Karas Pferden abgesondert zu sehen war. Dann richtete er seine lange, schmale Figur möglichst hoch empor, nahm die Mütze vom Kopfe und schwang sie in so auffälliger Weise über sich, daß der Scheik der Kalhuran ganz besonders auf ihn aufmerksam werden mußte. Zur großen Freude des „Kindes“ ließ der Erfolg der gegebenen Winke auch gar nicht lange auf sich warten; Hafis Aram lenkte wieder in die vorherige Richtung ein, und man sah trotz der noch großen Entfernung deutlich, daß er den Arm in die Höhe hob, um Antwort zu geben. Ganz natürlich hatten aber seine Verfolger dieselbe Beobachtung wie er gemacht. Zwar wußte der „Rittmeister“ nichts über Kara und Tifl; aber dafür mußte es dem „Oberleutnant“ um so klarer sein, daß und durch wen den Flüchtlingen jetzt diese Hilfe kam. Es war zu sehen, daß er seine Leute antrieb, ihre Eile zu vergrößern. [391] „Er hat mich verstanden!“ jubelte Tifl. „Aber, schau, was ist's mit seinen Pferden?“ Diese Frage war sehr gerechtfertigt, denn die Schnelligkeit der Verfolgten begann jetzt plötzlich, sich zu vermindern. Ihre Pferde konnten nicht mehr weiter. Sie fielen aus der bisherigen Karriere zunächst in einen kurzen, stoßweise noch erzwungenen Galopp; dann hielt mitten in demselben das eine an, that noch einige wankende Schritte vorwärts und brach hierauf, vollständig erschöpft, zusammen. Es war dasjenige, welches die Frau des Scheiks ritt. Sie besaß Gewandtheit genug, während des Sturzes abzuspringen, so daß sie nicht mit zu Falle kam. Sie ließ das Tier liegen und lief, so schnell sie konnte, weiter. Da stand auch das andere still, Hafis Aram glitt aus dem Sattel, faßte sein Weib, als es ihn erreichte, bei der Hand und zog es in eiligstem Laufe mit sich fort. Während dies geschah, hatte sich der Abstand zwischen den verschiedenen Parteien so verringert, daß Kara und Tifl das jubelnde Geschrei der Verfolger hören konnten. Der erstere maß mit scharfem Auge die verschiedenen Abstände; der letztere besaß diese ruhige Kaltblütigkeit nicht. „Das Geheimnis, das Geheimnis!“ rief er aus. „Wir kommen sonst zu spät!“ „Nein,“ entgegnete Kara. „Vielleicht nachher, doch nicht jetzt! Wir kommen grad zur letzten, rechten Zeit!“ Er hatte ganz richtig geschätzt. Der „Oberleutnant“ ritt von allen seinen Leuten das beste Pferd und befand sich infolgedessen dem Scheik am allernächsten. Seine Untergebenen waren wohl noch an die hundert Pferdelängen hinter ihm. Man hörte seine drohend brüllende Stimme. Dreihundert Längen jenseits, links von ihm, [392] kam der „Rittmeister“ herangestürmt. Da fragte Tifl, natürlich mitten im Jagen: „Werden Assil und Barkh sich nicht weigern, den Scheik und seine Frau zu tragen?“ „Nein,“ antwortete Kara. „Ich sage ihnen ein Wort; das genügt. Ich befürchte nichts. Nur der „Oberleutnant“ kann uns stören.“ „Kümmere dich nur um die zu Rettenden, damit sie nicht zögern, aufzusitzen; ihn aber überlaß mir!“ „Getraust du dich an ihn?“ Da lachte „das Kind“ laut auf und sagte: „Getrauen? Hast du mich für feig gehalten? Paß auf! Gleich sind wir da.“ In diesem Augenblick blieben die Flüchtlinge stehen; sie waren außer Atem. Aber sie erkannten Tifl, sahen zwei ledige Pferde und sandten den Rettern freudige Rufe entgegen. Diese sausten heran. Kara zügelte seinen Ghalib und hielt mit ihm und den beiden Rappen vor Hafis Aram an. „Steig schnell auf!“ sagte er, indem er absprang, um die Hengste zu halten. „Das ist edles Blut!“ sagte der Scheik. „Werfen sie uns nicht ab?“ „Nein. Nur schnell hinauf! Ich halte sie!“ Es geschah das viel schneller, als man erzählen kann. Hafis Aram hob erst seine Frau empor und schwang dann sich selbst hinauf. Dabei entging ihnen das Zeichen, welches Kara den beiden Pferden gab. Sie wußten nun, daß sie zu gehorchen hatten. Indessen war Tifl eine kleine Strecke weitergeritten, dem „Oberleutnant“ entgegen. Da holte er nach rechts aus, ließ seine „Sahm“ einen kurzen Bogen gehen, der [393] ihn im Zurückkehren wieder herüber und an die Seite des Offiziers führte, welcher Kara wütend zubrüllte, sich nicht an den Flüchtlingen zu vergreifen. Er achtete nur auf diese, nicht auf Tifl, der bald so eng neben ihm ritt, daß die beiden Pferde sich berührten. Nun erst nahm er Notiz von ihm. „Was willst du, Hund? Fort mit dir!“ schrie er ihn an. „Fort, fort!“ Dabei erhob er die Faust, um nach Tifl zu schlagen. „Nein, nicht fort!“ antwortete dieser. „Ich mache dir meinen Besuch.“ Er hob den einen Fuß auf den Rücken der Stute und schnellte sich von ihr zu dem Offizier hinüber, so daß er hinter diesem zu sitzen kam. Dann schlang er die langen Arme um ihn, legte die Beine fest an den Leib des Pferdes und rief aus: „Ich thue dir nichts. Ich will nur sehen, wie es mit eurem Atem steht. Paß auf!“ Er drückte den Soldaten so an sich, daß diesem die Luft verging, und preßte die Weichen des Pferdes in der Weise zusammen, daß es im Galopp unterbrochen und nach wenigen langsameren Schritten gezwungen wurde, stillzustehen. Er hielt gerade da an, wo der Scheik soeben mit seinem Weibe auf die Rappen gestiegen war. Da sah man den „Rittmeister“ gejagt kommen, in jeder Hand eine gespannte Pistole haltend. „Fort! Schnell!“ gebot Kara. „Er schießt; wir aber haben keine Waffen.“ Er galoppierte mit den beiden Geretteten davon, in der Richtung zurück, aus welcher er gekommen war. Tifl ließ sein nach Atem schnappendes Opfer los, sprang herab und hinüber zur „Sahm“, welche ganz in der Nähe stehen geblieben war. Er schwang sich auf. [394] „Halt! Bleib!“ schrie der nun nahegekommene „Rittmeister“. „Ich fange dich!“ „Thue das!“ antwortete der Angerufene. „Ich schieße!“ „Das kannst du, aber treffen nicht!“ Um so wenig wie möglich Ziel zu bieten, bog er den Oberkörper tief an den Hals des Pferdes herab, welchem er mit einem Schnalzen der Zunge das Zeichen zum schnellsten Laufe gab. Es gehorchte. Da krachten hinter ihm zwei Schüsse, aber keiner von ihnen traf. Die Kavalleristen, welche ihre Offiziere nun einholten, schickten ein vielstimmiges Geschrei hinter ihm her. „Das hätte meine gute Pekala sehen sollen!“ lachte er in sich hinein. „Wie würde sie sich freuen!“ Nun keine Kugel mehr zu fürchten war, richtete er sich wieder auf. Er fühlte sich sicher, wenigstens für jetzt, denn von den Soldatenpferden eingeholt zu werden, davon konnte ja nicht die Rede sein. Nach einiger Zeit schaute Kara sich um. Er sah, daß die beiden Kavalleristengruppen beisammenhielten. Ihre Offiziere schienen sich zu beraten. Da parierte auch er seinen Ghalib, um Tifl vollends herankommen zu lassen. Der Scheik hatte bis jetzt nichts weiter als vorhin seine ersten Worte gesagt. Er wollte jetzt sprechen, wahrscheinlich von seiner Dankbarkeit. Da aber sagte der junge Haddedihn zu ihm: „Jetzt keine Worte, o Scheik der Kalhuran! Wir haben uns zunächst zu - -“ „Wie? Du kennst mich?“ unterbrach ihn dieser doch. „Ja.“ „Sag, wer du bist! Ich kenne dich nicht.“ „Ich bin Kara Ben Hadschi Halef Omar, ein Haddedihn vom Stamme der Schammar.“ [395] „Hadschi Halef Omar? Ist dieser dein Vater Hadschi Halef Omar etwa der Scheik eures Stammes?“ „Ja.“ „Maschallah, und doch auch nicht Maschallah! Es ist ein Wunder, aber dennoch keines! Ein Wunder Allahs ist es, daß wir errettet worden sind, grad als die Gefahr für uns am größten war. Und wiederum ist diese Rettung kein Wunder zu nennen, weil sie durch den Sohn eines Mannes geschah, dessen Leben aus einer ununterbrochenen Reihe solcher Ereignisse besteht. Du scheinst der Erbe seiner Thaten zu sein!“ Jetzt war Tifl herangekommen. Auch er schaute sich um. Als er sah, daß die Soldaten halten geblieben waren, sagte er zu dem Scheik: „Frage jetzt nicht. Wir haben keine Zeit. Wir wissen, was geschehen ist. Deine Feinde haben es uns erzählt. Auch wir müssen beraten. Laßt uns aber dabei weiterreiten!“ Als sie ihre Pferde wieder in Bewegung gesetzt hatten, ergriff der Scheik abermals das Wort: „Ich will also von dem Vergangenen noch schweigen; aber über das, was vor uns liegt, darf ich doch sprechen. Reiten wir durch den Paß des Hasen?“ „Nein,“ antwortete Kara. „Warum nicht?“ „Weil dort zehn bewaffnete Soldaten stehen. Der größte Mut ist ohnmächtig, wenn er keine Waffen hat.“ „So müssen wir nach dem Passe des Couriers hinüber.“ „Der ist mit noch mehr Leuten besetzt.“ „Wißt ihr das genau?“ „Ja.“ „So bleibt uns nur der Versuch, nach rechts oder [396] links durchzubrechen. Ich habe das schon versucht, doch meine Pferde hielten es nicht aus.“ „Mit diesen hier wird es vielleicht gelingen,“ meinte Kara. „Nein,“ sagte Tifl. „Warum nicht?“ „Sieh hinter dich!“ Als Kara dieser Aufforderung folgte und sich umschaute, sah er, daß die Perser einen Entschluß gefaßt hatten. Sie unterließen es, den Flüchtlingen zu folgen. Sie hatten sich wieder in zwei Abteilungen getrennt, welche im Galopp die Richtung nach den beiden Pässen einschlugen. „Sie trachten darnach, uns die beiden einzigen Wege zu den Dschamikun zu verlegen,“ sagte der Scheik. „Aber sie werden uns dabei nicht aus den Augen lassen,“ fügte Kara hinzu. „Wollen wir nach rechts oder links, so sind sie gewiß schnell da. Ich möchte ihre Kugeln mehr wegen unserer Pferde als wegen uns selbst vermeiden. Soll ich daheim die Schande erleben, erzählen zu müssen, daß so edles, unersetzliches Blut durch das Blei solcher Leute zu Grunde gehen mußte?“ „So weiß ich keinen Rat!“ „Aber ich!“ erklärte Tifl. „Welchen?“ „Wir können zwischen den Pässen hinüberkommen!“ „Hamdulillah!“ rief da der Scheik erfreut aus. „Giebt es denn noch einen Weg?“ „Einen Weg nicht, aber doch die Möglichkeit, die andere Seite zu erreichen, ohne daß man zu klettern braucht. Niemand ist so oft in diesen Bergen gewesen wie ich. Ich suchte da nach heilsamen Kräutern für den Pedehr.“ „So suchen wir diese Richtung auf!“ [397] „Aber wir können da nicht reiten, sondern wir müssen gehen. Niemand darf von einem Pferde mehr fordern, als es leisten kann.“ „So steigen wir ab, sobald es nötig ist!“ „Also kommt!“ Tifl wollte bei diesen Worten seine Stute antreiben, doch forderte Kara ihn auf: „Halt, noch nicht so schnell! Sag uns erst, wie lange es dauert, bis wir die Höhen hinter uns haben werden!“ „Das Kind“ sah nach dem Stande der Sonne und antwortete sodann: „Wir werden noch vor der Dämmerung die jenseitige Ebene erreichen.“ „Aber wahrscheinlich nicht wir allein.“ „Wer noch?“ fragte der Scheik. „Das Militär.“ „Du denkst, daß man hinter uns hersteigen werde?“ „Auch das ist möglich, doch meinte ich etwas Anderes. Die Soldaten beobachten uns. Wenn sie sehen, daß wir versuchen, hier in gerader Richtung über die Höhen zu kommen, werden sie schnell zu beiden Seiten durch die Pässe reiten, um uns drüben zu empfangen. Dann bleibt uns weiter nichts übrig, als in die Felsen zurückzukehren. Dann aber ist es Nacht geworden; wir müssen im Gebirge bleiben und uns früh am Morgen von neuem jagen lassen.“ „Da aber käme uns Hilfe von Pedehr.“ „Meinst du?“ „Ja. Denn da ich dich in Tifls Begleitung sehe, so vermute ich, daß du jetzt Gast der Dschamikun bist.“ „Das ist allerdings der Fall.“ „So kannst du dich auf die von mir vermutete Hilfe fest verlassen. Weiß man, wohin ihr geritten seid?“ [398] „Nicht genau. Aber man hat gesehen, in welcher Richtung wir uns entfernten.“ „Das ist genug. Wenn ihr nicht nach Hause kommt, wird man euch suchen.“ „Man wird nicht suchen!“ fiel Tifl ein. „Doch!“ behauptete der Scheik. „Nein!“ lächelte das Kind. „Warum nicht?“ „Weil wir zur rechten Zeit nach Hause kommen werden.“ „Bist du überzeugt davon?“ „Ja.“ „So schwöre!“ Das klang im höchsten Grade ernst. Genau so, als ob es sich um Tod oder Leben handle. Darum schaute Kara den Scheik überrascht an. Dieser aber sah nichts weniger als ernst, sondern jetzt sogar ganz heiter aus. „Du wunderst dich über mich?“ fragte er. „Ich sehe, daß du unsern Tifl noch nicht kennst. Er hat gar manches Geheimnis unter seiner alten Mütze stecken. Also, Tifl, willst du das, was du sagtest, beschwören?“ „Nein,“ antwortete der Gefragte. „Warum nicht?“ „Weil ich niemals schwöre. Mein guter Ustad sagt, daß es Sünde sei. Es ist also verboten!“ Er sagte das so treuherzig bestimmt, so rührend überzeugt, so kindlich gehorsam, daß der neben ihm reitende Kara ihm die Hand hinstreckte und beistimmend zu ihm sagte: „Ja, es ist verboten! Auch bei uns, den Haddedihn. Mein Vater weiß von Kara Ben Nemsi, daß jeder Schwur eine Sünde an Allahs Namen ist.“ „Aber eine Beteuerung ist erlaubt?“ fragte der Scheik, indem er schalkhaft zu Tifl hinüberlächelte. [399] „Ja,“ nickte dieser. „Nun, so beteure es!“ Da nahm Tifl mitten im Reiten, und zwar mit einer Bewegung, als ob er Jemandem eine Ehre zu erweisen habe, die zackige Mütze vom Kopfe und sagte, indem er den Blick des Scheiks mit heiterem Einverständnisse zurückgab: „Wir werden zur rechten Zeit nach Hause kommen. Das versichere ich im Namen meiner guten Pekala, die, bis wir eintreffen, mit ihrer Kerbelsuppe auf uns warten wird. Beeilen wir uns also jetzt!“ „Aber wie willst du das anfangen?“ fragte Kara. Er erhielt keine Antwort, denn „das Kind“ hatte sein Pferd schon bei den letzten Worten zum vollen Laufe angetrieben und flog so schnell voran, daß man ihm schleunigst folgen mußte. Der Haddedihn konnte sich den Vorgang nicht ganz erklären; er sah darum den Scheik fragend an. „Du bist erst kurze Zeit bei dem Dschamiki?“ erkundigte sich dieser. „Ganz kurze.“ „So kannst du dieses „Kind“ allerdings noch nicht begreifen. Es steckt ein ganzer, seltener Mann in ihm, der aber daheim verborgen bleibt und nur zum Vorschein kommt, wenn Tifl zu Pferde sitzt. Dieser Mann ist nicht nur tapfer, sondern auch so klug, so ungewöhnlich klug, daß man sich ihm unbedingt anvertrauen darf. Und wenn er gar irgend etwas im Namen seiner geliebten Pekala verspricht, so weiß er, was und warum er es sagt, und es giebt für jeden, der ihn kennt, keinen Zweifel, daß es in Erfüllung gehen wird.“ „Also auch das jetzige Versprechen?“ „Ganz gewiß!“ [400] „Aber wie? - Das ist mir rätselhaft.“ „Frage ihn nicht! Er würde es doch nicht sagen. Wenn er sich so verhält, wie eben jetzt, liebt er es nicht, ausgefragt zu werden. Er hat einen Gedanken, den er für gut hält, und wird ihn in der Weise ausführen, daß wir zufrieden sein können. Folgen wir ihm also, ohne in ihn zu dringen! Das gute „Kind“ ist so unendlich glücklich, wenn man ihm vertraut!“ Die vier Pferde flogen jetzt nur so über die Steppe dahin. Die Frau des Scheiks saß fest; sie ritt so sicher wie ein Mann, Tifl schaute sich nicht um; aber man sah, daß er nach rechts und links die Perser beobachtete. Der Anführer derselben schien ein umsichtiger Mann zu sein, der seine Bestimmungen für verschiedene Möglichkeiten vorausgetroffen hatte. Denn jetzt, da es sicher war, daß die Flüchtigen grad über den Bergeszug wollten, trennten sich von seinen beiden Abteilungen Leute, welche von hüben und drüben her ganz dieselbe Richtung einschlugen und jedenfalls den Befehl hatten, den Scheik und seine Retter durch die Felsen zu verfolgen. „Das war es, was du befürchtetest,“ sagte Kara zu dem Scheik. „Vorhin, aber jetzt nicht mehr!“ antwortete dieser. „War es vorhin bedenklicher als jetzt?“ „Nein; aber inzwischen hat uns Tifl sein Versprechen gegeben, und er wird es halten.“ „Aber bedenke den Unterschied! Hier auf ebenem Boden sind wir im Vorteile, weil wir bessere Pferde haben. Da oben aber werden die Soldatengäule den meinigen im Klettern überlegen sein. Wenn man uns nach oben folgt, wird man uns wahrscheinlich einholen.“ „Mag es geschehen!“ „Aber dann, was thun?“ [401] „Ich frage nicht, Tifl weiß, was er will!“ Nun war der Fuß der Höhen erreicht. Es gab da eine zunächst sanft ansteigende, schuttartige Halde, vor welcher der spinnenmützige Führer nicht vom Pferde stieg. Er ritt hinauf; die andern folgten. Die Hufspuren waren in dieser Art von Boden mehr als deutlich zu erkennen. Als man oben angekommen war, deutete Tifl auf diese Fährte und sagte: „Hier habe ich ihnen gesagt, wohin wir wollen. Sie werden uns folgen, weil sie es glauben.“ „Wie meinst du das?“ fragte Kara. „Sollten sie es vielleicht nicht glauben?“ „Nein.“ „Warum nicht?“ „Weil ... weil ...“ Er brach mitten in der Antwort ab. Seine Brauen zogen sich zusammen; seine kindlichen Züge wurden um Jahre älter; sie nahmen einen ernsten, ja abweisenden Ausdruck an. „Bist du hier daheim, oh Kara Ben Hadschi Halef?“ fragte er. „Nein.“ „Aber ich kenne diese Gegend. Wären wir bei den Haddedihn, so folgte ich dir. Wir befinden uns aber bei den Dschamikun. So folge mir!“ Er sprang vom Pferde und ging weiter, die Stute hinter ihm. Die andern stiegen auch ab und schritten hinter ihm her, wobei der Scheik und seine Frau die Rappen an den Zügeln führten, weil sie ihnen als Fremden wohl nicht so unbedingt und willig gefolgt wären, wie es nötig war. Es ging eine ziemlich steile Felsenlehne hinauf. Hier und da stand ein Busch, irgend ein Gestrüpp, Tifl brach da immer Zweige ab, die er fallen [402] ließ, um die Verfolger hinter sich herzulocken. Man konnte sie nicht sehen, weil hohes Gestein dazwischen lag. Dann aber kam eine vortretende Stelle. Als die vier auf sie heraustraten, sahen sie die Soldaten tief unter sich, welche, ihre Pferde auch führend, den Berg heraufgestiegen kamen. Einer von ihnen schaute zufällig empor und sah die hoch oben Stehenden. Er machte seine Kameraden auf sie aufmerksam, worauf sie mit den geballten Fäusten drohten und zornige Rufe heraufsandten. „Sie kommen wirklich!“ sagte der Scheik. „Nun bin ich neugierig, was geschehen wird.“ „Das geschieht!“ antwortete Tifl. Er deutete nach rechts und links, wo weit draußen die übrigen Perser zu sehen waren, welche in größter Eile auf die Pässe zujagten. Hafis Aram sprach: „Sie reiten hinüber, um uns jenseits zu empfangen, und diese hier jagen uns vorwärts. Wenn wir doch Waffen hätten. Ich fand nicht Zeit, die meinigen zu holen. Es mußte alles nur darauf gerichtet sein, so schnell wie möglich aus dem Duar zu verschwinden.“ „Wir brauchen keine Waffen - kommt!“ Mit diesen Worten wendete Tifl sich zum Berge zurück, um die Flucht fortzusetzen. Sie führte in ein Gewirr von Felsen hinein, durch welches der Kurde sonderbarer Weise nicht die gerade Richtung nahm. Er wich vielmehr bald nach dieser und bald nach jener Seite von ihr ab, so daß der zurückgelegte Weg beinahe einen Kreis bildete, auf welchem man fast wieder zurück zum ersten Punkte kam. Hier ging es zwischen zwei eng zusammenstehenden Felsen hinein, welche eine schmale, oben offene, sich abwärts senkende Höhle bildeten. Das war ein sehr beschwerlicher Weg, welcher nur höchst langsam zurückgelegt werden konnte. Warum Tifl gerade diesen Teil [403] des Berges wählte, das war den Andern unerfindlich; sie sagten aber nichts. Als man wieder in das Freie kam, befand man sich an einer Felsenwand, welche senkrecht nach oben stieg. „Das Kind“ blieb lauschend stehen und gab mit der Hand zum Munde das Zeichen, zu schweigen. Da oben erklangen jetzt Stimmen. „Wer ist das?“ fragte leise der Scheik. „Die Perser sind es,“ lächelte Tifl, indem er ebenso leise antwortete. „Also über uns?“ „Ja.“ „Maschallah!“ „Das ist der Vorsprung, auf dem wir vorhin standen, als wir sie kommen sahen. Wartet noch!“ Als es nach kurzer Zeit oben still geworden war, winkte der Kurde, ihm weiter zu folgen. Nach einiger Zeit sahen die andern zu ihrem Erstaunen, daß sie sich oberhalb der früher genannten Felsenlehne befanden, welche sie heraufgekommen waren. Sie trafen auf ihre eigene Fährte, die inzwischen durch die Spuren der Verfolger verstärkt worden war. „Nun suchen sie da oben nach uns!“ lachte Tifl. „Wir gehen wieder hinunter. Aber nicht hier, sondern dort, wo man auf dem festen Steine keine Eindrücke machen kann.“ Er deutete vorwärts, nach einer Stelle, wo das kompakte Gestein jenseits des weicheren Bodens hart zu Tage trat. Es senkte sich allmählich bis fast an den Rand der Steppe nieder. Die Pferde rutschten mehr als sie stiegen hinunter, wo man nur noch ein schmales Randgebüsch zu durchbrechen hatte. Jenseits desselben wieder auf der Ebene angekommen, wollte Tifl sich auf sein Pferd [404] schwingen; da ergriff Kara ihn am Arm, sah ihm mit fast bewunderndem Ausdruck in das Gesicht und fragte: „Tifl, sag, wo hast du das her?“ „Ich? - Was?“ lautete die ruhige Antwort. „Diese Klugheit, diese Umsicht.“ „Du meinst, daß ich klug gewesen sei?“ erkundigte sich der Kurde, indem er das allerkindlichste seiner Gesichter zeigte. „Ja, außerordentlich klug! Jetzt erst begreife ich dich. Sag: du hast gar nicht über die Berge hinüber gewollt?“ „Nein.“ „Sondern nur so gethan, um die Perser zu betrügen?“ „Ja.“ „Du wolltest sie veranlassen, durch die beiden Pässe nach der andern Seite der Höhe zu eilen?“ „Ja.“ „Damit wir hier freien Weg bekämen?“ „So ist es.“ „Aber was nun? Denkst du, daß wir jetzt über die Seitenberge reiten, von denen der Scheik wieder zurückgetrieben worden ist?“ „Nein, das haben wir nicht nötig.“ „Aber was ist denn deine Absicht?“ „Wir reiten ganz einfach durch den Paß der Hasen, durch welchen wir gekommen sind, wieder nach Hause.“ „Aber da treffen wir doch wieder auf die Perser!“ „Wo?“ „Nun, doch entweder noch im Passe selbst oder erst am Ende desselben.“ „O nein. Wenn du das von ihnen glaubst, so hältst du sie für unbeholfen. Du hast aber doch gesehen, wie umsichtig ihr Anführer sich alles überlegt hat. Denke [405] dir grad in der Mitte zwischen den beiden Pässen eine Linie über das Gebirge. Er glaubt, daß wir dieser Linie folgen und also auch jenseits auf der Mitte zwischen ihnen eintreffen. Wird er da seine Leute dort bei den Pässen auf uns warten lassen?“ „Allerdings nicht,“ gestand Kara ein. „Sondern wo?“ „Eben in der Mitte.“ „Die Pässe werden also für uns frei. Es ist folglich sehr wahrscheinlich, daß wir heimreiten können, ohne von den Persern überhaupt gesehen zu werden.“ „Außer, wenn er in den Pässen Wachen zurückläßt.“ „Vielleicht thut er das, vielleicht auch nicht.“ „Und wenn er es thut, was dann?“ „Es käme darauf an, wie stark diese Wache ist, ob wir uns ihrer mit List erwehren können, oder ob wir Gewalt anwenden dürfen, ohne vor ihren Waffen besorgt sein zu müssen. Jetzt suchen uns die Soldaten da oben auf der Höhe; wir aber reiten nach dem Hasenpaß.“ Man stieg zu Pferde. Der Scheik der Kalhuran that dies langsam und mit so vorsichtigen Bewegungen, als ob er sich dabei zu verletzen befürchte. Seine Frau, welche bisher kein Wort gesagt, sich aber außerordentlich wacker gehalten hatte, beobachtete ihn dabei mit liebevoll mitfühlenden Blicken. Während des Weiterrittes war er sehr still. Zuweilen biß er die Zähne zusammen. Kara, welcher das alles sah, dachte an die Erzählung des „Oberleutnants“ und was im Zelte des Muhassil mit Hafis Aram geschehen war. „Hast du Schmerzen?“ fragte er ihn teilnehmend. Der Scheik zögerte mit der Antwort. Da aber ließ die Frau zum erstenmal ihre Stimme hören: [406] „Sagtet ihr nicht, ihr wüßtet, was sich in unserem Duar ereignet hat?“ „Ja. Der Offizier hat es uns erzählt.“ „Und da fragst du, ob Hafis Aram Schmerzen leide? Ich sage dir, er ist ein Held, den ich nicht genug bewundern kann! Du hast gehört, wie scheinbar ohne Qual er sprach. Du hast ihn sogar heiter lächeln sehen. Und doch ist er am Leibe so blutig wund, daß es mich grauste, als er mir meine Bitte erfüllte, es mir zu zeigen. Man hat ihn geschlagen wie einen Hund. Man ist mit ihm -“ Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Darf ich, dein Weib, welches dich so innig liebt, dir nicht mein Mitleid zeigen?“ fragte sie. „Mitleid?“ antwortete er. „Ist es eine Ehre für einen Mann, bemitleidet zu werden?“ „Aber ich weiß, was für entsetzliche Schmerzen du so still zu tragen und zu beherrschen hast!“ „Du fühlst sie mit mir, weil du mich liebst, und dafür danke ich dir. Doch daß ein Mann, der Scheik eines Stammes, Schläge bekommen habe, das darf er in Gegenwart anderer selbst nicht aus dem Munde seines Weibes hören. Ich bitte dich also, jetzt nicht mehr davon zu sprechen.“ Er reichte ihr seine Hand hinüber. Sie zog sie an ihre Lippen und küßte sie. Es lag ein so inniges und doch zugleich so stolzes Erbarmen in den Augen, die sie kaum von ihm lassen konnte. Und sie war keine Europäerin, sondern sie gehörte einem Volke an, welches man als „halb wild“ zu bezeichnen pflegt! Er aber gab sich nun doppelte Mühe, ihr keine Spur der Schmerzen, welche er als Mann und Krieger zu verheimlichen hatte, mehr sehen zu lassen. Man kam durch den Paß, ohne von etwas Erwäh- [407] nenswertem gestört zu werden. Als man sich dem Ausgange desselben näherte, stieg Kara vom Pferde und reichte dem „Kinde“ die Zügel, es zu führen. „Warum?“ fragte Tifl. „Ich will leise vorausgehen.“ „Du denkst, daß sich Wächter da vorn befinden?“ „Hast du das nicht selbst für möglich gehalten? Kommt langsam nach! Ist niemand da, so haben wir nichts als nur eine kurze Zeit verloren. Wird der Paß aber bewacht, dann könnte uns ein unvorsichtiges Vorwärtsreiten teuer zu stehen kommen.“ Er ging voran. Die andern hielten sich so weit hinter ihm, daß er den Hufschlag ihrer Pferde nicht hören konnte. Der Weg machte einige Windungen, welche verhinderten, ihm mit den Augen zu folgen. Als man an der zweiten Krümmung vorübergekommen war, sah man ihn an der dritten stehen. Er deutete warnend nach vorwärts und winkte mit der Hand, zu ihm zu kommen. „Hast du jemand gesehen?“ fragte der Scheik, als er ihn erreichte. „Ja. Es sind fünf Soldaten hier.“ „Im Sattel?“ „Nein. Sie sitzen mitten auf dem Wege an der Erde, und ihre Pferde raufen zur Seite am Gestrüpp herum.“ „Ich will sie betrachten,“ sagte Tifl. Er stieg ab und schlich sich vorsichtig bis zur Krümmung hin. Indem er den Kopf nur bis zu den Augen vorstreckte, sah er, wer sich jenseits derselben befand. Dann kam er zurück. Er machte eine beruhigende Handbewegung und sprach: „Sie sind ganz ahnungslos und also ungefährlich. Wir reiten über sie hinweg. Das wird sie so erschrecken, [408] daß wir schon fern von ihnen sind, ehe sie an ihre Waffen denken können. Darf ich voran?“ „Ja,“ nickte der Scheik. „Wir folgen sofort hinter dir her.“ Tifl schwang sich wieder auf. Dann schoß er auf seiner Stute hinter der Krümmung hervor, grad auf die Perser zu und in einem Bogen über sie hinweg. Sie schrien laut auf und wollten aufspringen, warfen sich aber, als sie noch die drei andern kommen sahen, statt dessen schnell glatt auf den Boden nieder. So kam es, daß sie von den Hufen der über sie hinwegspringenden Pferde nicht berührt wurden. Diese letzteren jagten noch eine ganze Strecke weiter und wurden erst dann, als man sich sicher fühlte, zu langsamerem Gange gezügelt. Nun schaute sich Kara nach den Wachen um. Sie hatten sich von ihrer Ueberraschung erholt, kamen aber nicht etwa hinterdrein, sondern sie galoppierten, den Paß verlassend, in nördlicher Richtung längs des Höhenzuges dahin. „Sie wollen melden, daß wir entkommen sind,“ sagte der Scheik. „Ja, entkommen!“ fügte seine Frau hinzu, indem sie tief und erleichtert Atem holte. „Chodeh sei Dank! Erst jetzt können wir in Wahrheit sagen, daß wir gerettet sind. O Tifl, Tifl, wie danke ich dir!“ Da zeigte „das Kind“ die allerverlegenste seiner Mienen und antwortete, auf den Haddedihn deutend: „Nicht mir gebührt der Dank, sondern diesem klugen Kara Ben Hadschi Halef Omar. Hätte er nicht zwei ledige Pferde mitgenommen, so wäre es uns unmöglich gewesen, euch zwischen den Reitern herauszuholen.“ Da reichte der Scheik Kara seine Hand und sprach: „Verzeihe mir, daß ich jetzt keine lange Rede des Dankes halte. Ich bin sehr müd und möchte bald ver- [409] bunden werden. Ich werde dich und diese drei herrlichen Tiere, so lange ich lebe, nicht vergessen. Nur mit solchen Pferden konnten wir gerettet werden! Dein Dunkelbrauner ist köstlich. Wem aber gehören die beiden andern?“ Da kam Tifl dem Haddedihn, welcher antworten wollte, schnell zuvor: „Versuche, es zu erraten, o Scheik der Kalhuran.“ „Sollten diese Rappen zu dem Braunen gehören?“ fragte dieser. „Weiter!“ „Es gab einen schwarzen Hengst der Haddedihn, der von keinem andern Pferde jemals besiegt worden ist. Er hieß Rih und wurde von Kara Ben Nemsi geritten, so oft dieser bei Hadschi Halef Omar war.“ „So schau den Rappen an, auf welchem die Gebieterin deines Zeltes sitzt! Er heißt Assil Ben Rih.“ „So ist er Rihs Sohn? Maschallah! Und der andere Hengst? Der mich jetzt trägt?“ „Sein Name ist Barkh. Er hat den berühmten Scheik der Haddedihn zu uns gebracht.“ „Was höre ich! Hadschi Halef Omar ist bei euch?“ „Ja.“ „Aber zwei Rappen! Wer reitet den andern?“ „Denke nach!“ „Sollte - - sollte Kara Ben Nemsi wieder einmal bei seinem Freunde sein?“ „Ja, auch der ist da. Und noch jemand ist da! Du wirst sie alle sehen. Wir wollen nicht hier erzählen, denn wir müssen uns nun beeilen, wenn wir heimkommen wollen, bevor es ganz dunkel wird.“ Es ging zunächst in nicht zu schnellem Gange über die tiefsandige Ebene hinüber. Hierbei verstand es sich ganz von selbst, daß zuweilen ein Blick zurückgeworfen [410] wurde. Da waren nach verhältnismäßig kurzer Zeit die Kavalleristen zu sehen, welche von den Posten am Passe benachrichtigt worden waren. Sie kamen hinterher. Kara behauptete das; der Scheik aber wollte es nicht glauben. So blieb man also für einige Augenblicke halten, um sie zu beobachten. „Es ist ja ganz unmöglich, daß sie auf den Gedanken gekommen sind, uns noch weiter zu verfolgen!“ ließ sich Hafis Aram hören. „Sie müssen doch eingesehen haben, daß sie uns auf ihren Gäulen nicht einholen können!“ fügte Kara hinzu. „Es ist nicht bloß das. Aber sie dürfen sich doch nicht auf das Gebiet der Dschamikun wagen!“ „Ist ihnen das verboten?“ „Ja. Der Ustad hat vom Schah-in-Schah das Recht erwirkt, kein bewaffnetes Militär bei sich zu dulden. Diese Soldaten befinden sich aber nicht bloß schon auf seinem Gebiete, sondern ich sehe es nun allerdings auch ganz deutlich, daß sie hinter uns dreingeritten kommen. Sind sie etwa so verwegen, uns bis zu den Wohnungen der Dschamikun zu verfolgen? Fast scheint es so!“ „So ist also der Ustad hier alleiniger Herr?“ „Er gehorcht nur dem Beherrscher selbst. Das steht auf einem Pergament geschrieben und wurde von dem Schah-in-Schah eigenhändig unterzeichnet und besiegelt. Ich bin zwar seit heut der Blutrache verfallen, weil ich den Muhassil erschossen habe; aber auf das Gebiet der Dschamikun darf mir kein Rächer folgen. Hier giebt es ewigen Frieden, der höchstens einmal von den Verachteten und Ausgestoßenen gebrochen werden kann, die keinem Gesetze gehorchen. Wenn diese Soldaten uns folgen, ohne dort an den Bergen ihre Waffen abgelegt zu haben, hat der Ustad das Recht, sie alle, vom ersten bis zum letzten [411] niederschießen zu lassen! Tifl, sag, was meinst du dazu?“ „Ich werde es gleich beim ersten Hause melden, damit in der kürzesten Zeit es alle wissen,“ antwortete der Genannte. „So laßt uns also eilen! Vorher aber sollst du mir sagen, o Scheik der Kalhuran, ob ich mein Versprechen erfüllen werde. Ich habe im Namen meiner guten Pekala beteuert, daß wir zur rechten Zeit daheim sein werden.“ „Du hältst stets dein Wort, besonders aber wenn du es im Namen deiner Pekala giebst. So auch heut.“ „Ich danke dir. Nun kommt!“ Sobald der tiefe Sand dieser Ebene in grasigen Boden überging, konnten die Pferde weit ausgreifen. Es dauerte dann nur noch kurze Zeit, bis man den See erreichte und mit ihm das erste Haus, an welchem Tifl anhielt, um die von ihm erwähnte Meldung abzugeben. Der Bewohner desselben war, so zu sagen, auf dieser Seite der Pförtner des Duars und hatte den die Sicherheit desselben betreffenden Nachrichtendienst zu verwalten. Als dies besorgt war, stand es fest, daß die Soldaten, falls sie wirklich kämen, den ihnen für solche Fälle vorherbestimmten Empfang finden würden, und Tifl konnte nun mit den drei Andern direkt nach dem „hohen Hause“ reiten. Allen denen, die ihnen begegneten, fiel der ganz unerwartete Besuch Hafis Arams und seines Weibes auf, zumal er in dieser ganz seltenen Weise und ohne die imponierende Kamelsänfte geschah, aber es gab keinen, der irgend ein Aufheben davon machte. Höchstens, daß hier oder da Einer stehen blieb, um den Reitern verwundert, aber still nachzuschauen. Das Gemeindeleben war hier eben ein anderes, geordneteres und darum auch ruhigeres als in den Dörfern anderer Stämme. - - - [412] Das war es, was Kara während seines Rittes erlebt hatte. Er berichtete es mir später noch ausführlicher, als ich es hier erzählt habe. Dieser sogenannte Uebungsritt war also noch viel mehr geworden, als er ursprünglich hätte werden sollen. Was mich betrifft, so war mir während dieser Zeit nichts Besonderes begegnet. Mit der „festjungfräulichen“ Köchin gab es ein kurzes Gespräch. Als sie bei ihrer Rückkehr aus dem Thale an mir vorübergehen wollte, nickte ich ihr freundlich zu. Dies veranlaßte sie, stehen zu bleiben. Sie machte die kleinen Aeuglein zu, um besser nachdenken zu können, welchen Gegenstand des Gespräches sie am liebsten wählen könne; dann schlug sie sie wieder auf und fragte mich, natürlich in türkischer Sprache: „Effendi, kennst du Teheran?“ „Ja,“ nickte ich. „Hast du dort Hagad, den Aschtschy1) [1) Koch.] gekannt?“ „Nein.“ „Das ist schade, denn er war mein Vater. Hast du aber Machub Suleiman Effendi gekannt, welcher Sefir2) [2) Türkischer Gesandter, Botschafter.] war?“ „Nein.“ „Auch das ist schade, denn er war der Herr meines Vaters. Beide kamen nach Teheran, der Sefir, weil der Sultan ihn sandte, und mein Vater, um für ihn zu kochen. Meine Mutter war auch dabei, und als mein Vater ein Jahr lang für Machub Suleiman Effendi gekocht hatte, wurde ich geboren.“ „So stammst du also nicht aus der Türkei, sondern aus Persien?“ „Ich stamme von meinem Vater und von meiner Mutter, und beide waren Osmanen. Ich habe als Kind [413] meist türkisch mit ihnen gesprochen, und darum liebe ich noch heute diese meine Muttersprache sehr. Mein Vater kochte auch mit für meine Mutter, und da ich sein Liebling war, hat er mich alles gelehrt, was er konnte. Ich half ihm gern und überall, und als meine Mutter gestorben war, ließ er seinen Harem für immer leer, und ich blieb mit ihm allein. Als der Sefir nach Stambul zurückkehrte, blieb mein Vater in Teheran, weil er Koch des Beherrschers wurde. Aber unsern Tifl kennst du wohl?“ „Natürlich! Das weißt du ja!“ „Er hieß damals anders; aber ich habe ihn stets Tifl genannt. Manche heißen ihn El Aradsch, weil er hinkt. Ich glaube, seinen früheren Namen hat er ganz vergessen. Er kam mit anderen Kindern der Dschamikun nach Teheran, um Reitknecht des Schah-in-Schah zu werden. Er wohnte also im Ark1) [1) Residenz.], grad so wie ich, und wir wurden sehr bald und auch sehr gut mit einander bekannt, weil sein steter Hunger keinen Anfang und kein Ende hatte. Ich fütterte ihn und nannte ihn darum Tifl, das Kind. Alles, was er von mir bekam, schmeckte ihm köstlich, und weil dieses Wort in der türkischen Sprache pek ala heißt, so hat er mir den Namen Pekala gegeben. Daher kommt es, daß wir beide noch heut von jedermann Pekala und Tifl genannt werden. Mein Tifl war eigentlich nur für die Pferde geboren. Er wußte und wollte außer mir nichts anderes als sie. Und wie er sie liebte, so liebten sie ihn auch. Er war sehr klein, da that es ihm kein anderer Seïs gleich. Darum waren seine Vorgesetzten außerordentlich mit ihm zufrieden. Aber das rührte ihn nicht; er achtete nur auf mich; ein Lob von mir war ihm lieber als tausend andere. Ich erzog ihn aber auch sehr sorgfältig und erziehe ihn noch heut! [414] Ein Mann muß nämlich stets erzogen werden. Man darf nur freilich nicht darauf achten, wenn er sich dagegen sträubt. Sie sind alle, alle fast noch wie die Kinder!“ „Auch der Ustad? Oder der Pedehr?“ unterbrach ich sie. Diese meine Frage brachte sie sichtlich in Verwirrung. Sie sah mich verlegen an, rieb sich mit dem gebogenen Zeigefinger das kleine, unbedachtsame Näschen und ließ ihre runden Wänglein noch beträchtlich röter werden, als sie so schon waren. Dann warf sie plötzlich den Kopf zurück und verriet mir durch den triumphierenden Ausdruck, der sich ihres ganzen Gesichtes bemächtigte, daß sich unter der Ursprungsstelle ihrer langen Haarflechten ein rettender Gedanke eingefunden habe. „Das sind doch keine Männer!“ sagte sie. „Was denn?“ „Herren und Gebieter! Du weißt doch, daß es zweierlei männliche Wesen giebt!“ „So?“ „Ja! Nämlich solche, welche zu gebieten, und solche, welche zu gehorchen haben. Die Herren sind schon erzogen; die anderen aber müssen es sich gefallen lassen, daß man es mit ihnen thut.“ „Und dazu seid wohl ihr Frauen da?“ „Ja! Denn zur Erziehung eines Mannes gehört außerordentlich viel Liebe, Geduld und Energie, und diese drei sind nicht bei euch, sondern nur bei uns zu finden. Wenn du das nicht glaubst, so frage nur „mein Kind“! Du wirst von ihm erfahren, was für Mühen und Sorgen mir seine Erziehung bereitet hat und auch heute noch bereitet. Es ist kein Spaß, die Mutter eines Jungen zu sein, der fast ganz genau so alt ist, wie ich selber bin. Er ist sogar einige Monate älter! Ich sage dir, Effendi, [415] es hat keinen geringen Kampf gekostet, mich bei ihm in Respekt zu setzen, denn er glaubte, daß die Pflicht des Gehorsams nach der Körperlänge zu bestimmen und zu bemessen sei. Er aß für drei oder vier Personen, und dadurch sammelte sich in seinem Körper jene heimtückische Kraft zum Wachstum an, welche ihn später so überaus schnell in die Höhe trieb. Es gab eine Zeit, in der ich, wenn ich genau aufpaßte, ihn wachsen sehen konnte. Ich aber blieb klein. Das kränkte mich. Ich wollte so gern in gleicher Länge mit ihm bleiben. Darum begann ich, ebenso viel zu essen wie er. Aber die Kraft wirkte bei mir nicht nach oben hinaus, sondern sie ging in die Breite und rundum im Kreise. Ich wurde kugelrund, anstatt mir seine schlanke Höhe anzueignen. Er war gezwungen, auf mich herabzuschauen, und das erweckte in ihm die Einbildung, daß er überhaupt und in jeder Beziehung über mir erhaben sei. Meine Fülle imponierte ihm nicht; ja, er belächelte sie sogar. Wie mich das betrübte! Ich mußte ja befürchten, daß er meiner mütterlichen Zuneigung gewiß noch ganz entwachsen werde. Diese fast täglich zunehmende Körperlänge entfremdete ihn mir mehr und mehr. Er wurde immer stolzer auf sie. Er sah gar nicht, wie sehr sie ihm schadete. Ein Pferdejunge hat bei seiner bestimmten Größe zu bleiben. Er aber schoß weit über die Achseln seiner Vorgesetzten empor. Das nahmen sie ihm übel. Seine Hosen waren stets zu kurz; seine Aermel getrauten sich nicht über die Ellbogen hinaus. Das sah nicht schön, sondern häßlich aus, und darum wurde er mehr und mehr zurückgesetzt, obwohl er der geschickteste und gutherzigste von allen war. Das ärgerte ihn. Er wurde grob, besonders mit mir. Sein Magen blieb mir treu, aber sein Herz entfernte sich immer mehr von mir. So wären wir uns gewiß nach und nach immer [416] fremder geworden, bis wir uns gar nicht mehr gekannt hätten, da aber trat ein Ereignis ein, durch welches die Verschiedenheit unserer Gestalten vollständig und für immer ausgeglichen wurde. Weißt du, daß der Islam den Wein verbietet, Effendi? Der Koran will es so.“ „Nein; der Koran will es anders.“ „Wieso! Ich verstehe dich nicht.“ „Die betreffende Stelle lautet: ‚Alles, was betrunken macht, sei untersagt!‘ Also ist jeder betäubende Trank verboten, nicht aber der Wein besonders, falls man ihn so genießt, daß man nüchtern bleibt.“ „Du magst recht haben. Aber ein kluger Muselmann hütet sich lieber gleich ganz vor ihm, weil der Betrunkene nicht eher von dieser seiner Betrunkenheit etwas weiß, als bis er wieder nüchtern ist. Dann macht ihm die Trübsal seines Jammers nicht nur dieses eine Wort, sondern den ganzen Kuran plötzlich heilig! Aber der Schah-in-Schah hat zuweilen Gäste, welche nicht Muhammedaner sind. Er muß ihnen Wein geben, wenn sie bei ihm speisen. Darum giebt es einen Kabu1) [1) Keller.], in welchem viele, viele Flaschen aufbewahrt werden, die bis zu den Hälsen herauf voll von den verschiedenen Betrunkenheiten sind. Der Weg von meiner Küche nach diesem Kabu war gar nicht weit, und es kam zuweilen vor, daß die Thür zu diesen Flaschen offen stand. Was glaubst du wohl, Effendi, was nun geschehen wird?“ „Tifl verläuft sich in den Keller!“ „Maschallah! Woher weißt du das?“ „Ich vermute es.“ „Er hat es dir nicht erzählt?“ „Nein.“ [417] „Das würde mich auch wundern, denn er spricht nie davon. Denn seine Scham über das, was er dort that, ist größer, als der ganze Keller ist! Aber so schnell, wie du denkst, geht das nicht. Ich muß es dir genau der Reihe nach erzählen. ‚Das Kind‘ hatte am Mittag bei mir gegessen, ich weiß noch ganz genau, was für Speisen und wieviel. Soll ich es dir sagen?“ „Nein, ich danke dir.“ „Ich hatte auch Dattelbrühe gemacht, über den dicken Reis zu gießen. Die war ihm zu dünn. Er zankte. Ich zankte wieder. Er wurde noch zorniger; ich auch. Er saß am Boden, und weil er da nicht länger war als ich, so benützte ich das sehr eilig und geschickt und stülpte ihm den ganzen Topf mitsamt der Dattelbrühe über den Kopf. Sie lief ihm in die Augen, in die Ohren, in die Nase, in den Mund. Er begann zu schreien, zu husten, zu niesen. Der Topf paßte ihm nur ganz eng auf den Kopf. Er schob und schob, um ihn zu entfernen; das ging sehr langsam. Sein Grimm wuchs, und ich bekam Angst. Ich glaubte, er werde sich dann mit dem Topfe an mir rächen. Ich floh also aus der Küche und versteckte mich. Erst nach langer, langer Zeit getraute ich mich zurück. Tifl war fort; der Topf lag zerbrochen am Boden. Ich las die Scherben auf und gelobte mir, die Dattelbrühe künftig noch viel dünner zu machen, als sie heut gewesen war. Der Nachmittag verging. Die Zeit zum Abendessen kam, aber Tifl nicht. Da wurde ich traurig und nahm mir vor, die Brühe doch nicht dünner zu machen. Am nächsten Morgen war Tifl noch nicht da; am Mittag auch nicht. Da grämte ich mich, denn ich sah ein, daß die Dattelbrühe viel, viel dicker sein müsse. Als dann am Abend und wieder am Morgen ‚das Kind‘ immer noch nicht kam, gelobte ich mir, die [418] Brühe noch dicker als den dicken Reis zu machen. Ich weinte. Aber das half nichts, denn früh fehlte Tifl immer noch. Nun erkundigte ich mich nach ihm. Niemand hatte ihn gesehen. Man suchte, aber man fand ihn nicht. Wie ich mich da grämte! Ich suchte die weggeworfenen Scherben wieder zusammen, sah sie traurig an und kam zu dem Entschlusse, sobald er wiederkehre, eine so dicke Dattelbrühe zu machen, daß man sie als Reitsattel auf den Rücken eines Kamels schnallen könne. Das half! Denn kaum hatte ich das gedacht, so kam der Märd-y-Scharab1) [1) Mann des Weines, Kellermeister.] in die Küche gelaufen und meldete ganz außer Atem, daß Tifl gefunden worden sei. Er liege jammernd im Keller und könne nicht herauf, weil er ein Bein gebrochen habe. Weißt du, was ich that, Effendi?“ „Du liefst in den Keller!“ „Ich lief? O, ich glaube, ich bin geflogen! Ja, mein Tifl lag unten. Er war grad wieder nüchtern geworden.“ „Nüchtern? War er denn betrunken gewesen?“ „Wie kannst du fragen! Wenn ihr Männer zornig seid, thut ihr alles, was verboten ist! Der Zorn ist ja schon an sich nichts weiter, als eine Art von Rausch, von Betrunkenheit, und wenn dann so ein vom Zorne berauschtes ‚Kind‘ gar noch die Thür des Kellers offen findet, so kann man sich denken, daß es nicht vorübergeht. Tifl war also hinabgestiegen. Du weißt, was er für ein Esser war. Meinst du, daß er nicht trinken konnte? Es lagen zehn oder zwölf leere Flaschen neben ihm.“ „Wie hatte er sie geöffnet!“ „Die Hälse fehlten. Er hatte sie abgeschlagen. Aber wie er das gemacht hatte, das wußte er nicht mehr. Er [419] erinnerte sich nur, großen Durst gehabt und viel, sehr viel getrunken zu haben. Erst später fiel ihm ein, daß er die vielen steilen Stufen heraufgestiegen, aber wieder hinabgefallen sei. Dabei hatte er das Bein gebrochen. Es war ihm unmöglich gewesen, aufzustehen. Er glaubte, daß er dann weitergetrunken habe, bis er eingeschlafen sei. Aber welch ein Schlaf! Erst dem Märd-y-Scharab war es gelungen, ihn durch fortgesetztes Rütteln aufzuwecken.“ „Er wird inzwischen doch zuweilen für kurze Zeit erwacht sein. Stand es gefährlich mit dem Bein?“ „Es war unterhalb des Knies gebrochen und so sehr geschwollen, daß der Hekim1) [1) Arzt.], welcher gerufen wurde, sagte, er könne nicht eher etwas thun, als bis diese Geschwulst verschwunden sei. Dadurch ist das Bein kürzer geworden. ‚Das Kind‘ hinkt und wird deshalb von vielen Leuten El Aradsch, der Lahme, genannt. Aber eine Schwäche ist nicht zurückgeblieben. Tifl springt und reitet ebenso schnell und ebenso vortrefflich wie vorher, doch Saïs konnte er nun als Hinkender unmöglich werden.“ „Ich vermute, du hast ihn gepflegt?“ „Natürlich! Kein anderer Mensch durfte ihn berühren; ich duldete es nicht. Ich war ja schuld an seinem Zorne, in dem er that, was er sonst gewiß unterlassen hätte. Und - - und - - darf ich dir etwas anvertrauen, Effendi?“ „Warum nicht?“ „So will ich dir sagen: Dieser Unfall hat mich mit meinem Tifl für immer so vereint, daß er mir gehorcht in allen Stücken, außer - - außer - - wenn er auf dem Pferde sitzt. Dann ist er der Herr; dann habe ich nichts zu sagen, ihm nichts zu befehlen. Er schämt sich [420] noch heute jener Betrunkenheit. Ich brauche sie nur so von weitem zu erwähnen, so thut er alles, was ich will, nur damit ich schweige. Ist das im Abendlande, wo man alles, was man will, trinken darf, ebenso? Ist auch dort der Rausch der Vater und die Betrunkenheit die Mutter so fortgesetzter Scham?“ Welche Antwort hätte ich auf diese Frage wohl geben können! Glücklicherweise wartete Pekala sie gar nicht ab, sondern fuhr in ihrem Eifer sogleich fort: „Wie dankbar mein Tifl damals war, und wie dankbar er jetzt noch ist! Er haßt und verachtet die Undankbarkeit ebenso wie ich. Wir haben beide einander gesundgepflegt, erst ich ihn und dann er mich.“ „Auch du wurdest krank?“ „O, wie sehr! Nicht mein Körper, sondern meine Seele. Kaum konnte Tifl wieder gehen, so trat der Tod zu uns und nahm mir meinen Vater. Weißt du, was das heißt? Ich hatte nur diese beiden, den Vater und ‚das Kind‘, weiter keinen Menschen. Ich hatte nur für diese zwei gelebt. Als Vater tot war, wollte ich auch sterben, wollte ihm nach, wollte zu ihm. Ich weinte und jammerte den ganzen Tag; ich durchwachte alle Nächte. Man lachte über mich; mein Tifl lachte nicht. Aber er gab mir auch nicht Recht. Er schalt mich aus. Da wollte ich über ihn zornig werden, that es aber nicht, denn wir hatten uns mit Hand und Mund versprochen, nie wieder zu zanken, und das hielten wir. Er dachte über den Tod ganz anders als ich. Was sagst du von ihm, Effendi?“ „Es giebt gar keinen Tod,“ antwortete ich. Da schlug sie die Händchen zusammen und rief im Tone der Verwunderung aus: „Auch du? Auch du? Und doch habe ich gehört, [421] daß man im ganzen Abendlande ebenso fest an den Tod glaube, wie hier bei den muhammedanischen Sunniten und Schiiten! Der Ustad hat uns gelehrt, daß der Tod für ewig besiegt und überwunden sei. Ich glaubte, daß nur er dies sagen und beweisen könne, und nun höre ich, daß du dasselbe denkst! Der Tod war mir ein böser, finstrer Mann, der jeden holt und keinen wiedergiebt. Ich fürchtete mich vor ihm, wünschte aber doch, daß er komme und mich zu meinem Vater führe, denn ich liebte diesen mehr, viel mehr, als ich das Sterben fürchtete. War das klug oder thöricht, Effendi?“ „Keines von beiden! Aber du glaubst, damals über den Tod anders gedacht zu haben als jetzt?“ „Ja.“ „Nun, so sag: Was glaubst du jetzt?“ „Daß es keinen giebt, ganz so wie du.“ „Und damals?“ „Daß es einen giebt.“ „Du irrst. - Du glaubtest schon damals nicht daran.“ „Nicht? Effendi, das muß doch ich wissen, nicht aber du!“ „Du hast es doch selbst gesagt!“ „Wann?“ „Soeben! Du hast gewünscht, daß der Tod komme und dich zu deinem Vater führe. Kann es da einen Tod geben? Nämlich in deinen Gedanken!“ „Gewiß! Ich wünschte ihn ja herbei!“ „O Pekala, o Pekala!“ „Du lächelst? - Warum?“ „Der Tod soll dich zu deinem Vater führen. Wenn er das kann, so giebt es deinen Vater noch?“ „Natürlich!“ [422] „Und wenn er dich zu ihm bringen soll, so bist auch du noch vorhanden?“ „Ja.“ „Also ihr beide, du und dein Vater, seid noch da?“ „Ja. Ich komme zu ihm!“ „So seid ihr aber doch nicht tot!“ Da machte sie eine Geberde des Erstaunens und rief aus: „Maschallah! Das ist richtig! Du hast mich gefangen!“ „Nicht dich habe ich gefangen, sondern etwas ganz anderes! Denke weiter! Wenn ihr nach dem Tode nicht tot seid, giebt es doch gar keinen Tod!“ „Diesen Gedanken begreife ich. Aber man stirbt doch!“ „Ist dieses Sterben ein Aufhören, ein vollständiges Vernichtetsein?“ „Nein. Es bringt vielmehr das wahre, rechte Leben. So sagt der Ustad.“ „So sage auch ich; so sagst auch du, und so hast du stets gesagt, auch damals, als du dich nach dem Tode sehntest. Nur dies wollte ich dir beweisen. So reden Tausende und Abertausende vom Tode, ohne zu wissen, daß sie ihn mit ihren eigenen Worten aus dem Dasein streichen. Als der Mensch zum erstenmal von dem Tode sprach, wurde er, der Tod, im Menschengehirn geboren; aber es war das eine Totgeburt. Und die Gedankenleiche dieses Totgebornen hat man durch Millionen Gehirne und durch Jahrtausende bis auf den heutigen Tag weitergeschleppt und wird sie noch durch die folgenden Jahrhunderte zerren, ohne einzusehen, daß man alle diese lächerliche Furcht und Mühe auf einen Korkuluk1) [1) Popanz, Scheuche, Schemen.] verwendet!“ [423] „Korkuluk! So ähnlich sagte damals auch mein Tifl.“ „Wie? Er, der junge Mensch?“ „Warum nicht, Effendi? Bedenke doch, daß unser Ustad sich bereits fünfzig Jahre bei den Dschamikun befindet! Was er glaubte und dachte, davon hat er die Alten überzeugt, und diese haben es den Jungen, den Kindern, überliefert. Weißt du, in welcher Weise das geschieht? Ganz so, wie mein Tifl mit mir that, als ich ihm sagte, daß ich sterben wolle. Es giebt im ganzen Duar kein einziges Kind, welches auf einen solchen Wunsch nicht sofort antworten würde, daß er ja gar nicht in Erfüllung gehen könne. Darf ich dir erzählen, wie Tifl zu mir sprach?“ „Ja, sage es mir!“ Da trat sie näher zu mir heran, kauerte sich in orientalischer Weise vor mir nieder, zog den weißen Schleier so um sich, daß nur ihr liebes Angesicht und die beiden Händchen aus demselben vorschauten, und begann: „Es war am Abend; draußen vor der Küche, wo die Tarfasträucher1) [1) Tamarisken.] ihre langen, niedlich blühenden Zweige über mich senkten, als ob sie Erbarmen mit meiner Trauer hätten, denn ich weinte leise vor mich hin und wünschte mir den Tod. Da kam Tifl, ebenso leise, leise, denn mein Schluchzen war ihm heilig. Er lehnte sich neben der Tarfa an die Mauer und sagte lange, lange nichts, kein Wort. Kein Laut war ringsum zu hören; in mir nur sprach die Sehnsucht nach dem Tode fort und fort in trostlosen Klagelauten. Da plötzlich ertönte die Stimme ‚des Kindes‘ neben mir, halblaut, langsam, feierlich. Wie klang sie doch? Ganz anders als wie sonst! So hoch von oben! Als ob eine gütige Fee aus [424] „Alif leïla wa leïla“1) [1) „Tausend und eine Nacht“.] da über den Zweigen schwebe und von ihrer schönen, lichten Heimat zu mir sprechen wollte. Meine Tränen stockten. Ich lauschte.“ Pekala machte eine Pause. Ihre Augen suchten das nahe Rosengebüsch. Sie sann. Welch einen Ausdruck hatte jetzt ihr Gesicht! Als ob die Fee jetzt wieder bei ihr sei und ihr mit lieber Hand verschönernd und durchgeistigend über die Wangen gestrichen habe! Dann fuhr sie fort: „Es kam ein Sonnenstrahl zum Monde nieder Und hielt mit seinem Glanze bei ihm Rast, Doch mit der Morgenröte ging er wieder Und wurde dann der Erde Tagesgast. Da sprach der Mond: Was soll ich um ihn trauern? Ein Scheiden giebts im Licht, doch keinen Tod. Es wird nur wenig, wenig Stunden dauern, Da kehrt der Freund zurück im Abendrot!“ Sie schwieg und sah mich eigentümlich fragend an. Ich muß gestehen, daß ich zögerte, zu sprechen. Das war nicht, wie ich erwartet hatte, ein orientalisches Märchen, keine heidnische Sage, kein christliches Gleichnis. Wie sollte ich es nennen, wie rubrizieren? Aber war es denn so außerordentlich notwendig für mich, der nun sofort mit irgend einem Schema herbeistürzende Abendländer zu sein? Die Strophe wirkte ganz genau so, wie es der Dichter beabsichtigt hatte. Wer aber war dieser Dichter? Sie hatte von der Art und Weise des Ustad gesprochen, auf seine Leute einzuwirken. Geschah es vielleicht durch solche Gedichte, welche selbst von der Jugend sehr leicht verstanden und auswendig gelernt werden konnten? „Hast du gehört, was ich gesprochen habe?“ fragte sie, als ich so lange still war und nichts sagte. [425] „Jawohl, meine liebe Pekala,“ antwortete ich. „Und auch verstanden?“ „Gewiß.“ „Ich kann es nicht so sagen, wie es damals klang. Man muß die Augen voller Thränen um einen lieben Abgeschiedenen haben, um es so zu hören, wie es gehört werden soll. Und es muß mit einer Stimme gesprochen werden, die aus einem so kindlich gläubigen Herzen klingt, wie dasjenige meines Pfleglings damals war und heute noch ist und immer bleiben wird. Er fügte nichts hinzu, kein Wort, kein einziges. Er lehnte noch einige Zeit still an der Mauer und ging dann fort, so leise, leise wie er gekommen war. Ich aber saß noch lange, lange unter den überhängenden Tarfazweigen, und es wurde ruhig und immer ruhiger in mir. Meine Thränen hatten aufgehört zu fließen; meine Todessehnsucht schwieg. Ich sah durch die langen, feinen Blütenrispen hindurch den Mond am Himmel stehen. Der Sonnenstrahl war bei ihm: ich sah ihn leuchten. Unten bei mir, auf der Erde, war es dunkel. Aber morgen, morgen wird alles, alles um mich her im Sonnenglanze strahlen. Auch der Strahl ist dabei, den ich liebe, nach dem ich mich sehne. Oh, Effendi, Effendi, ob mein Auge dann wohl so geöffnet ist, daß ich im stande bin, ihn zu erkennen?“ Ich sah sie an und mußte mir Mühe geben, ihr nicht merken zu lassen, daß ich über sie staunte. War das noch die „festjungfräuliche“ Köchin, die mir beinahe lächerlich vorgekommen war? In welchem Lichte erschien mir jetzt ihr ewig langer „Tifl“, den ich für einen Schwachkopf gehalten hatte! Hatten etwa die Bewohner des „hohen Hauses“ alle zwei verschiedene geistige Gestalten? Muß man aus Europa zu den verachteten Kur- [426] den gehen, um Menschenseelen entdecken zu lernen? Sieht man nicht, so oft man eine solche Entdeckung macht, daß jeder Mensch eigentlich zu zweien ist? Warum wurde es mir hier so leicht, daheim aber so schwer gemacht, das zu erkennen, was der Scheik der Haddedihn „nicht den Hadschi, sondern den Halef“ nannte? Ich riß mich von diesen Gedanken los, denn ich sah, daß Pekalas Augen betrachtend auf mich gerichtet waren. „Wo hatte das ‚Kind‘ den Gedanken her, dir grad mit diesem Gedichte den beabsichtigten Trost bringen zu können?“ fragte ich. „Die Liebe sagte es ihm, Effendi. Hast du noch nie bemerkt, daß die wahre, wirkliche Liebe stets das Richtige trifft? Es war nach dem Tode des Vaters nun zum erstenmal, daß ich ruhig und ununterbrochen bis zum Morgen schlief. Als ich erwachte, war ich ernst, doch weinte ich nicht mehr. Wenn eine Thräne emporsteigen wollte, dachte ich an den Sonnenstrahl, der nicht stirbt, sondern strahlend wiederkehrt. Und es geschah auch sehr bald, daß ich keine Zeit mehr hatte, mich der Trauer hinzugeben. Der Vater war tot; man brauchte mich nicht mehr. Was sollte ich thun? Wo sollte ich hin? Tifl ging nun lahm. Er konnte nicht Saïs werden. Man beschloß, ihn als unbrauchbar zu den Dschamikun zurückzuschicken. Da geschah es, daß unser Pedehr nach Teheran kam, um nach seinen Leuten zu sehen, welche bei der Leibgarde des Beherrschers standen. Er schaute auch nach Tifl, und dieser erzählte ihm von mir. Da ließ er mich zu sich kommen. Hast du gesehen, wie schön, wie gut seine Augen sind? Er richtete sie auf mein Angesicht, als ob er mir durch Leib und Seele schauen wolle. Dann fragte er mich, ob es mir recht sei, ‚mein Kind‘ zu den Dschamikun zu begleiten und dort zu bleiben, so [427] lange es mir gefalle. Wie glücklich mich das machte! Ich nahm sie an, die neue Heimat, die mir so lieb geboten wurde. Ich mag sie nicht verlassen, so lange, als ich lebe, und da es keinen Tod giebt, ist es mein allergrößter Wunsch, dann einst wie jener Sonnenstrahl zu sein, der mir gesagt hat, daß ich niemals sterben werde.“ Sie schlug den Schleier wieder auseinander und stand auf. „Ich habe eine Bitte, Effendi,“ sagte sie. „Wirst du sie mir erfüllen?“ „Gern, wenn ich kann.“ „Du kannst es, wenn du willst. Sei ein wenig lieb und gut zu ‚meinem Kinde‘! Verzeihe ihm seinen heutigen Irrtum! Seine allergrößte Freude ist die Dankbarkeit, und diese Freude wirst du ihm bereiten, wenn du die Güte hast, ihn freundlich zu beachten.“ „Es bedarf dieser deiner Bitte nicht, meine gute Pekala. Wenn ich so weit gekräftigt bin, daß ich mich wieder in den Sattel setzen darf, werde ich hier täglich einen Ausflug unternehmen. Er kennt die Gegend und ist, wie ich gesehen habe, ein vortrefflicher Reiter. Darum soll er mich begleiten. Sage ihm das!“ „Wie wird er sich darüber freuen! Ich sage dir meinen Dank dafür, ja, den meinigen, denn ich bin stolz darauf, daß du keinem Andern diesen Vorzug giebst, als grad ‚dem Kinde‘, welches ich erzogen habe!“ Sie legte die Hände auf der Brust zusammen, verbeugte sich und ging. Ich schaute ihr nach, bis sie jenseits der Gartenthür verschwand. Welch ein eigenartiges, psychologisch höchst interessantes Verhältnis zwischen diesen beiden Menschenkindern - Pekala und Tifl! Ist unsere sogenannte Psychologie überhaupt imstande, eine solche seelische Zusammengehörigkeit genügend zu erklären? Was [428] ist die Seele? Wo ist die Seele? Welcher Art ist ihre Verbindung mit dem Leibe? In welcher Weise wirkt sie auf unsere körperlichen und geistigen Organe ein? Wir sprechen täglich, ja stündlich von ihr; aber man zähle doch einmal alles, alles auf, was man von ihr weiß! Wer darf behaupten, daß er sie kenne? Wer hat sie begriffen. Wer hat die Thür zum Prüfungssaale geöffnet, sie in ihrer ganzen, großen, herrlichen Identität eintreten lassen und gesagt: „Das ist die Seele des Menschen. Sie steht schon seit Jahrtausenden bereit, euch jede Auskunft zu erteilen; ihr aber habt eure Erkundigungen nur an euch selbst, doch nicht an sie gerichtet. Ihr habt in euch selbst hineingesprochen und darum nicht ihre, sondern nur eure eigene Antwort gehört. Nun bringe ich sie euch. Woher? Das wißt ihr nicht? Habt ihr den Mut, sie zu fragen, wer sie ist? Dann fragt sie nicht nach ihr, sondern nur nach euch. Sie hat nur eine einzige Antwort, die sie giebt, und diese Antwort seid - ihr selbst!“ - - - Hanneh, welche bei Halef war, ließ sich zuweilen unter dem Bogen der Halle sehen, um mir lächelnd zuzunicken. Einmal aber stieg sie die Stufen herab, kam zu mir her und sagte: „Er schläft und nimmt, ohne dabei aufzuwachen, die Nahrung ein, die ich ihm von Zeit zu Zeit gebe. Ist das gut?“ „Ja,“ antwortete ich. „Er schluckt den dünnen, aber stärkenden Drang [Trank] ganz unwillkürlich. Bist du um etwas besorgt, so frage den Pedehr! Seine Auskunft ist zuverlässiger als die, welche ich dir geben kann.“ Als die Sonne verschwunden war, versuchte ich, mit Hilfe des Stockes die Treppe hinaufzusteigen. Es gelang. Ich brachte es sogar fertig, dann noch in die Halle hinein [429] und bis hin zu Halef zu gehen. Dort setzte ich mich für einige Augenblicke nieder. Sein Gesicht sah nicht mehr mumienfarbig aus. Es war von jenem Lebenstone überhaucht, welcher mit Sicherheit darauf schließen läßt, daß das vorher stockende Blut seinen Kreislauf wieder begonnen hat. Sonderbar! Liegt wirklich eine befehlende Kraft im Blicke des menschlichen Auges? Zwei Personen: die eine schläft; die andere schaut ihr in das Angesicht und denkt dabei, ob sie wohl erwachen werde. Der Schläfer sieht das nicht. Seine Augen sind geschlossen. Wer in ihm ist es, der aber doch den Blick bemerkt und auch den Gedanken versteht? Denn gar nicht lange, so beginnt der Schläfer, sich zu regen. Besitzen alle Menschen diesen Einfluß? Oder nur einige? Halef regte sich. Er wendete mir sein Gesicht langsam zu. „Sihdi!“ hauchte er. Weiter war nichts zu hören. Ein leises, liebes Lächeln spielte um seine Lippen. „Er ahnt, daß du hier bist,“ flüsterte Hanneh mir zu. „Oder meinst du, daß er dich gesehen hat? Seine Augen sind aber doch fest geschlossen!“ „Hast du nur geahnt, daß er meinen Namen sagte?“ fragte ich sie, natürlich ebenso leise. „Geahnt? Nein. Er sagte ihn doch wirklich.“ „Von ihm aber soll es nur Ahnung sein, daß ich hier bei ihm bin? Er weiß es wirklich!“ „Woher? Von wem? Er sah dich nicht!“ „Kann man nur dann sehen, wenn man die Lider öffnet? Schließ deine Augen, Hanneh, und versetze dich in das Lager des Haddedihn?“ „Ich thue es,“ nickte sie, indem sie die Augen zumachte. [430] „Geh jetzt zu deinem Zelte!“ „Ich sehe es.“ „Deutlich?“ „Ja, ganz genau so, wie es ist. Der Vorhang ist zurückgeschlagen; der helle Teppich glänzt heraus; mein Hündchen sitzt darauf. Im Nebenzelte bäckt man Brot. Ich sehe den dünnen Rauch, und ich rieche - - - ja, Sihdi, ich rieche, daß der Teig sich schon zu bräunen beginnt. Ich rieche es wirklich, gewiß, wahrhaftig! Ist das nicht sonderbar?“ „Nein, gar nicht sonderbar! Deine Seele war jetzt dort! Wer das nicht begreift, der nennt es Phantasie.“ „So war diese meine Seele jetzt nicht hier bei mir?“ „Doch!“ „Und sie soll zu gleicher Zeit auch dort im fernen Lager der Haddedihn gewesen sein? Das begreife ich nicht!“ „Ich will es dir erklären. Schau durch den mittlern Bogen, zum See und bis zum letzten Hause des Duar. Was siehst du dort?“ „Ein Mann steigt von dem Hause hinunter nach dem Wasser.“ „Steig mit ihm hinab!“ „Ich thue es. Jetzt ist er unten. Er wirft das Obergewand ab, um sich zu waschen.“ „Wo bist du jetzt, Hanneh?“ „Hier.“ „Warst du nicht soeben auch dort bei diesem Mann?“ „Ja, das war ich, doch aber mit dem Körper nicht. Es war mein Blick.“ „Nur dein Blick? Hast du nicht zu ganz derselben Zeit gesehen und zugleich gedacht?“ „Allerdings!“ [431] „Wer war es, der sah? Wer war es, der dachte? Wo wurde gesehen? Hier oder am See? Wo wurde gedacht? Dort oder in dieser Halle? Wer ging mit dem Manne hinab? Wer zählte vielleicht sogar die Schritte und die Stufen? Wer fühlte es leise mit, wenn sein Fuß sie berührte?“ „Ich!“ „Aber du dachtest doch soeben, daß du nur hier, nicht aber dort gewesen seist!“ „Maschallah! Ich war auch dort, wirklich dort! Wenn ich die Augen offen habe, kann meine Seele nur so weit gehen, wie mein Blick reicht. Aber wenn ich sie schließe, so ist sie frei und kann so weit gehen, wie es ihr beliebt. Wie ist das zu erklären?“ „Denke selbst darüber nach! Es giebt Dinge, über welche man nur mit sich selbst fertig zu werden hat. Ich kann dir ebensowenig helfen, sie zu begreifen, wie ich dir behilflich sein kann, daß sich dein Körper aus den Speisen bilde, welche du genießest. So gebe ich dir Nahrung für den Geist und für die Seele; verdauen aber kannst du sie nur selbst. Du bist eine einsichtsvolle, kluge, wißbegierige Frau, meine gute Hanneh. Mit einer andern würde ich niemals über diesen schwierigen Gegenstand sprechen. Und es giebt auch noch einen andern, viel, viel triftigeren Grund, daß ich es thue.“ „Welcher ist das, Effendi?“ „Errätst du ihn nicht?“ „Nein.“ „Das wundert mich.“ „Sage ihn nur!“ „Denke an das, worüber du mich zuletzt fragtest, ehe ich mit deinem Hadschi Halef Omar diese Reise antrat!“ „Erlaube, daß ich mich besinne!“ [432] Sie dachte nach. Dann blickte sie schnell und überrascht zu mir her und sagte: „Jetzt weiß ich es! Ich war betrübt über die angebliche Seelenlosigkeit der Frauen und wendete mich mit der Bitte um Auskunft an dich. Ist es das?“ „Ja.“ „Halef war trotz seiner Liebe zu mir stets überzeugt, daß die Frauen keine Seelen haben und also auf die Himmel Allahs verzichten müssen. Das betrübte mich. Du aber gabst mir Trost. Ich werde dir das nie vergessen!“ „Damals gab ich dir Trost. Was aber heut?“ „Mehr, viel mehr, nämlich Ueberzeugung!“ „Sogar den Beweis!“ „Ich sagte damals, daß du mir die Seele gegeben habest. Jetzt aber hast du noch mehr gethan: du hast sie mir gezeigt. Ich weiß jetzt, daß sie da ist, in mir oder außer mir, vielleicht auch beides. Sie kann mit meinen Augen sehen; sie kann auch sehen ohne sie. Ich bin diese meine Seele, aber ich bin sie doch nicht ganz. Und hinwiederum ist diese meine Seele Hanneh, aber sie ist es auch nicht ganz. Sie ist etwas, was ich bin, und sie ist noch etwas, was ich nicht bin. Was und wo ist das aber, was sie ohne mich ist? Du siehst mich so verwundert an, Effendi. Warum?“ „Wegen dieser deiner Gedanken.“ „Sind sie falsch?“ „Oh nein! Aber ich habe solche Worte noch nie aus dem Munde einer Frau gehört!“ „Weil euern Frauen nicht gesagt wird, daß sie keine Seele haben. Sie sind also nicht gezwungen, sich zu grämen und über diesen angeblichen Mangel nachzudenken. Mich aber hat die Trauer darüber, daß mir die Seele [433] abgesprochen wurde, veranlaßt, über sie nachzudenken. Und auch dann noch, als du mich getröstet und beruhigt hattest, habe ich in jeder ungestörten Stunde und gar manche ganze Nacht hindurch in mir gesucht, ob sie sich wohl offenbaren werde. Es geschah aber nicht. Dann kam ich hierher. Mein armer, kranker Halef liegt vor mir, bald wach und bald wieder ohne Bewußtsein. Ich beobachte ihn. Ich suche nach seiner Seele. Ist sie da, wenn er erwacht? Ist sie da, wenn er in halber Betäubung leise Worte redet? Wo ist sie, wenn ihm für lange, lange Zeit die Besinnung fehlt?“ „Und vor allen Dingen, wo ist die deinige, Hanneh? Wo ist sie jetzt?“ Da schaute sie mich verwundert an. „Doch wohl hier, bei mir, in mir!“ antwortete sie. „Oder ist sie es nicht, die jetzt mit meinem Munde zu dir spricht?“ „Die Antwort auf diese deine Frage ist doch leicht!“ „Für mich ist sie so schwer, daß ich sie nicht finden kann.“ „So bitte ich dich, zu überlegen! Denke dir, daß du eine Freundin suchst, welche du finden willst! Bist du selbst etwa diese Freundin?“ „Nein.“ „Oder ist sie da?“ „Auch nicht. Denn wäre sie da, so würde ich sie doch nicht suchen, Effendi.“ „Du sprichst von ihr. Sind das deine oder ihre Worte?“ „Die meinigen.“ „Richtig! Nun aber suchst du nach deiner Seele. Du sprichst von ihr mit mir, eben jetzt, in diesem Augenblick. Kann sie es sein, die mit mir redet?“ [434] „Nein. Sie ist nicht ich, sondern wir sind ich und sie. Aber wer ist es, der sich jetzt meiner Lippen bedient, um von ihr zu sprechen?“ „Das ist Hanneh, die sich nach Allahs Himmel sehnt, der keinem Menschengeiste offen steht, wenn ihn nicht seine Seele aufwärts leitet. Sie kennt den Weg, denn sie ist bei Allah daheim. Nicht so der Geist, der nichts anderes weiß und nichts weiter anerkennt als nur das, was nicht über seine irdischen Begriffe geht.“ „So meinst du also, daß Seele und Geist verschiedene - - -“ Sie hielt inne, denn Schakara kam zur Thür herein. Sie hatte mit ihr zu sprechen und winkte sie von Halefs Lager zu sich hin. Ich ging hinaus, vor die Säulen, wohin inzwischen meine Kissen nach dem gewohnten Platz geschafft worden waren. Dort setzte ich mich nieder. Ein Beduinenweib! Wie rührend dieses angstvolle Suchen nach jenem geheimnisvollen Wesen, dessen Hand uns den Schlüssel zu dem Menschheitsrätsel bietet, ohne daß wir uns die Mühe geben, seinen Flügelschlägen so zu lauschen, daß wir den rechten Augenblick erfassen könnten, den Schlüssel zu ergreifen. Der Orientale besitzt mehr Hinneigung zum Metaphysischen, als der Abendländer. Es darf darum nicht wunder nehmen, daß Hanneh, die nach unseren Begriffen fast gänzlich Ungebildete, der aber neben einem ungewöhnlichen Wissensdrange der leicht und schnell auffassende Scharfsinn verliehen war, ein so lebhaftes Interesse für Dinge besaß, welche jenseits des Bereiches unserer körperlichen Sinne liegen. Sie hatte schon in äußerer Beziehung Seltenes erlebt und darum war auch ihr inneres Leben reich gestaltet. Für eine Frau von ihren Eigenschaften lag es [435] nahe, sich über die Gesetze dieses Innenreiches klar zu werden. Und da man Alles, was sich auf dasselbe bezieht, „seelisch“ zu nennen pflegt, so hatte sie eben die „Seele“ zum besonderen Gegenstande ihres Nachdenkens gemacht. Freilich waren ihre Gedankenwege ganz andere, als sie der nüchterne Occidentale einzuschlagen pflegt, der ja von seinen Zielen und Idealen verlangt, von gleicher Nüchternheit wie er selbst zu sein, doch pflegt ja wohl ein Jeder gern zu behaupten, daß nur der von ihm eingeschlagene Weg der einzig rechte sei. Wohl dem, der vorwärts kommt! Wer aber, weil er den Wald wegen der vielen Bäume nicht sieht, vor lauter topographischer Gelehrsamkeit im Dickicht stecken bleibt, dem ist allerdings ein nüchternes Ueberlegen anzuraten, falls er wirklich wünscht, endlich einmal in das Freie zu gelangen. - Um die Kuppen der Berge spielte jener sanfte, abschiednehmende Schimmer, welcher der kurzen Dämmerung voranzugehen pflegt, weil er der Scheidegruß der fernen Abendröte ist, da lenkte der Schall von Hufschlag mein Auge dem Thore zu. Kara und Tifl kehrten zurück. Bei ihnen waren der Scheik der Kalhuran und sein Weib, die ich nicht kannte. Schakara hatte das Pferdegetrappel auch gehört. Sie kam aus der Halle. Als sie die Frau Hafis Arams erblickte, stieß sie einen Ruf der Ueberraschung aus und eilte die Stufen hinunter, um sie zu begrüßen. Der Scheik fragte, sobald er abgestiegen war, wo der Pedehr zu finden sei, und wollte sich zu ihm führen lassen. Er kam nach der Halle herauf, erreichte mich aber nicht ganz, sondern hauchte auf der Mitte der Treppe nieder und schloß die Augen. Seine Frau kniete mit Schakara erschrocken neben ihm nieder und nahm seinen Kopf in ihren Arm. [436] „Ich kann nicht mehr!“ sagte er, ohne daß er die Augen öffnete. „Tragt mich hinein!“ Tifl eilte fort und kam sehr schnell mit einigen Kurden zurück, welche den vor unerträglichem Schmerz fast Ohnmächtigen durch die Halle in das Innere des Hauses trugen. Die andern gingen mit. Kara allein blieb da. Ich fragte ihn, wer die Beiden seien, die mit ihm gekommen waren. Er ging zunächst hinein, um nach seinem Vater zu sehen, und kam dann, mir meine Frage zu beantworten, mit seiner Mutter wieder heraus. Sie setzten sich zu mir, und dann begann er, sein interessantes Erlebnis zu erzählen. Er berichtete sehr sachgemäß und bescheiden. Es fiel ihm nicht ein, seine Person hervorzuheben. Wenn es einer besonderen Betonung der Person bedurfte, so ließ er diesen Ton vielmehr nicht auf sich, sondern auf Tifl fallen. Freilich gelang es ihm nicht, in ruhigem Zusammenhange zu sprechen. Zwar ich hörte ihm zu, ohne ihn zu stören, aber seine Mutter unterbrach ihn mit ungezählten Fragen und Bemerkungen. Ihr Liebling hatte ja etwas sehr Wichtiges erlebt, etwas, was Hadschi Halef Omar, wenn er jetzt bei uns gewesen wäre, ganz unvermeidlich eine „Heldenthat“ genannt hätte, und diese That mußte natürlich in mütterlichem Stolze von allen Seiten auf das sorgfältigste beleuchtet werden. Als er geendet hatte, sah sie mich an und fragte: „Du hast gehört, oh Sihdi, was er, die Wonne meiner Augen, uns erzählte. Nun sag, was du an seinem Verhalten auszusetzen hast!“ „Nichts,“ antwortete ich. „Wirklich nichts?“ „Nein.“ [437] „Glaubst du, daß sein Vater, mein guter Hadschi Halef Omar, derselben Meinung sein würde?“ „Ja.“ „Ich danke dir! Denn das ist eine Anerkennung, welche gar nicht größer sein könnte! Bedenke doch, wie jung er ist. Ihr beide aber seid erfahrene Männer. Wenn er so gehandelt hat, wie ihr selbst gehandelt hättet, und du sagst ihm das, so ist das ein Lob, zu dem ich nichts hinzuzufügen habe. Für die Sorge aber, welche die Mutter um ihn hegt, ist er doch wohl etwas zu verwegen gewesen. Man soll Mut und Tapferkeit besitzen; aber man braucht sich doch nicht so mit aller Gewalt der Gefahr auszusetzen.“ „Hat er das gethan?“ „Ja.“ „Inwiefern?“ „Insofern, als er so offen gesagt hat, daß er der Gast der Dschamikun sei. Es wäre besser gewesen, wenn er das verschwiegen hätte. Dann hätten sie ihn nicht als ihren Gefangenen betrachten dürfen.“ „Es ist in Wirklichkeit ja gar nicht dazu gekommen, daß man ihn als solchen behandelt hat.“ „Aber man hätte es sehr leicht thun können! Man war ja berechtigt, ihn sofort zu töten, und da er keine anderen Waffen als sein Messer besaß, hätte er sich gar nicht dagegen wehren können.“ „So schnell geht das nicht!“ „In der Regel nicht. Jedem Blutgerichte pflegt eine Verhandlung vorauszugehen. Aber du weißt ja ebenso gut wie ich, daß es keine Regel giebt, die nicht ihre Ausnahmen hat. Du hast Kara gelobt, und ich stimme in dieses Lob so gern mit ein; dabei aber habe ich seine allzu große Kühnheit zu tadeln, ohne zu berück- [438] sichtigen, ob du dich an diesem Tadel beteiligst oder nicht. Er mußte unbedingt verschweigen, daß er jetzt zu den Dschamikun gehört.“ „Das hätte, wie er ja selbst ganz richtig gesagt hat, ihn zu Lügen führen müssen.“ „Lügen! Giebt es nicht Notlügen?“ „Für mich nicht.“ „Freilich giebt es die. Man wird durch die Not dazu getrieben, und darum sind sie erlaubt!“ „So sagt man. Aber grad daß es Notlügen gebe, das ist die größte aller Lügen. Ich nenne sie anders.“ „Wie?“ „Feigheitslügen! Es ist gar nicht schwer, sich bei jeder Lüge, die man macht, einen zwingenden Grund zu denken, den man dann als ‚Not‘ bezeichnet. Aber nicht diese größere oder geringere Not ist es, welche zu der Lüge zwingt, sondern die Feigheit, mit welcher man vor ihr die Flucht ergreift, verhindert den furchtsamen Menschen, die Wahrheit offen zu bekennen. Es giebt keine Not, und wäre es sogar der Tod, die so groß wäre, daß die Folgen der Notlüge nicht noch weit über sie hinauswachsen könnten. Das hat unser Kara trotz seiner Jugend eingesehen, und darum ist es zwar sehr tapfer, aber noch vielmehr klug von ihm, daß er sich so fest vorgenommen hat, niemals, und würde er auch noch so sehr zu ihr gedrängt, eine Lüge zu sagen.“ „Aber wenn er sich nun durch sie das Leben retten kann? Sein Leben gehört doch nicht ihm allein, sondern auch mir und seinem Vater und uns allen. Er hat alles, alles zu thun, um es sich und uns zu erhalten!“ „Giebt es irgend eine Lüge, von der er ganz bestimmt voraussagen könnte, daß sie es ihm retten werde?“ „Da fragst du mich zu viel, Effendi. Es ist ja bei [439] jeder Lüge möglich, daß sie sofort erkannt und durchschaut wird.“ „Sehr richtig! Und wird sie durchschaut, so verschlimmert sie nur die Lage. Sie verzehnfacht das Mißtrauen und verstärkt die Gefahr, die man durch sie vermeiden will. Das ist aber noch das Geringste, was ich gegen sie zu sagen habe. Die Lüge, auch die Notlüge, ist eine Mörderin. Sie tötet die Selbstachtung. Und geradezu fürchterlich ist es, daß der Lügner gar nicht bemerkt, daß er diesen Selbstmord fortgesetzt an sich begeht. Grad er setzt gern und stets den höchsten Trumpf auf seine Ehre. In Wirklichkeit aber fühlt er gar wohl, daß sie ihm vollständig fehlt. Das macht ihn ungewiß und mißtrauisch gegen andere. Der Glaube an sie geht ihm verloren. Er verliert das Vertrauen zur Menschheit durch seine eigene Schuld, durch seine eigene Lügenhaftigkeit. Er hat das moralische Band, welches ihn mit allen vereinigte, freventlich zerrissen und muß an jedem Augenblicke gewärtig sein, als rechtsloser Mensch, als Ausgestoßener behandelt zu werden.“ „Wie du das sagst, o Effendi, klingt es schlimm!“ „Jawohl! Aber auch das ist noch das Schlimmste nicht. Das Allerschlimmste an der Lüge sind die fliegenden Samen.“ „Fliegende Samen? - Wie meinst du das?“ „Es giebt Pflanzen, welche, wenn sie ausgeblüht haben, in ihren Kronen hunderte von kleinen, leichten Körnchen erzeugen, die alle mit einem weißen, federfeinen Schirmchen versehen sind. Ein jeder Lufthauch, der so ein Schirmchen faßt, nimmt den daran befindlichen Samen mit sich fort, und da, wo er ihn fallen läßt, entsteht eine neue Pflanze. So ein Gewächs kann durch diese Art der Verbreitung in kurzer Zeit für eine ganze Gegend [440] verderblich werden. Das Unkraut verbreitet sich so, daß es nur mit der größten Anstrengung wieder auszurotten ist.“ „Und so thut es auch die Lüge?“ „Ja. Sie ist grad dann am gefährlichsten, wenn sie nicht entdeckt wird, wenn der Lügner seinen Zweck erreicht hat, wenn die sogenannte Notlüge die Not scheinbar beseitigt hat. Da gedeiht die Lüge in größter Heimlichkeit. Niemand sieht sie stehen. Niemand vernichtet sie. Nur der Lügner kennt sie. Er pflegt und hegt sie. Er sorgt dafür, daß kein Mensch sie bemerkt. Er sieht darauf und freut sich darüber, daß alle ihre Folgen und alle ihre Samen sich entwickeln. Sind diese Folgen reif, so bleiben sie nicht an Ort und Stelle; sie werden fortgetragen. Oft nicht weit, oft aber auch in große Ferne. Dort lassen sie sich nieder und beginnen zu wachsen und sich zu vermehren. Die Lüge treibt tausend neue Blüten, die alle, alle wieder Lügen sind, deren Samen dann weitergetragen werden, hierhin und dorthin, in Masse aber besonders auch wieder dorthin zurück, wo die erste stand und so gute Pflege fand. Der Same dieser ersten fiel auch in die Nähe. Er fand den besten Boden. Er wuchs und wuchs und brachte immer neue Pflanzen. Der Lügner hat, nachdem ihm die erste Lüge gelang, nicht wieder nachzusehen. Jetzt kommt er hin und sieht zu seinem Schreck, daß seine Unwahrheit zum Unkraut geworden ist, welches alles Gute überwuchert. Die Nachbarn werden laut, die ferner Wohnenden auch. Man fragt; man forscht, und man entdeckt die Herkunft dieses Uebels. Da ist es nun um ihn für alle Zeit geschehen. Verstehst du mich, Hanneh?“ „Beinahe,“ antwortete sie. „Ja, das Unkraut kann man freilich stehen sehen, die Lüge aber nicht, weil sie keinen Körper hat. Aber [441] ihr Gift verpestet nicht bloß die Gedanken, sondern auch die Worte und Thaten, und diesen ist es deutlich anzumerken, daß sie bei Lug und Trug entstanden sind. Man nennt die Lüge einen häßlichen Schandfleck an dem Menschen; aber sie ist noch mehr: Sie ist die Mutter aller Uebel, die es giebt. Es giebt wohl keine Missethat, welche nicht durch die Lüge vorbereitet oder wenigstens begleitet wird. Hanneh, meine Freundin, ich sage dir, daß Kara recht gehandelt hat, als er die Wahrheit sagte. Oder glaubst du, daß man einer Lüge geglaubt hätte?“ „Wahrscheinlich nicht.“ „Ganz gewiß nicht! Er kam aus der Gegend der Dschamikun. Wäre er so feig gewesen, sie zu verleugnen, so wäre das Mißtrauen der Perser für ihn schädlicher geworden als die Wahrheit, die er ihnen so offen und ehrlich sagte. Sie nannten ihn dieses Mutes wegen „toll“. Sie hielten ihn für einen unbedachtsamen, leichtsinnigen Menschen, mit dem sie leichtes Spiel zu haben glaubten. Nur darum unterließen sie jene Vorsichtsmaßregeln, welche sie im andern Falle ganz gewiß getroffen hätten. Der Scheik der Kalhuran hat es vor allen Dingen der Wahrheitsliebe Karas zu verdanken, daß er gerettet worden ist. Eine Notlüge aber hätte diese Rettung höchst wahrscheinlich ganz unmöglich gemacht. Oder meinst du, hieran noch zweifeln zu müssen, wie du vorhin thatest?“ „Nein. Du hast mir ja bewiesen, daß ich unrecht hatte. O, Sihdi, ich bin keine Lügnerin; gewiß bin ich das nicht; aber so häßlich und so schädlich, wie du es jetzt beschrieben hast, habe ich mir die Lüge doch nie gedacht. Ich habe mich stets vor ihr gehütet, denn ich war zu stolz, mich mit ihr abzugeben; nun aber ist sie für mich ebenso wie für Kara, meinen Sohn, zur Unmöglich- [442] keit geworden. Man töte mich; aber lügen werde ich nie! Geschlagen, geprügelt ist der Scheik der Kalhuran worden! Und dann die lange Flucht! Der schnelle Ritt! Die Sorge, angegriffen zu werden! Die Angst, nicht um sich, aber um sein Weib! Was muß er ausgestanden haben! - Hat er geklagt?“ „Nein,“ antwortete Kara. „Sein Weib erwähnte einmal seine Schmerzen; da gebot er ihr aber, zu schweigen. Er hat fürchterlich gelitten. Hier aber brach er endlich zusammen. Die Menschenkraft war zu Ende. Er ist ein Mann!“ „Hier findet er die Pflege, die ihm nötig ist. Aber wird er vor der Rache sicher sein?“ „Ganz gewiß, so lange er sich hier befindet.“ „Denkst du, mein Sohn, daß die Soldaten ihm bis hierher folgen werden?“ „Sie kamen hinter uns über den Sand; dann aber verloren wir sie aus den Augen. Tifl hat sie unten angemeldet. Wenn sie kommen, werden sie niemand überraschen. Aber es ist so still im hohen Hause, was wohl nicht der Fall wäre, wenn man sie hier erwartete.“ „Du irrst, Kara,“ sagte ich. „Siehst du die beiden Männer, welche da unten die Fackeln an die Pfähle stecken? Man will den Vorplatz erleuchten. Warum? Und schau! Jetzt schafft man unsere Pferde fort, nach dem Garten, hinter welchem die Weide liegt. Man braucht also den Platz. Für wen?“ Kara und Hanneh hatten nicht auf diese Umstände geachtet. Mir aber fielen sie auf, obwohl es jetzt so dunkel geworden war, daß man die da unten sich bewegenden Gestalten kaum noch erkennen konnte. Da kam der Pedehr mit Tifl durch die Halle. Sie traten heraus zu uns. [443] „Also eile hinab, und sage es!“ Auf diese Worte des Ersteren sprang „das Kind“ die Stufen hinunter, um sich nach dem Dorfe zu begeben. Der Pedehr reichte Kara die Hand und sprach: „Ich habe so Gutes über dich gehört. Du hast einen Freund von uns und eine Tochter unseres Stammes gerettet. Ich danke dir! Der Platz hier vor euch wird sich in kurzer Zeit sehr beleben. Bleibt hier! Was auch geschehe, ihr könnt ganz ruhig sein. Der Haß ist bei der Liebe eingedrungen. Er wird sich ihr ergeben müssen. Sie hat ihn nicht zu fürchten, denn ihre Stärke ist stets größer als die seine.“ Ich fragte ihn nach dem Befinden des Kalhuran. „Er bedarf der besten Pflege,“ antwortete er. „Sein Unterkleid klebt am gänzlich wunden Leibe. Es mußte mit ihm sogleich in das Bad gelegt werden, damit es sich von dem aufgesprungenen Fleische löse. Aber er ist stark. Vom Wundfieber kann ich ihn nicht befreien, doch dann wird er, wie ich hoffe, schnell genesen.“ „Und sein Weib? Dieser Schreck! Dann die Anstrengung des Rittes! Die Aufregung wird sie aufrecht gehalten haben. Aber nun? Wie geht es ihr?“ „Sie ist ein rüstiges Weib: du brauchst keine Sorge um sie zu haben. Aber unser Ustad war sehr betrübt über sie.“ „Warum?“ „Das fragst du mich? Habe ich dir nicht mitgeteilt, daß ein Dschamiki niemals Menschenblut vergießt? Sie wird bestraft!“ Ich sah ihn ungläubig an. „Ja,“ nickte er ernst; „sie wird bestraft! Das Leben des Menschen ist nicht bloß das, als was es von dem Durchschnittsmanne betrachtet wird. Es ist etwas ganz [444] Anderes. Es ist mehr, viel mehr als bloß ein Existieren auf der Erde, welches mit der Geburt seinen Anfang und mit dem Tode sein Ende nimmt. Ja, es ist sogar auch mehr als bloß ein Irgendwoherkommen zu der Erde und dann ein Irgendwohingehen von der Erde! Es hat nämlich einen Zweck! Und wenn dieser Zweck durch irgend einen unglückseligen Umstand, sei es, wie hier, durch eine tötende Hand, nicht erreicht wird, so wird nicht nur das augenblickliche Leben, die gegenwärtige Existenz vernichtet, sondern mit ihr auch alles, was seit Anbeginn bis heut vorhanden war und unter unendlichen Kämpfen sich entwickelte, um diejenige Form des Daseins zu erreichen, welche nun von der verbrecherischen That zertrümmert worden ist. Muß da nicht selbst die größte, die höchste Liebe als strafende Gerechtigkeit eingreifen?“ Als er dies sagte, stellte ich mir die Scene vor, welche dem Muhassil das Leben gekostet hatte. Was hätte wohl ich an der Stelle des Gepeitschten gethan? Und seine Frau! Wie mußte der Anblick der fürchterlichen Schande, die man ihm anthat, ihre ganze Natur empören! Sie handelte unter der Einwirkung des Augenblickes, und weil dieser Augenblick ein blutiger war, so sprang auch das, was sie that, als Erzeugnis des Momentes blutigrot gefärbt aus ihr hervor. „Du sprichst von Strafe,“ sagte ich. „Meinst du damit auch Hafis Aram selbst?“ „Nein. Er ist ein Kalhur. Ihn haben wir nicht zu richten.“ „Gehört sein Weib noch zu eurem Stamm?“ „Ja. Die Dschemma1) [1) Versammlung der Aeltesten.] der Dschamikun wird zusammentreten, um das Urteil zu fällen.“ [445] „Wer wird der Vorsitzende dieser Versammlung sein?“ „Ich.“ „Nicht der Ustad?“ „Nein. Er ist der geistliche Scheik des Stammes. Für weltliche Angelegenheiten bin ich es.“ „Darf ich der Dschemma beiwohnen?“ „Wir werden dich sogar auffordern, es zu thun.“ „Darf ich mitsprechen?“ „Ja, denn du bist als unser Gast ein Dschamiki, und wenn wir dich rufen, beizuwohnen, so haben wir dich damit als würdig anerkannt, das Vorrecht der Aeltesten mit uns auszuüben.“ „So bitte ich, die Angeklagte verteidigen zu dürfen!“ „Du darfst es; jeder von uns darf es, denn welcher gerechte Richter könnte nur Ankläger und nicht zugleich auch Verteidiger sein? Uebrigens hat sich ein besonderer Verteidiger bereits gemeldet.“ „Wer?“ „Der Ustad.“ „Von dem du aber sagtest, daß er über die Angeklagte und das, was sie that, betrübt sei!“ „Diese seine Betrübnis wird der Verteidigung nicht den geringsten Eintrag thun. - Da schau! Sie kommen!“ Man hörte die Schritte vieler Leute, welche zum Thore hereinkamen. Ich konnte zwar nicht die einzelnen Gestalten unterscheiden, aber ich sah, daß es ihrer viele, ja sogar sehr viele waren. Der Pedehr ging zu ihnen hinab. Ich vernahm aus dem Tone seiner Stimme, daß er ihnen kurze, sehr bestimmte Weisungen erteilte. Dann zerstreuten sie sich nach allen Seiten; wohin, das war in der abendlichen Dunkelheit nicht zu erkennen. Hierauf wurden die Fackeln angezündet. Nun war der Platz in der Weise erhellt, daß man deutlich sehen [446] konnte, was auf ihm vorging. Jetzt war er leer. Nur Tifl allein stand da. Er kam bis an die unterste Stufe herbei und sagte zu uns herauf: „Sie kommen!“ „Wer?“ fragte Kara. „Die Soldaten.“ „Doch nicht etwa alle?“ „Alle! Man hat sie ruhig durch den Duar reiten lassen. Kein Mann ist ihnen begegnet. Die Häuser waren verschlossen. In den Zelten gab es nur einige Frauen, welche ganz genau wußten, wie sie sich zu verhalten und welche Auskunft sie zu geben hatten. Diese Perser werden sich wundern. Sie glauben, es kurz mit uns machen zu können; wir aber werden mit ihnen noch viel kürzer sein. Unser Pedehr hat nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist. Da kehrt er zurück.“ Der Genannte kam von der dem Garten entgegengesetzten Seite des Hauses her, wo ich das Thor mit den uralten Säulenpfosten gesehen hatte. „Ich war im Gefängnisse,“ sagte er, indem er die Treppe halb erstieg und sich dort auf eine der Stufen niedersetzte. „Es giebt hier bei euch ein Gefängnis?“ fragte ich verwundert. „Für uns nicht, denn wir brauchen keins. Aber für Fälle wie den, der sich jetzt ereignen wird, sind Räume für unwillkommene Gäste vorhanden, deren wir uns entledigen wollen.“ „Die Soldaten sollen gefangen genommen werden?“ „Ja.“ „Und wenn sie sich wehren?“ „Dazu finden sie gar nicht Zeit. Ich höre ihre Pferde. Sie sind also schon in der Nähe und werden sogleich dort an dem Thore erscheinen.“ [447] Wir schauten hin. Zunächst sahen wir zwei Frauen, welche sich von den Persern sehr freiwillig hatten zwingen lassen, ihnen den Weg hier herauf zu zeigen. Sie eilten sofort nach dem Garten, in welchem sie verschwanden. Hierauf kamen die Offiziere, nämlich der Suari jüzbaschysy1) [1) Rittmeister.], der Mülazim ewwel2) [2) Oberleutnant.] und ein Mülazim sani3) [3) Unterleutnant.]. Der letztere hatte bei der Jagd auf Hafis Aram den Paß des Kurirs zu bewachen gehabt, und darum hatten Kara und Tifl ihn noch nicht gesehen. Hinter diesen Dreien folgten die Kavalleristen, denen die helle Beleuchtung des Vorplatzes gar nicht aufzufallen schien. Auch wurde es von keinem von ihnen beachtet, daß, als sie alle herein waren, irgend jemand hinter ihnen das Thor zumachte. Sie waren, ohne den geringsten Widerstand gefunden zu haben, durch den ganzen Duar geritten und glaubten nun, hier oben auf dieselbe Ergebung in das Unvermeidliche zu treffen. Die Dschamikun waren ihnen als Leute geschildert worden, welche den Frieden liebten und so viel wie möglich jede Streitigkeit vermieden. Es mußte ja leicht sein, so unkriegerischen Menschen einen solchen Schreck einzujagen, daß sie sich in alles fügten, was man von ihnen verlangen wollte. Hierzu stimmte der Umstand ganz besonders, daß man nicht die geringste Vorbereitung zum Widerstande bemerkte, sondern nur einige Personen sah, welche auf der Treppe saßen und auch ganz ruhig sitzen blieben. Außerdem stand nur Tifl noch unten an den Stufen. Die Kavalleristen ritten in einer geraden Reihe auf und bildeten dann gegen die Treppe Front. Die Offiziere kamen bis nahe an dieselben hin und stiegen da von ihren Pferden. Als hierbei der Oberleutnant „das Kind“ erblickte, rief er, sich an den Rittmeister wendend, aus: [448] „Da steht der lange Kerl, der Halunke, der mit dabei war! Soll ich ihm Fesseln anlegen lassen?“ Der Angeredete warf einen Blick auf Tifl und auf dessen Umgebung und antwortete dann in verächtlichem Tone: „Fesseln? Wie überflüssig! Wir haben ja das ganze Haus mit allem, was da wohnt, in unserer Gewalt!“ „Und da - - da - -“ fuhr der Oberleutnant fort, indem er auf Kara zeigte, „da neben dem Weibe sitzt auch der Andere, der bei dem Langen war!“ „Laß ihn sitzen! Auch er ist unser. Du siehst ja, daß sich die Kerle vor Angst gar nicht zu regen wagen. Wenden wir uns zunächst an den Alten da!“ Er meinte den Pedehr. Er trat bis an die letzte Stufe heran und richtete die Frage an ihn: „Du bist ein Dschamiki?“ „Ja,“ antwortete der Gefragte, ohne aufzustehen. „In diesem Hause wohnt der Mann, den ihr den Ustad zu nennen pflegt?“ „Ja.“ „Hole ihn!“ „Das ist unnötig.“ „Warum?“ „Er wird nicht kommen.“ „Ich befehle es ihm!“ „Du - - - du - - -?“ Dieser Frage wurde ein so ganz eigenartiger Ton gegeben, daß der Rittmeister darauf verzichtete, seinem „Befehle“ Nachdruck zu verleihen. Er fuhr vielmehr, sich zu erkundigen, fort: „Es giebt hier einen alten Schech el Beled1) [1) Oberhaupt des Dorfes.], welcher Pedehr genannt wird?“ [449] „Ja. Aber er ist nicht bloß Schech el Beled.“ „Was noch?“ „Er läßt sich nur von den Bewohnern dieses Gebietes Pedehr nennen, weil er sich als den Vater dieser seiner Kinder betrachtet. Für jeden Fremden aber, also auch für dich, ist er Schir Alamek Ben Abd el Fadl Ibn ilucht Marah Durimeh1) [1) Schir Alamek, Sohn des Abd el Fadl, des Schwestersohnes von Marah Durimeh.], der Scheik der Dschamikun vom freien Volke der Bachtijaren.“ Als ich das hörte, erstaunte ich, denn ich hatte nicht ahnen können, daß er ein Großneffe meiner herrlichen Marah Durimeh sei. Warum hatte er mir das nicht gesagt? Auf den Rittmeister machte diese Mitteilung freilich einen ganz andern Eindruck. Er rief lachend aus: „Welch ein Name! Wer kennt Abd el Fadl, und wer kennt diese Marah Durimeh! Ich kenne nicht einmal diesen Schir Alamek! Kann ein Löwe der Sohn der Güte sein? Lächerlich!“ Abd el Fadl heißt nämlich „Diener der Güte“. Schir heißt Löwe und ist in jenen Gegenden ein Ehrentitel, den man sich durch bewiesene Furchtlosigkeit erwirbt. Der Offizier fuhr fort: „Ich habe mit dem Besitzer dieses langen Namens zu sprechen. Rufe ihn!“ „Auch das ist unnötig,“ antwortete der Pedehr. „Warum?“ „Ich bin es.“ „Ah! Du?“ Er betrachtete ihn in zudringlich übelwollender Weise und fügte dann in befehlendem Tone hinzu: „Steh auf! Ich komme im Namen des Schah-in-Schah. Man hat mich nicht sitzend zu empfangen!“ [450] „Nimm diesen deinen Wunsch zurück!“ „Es ist kein Wunsch, sondern ein Befehl!“ „Hier hat niemand zu befehlen, als nur ich allein! Und so befehle ich dir, mir zu beweisen, daß du im Namen des Schah-in-Schah zu uns gekommen bist!“ „Ich bin sein Offizier!“ „Das ist kein Beweis. Hast du eine Schrift, von der eigenen Hand des Beherrschers unterzeichnet?“ Da schlug der Offizier an seinen Degen und rief: „Ich brauche keine Schrift von ihm! Ich schreibe meine Befehle selbst, und dieser Säbel hier ist meine Feder. Paß auf, was gleich geschehen wird!“ Er drehte sich nach seinen Leuten um und gab ihnen den Befehl zum Absitzen. Sie gehorchten. Nun ließ er sie zu Fuß so weit vorrücken, daß ihre Linie ihn beinahe erreichte. Es war also zwischen ihnen und ihren Pferden ein Zwischenraum entstanden. Jetzt wendete er sich dem Pedehr wieder zu und sprach zu ihm weiter: „Du siehst, welchen Nachdruck ich meinen Befehlen geben kann. Weißt du, warum wir kommen?“ „Ja.“ „Steh auf, sage ich! Man hat sich zu erheben, wenn ich spreche. Das hörtest du bereits!“ „Und du hast bereits gehört, daß ich dich warnte, an diesem Wunsche festzuhalten!“ „Eine Warnung? - Warum?“ „Sobald ich mich erhebe, hast du dich zu erniedrigen!“ „Du redest irre!“ „Irre? Wohlan, so sollst du sehen, wer sich irrt. So lange ich noch sitze, scheinst du der Herr zu sein; sobald ich mich erhebe, bin ich es in der That. So war es verabredet. Du willst es haben. Gut, ich thue es!“ Er richtete sich auf und gab mit dem emporgehobenen [451] Arm ein Zeichen. Was hierauf folgte, ist nicht so schnell zu erzählen, wie es geschah. Die bisher versteckt gewesenen Dschamikun kamen nämlich infolge dieses Winkes von allen Seiten herbei. Sie füllten im Momente den ganzen Zwischenraum zwischen den Reitern und den Pferden aus. Sie warfen sich auf die ersteren, um sie zu entwaffnen. Sie waren ihnen an Zahl so überlegen, daß Widerstand eine Albernheit gewesen wäre. Auch wirkte die Plötzlichkeit dieses Ueberfalles so verblüffend, daß den Persern die Waffen entrissen waren, noch ehe sie sich entschlossen hatten, selbst nach ihnen zu greifen. Und das geschah von seiten der Dschamikun ohne allen Lärm, ohne jedes Geschrei, in vorher anbefohlener Schweigsamkeit. Die Kavalleristen freilich waren nicht ebenso still. Sie brüllten und fluchten; sie wollten dreinschlagen, um wenigstens mit den Fäusten nun das Versäumte nachzuholen. Aber bei jedem Einzelnen von ihnen standen mehrere Dschamikun, welche die ihm entrissenen Waffen drohend auf ihn richteten. Es gab nur noch eine kleine Weile ein Hin- und Herwogen zusammengedrängter Gestalten, einen vereinzelten Ruf, eine zornige Verwünschung; dann trat auf dem Vorplatze eine Ruhe, eine Stille ein, als ob die auf ihm stehende Menge nur aus friedlich gesinnten Menschen bestehe. Auch bei uns an der Treppe spielte sich die Scene mit außerordentlicher Schnelligkeit ab. Kaum war der Pedehr aufgestanden, so sprang Tifl zu den Offizieren heran, riß dem Suari jüzbaschysy und dem neben ihm stehenden Mülazim sani die Pistolen aus den Gürteln, richtete eine von ihnen auf sie und rief drohend: „Bewegt euch nicht, sonst schieße ich!“ Kara war zwar in das, was geschehen sollte, nicht eingeweiht, doch begriff er augenblicklich, um was es sich handelte. Er schnellte sich von seiner Mutter weg, die [452] Stufen herunter und auf den Mülazim ewwel, bemächtigte sich seiner Pistole, hielt sie ihm vor die Brust und sagte: „Nicht ihr hattet uns, sondern wir haben euch; ich sagte es dir! Rühre dich nicht, wenn du nicht willst, daß ich schieße!“ Die drei vorher so siegesbewußten Offiziere wagten nicht, zu widerstreben. Es war eine Ueberraschung sondergleichen, welcher sie und alle ihre Untergebenen jetzt verfallen waren. Der Pedehr stand hoch aufgerichtet an seinem Platze und überschaute den Erfolg. „Führt sie ab!“ gebot er mit lauter Stimme. „Es wird keinem etwas geschehen; nur der, welcher sich weigert, wird sofort erschossen!“ Da setzten sich die untenstehenden Gestalten in Bewegung, hin nach dem alten Thore zu, welches jetzt weit offen stand. Es ging zwar langsam, aber mit ununterbrochener Regelmäßigkeit. Man hatte gehört, daß man an Leib und Leben nichts zu fürchten habe; das beruhigte jedes etwa noch vorhandene Bedenken; man fügte sich. Es verschwand ein Perser nach dem andern in dem Raume, welchen der Pedehr vorhin als Gefängnis bezeichnet hatte. Er sah jetzt die drei Offiziere lächelnd an. „Schnallt eure Säbel ab, und übergebt sie Tifl!“ gebot er ihnen, indem er auf „das Kind“ deutete. Sie gehorchten, ohne ein Wort zu sagen. „So!“ sprach er. „Jetzt habt ihr gesehen, was es heißt, wenn man es wagt, von dem Scheike der Dschamikun zu verlangen, sich vor einem unwillkommenen Menschen von seinem Sitze zu erheben. Nun steht ihr so vor mir, wie es sich für solche Leute schickt und ziemt. Ich kann mich also wieder setzen, Kara und Tifl neben mir. Die Eindringlinge aber bleiben stehen!“ Er ließ sich auf seinen vorigen Sitz nieder. Die [453] beiden Genannten nahmen bei ihm Platz, der bescheidene Tifl eine Stufe tiefer. „Ich stehe nicht, sondern ich gehe!“ rief der Rittmeister zornig aus. „Wohin?“ fragte der Pedehr. „Fort!“ „Wenn du deine Leute im Stiche lassen willst, so kannst du es ja thun. Ich halte dich nicht, sondern ich erlaube dir, ‚im Namen des Schah-in-Schah‘ feig die Flucht zu ergreifen. Es werden zwei meiner Dschamikun mitgehen, um dich zum Duar hinauszuführen. Das Zurückkehren ist dir dann streng verboten!“ „Mitgehen?“ „Ja.“ „Du meinst, mitreiten!“ „Nein, du wirst laufen.“ „Fällt mir nicht ein!“ „Versuche doch, es zu ändern! Wer bewaffnet die Grenze der Dschamikun überschreitet, ohne unsere Erlaubnis zu besitzen, der ist uns mit allem, was er bei sich hat, verfallen. Es ist eine Gnade von mir, wenn ich dir die Freiheit schenke. Pferd und Waffen gehören uns. So lautet der Vertrag, den der Beherrscher mit unserm Ustad eingegangen ist. Ihr erklärtet unsere vier Pferde für eure Beute, obwohl euch von ihren Reitern nichts geschehen war. Ihr aber kamt in schlimmer Absicht zu uns; ihr wagtet es, die Herren zu spielen, mir hier befehlen zu wollen. Es ist ganz folgerichtig, daß nun wir von Beute sprechen. Der einzige Unterschied ist, daß alle eure Gäule zusammen nicht so viel wert sind wie ein einziges von unsern edlen Tieren.“ „Was wir besitzen, gehört nicht uns, sondern dem Schah-in-Schah!“ behauptete der Rittmeister. [454] „Auch alles, was ihr den Kalhuran raubtet? Ihr habt es wieder herzugeben. Man wird eure Taschen untersuchen, eure Kleider, alles, was ihr bei euch habt. Ich lasse Kalhuran kommen, welche dies thun. Ihre Herden, die ihr für euer Eigentum erklärtet, werdet ihr ihnen nun wohl lassen müssen, denn der Muhassil ist tot, und vor seinen Soldaten, welche, wenn ich sie freigegeben habe, sich ohne Pferde und Waffen von Mitleid zu Mitleid betteln müssen, braucht sich niemand mehr zu fürchten!“ Die Offiziere sahen einander betroffen an. Das hatten sie nicht erwartet! Und nun, grad jetzt, geschah etwas, aus dem sie erkannten, daß es dem Pedehr sehr ernst mit seinen Worten war. Nämlich die Dschamikun hatten ihre Gefangenen untergebracht. Eine bestimmte Anzahl von ihnen war zu deren Bewachung beordert. Andere verbreiteten sich über den Platz, um zum Dienste des Pedehr bereit zu sein. Die übrigen aber setzten sich, als ob dies etwas ganz Selbstverständliches sei, auf die Soldatenpferde und ritten auf oder mit ihnen zum Thore hinaus und nach dem Dorfe hinunter. Das war natürlich alles vorher so bestimmt worden. Es bedurfte hierzu weder eines Befehles noch irgend einer Frage. Dennoch aber hatte der Pedehr bei der Entwerfung seines Verteidigungsplanes einen großen Fehler, eine Unterlassungssünde begangen. Er hatte etwas nicht mit in Betracht gezogen, was von einer andern und zwar höchst wichtigen Person für ungeheuer wesentlich gehalten wurde. Diese Person war unsere vortreffliche Pekala. Eben als der letzte der Dschamikun zum Thore hinausgeritten war, leuchtete vom Garten her das weiße Gewand der „Festjungfrau“ in unseren Augen. Sie nahte sich der Treppe, langsam, zögernd, jetzt bedachtsam [455] überlegend, ob sie ihre Absicht ausführen dürfe, dann aber wieder einige sehr energische Schritte vorwärts machend. Das erregte unser aller Aufmerksamkeit. Tifl stand von seinem Sitze auf und fragte ihr entgegen: „Suchst du vielleicht mich, meine gute Pekala?“ Da kam sie schnell vollends herbei und antwortete: „Nicht nur dich, sondern euch alle.“ Sich hierauf an den Pedehr besonders wendend, fuhr sie in klagendem Tone fort: „Was habe ich dir getan, o Pedehr, daß du mich heut so ganz vergessen hast? Ich möchte meine Augen in Thränen baden, ganz so, wie mein Herz in Wehmut und Jammer gebadet ist!“ „Warum denn solches Herzeleid?“ fragte er lächelnd. „Es läuft mir alles über!“ „So laß doch das Feuer kleiner werden!“ „Dann wird sie zu dick; sie dämpft mir ein!“ „Wer?“ „Die Suppe!“ „Ah, die Suppe! Liebe Pekala, die ist jetzt Nebensache. Laß das Feuer ausgehen!“ Da schlug sie die kleinen, fetten Hände zusammen, daß es nur so klatschte, ließ das Weiße ihrer Aeuglein sehen und rief im Tone fachmännischer Entrüstung aus: „Das Feuer ausgehen! Da erkaltet sie mir doch zu Kleister, den ich durch keine Hitze wieder genießbar machen kann! Sie war zur Zeit des Abendessens fertig, denn ich hatte mir die größte Mühe gegeben, weil grad der Frenk maidanosu die allergrößte Pünktlichkeit verlangt. Ich richtete alles mit der größten Liebe vor. Ich freute mich auf die Bewunderung meines gelungenen Werkes. Und nun stehe ich ganz allein in meiner Küche, welche die überflüssigsten Wasserdämpfe weint, und kein Mensch [456] hat Zeit und Lust, zu genießen, was ich mit meiner größten Kunst für alle, die ich ernähren muß, bereitet habe!“ „Das ist nicht zu ändern, meine gute Pekala. Wir haben an Wichtigeres als an deinen Frenk maidanosu zu denken!“ „Wichtigeres? Du scherzest, o Pedehr! Mein Kerbel wurde gepflückt, noch ehe an die Soldaten zu denken war; er geht ihnen also vor! Er muß gereinigt, gewaschen, geschnitten, gewiegt und gekocht werden; sie aber bleiben, wie sie sind; er geht ihnen also vor! Wenn er zu lange in der Hitze steht, so verdirbt er, weil er seinen Wohlgeschmack verliert; an den Soldaten aber ist überhaupt nichts mehr zu verderben; er geht ihnen also vor. Tifl hat gewußt, daß es Kerbelsuppe giebt; Kara Ben Nemsi hat es gewußt; Kara Ben Halef hat es erfahren; Hanneh, seiner Mutter, habe ich es sagen lassen; durch das ganze Haus ist diese beglückende Nachricht gegangen, und nun sie, die heiß Ersehnte und wunderbar Gelungene fertig ist, bin ich allein anwesend, um ihren Triumph zu feiern, während ihr die Schande angethan wird, die Verachtung aller Abwesenden zu erfahren. Ich bin entrüstet, o Pedehr! Ich habe nicht verdient, daß ich grad so entwaffnet und grad so verächtlich behandelt werde wie diese drei jammervollen Sklaven des Muhassil, welche so weinerlich vor dir stehen, als ob der letzte Rest ihres Mutes im Begriffe stehe, vor lauter Herzensangst grad so wie meine Kerbelsuppe aus dem Topfe herauszulaufen! So! Das war es, was ich dir sagen wollte. Und nun entscheide du jetzt, wer wichtiger ist, mein Frenk maidanosu oder sie!“ Die verächtliche Handbewegung, welche sie den Offizieren hinüberwarf, konnte gar nicht geringschätzender sein. Sie schickte ihnen noch einen, ihrer Ansicht [457] nach vollständig vernichtenden Blick zu, ließ dann die Augenlider entrüstet niederfallen und wendete sich hierauf in einer Weise von ihnen ab, als ob diese Leute gar nicht mehr für sie vorhanden seien. Vorhin hatte der Pedehr über Pekala gelächelt; jetzt aber war sein Gesicht sehr ernst geworden. Hatte er etwa das gleiche Gefühl mit mir? Er war jedenfalls geneigt gewesen, die drei Perser als Offiziere zu behandeln. Grad als Pekala erschien, hatte er im Begriffe gestanden, eine mehr oder weniger eingehende Aussprache mit ihnen herbeizuführen. Aber waren sie das wert? Gab es bei ihnen überhaupt eine ethische Frage, an welche er anzuknüpfen, auf welche er einzugehen, die er mit ihnen zu behandeln hatte? Ich gestehe, daß ich selbst auch ebensowenig wie er hieran gedacht hatte. Da wurde diese geistig einfache und bescheidene „Festjungfrau“ von der Sorge um ihren gefährdeten Frenk maidanosu herbeigeführt, um uns in ihrer drastischen Weise die „Herren Offiziere“ derart wahrheitsgetreu zu zeichnen, daß wir uns der Wirkung ihrer Strafrede nicht entziehen konnten. Der Pedehr stand auf und rief einige Namen über den Platz hinüber. Die genannten Dschamikun kamen herbei. „Führt diese drei Männer auch fort!“ gebot er ihnen. „Wohin?“ fragte der Rittmeister. „Zu euren Leuten.“ „Zu ihnen? - Wir sind Offiziere!“ „Ja; ihnen in allem Bösen voran! Fort mit euch!“ „Du wolltest uns ja gehen lassen!“ „Ihr seid aber nicht gegangen. Fort!“ Um nicht von den Fäusten der Dschamikun zum Gehorsam gezwungen zu werden, ergaben sie sich in das [458] Unvermeidliche und schritten unter deren Bedeckung dem mehrfach erwähnten Thore zu. „Nun, Pekala?“ fragte der Pedehr, indem sein früheres Lächeln wiederkehrte. „O mein guter, guter Pedehr!“ antwortete sie. „Bist du zufriedengestellt?“ „Grad so sehr, wie ich dich und euch alle zufriedenstellen werde. Ich danke dir! Die Kerbelsuppe wartet nur noch auf den letzten, verklärenden Guß des kochenden Wassers. Ich eile, ihn ihr beizubringen!“ Schon wollte sie fort. Da kam ihr ein Gedanke. Sie sprang mehr, als sie stieg, die Stufen zu mir herauf, neigte sich mir mit wichtiger Miene zu und fragte: „Giebst du mir nun recht, Effendi?“ „Worin?“ fragte ich. „Daß die Männer alle noch der Erziehung bedürfen?“ „Hm!“ „Sogar - - - aber das sage ich ganz leise, und du verschweigst es ihm - - - sogar zuweilen auch unser Pedehr?“ „Hm!“ „Du sollst nicht bloß brummen, sondern mir eine deutliche Antwort geben!“ „Wenn dein Frenk maidanosu gut ist, bekommst du sie, sonst aber nicht.“ „So ist sie mir gewiß. Ich fliege nach meiner Küche!“ Und sie flog! Ihre helle Gestalt schien den Boden nicht zu berühren, und die weißen Falten ihres Gewandes wehten wie Flügel hinter ihr. „Ihr werdet sie schon noch kennen lernen,“ scherzte der Pedehr. „Sie greift zuweilen derart in die Zügel der Regierung ein, als hätte sich jedermann, vom Ustad [459] an bis zum kleinsten Pferdehüter herab, als ihren ‚Tifl‘ zu betrachten. Wir aber sind damit gern einverstanden. Sie hat ein eigenes Gefühl für den rechten Augenblick.“ Diese seine letzteren Worte interessierten mich. Auch ich lernte während unsers Aufenthaltes im „hohen Hause“ Pekala von dieser Seite kennen. Es giebt glücklicherweise nicht wenige solcher Leute. Wohl dem Menschen und wohl auch seiner Umgebung, der, wie der Pedehr sich ausdrückte, „ein eigenes Gefühl für den rechten Augenblick“ besitzt! Aber was heißt das? Sind diese Worte der richtige, treffende Ausdruck für das, was sie eigentlich sagen sollen? Nein! Man bedient sich hierfür oft auch des Ausdruckes Instinkt; man sagt, daß derartige Personen instinktiv handeln. Aber was ist Instinkt? Naturtrieb! Was versteht man unter Natur? Man spricht auch von einer „geistigen Natur“. Was heißt „natürlich“? Körperliches, Geistiges, Seelisches kann „natürlich“ sein! War es eine Folge des Instinktes, des Naturtriebes, daß Pekala grad in dem Augenblicke bei uns erschien und dem Ereignisse eine so unerwartete Wendung gab, an welchem wir mit den drei Personen auf „dem toten Punkte“ standen? Gewiß nicht! Sie befand sich in ihrer Küche und wußte gar nicht, was hier bei uns gethan oder gesprochen wurde. Mancher bringt die Ahnung mit dem Instinkte in Verbindung. Hatte Pekala etwas geahnt? Nein! Auch pflegt man instinktiv und unwillkürlich gleichzustellen. Hatte Pekala die Küche unwillkürlich verlassen? War ihre Strafrede eine unwillkürliche Mitteilung? Auch nicht! Man beobachte die Personen, welche jenes „Gefühl für den rechten Augenblick“ besitzen! Man wird da oft von feinem Sinn, von Zartgefühl, von Takt und dergleichen sprechen; man wird das, was sie thun, ihrer besonderen Einsicht, ihrer [460] Unterscheidungsgabe, ihrer Scharfsichtigkeit zuschreiben; aber alle diese Ausdrücke sind unzureichend, und selbst wenn man das, was sie bedeuten, addieren könnte und dann die Summe prüfte, so würde man finden, daß dieses Exempel ein ganz falsches sei. Turenne sagte einst zu einem seiner Generale: „Ihr kommandiert nicht, sondern ihr werdet kommandiert!“ Ist die Ahnung für den „rechten Augenblick“ eine Thätigkeit von mir, oder wird sie mir gegeben? Ist es richtig, zu sagen, daß ich ahne, oder habe ich zu sagen, daß mir diese Ahnung irgendwoher komme? Ich handle unwillkürlich, also ohne Willkür, ohne Willen. Der Antrieb kommt nicht von mir. Von wem sonst? Jedenfalls von einer Seite, auf welcher es größere Einsicht giebt, als ich besitze! Und diese außer mir existierende und auf mich wirkende größere Klugheit soll ich als einen in mir vorhandenen Naturtrieb bezeichnen? Nein! Wer aber ist der Turenne, der mich im „rechten Augenblicke“ vorwärts kommandiert? Wie schaut er aus? Wo ist der erhabene Punkt, von welchem aus er, was ich denke, will und thue, dirigiert? Ist er jenes für uns leider noch so außerordentliche unbekannte Wesen, welches wir die „Seele“ nennen? Wenn diese Seele sowohl in uns als auch außerhalb von uns in der Weise thätig ist, daß beide Arten dieser Thätigkeit in innigem Zusammenhange miteinander stehen, so ist es erklärlich, warum wir die uns von außen her gegebene „Ahnung“ für eine innere Thätigkeit von uns selbst halten. Und es gilt hierbei, der Wahrheit gemäß zuzugeben, daß der Turenne da draußen unendlich mehr überschaut, als unser schwacher, blöder Blick erfassen kann. Das sind nicht etwa metaphysische Schlüsse, sondern sie gründen sich auf täglich sich wiederholende Vorkommnisse im Innern meiner vor aller [461] Augen existierenden Persönlichkeit. Wer nicht gelernt hat, die Vorgänge seines innern Lebens ebenso unausgesetzt wie scharf und unbefangen zu beobachten und zu vergleichen, dem wird es allerdings bequemlich sein, sehr vieles, was er nicht zu begreifen versteht, ganz einfach postlagernd nach dem Reiche des Uebersinnlichen zu adressieren, damit er, der physisch gern Bequeme, hinter seinem eigenen Schalter ruhig schlafen könne. - Als der Pedehr sich entfernt hatte, holte Tifl für Hanneh, Kara und mich ein niedriges Serir1) [1) Tischchen.] und brachte uns dann die von Pekala so energisch verteidigte Frenk maidanosu-Suppe, welche wir zusammen aßen. Dann ging ich schlafen, denn der heutige lange Aufenthalt in der ozonreichen, freien Luft hatte mich ermüdet. Als ich am nächsten Morgen erwachte, war Kara schon wieder ausgeritten, doch ohne Tifl, weil dieser durch verschiedene Besorgungen in Betreff der gefangenen Soldaten zurückgehalten wurde. Halef war einmal für kurze Zeit aufgewacht. Er hatte mit Hanneh gesprochen. Es waren zwar nur wenige Worte gewesen, aber so lieb und klar, daß die Gute sich ganz glücklich über diesen Fortschritt fühlte. Als Schakara mir das Frühstück brachte und ich mich nach dem kranken Scheik der Kalhuran erkundigte, antwortete sie: „Er befindet sich in guter Pflege, denn seine Frau weicht fast keinen Augenblick von seiner Seite. Unser Pedehr kennt eine gute Salbe, welche die Schmerzen der Wunden stillt. Hafis Aram wird wahrscheinlich nur wenige Tage das Lager zu hüten haben.“ „Wie steht es mit den Soldaten?“ „Sie stecken drüben im Gewölbe. Sie wollten uns [462] vorschreiben, wie sie zu behandeln seien, haben aber zur Antwort bekommen, daß man sich genau so zu ihnen verhalten werde, wie sie es verdienen. Man wird heute wohl einige von ihnen laufen lassen.“ „Einige?“ „Ja. Gäbe man sie alle zu gleicher Zeit frei, so könnten sie durch ihre große Zahl den zerstreuten Bewohnern des Gebirges schädlich werden. Darum wird man von Tag zu Tag nur wenige auf einmal freigeben, und auch diese werden zu Pferde nach so verschiedenen Richtungen über die Grenze gebracht, daß es ihnen gewiß schwer werden sollte, sich zusammenzufinden. Die Offiziere kommen zuletzt daran. Auch sind heut früh Boten ausgesandt worden, welche dafür zu sorgen haben, daß jedermann vor den etwa diebisch Herumstreifenden gewarnt werde. Wen man entläßt, dem wird vorher alles abgenommen, was ihm nicht zu gehören scheint. Man hat sie alle ausgesucht und da außerordentlich viel gefunden, was den Kalhuran von ihnen abgezwungen worden ist.“ „Diese sind natürlich auch benachrichtigt worden?“ „Gewiß! Das war ja das allererste, was gethan werden mußte! Sie brauchen nur zuzugreifen. Was man ihnen unter dem Vorwande der Steuern weggenommen hat, das wird nur von ein paar zurückgebliebenen Soldaten bewacht. Diese wird man einfach fortjagen. Sie sind fast alle keine Muhammedaner, sondern Armenier aus der Vorstadt Dschulfa bei Isfahan.“ „So werden sie dorthin gehen und Lärm machen. Dann kommt ein neuer und noch viel schlimmerer Muhassil zu den Kalhuran!“ „Schlimmer als dieser Omar Iraki war, kann keiner sein! Auch hat unser Ustad noch während dieser Nacht [463] einen Bericht geschrieben, welchen sichere Boten zu dem Beherrscher bringen. Eine Abschrift davon bekommt der Hekim-i-Schera1) [1) Oberster Richter.] von Isfahan. Du siehst also, daß nichts versäumt worden ist, was uns von der Vorsicht geboten wird. Wir haben nichts, gar nichts zu befürchten, denn der Schah-in-Schah hat unsern Ustad lieb, und wir wissen gar wohl, daß unsere Gefangenen gar keine eigentlichen Soldaten sind.“ „Gesindel, welches der Muhassil zusammengetrommelt hat!“ „Ja. Nicht einer von ihnen trägt eine wirkliche Uniform. Sie können nur froh sein, daß wir sie nicht allesamt dahin schicken, wohin wir die Massaban geschickt haben. Wahrscheinlich hätten wir es gethan, wenn es nicht zu viele Mühe machte. Es bedarf dazu einer ganzen Schar von Leuten, welche den Transport zu führen und zu bewachen haben. Mein Oheim hat also hierauf verzichtet.“ Oheim! Es war zum erstenmal, daß sie sich einer Bezeichnung der Verwandtschaft bediente. Ich wußte seit gestern wohl, wen sie jetzt meinte, that aber doch, als ob es mir unbekannt sei, und fragte: „Du hast einen Oheim hier?“ „Ja. Weißt du das noch nicht? Habe ich es dir noch nicht gesagt? Ich könnte sogar von zweien sprechen.“ „Darf ich erfahren, wer es ist?“ „Unser Pedehr. Sein Vater Abd el Fadl war der Sohn einer Schwester unserer Marah Durimeh.“ „Und der zweite Oheim?“ „Das ist der Ustad selbst. Auch er ist mit Marah Durimeh verwandt; aber wie, das weiß ich nicht genau.“ [464] „Hast du ihn nicht einmal gefragt?“ „Ich that es einst. Es war da draußen vor der Halle, da wo du jetzt des Abends zu sitzen pflegst. Wir waren allein und sprachen von ihr. Da fragte ich ihn. Er antwortete nicht sogleich. Er sah so lange und so still hinüber nach unserm Gotteshause, welches im Mondenscheine wie ein frommes Märchen aus dem Paradiese lag. Dann legte er mir die Hand auf das Haupt und sagte: ‚Meine Verwandtschaft mit Marah Durimeh? Was weißt du, liebes Kind, von dem, was eigentlich Verwandtschaft ist! Sie ist nicht leiblicher Natur. Der Körper, welcher sich fort und fort erneuert, bleibt nicht derselbe Leib, den uns die Mutter gegeben hat. Er verändert zwar nicht die Gestalt, doch stets und ununterbrochen die Stoffe, aus denen er zusammengesetzt ist. Er nimmt sie auf und giebt sie ab, beides zu gleicher Zeit. Der Körper, in dessen Ohr du heut das liebe Wörtchen ‚Vater‘ rufst, ist durch die Ausscheidung seiner jetzigen und die Aufnahme neuer, ihm ganz fremder Bestandteile nach zwei Jahren ein vollständig anderer geworden, und du aber nennst auch diesen gänzlich fremden noch deinen ‚Vater‘. Der Stoff also ist es nicht, der uns befreundet. Doch aber aus dem Mutterherzen floß dem Kinde, bis es geboren wurde, mit jedem Pulse das Leben zu. Und aus dem Elternherzen strahlte ihm die Liebe, die es nährte, pflegte und auferzog, um es in dem ebenso täglich und immerfort sich erneuernden Menschheitskörper Aufnahme finden zu lassen. Ist es nicht diese Liebe, welche befreundet? Und nimmt also an dieser Verwandtschaft nicht die ganze Menschheit teil? Der Körper, den heut unsere Marah Durimeh besitzt, ist mir vollkommen fremd; er hat mit dem meinigen nichts, als die menschliche Form gemein. Und was verbindet diese beiden Gestalten mit den [465] längst verwesten Körpern unserer Ahnen? Nichts, nichts und wieder nichts! Das, was ich Verwandtschaft nenne, besteht nur und allein in der liebenden Zuneigung zwischen Geist und Geist, zwischen Seele und Seele. Kann ich da aber von Onkel und Tante, von Neffe und Nichte sprechen? Giebt es da Vater und Mutter, Sohn und Tochter? Wenn ein großer, hoch entwickelter Geist einen kleinen, unentwickelten an sich zieht und zu sich emporhebt, ist der eine dann der Vater und der andere der Sohn? Oder wenn eine zarte, kindlich schwache Seele sich an eine gottbegnadete, starke schmiegt, um bei ihr Schutz und Sicherheit zu finden, ist die eine dann die Mutter und die andere die Tochter? Trachtet dein Geist, den meinen zu begreifen, so wirst du mir mehr und mehr verwandt, und verbindet deine Seele sich immer inniger und inniger mit der meinen, so treten wir uns durch diese Freundschaft näher, als wir durch die körperliche Geburt uns nähern konnten; aber in keiner Sprache der Menschen giebt es passende Worte, die Grade dieser geistigen und seelischen Verwandtschaft zu bezeichnen. Ich sage dir ein großes Geheimnis, mein liebes Kind: Es kann ein neuer Geist von einem oder einigen anderen geboren werden; Seelen aber stammen nicht von Menschenseelen, sondern nur allein von Gott, dem Herrn! Mein Leib und Marah Durimehs Leib gehen einander nichts an, obwohl wir gleiche Ahnen haben. Unsere Seelen kamen von Chodeh. Aber mein Geist wurde aus dem ihrigen geboren. Willst du nun noch fragen, ob ich vielleicht ihr Vetter oder wohl ihr Neffe sei?‘ - - So oder ähnlich antwortete mir der Ustad. Ich habe viel darüber nachgedacht und endlich es begriffen. Begreifst du es auch, Effendi?“ [466] „Ja. Sein Geist verschmäht schon längst die Oberfläche des Lebens; er schöpft nur aus der Tiefe. Und seine Seele wurde zwar in das Thal gesandt, nun aber wohnt sie hoch oben auf dem Berge. Wie glücklich seid ihr, in ihm ein Vorbild zu besitzen, nach welchem ihr, ungestört von andern, streben könnt!“ „Habt ihr nicht auch Vorbilder? Strebt ihr ihnen nicht nach?“ „Unser Leben ist unendlich vielgestaltig. Ueber tausend, tausend Nichtigkeiten stolpert unser Fuß. Der eine beschimpft, was dem andern heilig ist. Es giebt kein Ideal, welches nicht von feindlicher Seite mit Schmutz beworfen würde. Jeder hält allein nur sich für klug. Keiner ist nur allein Mensch, sondern hauptsächlich etwas Anderes. Alle verlangen, daß ihnen vergeben werde, aber wo ist der, der auch selbst vergeben will? Wer - - -“ Ich hielt inne. Beinahe erschrak ich über mich selbst. Ich hätte ja stundenlang in diesem Tone fortfahren können, aber was sollte da Schakara von unserm schönen, stolzen Abendlande denken! Durfte ich so unvorsichtig sein, von Dingen zu sprechen, welche ich hier unbedingt zu verschweigen hatte? Die junge, unverdorbene Kurdin sah mich, als ich so plötzlich schwieg, fragend an. Ich öffnete schon den Mund, um von etwas Anderem anzufangen, da glitt ein verständnisvolles Lächeln über ihr Gesicht, und sie sagte: „Ich weiß, ich weiß, Effendi! Es ist bei euch nicht alles so, daß wir es wissen dürfen. Christen gegen Heiden, Christen gegen Juden, Christen gegen Christen, so sieht es bei euch aus. Und alle, alle, alle diese Feindseligkeit nur um des wahren Christentumes willen! Wir wissen es; du brauchst es nicht zu verschweigen. Ein einziges Wort Christi, welches dieser so und jener anders [467] deutet, kann bei euch die Liebe, welche der Heiland predigte, in den grimmigsten Haß verwandeln. Wir haben gehört von - - - doch, du hast ja geschwiegen, und da habe auch ich still zu sein. Wirst du heut wieder hinaus auf den Platz gehen?“ „Ja, und zwar sogleich.“ „So werde ich dir die Kissen hinausschaffen lassen. Soll ich dich führen?“ „Nein. Ich danke dir! Der Stock genügt vollständig.“ Ich stand auf und ging zunächst zu meinem Hadschi Halef Omar hin. Sein Gesicht gefiel mir heut mehr als gestern. Hanneh sah, daß ich mich freute. Sie gab mir froh die Hand. Hierauf begab ich mich hinaus, die Stufen hinunter und dorthin, wo ich gestern gesessen hatte. Noch war ich nicht lange da, so kam Pekala. Sie hatte in der einen Hand ein Körbchen mit Pflaumen und in der andern einige Rosen. „Ich habe auf dich gewartet, Effendi,“ sagte sie. „Unser Ustad sendet dir diese Früchte, und ich lege diese Rosen hinzu, weil du beide, die Früchte und die Blumen, liebst.“ „Sag dem Ustad meinen Dank; dir gebe ich ihn selbst!“ „Du sollst täglich welche haben, so lange es welche giebt. Erlaubst du mir nun eine Frage?“ „Gern. Aber welche?“ „Ich möchte so gern wissen, ob du gestern abend mit meiner Frenk maidanosu-Suppe zufrieden gewesen bist.“ „Sie war gut.“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Erinnerst du dich an das, was du mir versprochen hast, falls sie dir schmecken würde?“ [468] „Ah! Du meinst die Erziehung?“ „Ja. Du versichertest, mir eine Antwort zu geben.“ „Nun wohlan!“ Ich machte eine sehr ernste Miene und fuhr fort: „Ich gebe dir zu, daß du recht hast: Wir Männer bedürfen noch alle der Erziehung!“ „Oh, Effendi, wie bist du verständig und einsichtsvoll! Was du sagst, ist immer richtig! Ihr habt noch viel zu lernen!“ „Aber wir werden es lernen, damit wir dann auch die Frauen erziehen können.“ „Wen?“ fragte sie rasch. „Die Frauen. Oder meinst du, daß es besser für euch sei, unerzogen zu bleiben?“ „Effendi, jetzt höre ich, daß das, was du sagst, doch nicht immer richtig ist!“ „Das schadet nichts, liebe Pekala. Wir irren alle. Du nicht zuweilen auch?“ „Ja, zuweilen; aber in Betreff der Erziehung weiß ich, was ich weiß. Da kommt unser Pedehr. Er scheint zu dir zu wollen. Erlaube, daß ich gehe!“ Sie entfernte sich, um in ihre Küche zurückzukehren. Der Pedehr kam die Stufen herunter und zu mir her. Ich bot ihm eines der Kissen an, und er setzte sich nieder. Er erzählte mir in Beziehung auf die gefangenen Soldaten, was ich bereits von Schakara erfahren hatte. Da kam „das Kind“ von links, wo sie steckten, herüber und meldete ihm, daß der Suari Jüzbaschysy behaupte, sehr notwendig mit ihm zu sprechen zu haben. Er erhielt die Weisung, ihn zu holen. Als der Rittmeister gebracht wurde, war sein Auftreten keineswegs so selbstbewußt wie gestern, als er kam. Er hielt den Kopf gesenkt. Der Stolz war ihm benom- [469] men; aber aus seinem Auge sprach der zurückgehaltene Grimm. „Was willst du von mir?“ fragte der Pedehr. „Alles!“ antwortete er. „Was verstehst du unter diesem Alles?“ „Alles, was ihr uns abgenommen habt; dazu die Waffen, die Freiheit und die Pferde!“ „Wenn du nichts weiter willst als das, so kannst du wieder gehen. Was wir haben, das behalten wir.“ „Es gehört aber uns!“ „Euch?“ „Ja.“ „Sagtest du gestern nicht, daß es das Eigentum des Schah-in-Schah sei?“ „Das war auch richtig. Er hat es uns anvertraut. Wir haben ihm Rechenschaft darüber abzulegen.“ „Das ist nun nicht mehr nötig, weil ich ein Verzeichnis aufstellen werde. Was ihm gehört, wird er dann von mir bekommen. Ich betrüge ihn nicht.“ „Du - - bist - - sehr unvorsichtig, Pedehr!“ knirschte der Rittmeister. „Du hast mich Scheik zu nennen, nicht Pedehr. Merke dir das! Ein Vater von Dieben bin ich nicht!“ „Diebe? Wir sind Soldaten! Ich bin Offizier!“ „Wo sind eure Uniformen? Ah, du schweigst?“ Der Rittmeister hatte vor Zorn die Hände geballt, die rechte halb erhoben. Da sah ich an ihr einen Ring, der mir auffiel. Er war von weißem Metalle und hatte eine achteckige Platte. Ich schaute schärfer hin. Der Rittmeister war in seinem Zorne an den Pedehr herangetreten. Er stand mir noch näher, so nahe, daß ich die auf der Platte befindlichen Zeichen erkennen konnte. Es war ein sâ mit einem lâm verbunden und darüber ein [470] Verdoppelungszeichen. Nun wußte ich, was ich von ihm zu denken hatte. Er war ein „Sill“, ein Mitglied jener geheimen Verbrüderung, mit der wir ja schon wiederholt in Reibungen geraten waren. Er trat bei der letzten Frage des Pedehr wieder von ihm zurück und antwortete: „Wenn wir zu Beduinen kommandiert sind, können wir uns kleiden, wie wir wollen!“ „Wer hat euch zu den Kalhuran kommandiert?“ „Das ist meine Sache, nicht die deine!“ „Gut, so ist es auch nicht meine Sache, ob du Offizier bist oder nicht.“ „Ein Schurke ist er, weiter nichts!“ sagte ich jetzt. Der Pedehr sah mich erstaunt an. „Weißt du das?“ fragte er. „Sogar ganz genau!“ „Kennst du ihn?“ „Ja.“ „Seinen Namen?“ „Nein.“ „Nur seine Person also?“ „Auch diese nicht. Ich habe ihn gestern abend zum ersten Male gesehen. Aber dennoch bleibe ich bei meiner Behauptung.“ „Beweise sie!“ brüllte mich der Perser an. „Schweig!“ befahl ihm der Pedehr. „Dieser Effendi sagt kein Wort, was er nicht beweisen kann. Ich kenne seine Gründe nicht, werde sie aber wohl erfahren. Wenn er dich einen Schurken nennt, so bist du einer!“ „Wer ist der Mann, den du Effendi nennst? Ein Dschamiki ist er nicht; das sehe ich ihm an. Ein Perser auch nicht. Jedenfalls ein türkischer Sunnit, dem nur die Hölle offen steht. Ich lache über alles, was er sagt. [471] Ich frage dich noch einmal: Giebst du uns wieder, was uns gehört?“ „Nein.“ „So fürchte die Blutrache!“ „Die giebt es hier auf meinem Gebiete nicht.“ „Du kennst den Bluträcher nicht!“ „Wer wird es sein! Irgend ein Mensch! Ein Verwandter des Getöteten! Ein freier Beduine jedenfalls nicht!“ Der Pedehr sagte das in geringschätzendem Tone. Das brachte den Perser noch mehr auf. „Nein, ein Beduine ist er freilich nicht. Er hat es nicht nötig, Brot zu genießen, welches auf Kamelmist gebacken worden ist! Weißt du, wie der Muhassil geheißen hat?“ Der Pedehr schnippte verächtlich mit dem Finger. „Omar Iraki,“ sagte er. „Kennst du seine Familie?“ „Sie ist mir gleichgültig. Da er ein Iraki ist, stammt er da unten aus dem Sand heraus.“ „Spotte nicht! Sein Vater ist einer der mächtigsten Männer im Reiche des silbernen Löwen. Er hat die Gewalt, euch alle zu verderben. Es stehen ihm tausende von Soldaten zur Verfügung, die euer ganzes Gebiet zur Wüste machen werden!“ „Sie mögen kommen! Hoffentlich sind sie klüger und vorsichtiger, als ihr gewesen seid! Aber wie heißt denn dieser große Mann, der solche Macht besitzt? Willst du vielleicht die Gnade haben, mir seinen Namen mitzuteilen?“ „Er wird Ghulam el Multasim genannt.“ Als der Perser diesen Namen sagte, sah er uns mit einem triumphierenden Blicke an. Er schien zu erwarten, [472] daß wir erschrecken würden. Das war aber keineswegs der Fall. Freilich kann ich nicht behaupten, daß der Name gar keinen Eindruck auf uns gemacht habe. Seine Wirkung auf den Pedehr und mich war eine verschiedene. Man wird sich wohl noch des unadressierten Briefes erinnern, den Halef von unserm Wirte in Basra bekommen hatte. Wir hatten zwar von dem letzteren erfahren, daß er an einen gewissen Ghulam el Multasim gerichtet sei, aber nicht, wo dieser Ghulam wohne. Die einzige Auskunft des schwerbetrunkenen Wirtes hierüber hatte gelautet: „In - - in - - Straße nach - - ah - - ah!“ Ich hatte schon öfters an dieses Schreiben und seinen Adressaten gedacht. Das Wort „in“ deutete an, daß er in einer Stadt wohne, aber in welcher? Das war die Frage! Sein Haus schien nicht im Innern, sondern in einem Außenteile dieser Stadt zu liegen. Das war aus den beiden Worten „Straße nach - -“ zu schließen. Aber war dieser Ghulam el Multasim derjenige, den der Rittmeister meinte? Ghulam heißt, wie bereits einmal gesagt, Läufer, Page, auch Courier. So hieß ja der „Paß des Couriers“ auch Boghaz-y-Ghulam. Unter Ghulam versteht man auch die Leibgarde des Schah. Wenn ein Offizier dieser Leibgarde für besondere Dienste zu belohnen ist, so kommt es vor, daß er als Muhassil irgendwohin geschickt wird, um die Steuern einzutreiben. Vielleicht war der Mann, von welchem der Rittmeister sprach, Offizier der Leibgarde. Daß beide Ghulams, der meinige und der seinige, identisch seien, war ein Gedanke, dessen Richtigkeit durch den Ring bestätigt wurde. Der Adressat des Briefes war unbedingt ein Sill. Daß der Rittmeister auch einer war, bewies sein Ring. Ich freute [473] mich herzlich darüber, dem unbekannten Adressaten hiermit auf die Spur gekommen zu sein, doch selbstverständlich fiel es mir nicht ein, durch irgend eine Frage mein besonderes Interesse für ihn zu verraten. Ich war also still. Ganz anders der Pedehr. Kaum hatte er den Namen gehört, so hielt er den Rittmeister mit einem so erstaunten Blicke fest, daß dieser ganz verlegen wurde. „Ghulam el Multasim!“ sagte er. „Der Blutsauger! Der Verachtete! Und du hast, wie es den Anschein hat, geglaubt, daß ich erschrecken werde? Meinst du, daß dieser Feigling es wagt, mich offen anzugreifen? Ja, nun weiß ich, daß dieser Effendi Recht hat: du bist kein Offizier, sondern ein Schurke! Du hast dich als seine Kreatur entpuppt. Ich bin mit dir fertig. Fort, fort!“ Eine solche Wirkung des genannten Namens hatte der Perser nicht erwartet. Er fühlte sich entlarvt und sagte kein Wort dagegen, als die beiden Dschamikun, welche ihn gebracht hatten, ihn nun bei den Armen faßten, um ihn fortzuführen. Als er hinter dem mehrfach genannten, alten Thore verschwunden war, sagte der Pedehr zu mir: „Nun ist es gewiß, daß diese Menschen keine wirklichen Soldaten sind. Dieser Multasim war nämlich früher Offizier der Leibgarde, ein nach obenhin kriechender, nach unten aber grausam rücksichtsloser Mensch. Er wußte sich durch solche Kriecherei bei dem damaligen Muajir el Memalek1) [1) Finanzminister.] in der Weise einzuschmeicheln, daß es ihm gelang, einen langjährigen Pachtbrief für gewisse Staatseinnahmen ausgestellt zu erhalten, den auch der Sader aazam2) [2) Premierminister.] mit unterschrieb. Als er das erreicht hatte, nahm er seinen Abschied vom Militär, um nicht [474] mehr gehorchen zu müssen, sondern nun fortan befehlen zu können und dabei ein reicher Mann zu werden. Er ist giftig wie eine Assaleh1) [1) Wüstenschlange.], feig wie eine alte, zahnlose Hyäne und gefühllos wie ein Stein. Wenn ein einziges Schaf genügt, die Steuer, welche schuldig geblieben ist, zu decken, so nimmt er eine ganze Herde. Wohin er kommt, da setzt er sich fest, um Land und Menschen auszusaugen, und wenn er endlich geht, ist er rund wie ein Maultier, welches von der fetten Weide kommt. Es giebt Menschen, welche den Raubtieren gleichen, und wieder andere, die wie das Ungeziefer sind. Wenn man sie und ihre Thaten kennen lernt, möchte man an Chodeh's Güte und Gerechtigkeit zweifeln, falls man nicht so genau wüßte, daß uns nur zu unserm Heile die Gründe dessen, was geschieht, verborgen bleiben - -“ Er war, wie es schien, mit seinem Satze noch nicht zu Ende; aber er hielt jetzt inne, weil er sah, daß meine Aufmerksamkeit von ihm abgelenkt wurde. Ich horchte. Es klangen Töne, die von oben herabkamen. Waren das Menschenstimmen? War es ein Lied, welches sie sangen? Ich konnte die Worte nicht vernehmen. Die Melodie lag nicht bloß in der obern Stimme, sondern auch in den unteren. Die Harmonisierung war eine sehr eigenartige, ganz gegen unsere Generalbaßregeln und aber doch nichts weniger als fehlerhaft. Mehr diese Seltsamkeit als der Gesang überhaupt war es, die mich frappierte. Der Pedehr lächelte. „Ueberrascht dich der Gesang?“ fragte er. „Ja,“ gestand ich ihm. „Weil du ihn hier in einer so abgelegenen Gegend hörst? Bei Leuten, von denen ihr meint, daß sie gar nicht singen können?“ [475] „Nicht bloß darum. Niemand weiß besser als ich, daß der Orient nicht unmusikalisch ist.“ „Aber ihr haltet seine Musik für häßlich?“ „Wenigstens nicht für schön.“ „Trifft dieses Urteil auch uns? Wir sind ja hier im Oriente. Also nicht schön!“ Ich sah, daß er dies scherzend meinte. Es schaute mich dabei der Schalk aus seinen lieben, schönen Augen an. „Ich bitte dich! So war es nicht gemeint!“ antwortete ich schnell. „Man hat aufgehört. Das Lied ist zu Ende. Schade! Kaum hatte es begonnen, so hörte es schon wieder auf. Wenn ein fremder Mann nur bloß sehr schnell an dir vorüber geht, kannst du nicht wissen, wer und was und wie er ist. So auch bei diesem Liede. Es ist eine mir ganz fremde Gestalt an meinem Ohre vorübergegangen. Sie trug ein orientalisches Kleid. Es war mir, als ob sie nicht zu den jetzt Lebenden gehöre, sondern im Grabe der Vergangenheit geschlummert habe und nun wieder auferstanden sei. Das ist der Eindruck, den dieses Lied auf mich gemacht hat.“ „Wie du das so in dieser Weise sagst! Das sollte unser Chodj-y-Dschuna1) [1) Lehrer des Gesanges.] hören!“ „Wie? Es giebt hier einen Lehrer, der besonderen Unterricht im Gesang erteilt?“ „Giebt es solche Leute denn nicht bei euch auch?“ „Allerdings. Aber unsere Verhältnisse sind ja doch ganz andere als die eurigen.“ „Ich kenne sie nicht. Und was unsern Gesang betrifft, so liebe ich ihn zwar sehr, kann dir aber keine gelehrte Auskunft über ihn erteilen. Du wirst den Chodj-y-Dschuna kennen lernen und von ihm alles er- [476] fahren, was du wissen willst. Er ist eine Quelle der Töne, welche trotz seines hohen Alters hell und reichlich fließen.“ Jetzt sang man wieder. Es wurde öfters abgebrochen und wieder neu begonnen. Das war Unterricht. „Man scheint zu üben?“ fragte ich. „Ja. Und weißt du, für wen?“ „Nein.“ „Für dich!“ „Für mich? Das klingt so freundlich überraschend!“ „Freundlich? Ja, weil wir wünschen, daß du es freundlich aufnehmen möchtest. Und überraschend? Was dich überrascht, ist bei uns ein lieber, alter Brauch. Das Grab war dir schon geöffnet, doch Chodeh's Hand hat dich ergriffen und wieder in das Leben zurückgeführt. Was dir geschieht, das geschieht auch uns, denn du bist unser Gast. Wir sind so froh, und für diese Freude soll heute der Tag des Dankes sein.“ Das klang so einfach, so selbstverständlich! Ein Tag des Dankes! Für mich! Ich gestehe, daß mich das verlegen machte. Diese Verlegenheit war der Grund, daß ich die ganz überflüssige Frage that: „Warum grad heut?“ „Weil Sonntag ist, der erste Sonntag, nachdem du das Krankenlager verlassen hast. Ich möchte dir da eine Bitte sagen, oder vielmehr nicht bloß eine, sondern zwei, und hoffe, daß du sie mir gewähren wirst!“ „Wie gern, wenn ich kann!“ „Du kannst! Die erste ist, daß du uns überhaupt erlaubst, zu thun, was uns sowohl vom Herzen als auch von der Religion befohlen wird. Wir würden es zwar auch ohne deine Erlaubnis thun, denn zwischen Chodeh und seinen Menschenkindern darf kein fremder Wille [477] stehen, der da meint, Befehle erteilen zu können. Das mag bei den Muhammedanern geschehen; bei uns aber ist es anders. Wir haben keinen Imam, welcher sich einbildet, als der Eischikkagazi-Baschi1) [1) Oberster der Thürsteher.] des Weltenherrn darüber entscheiden zu können, welchen Besuch Chodeh anzunehmen hat und welchen nicht. Aber wenn du es nicht gestattetest, so würdest du nicht dabei sein können, was für uns sehr betrübend wäre. Die zweite Bitte ist, daß du dich nicht belästigt fühlen mögest. Wir wünschen, daß du dich so frei von allem Zwange fühlest, als ob das, was wir thun, in gar keiner Beziehung zu dir stehe. Denke dir, wir hielten Dankestag für einen Menschen, der dir vollständig unbekannt ist. Willst du das, Effendi?“ Ich gab ihm, tief gerührt, die Hand und antwortete: „Du hast nichts zu fragen, und ich habe nichts zu entscheiden. Wie könnte ich mich als Imam gebärden, nachdem ich von dir hörte, daß es für euch keinen giebt! Aber sage mir, in welcher Weise ihr diesen „lieben, alten Brauch“ auszuführen pflegt!“ „Du wirst das besser sehen, als jetzt hören. Man wird dich gegen Mittag in einer Sänfte hinüber nach dem Gotteshause tragen. Dort bleibst du bis zum Abend. Es wird für alles gesorgt sein, was du brauchst. Unser Tifl ist in deiner Nähe, um dich zu bedienen. Jeder Dschamiki, der im Duar oder in der Nähe wohnt und euch als seine Gäste betrachtet, weil ihr die Gäste seines Ustad seid, wird anwesend sein. Gezwungen wird niemand. Wer kommt, der folgt nur seinem eigenen Willen. Aber so viele es ihrer sein mögen, es wird dich keiner belästigen. Es wird so sein, als ob du gar nicht zugegen wärst, doch wenn du mit jemand zu sprechen wünschest, [478] so genügt ein Wort an Tifl, der ihn zu dir holt. Jetzt erlaube, daß ich gehe! Man braucht mich, wie es scheint, anderwärts.“ Schakara stand nämlich oben bei den Säulen und winkte ihm. Er ging. Was waren das doch für Gedanken, welche sich nun in mir regten! Ich übergehe sie. Um aufrichtig zu sein, muß ich sagen, daß die Vorstellung, der Mittelpunkt einer Feier zu sein, eine unangenehme Empfindung in mir erregte. Es ist keineswegs ein beglückendes Gefühl, die Aufmerksamkeit Vieler auf sich gelenkt zu sehen. Man frage einen sogenannten „berühmten“ Mann, und wenn er nicht bloß berühmt, sondern auch verständig ist, so wird man erfahren, wie teuer er diese Aufmerksamkeit zu bezahlen hat. Er ist durchaus nicht zu beneiden, sondern vielmehr zu beklagen. Die Oeffentlichkeit ist die Feindin jedes wahren Glückes. Wohl dem Manne, dem nicht das fürchterliche Los zuerteilt worden ist, die Aufmerksamkeit von Menschen zu erregen, welche so kurzsichtig und so übelwollend sind, ihn wegen einer „Berühmtheit“ zu hassen und zu verfolgen, die schon an sich nicht leicht zu tragen ist! Es war mir also gar nicht lieb, zu wissen, daß ich der Mittelpunkt dessen sei, was man sich vorgenommen hatte; aber ich konnte doch unmöglich so undankbar sein, das, was ich empfand, den Gefühlen dieser guten Leute voranzusetzen! Ich hatte mich zu fügen. Einige Zeit, nachdem der Pedehr in das Haus gegangen war, sah ich einen Mann aus dem Garten kommen, dessen Aeußeres meine Augen sofort auf sich zog. Nicht seine Kleidung ist's, die ich besonders zu beschreiben habe. Sie zeigte nichts, was mir hätte auffallen können. Sie war so einfach wie die jedes anderen Dschamiki. Aber [479] er selbst, der Mann war es, der gleich beim ersten Blicke mein ganzes Interesse erwecken mußte. Man denke sich Bismarck in orientalischem Anzuge und mit einem lang herabwallenden weißen Bart, aufrecht, stolz und aber doch nachdenklich daherschreitend, so hat man ein deutliches Bild von der Gestalt, die sich mir näherte. Auch das Gesicht von fast frappierender Aehnlichkeit, die starken, buschigen Brauen nicht ausgenommen. Er blieb kurz vor mir stehen, hob beide Hände bis zur Brust, verbeugte sich und fragte: „Du bist Kara Ben Nemsi Effendi?“ „Ja,“ antwortete ich. „Ich komme von unserm Pedehr. Er hat mir gesagt, daß du es mir nicht übelnehmen werdest, wenn ich dich begrüße. Ich bin der Chodj-y-Dschuna.“ „Du bist mir willkommen! Erlaube, daß ich dich bitte, hier bei mir Platz zu nehmen!“ Ich schob ihm eines meiner Kissen hin, und er setzte sich. Als er sprach, sah ich, wie liebenswürdig, ich möchte fast sagen harmonisch, seine vollen, trotz des Alters noch so frischen Lippen geschwungen waren. Ich hatte das Gefühl, als könne dieser Mund nur kluge, gütige, nie aber häßliche Worte sprechen. Er bemerkte wahrscheinlich, daß mein Auge nicht mit einem gewöhnlichen Blicke auf ihm ruhte, denn er begann das Gespräch mit der Erkundigung: „Du schaust mich so eigen an. Bin ich dir vielleicht bereits bekannt?“ „Nein.“ „Nicht! Aber du lächelst! Ich vermutete fast, daß du mich schon einmal gesehen habest.“ „Das ist allerdings der Fall.“ „Ich weiß nichts davon. Wo?“ [480] „Nicht hier, sondern in Dschermanistan1) [1) Deutschland.].“ „Maschallah! Da bin ich nie gewesen!“ „Das glaube ich dir wohl. Du warst es auch nicht selbst, sondern nur dein Ebenbild.“ „Giebt es dort einen Mann, dem ich so ähnlich bin?“ „Sogar sehr ähnlich! Und er ist kein gewöhnlicher Mann, sondern die rechte Hand des Schah-in-Schah von Dschermanistan.“ Er sann einen Augenblick lang nach und fragte dann: „Die rechte Hand? Ich weiß nicht, ob ich es erraten werde. Die Faust dieses weisen Herrschers wird Molaka2) [2) Moltke.] genannt. Seine rechte Hand aber kann wohl nur Bismarak3) [3) Bismarck.] sein. Habe ich es richtig getroffen?“ „Ja.“ „Und du findest, daß ich Aehnlichkeit mit diesem auch bei uns bekannten und berühmten Manne besitze?“ „Sogar eine ganz auffällige! Deine Gestalt ist wie die seinige, und auch in Beziehung auf seine Gesichtszüge bist du eine sehr wohlgetroffene, lebendige Abbildung von ihm.“ „Also eine zufällige Gleichheit körperlicher Eigenschaften, auf welche man sich ebenso wenig einzubilden hat, wie man darüber in Trauer zu geraten braucht, daß man einem nicht beliebten Menschen ähnlich sieht. Nicht durch seine äußeren, sondern durch seine innern Eigenschaften wird der Wert eines Menschen bestimmt. Bismarak ist ein großer, in der ganzen Welt bekannter Mann. Ich bin ein kleiner Musikadschi4) [4) Musikant.], den man nur hier in dieser Gegend kennt. Und grad darum bin ich [481] wahrscheinlich glücklicher als mein berühmtes Ebenbild. Ich habe keine Feinde! - Der Pedehr sagte mir, daß du auf unsern Gesang aufmerksam worden seiest. Was du vernommen hast, war nur eine Uebung, nach welcher du nicht urteilen darfst.“ „Das thue ich auch nicht. Dennoch hat das, was ich hörte, mich zum Nachdenken angeregt.“ „Zum Nachdenken? Also treibst du auch Musik? Denn bei wem dies nicht der Fall ist, für den pflegt sie nur vorhanden zu sein, um gehört, nicht aber begriffen zu werden.“ Ich sah ihn erstaunt an. Ein Kurde brachte die Musik mit dem menschlichen Begriffsvermögen in Verbindung! Er war also Musikphilosoph! Dieser Gedanke wollte mich zum Lächeln bringen; ich unterdrückte es aber glücklicherweise. Der Ort, an dem ich mich befand, hatte mich schon öfters überzeugt, daß europäischer Hochmut grad hier noch viel weniger als sonst irgendwo berechtigt sei. Auch sah dieser Mann gar nicht darnach aus, als ob er über einen hohen, ihm unbekannten Gegenstand in kindischer Ueberhebung schwatzen oder faseln könne. Da ihm meine Ueberraschung nicht entging, so erkundigte er sich: „Du scheinst anderer Meinung zu sein. Habe ich etwas Unüberlegtes gesagt?“ „Nein. Ich schließe ganz im Gegenteile aus deinen Worten, daß du sehr wohl zu überlegen verstehst. Du hast über Musik sehr oft und gründlich nachgedacht?“ „Nicht nur sehr oft, sondern auch sehr gern, gründlich aber nicht. Kein Mensch darf sich rühmen, derartigen schweren Fragen bis auf den Grund zu dringen. Selbst dann, wenn einst unser Geschlecht auf Erden ausgestorben [482] ist, wird das Reich der Töne unerforscht geblieben sein. Ich habe gehört, daß die größten Gelehrten sich mit dieser Forschung befaßt haben und auch noch heut befassen. Es ist vergeblich gewesen. Ich bin kein Gelehrter. Ich baue meinen Garten und mein Feld und hüte meine Schafe. Ich pflege dabei die Musik ganz aus demselben Grunde, aus welchem ich esse und trinke, atme, wache und schlafe; es ist der Befehl der Natur, dem ich gehorchen muß. Das eine beschäftigt meine Gedanken ganz ebenso wie das andere. Diese Gedanken können nicht gelehrt, nicht weise sein, denn ich habe keine Schule besucht, in der man lernt, wie man gelehrt zu denken hat. Sie strengen mich nicht an; ich gebe mir keine Mühe, sie zu finden; sie kommen mir wie die Luft, indem ich Atem hole; sie sind so leicht, so einfach, so selbstverständlich. Ich würde wohl mit keinem Gelehrten über Musik sprechen können, und doch ist es mir ganz so, als ob ich mich dessen, was ich von ihr denke, nicht zu schämen brauchte. Wenn jemand spricht, wenn er singt, wenn er musiziert, so hörst du Töne. Was aber ist der Ton? Ist er es selbst, den du hörst? Oder sind es nur die luftigen Falten seines Gewandes, welche an dein Ohr schlagen? Was für Töne giebt es wohl? Etwa viele? Oder giebt es nur einen einzigen, der sich aber nach der Verschiedenheit der Personen und der Werkzeuge auch verschieden offenbart? So giebt es auch nur eine einzige Liebe, die sich aber bei jedem Geschöpf und in jedem Augenblicke anders zeigt. Dieser Ton ist von Chodeh allen Menschen gegeben worden; sie wären ja nicht Menschen ohne ihn. Er ist ihnen so notwendig wie das Licht, ohne welches sie nicht leben könnten. Die Natur giebt täglich neue Strahlen und täglich neue Töne. Sie kommen von dem einen Lichte und von dem einen Tone. Der Mensch besitzt [483] Organe, beide, die Strahlen und die Töne, in sich aufzunehmen. Und er hat oder macht sich Werkzeuge, beide hervorzubringen, weil dies für die Fortexistenz der Menschheit unentbehrlich ist. Werden die Töne in einfacher, natürlicher Weise hervorgebracht, so bilden sie die Sprache. Erweckt, gebraucht und vereinigt er sie nach künstlerischen Regeln, so hat er das hervorgebracht, was wir Musik zu nennen pflegen. Je mehr er sich mit dieser seiner Kunst von der Natur entfernt, desto schwerer zu begreifen wird ihre Sprache sein. Ja, es kann wahrscheinlich vorkommen, daß man sie gar nicht mehr zu verstehen vermag. Darum meine ich: Wer Musik für andere macht, um begriffen zu werden, der soll der Natur so nahe wie möglich bleiben. Der unmittelbare Nachbar der Natur ist der Gesang, den jedermann versteht, weil er nicht auf das Wort verzichtet hat. Wir lieben ihn und pflegen ihn. Er ist ein trauter Freund, der nicht in Rätseln, sondern offenbar mit uns spricht. Ja, dieser Freund ist sogar mit uns verwandt, ist hier geboren, ist unser eigenes Kind, denn was wir singen, machen wir uns selbst! Die Janitscharenmusik, welche in Teheran und Isfahan zu hören ist, bringt uns keinen einzigen Gedanken, den wir begreifen und liebgewinnen könnten. Ist das auch Musik, Effendi? Wenn die höchste Stufe der Kunst die ist, auf welcher sie mit der Natur nichts zu schaffen hat, so mußt du zugeben, daß ihr eigentlicher Zweck nur der sein kann, das Ohr mit unbegreiflichem und blödem Lärm zu füllen.“ Er hatte langsam und bedächtig gesprochen, aber doch fließend und in einer Weise, die mir deutlich sagte, daß er es mit einem Lieblingsthema zu thun habe. Es war ganz eigen, daß er, doch ziemlich ungefragt, mir die Resultate seines Nachdenkens in so selbstverständlicher Weise dargelegt hatte, als ob er nur aus diesem Grund [484] zu mir gekommen sei. Ein einfacher, armer Dschamiki, und solche Gedanken! Ob richtig, ob falsch, es waren Gedanken, und zwar keine gewöhnlichen! Die Bewohner dieses weltentlegenen Thales mußten mir von Stunde zu Stunde immer interessanter werden! Als er mich jetzt, auf eine Aeußerung wartend, anschaute, fiel mir der Ausspruch eines neueren deutschen Philosophen ein, welcher die Musik als „tönende Weltidee“ bezeichnet hat. Da neckte mich der Schalk, zu versuchen, wie weit der Chodj-y-Dschuna mit diesem Worte in Verlegenheit zu bringen sei. Ich sagte also: „Diese Art der Musik ist allerdings keine tönende Weltidee; das gebe ich zu.“ Mir geschah ganz recht: Ich hatte mich sofort meiner Hinterlist zu schämen. Die starken Brauen zogen sich für einen Moment zusammen; ein kurzer, verweisender Blick zuckte aus den ernsten Augen zu mir herüber, doch unverändert und freundlich wie bisher klang seine Stimme, als er antwortete: „Tönende Weltidee! Das klingt sehr gelehrt. Ist dieses Wort von dir?“ „Nein. Ich wohne nicht in so hohen Regionen. Es ist einer der größten Weltweisen in Dschermanistan, welcher der Musik diesen Namen gegeben hat.“ „Jeder Weltweise hat seine eigene Sprache. Ich weiß also nicht, was grad dieser unter ‚Weltidee‘ versteht. Aber auch ich habe mir eine Idee von der Welt gemacht und ebenso eine von der Musik, und beide stehen in enger Beziehung zu einander. Sag, Effendi, giebt es nicht gelehrte Leute, welche behaupten, daß nichts in der Welt verloren gehe?“ „Ja; die giebt es allerdings.“ „Ich glaube dasselbe. Kein Mensch, kein Tier, keine [485] Pflanze, kein Wassertropfen, kein Wort, kein Gedanke kann verloren gehen, kann sich so vollständig auflösen, daß nichts, gar nichts mehr von ihm vorhanden wäre. Alles Vorhandene ist dem Wandel unterworfen, kann aber nicht in Nichts zerfallen. Das Geistige kann körperlich, und das Körperliche kann geistig werden. So haben sich die Schöpfungsworte Gottes zu Welten verkörpert und zu allem, was sich auf diesen Welten befindet. Jedes dieser Worte hatte seinen eigenen Ton, und alle diese Töne sind auf die Verkörperungen der Worte übergegangen. Sie sind hörbar bei ihnen, oder sie ruhen in ihnen, bis sie hörbar werden. Gott sprach im Blitz das Wörtlein Donner aus; nun rollen Donner, so oft die Blitze zucken. Die Verkörperung des Wortes löst sich in demselben Ton auf, in welchem das Schöpfungswort erklungen ist. Da werden Töne der Freude und des Schmerzes frei, der Klage und des Trostes, des Zornes und der Vergebung; aber sie alle, alle vereinen sich zum Klange des einen großen Wortes, welches vom Munde Chodehs ausging und wieder zu ihm zurückkehrt. Das ist das Wort der Liebe. Und diese Liebe ist der Grundton und Urquell jeder wahren Kunst und jeder wahren Musik. Denn - - -“ Er konnte nicht weitersprechen, denn jetzt kam Hanneh die Stufen herab, zu uns her und sagte zu mir: „Effendi, mein Halef ist erwacht und hat deinen Namen genannt. Er möchte mit dir sprechen.“ Ich entschuldigte mich bei dem Chodj-y-Dschuna und bat ihn, zu warten, bis ich wiederkäme. Er aber schien es für höflich zu halten, mich freizugeben, indem er meinte, daß wir das jetzt unterbrochene Gespräch ja zu jeder Zeit wieder aufnehmen und fortsetzen könnten. Ich ließ ihn nicht gern gehen. Mir war, als ob er die Hauptpunkte erst noch vorzubringen gehabt habe, und so mit- [486] teilsame Augenblicke, wie der jetzige gewesen war, pflegen bei Männern seiner Art nicht eben häufig zu sein. Als er sich von uns gewendet hatte und ich mit Hanneh die Treppe hinaufstieg, was sie, um mich zu schonen, sehr langsam that, sagte sie: „Ich habe euch gestört; aber du darfst mir nicht zürnen. Halef hatte so Angst um dich.“ „Angst? Warum?“ „Er sagte, du befändest dich in sehr großer Gefahr.“ „Ich? Ich saß ja so ruhig dort auf den Kissen! Hast du ihm das nicht mitgeteilt?“ „Das that ich wohl; aber er glaubte es nicht. Er verlangte dringend, dich sofort zu sehen.“ Jetzt waren wir oben und traten in die Halle. Halef hatte sein Gesicht dem Eingange zugekehrt. Sein Auge schaute ängstlich zu uns her. Als er mich sah, gab ihm die Freude einen sichtbaren Ruck; ein frohes Lächeln ging über sein hageres Angesicht, und er sagte, so laut er konnte: „Sihdi, du bist da, wirklich da! Allah sei Dank! Nun ist alles, alles wieder gut!“ Ich ging zu ihm hin, setzte mich auf den Rand seiner Lagerstätte, nahm seine Hand in die meinige und antwortete: „Ja, mein lieber Halef; ich bin da; ich bin bei dir. Ich befinde mich wohl. Du hast wohl einen schlimmen Traum gehabt, in welchem du mich sahst?“ „Es war kein Traum - - - Warte! - - - Ich bin vor Angst um dich so schwach geworden. - - - Ich muß erst ruhen; - - - muß Kräfte sammeln.“ Seine Stimme war hierbei leiser und immer leiser geworden. Dann schloß er die Augen. Hanneh hob den [487] Zeigefinger bekräftigend in die Höhe, zog die Brauen hoch empor und flüsterte mir zu: „Er schlief allerdings nicht; aber es war auch kein Wachen. Ich habe ihn früher niemals so gesehen. Er bewegte das Gesicht und die Lippen genau so, als ob er vor Entsetzen schreie; aber es war kein Laut zu hören. Der Schweiß trat ihm endlich auf die Stirn; den wischte ich weg, und bei dieser Berührung erwachte er.“ „Es war aber doch nur Traum!“ sagte ich ebenso leise. „Nein!“ behauptete sie. „Ich habe einmal einen Arifi1) [1) Seher.] gesehen, der die Gabe hatte, halb wachend und halb träumend in die Zukunft zu schauen. Genau wie dieser Mann sah vorhin Halef aus. Warte, was er erzählen wird!“ Wir befanden uns allein in der Halle. Es war still. Da öffnete Halef die Augen, richtete einen langen Blick auf mich, als ob er sich überzeugen wolle, daß ich wirklich bei ihm sei, schloß sie wieder und begann dann, langsam und mit leiser, aber doch vernehmlicher Stimme zu sprechen: „Es war bei dir, fern, sehr ferne von hier, in Dschermanistan. - - - Ich hörte daß du sterben müssest, und doch warst du nicht krank, sondern gesund und stark, rüstiger, viel rüstiger noch als jetzt. - - - Und doch lagst du im Sterben. - - - Aber du lagst nicht eigentlich, sondern du standest, aufrecht, ohne Furcht, lächelnd. - - - Und doch wußtest du es, und doch sagtest du es selbst, daß du jetzt sterben werdest. - - - Nicht schnell, nicht plötzlich, sondern langsam, sehr langsam. - - - Dein Tod werde nicht Stunden und [488] Tage, nicht Wochen und Monde, sondern Jahre hindurch dauern! - - -“ Er machte eine Pause, und so fragte ich ihn: „Sprach ich denn mit dir?“ „Nein. Du sahst mich ja gar nicht. Du sprachst überhaupt kein Wort! Alle, alle brüllten und schrieen auf dich ein; du jedoch bliebst ohne Worte, ganz als seist du stumm. - - - Aber alles, was du dachtest, das war genau so, als ob du mir es sagtest. Ich erfuhr jedes Wort, durch dich, obgleich du keine Silbe sprachst. - - -“ „So waren also Andere bei mir?“ „Viele, sehr viele. - - - An ihren Anzügen sah ich ja, daß ich mich bei dir im Abendlande befand. Sie waren nicht morgenländisch gekleidet. - - - Es waren ihrer viele, die um dich herumstanden, lauter Feinde, grimmige Feinde. Sie riefen; sie schrien; sie brüllten; sie höhnten; sie sagten, du seiest der schlechteste Mensch auf Allahs Erde. Links, weit in das Land hinaus, standen noch welche; die freuten sich und brüllten mit. - - - Rechts gab es eine große, große Menge von Leuten. Diese waren deine Freunde und forderten dich unaufhörlich auf, dich zu wehren. Das thatest du aber nicht. - - - Von deinen Feinden kam einer nach dem andern auf dich zu. Sobald er dich erreichte, verlor er seine menschliche Gestalt und verwandelte sich in eine häßliche Made, welche sich tief in dein Fleisch fraß. - - - Ich schrie, so oft ein Mensch zum Wurm, zur Made wurde und sich in deinen Körper bohrte. Du aber hörtest mich nicht, und ich konnte nicht hin, dich zu beschützen. - - - Deine Augen waren hell und die Züge deines Angesichts freundlich. Man sah dir an, du freutest dich; du fühltest keine Schmerzen. Du hattest [489] Mitleid mit den Menschen, welche sich durch ihren Haß zu Würmern machten, um dich völlig aufzuzehren, wie ein Leichnam im Grabe von den Maden aufgefressen wird. - - - Aber es sah schrecklich aus! Die schmutzfarbigen Fresser nagten sich immer höher an dir hinauf; sie wurden immer dicker und fetter, und wenn sie zum Platzen waren, fielen sie herab und krümmten sich da unten vor Vergnügen. - - -“ „Ein sonderbarer Traum,“ sagte ich kopfschüttelnd, als er jetzt wieder eine Pause der Erholung machte. „Kein Traum! Und auch nicht sonderbar! Er war weit mehr; er war entsetzlich! - - - Einmal bemerkte ich, daß du plötzlich und zufällig an mich dachtest. Da wurde ich dir sichtbar. Du sahst mich stehen und vergeblich die Hände ringen. - - Da riefst du mir zu: ‚Sorge dich nicht um mich! Das alte Fleisch muß herunter! Das laß ich von den Maden mir besorgen! Weh thut es nicht! Du weißt es ja: der ‚Hadschi‘ hat zu sterben; ich gebe ihn hier den Würmern, die seine Totengräber sind. Der ‚Halef‘ aber bleibt. Dem können sie nichts thun, weil er nicht sterblich ist. So werde ich schon vor dem Tode frei vom Tode sein!‘ - - - So sagtest du, und die Feinde hörten es. Da wuchs ihr Grimm in das Maßlose. Sie veränderten nicht mehr einzeln oder zu zweien ihre menschliche Gestalt, sondern sie wurden jetzt plötzlich alle, alle fressende Maden und stürzten sich auf dich. - - - Ich schrie vor Angst, schrie wieder und immer wieder. Da - - - da berührte mich die erlösende Hand meiner Hanneh. Sie wischte mir den Schweiß von der kalten Stirn, und das war der Anlaß, daß ich erwachen durfte! - - -“ Er hatte zuletzt immer schneller und schneller gesprochen und das, was er sagte, mit hastigen Armbe- [490] wegungen begleitet. Das war für seine geschwächte Kraft zu viel gewesen. Er kroch in sich zusammen und brachte keinen Laut mehr hervor. Das machte Hanneh Sorge, doch beruhigte ich sie in leisem Tone: „Fürchte nichts. Hat er den Traum selbst überstanden, so wird ihm auch die Erzählung nichts schaden. Es ist keine Gefahr vorhanden, sondern nur gesteigerte Schwäche. Er wird einschlafen und dann gekräftigt wieder erwachen.“ So geschah es auch. Schon nach wenigen Minuten hatte ihn der Schlummer uns entzogen. Wir wechselten noch einige Bemerkungen über das eigentümliche Vorkommnis, und dann verließ ich die Halle, um mich wieder hinaus auf meinen Platz zu begeben. Als ich hinauskam, stand eine Sänfte dort, und bei ihr „unser Kind“, welches mir sagte, daß ich jetzt, wenn es mir recht sei, hinüber nach dem Gotteshause getragen werden solle. Ich war natürlich einverstanden. Tifl trug ein, wie es schien, ganz neues Feierkleid, und die Sänfte war reich mit Rosen und sonstigen Blumen geschmückt. Die „Festjungfrau“ stand am Gartenthore, und ihr Nicken und Knixen sagte mir, wessen Hand diese freundliche Ausstattung besorgt hatte. Vor meiner Ankunft drüben auf der jenseitigen Höhe hatte ich vor allen Dingen zwei Eindrücke zu überwinden, den des Gespräches mit dem Musiklehrer und den von Halefs Traum. Mit dem Traum war ich schnell fertig. Jeder Mensch trägt zwei Prinzipe in sich, ein gutes und ein böses. Wenn ich Feinde haben sollte, die es für ihre Aufgabe halten, das Böse in mir abzutöten und es sich zu ihrem eigenen Wohlbefinden einzuverleiben, so werde ich mich allerdings mit keinem einzigen Worte dagegen wehren. Ein Kampf zu dem Zwecke, fehlerhaft zu bleiben, [491] würde die allergrößte Torheit sein, die ich mir einst vorzuwerfen hätte. Der menschliche Körper ist, wenn er begraben wird, allerdings für die Würmer bestimmt. Aber die Seele, der Geist? Giebt es vielleicht auch geistige Maden, welche in den ethischen Fäulnisstoffen prassen, ohne die wir Sterbliche nicht mehr Menschen sondern Götter wären? Arme, arme Made, wie bist du zu bedauern! Welcher Ordnung der Lebewesen mag dein Organismus angehören, da er dazu bestimmt zu sein scheint, sich an moralischen Leichen vollzumästen! Ich hoffe zu deinem eigenen Heile, daß du nicht in Wirklichkeit, sondern nur in Halefs Traume vorhanden bist! Was den Chodj-y-Dschuna betrifft, so vermutete ich, in ihm eine Quelle gefunden zu haben, aus welcher mir neue, dem Abendlande fremde Ansichten über Musik fließen könnten. Er hatte nur so kurze Zeit gesprochen, und doch besaß schon das Wenige, was mir von ihm gegeben worden war, für mich eine Tiefe, in welche hinabzusteigen ein hoher und edler geistiger Genuß zu werden versprach. Dieser Mann hatte Gedanken und Anschauungen, die mir gewiß nur zur Bereicherung dienen konnten, und ich fühlte meine europäischen Wangen keineswegs bei dem Vorsatze schamrot werden, von diesem ungelehrten Kurden so viel wie möglich lernen zu wollen. Der Osten hat uns mehr, viel mehr geistige Schätze geliefert, als wir in unserm Stolze geneigt sind, zuzugeben. Es liegt für uns noch Manches dort verborgen, wovon wir keine Ahnung haben, und der Chodj-y-Dschuna kam mir wie ein abseits vom großen Wege liegen gebliebener Diamant vor, der es wohl wert war, daß ich ihm Beachtung schenkte. - Diese Gedanken begleiteten mich, als ich den Berg hinabgetragen wurde - - Schloßberg, hätte ich beinahe [492] gesagt. Der Weg war breit und wohlgepflegt und von ausgewählten Bäumen, Ziersträuchern und schönblühenden Pflanzen besetzt. Ich habe daheim so manches Schloß gesehen, welches keinen von so verständiger Hand angelegten Aufgang hatte. Jede Krümmung war berechnet, einen neuen und immer wieder schönen Blick über das Thal zu bieten. Wenn der Ustad aus seinem „hohen Hause“ trat, um diesen Weg nach dem Duar hinabzusteigen, wie mußte er sich da seines Werkes freuen! Und jeder, der zu ihm emporzugehen hatte, konnte das nur mit Dank und Liebe thun! Daß dieses letztere der Fall sei, sah ich jedem an, der uns begegnete. Wie freundlich waren diese Leute und wie gern gaben alle ihre Grüße! Ich bemerkte keinen neugierigen, unbescheidenen Blick, und kein einziges güteloses Auge. Selbst die Kinder winkten mir mit ihren kleinen Händen zutraulich grüßend zu, und einige Male hört ich, daß ich von ihnen „Dust-y-Duar“1) [1) Freund des Dorfes.] genannt wurde. Dieses allgemeine und ungekünstelte Wohlwollen hätte in mir ganz dasselbe Gefühl erwecken müssen, wenn es nicht schon vorhanden gewesen wäre. Ich bin gern zu Vergleichen geneigt. Beim Anblicke der hoch aufstrebenden Berge und des sich zwischen ihnen hinziehenden Ortes zeigte mir die Erinnerung jene ebenso gelegenen Gebirgs- und Alpendörfer, in denen man nur von der Habsucht empfangen, von dem Eigennutz zu Tische geführt und von der Ausbeutung auf Schritt und Tritt belästigt zu werden pflegt. Du armes, armes Kurdistan, wie fern bist du doch davon, ein menschlich kultiviertes Land genannt zu werden! Tifl ging voran. Man ahnt wohl kaum, was diese drei Worte sagen! Jede seiner Bewegungen verkündete: [493] Dieser Effendi hinter mir ist meinem Schutze für den ganzen Tag anvertraut worden! Ich bin zwar nichts, gar nichts weiter, als ihr alle seid, aber heut muß ich doch bitten, mich als Respektsperson zu betrachten! Er trug Sandalen und hatte seine Spinnenmütze durch ein buntes, malerisch um den Kopf geschlungenes Tuch ersetzt. Man grüßte ihn heut anders als wohl sonst. Warum auch nicht? Dünken nicht auch wir uns, ganz andere Menschen zu sein, sobald wir unsere Lenden durch den Frack entblößt und unsere gesellschaftliche Bedeutung in dunkelzylinderhafter Weise „behauptet“ haben? Das Festkleid stimmt den Menschen feierlich, und in feierlicher Weise geschah alles, was „unser Kind“ am heutigen Tage that. Indem wir quer durch das Dorf kamen, sah ich die Bewohner desselben erwartungsvoll vor den Thüren stehen. Sie hatten ihre besten Sachen angelegt und trugen Blumen in der Hand oder auf der Brust. Jedermann hatte Gäste, die von auswärts angekommen waren. Die Männer waren unbeschäftigt; die Frauen und Mädchen aber hatten mit allerlei Vorbereitungen zu thun, welche darauf schließen ließen, daß man heut nicht hier unten, sondern oben auf dem Berge speisen werde. Der Weg, welcher jenseits hinaufführte, war ebenso in Serpentinen angelegt wie der, den wir von unserm Hause herabgekommen waren. Auch seine Einfassung zeugte von denselben sorgfältig pflegenden Händen. Aber ich achtete weniger auf ihn selbst, als vielmehr auf die Aussicht, welche er nach der Seite des „hohen Hauses“ bot. Ich sah es heute zum ersten Male liegen. Seine ganze Fronte lag vor meinen Augen. Sie wuchs immer deutlicher aus dem jenseitigen Berge heraus, je höher ich auf den diesseitigen hinaufgetragen wurde. Was [494] von da drüben zu mir herüberschaute, war mir ein Rätsel, ein großes, großes baustilistisches Rätsel. Es zog meine Blicke förmlich zu sich hinüber, und es kostete mich eine Art von Selbstüberwindung, sie schließlich davon abzuwenden, weil ich den Anblick nicht langsam, nach und nach entstehen, sondern plötzlich, auf einmal, in seiner ganzen Ungeteiltheit auf mich wirken lassen wollte. Und sonderbar: Kaum hatte ich diesen Entschluß gefaßt, so drehte der auch jetzt noch immer voranschreitende Tifl sich um und sagte: „Ich bitte dich, Effendi, jetzt nicht zum „hohen Hause“ hinüberzuschauen!“ „Warum“ fragte ich. „Unser guter Ustad gebot mir, dich darum zu bitten.“ „Hat er dir einen Grund mitgeteilt?“ „Er sagte etwas, was ich nicht verstehe. Er sprach von einer langen, langen Zeit.“ „Von welcher Zeit?“ „Von der, die noch vor der großen Flut gewesen ist, die einst über die ganze Erde ging. Seitdem sind viele tausend Jahre vergangen.“ „Was hat das aber mit deiner Bitte zu thun?“ „Das ist es ja, was ich nicht begreife. Du sollst diese vielen tausend Jahre nicht nach und nach mit deinen Augen durchleben, indem du unterwegs unausgesetzt hinüberschaust. Sondern du sollst warten, bis du oben angekommen bist und unter unsern Säulen sitzest. Dann wirst du staunend diese ganze, lange Zeit mit einem Male vor dir liegen sehen und sie vielleicht vom ersten bis zum letzten Augenblick begreifen.“ „Ich werde diesem deinem Rate folgen, mein lieber Tifl.“ [495] „Ja, thue es! Und noch etwas habe ich dir zu sagen. Darf ich gleich jetzt, damit ich es nicht vergesse?“ „Gewiß!“ „Du sollst bemerken, daß der Berg der Vater dieses Hauses ist. Es tritt nur vorn aus ihm heraus. Die innere Seite liegt in ihm verborgen. Rechts und links am Berge siehst du die Brüche, aus denen die Steine zum Bau des Hauses stammen. Sie liegen so verschiedenartig übereinander wie die Stockwerke des Gebäudes. Unten dunkel, nach oben immer heller werdend. Nie ist ein fremder Stein zu diesem Bau verwendet worden. Nur die Menschen, welche die verschiedenen Stockwerke aufeinander gesetzt haben, sind aus fremden Ländern gekommen und nach ihrer Zeit wieder in der Fremde verschwunden. Unser Ustad sagte, das sei so Erdenbrauch.“ Wir waren jetzt an eine Biegung gekommen, welche wie ein Altan aus dem Berge hervortrat. Hier ließ Tifl halten, um mich die sich hier bietende, herrliche Aussicht genießen zu lassen. Er hob die Hand gegen das „hohe Haus“ und sagte: „Ich zeige zwar hinüber, doch schaue nicht hin. Hier, wo wir uns befinden, stand unser Ustad einst mit einem fremden Mann, welcher gekommen war, uns seine Religion zu bringen. Er behauptete, die unsere werde uns nicht in den Himmel, sondern in die Hölle führen. Als er aber einige Zeit bei uns gewohnt hatte, erkannten wir, daß sein Himmel, wenn alle Seligen darin ihm glichen, für uns eine Hölle sein würde. Er mußte wieder gehen. Am Tage, bevor er uns verließ, ging der Ustad mit ihm hier herauf. Sie blieben hier, wo wir uns jetzt befinden, stehen. Der Fremde schüttelte den Kopf über unser „hohes Haus“. Er meinte, daß es ein ganz gedankenloses, häßliches Gebäude sei. Sie hatten mich [496] mitgenommen. Ich befand mich bei ihnen und hörte also, was ihm der Ustad antwortete.“ „Nun, was?“ „Das kann ich nicht so schnell sagen. Ich muß in die Erinnerung hinabsteigen, um es dir heraufzuholen.“ Er sann eine Weile nach; dann sprach er weiter: „Ihr fremden Gäste seid doch sonderbare Leute! Ihr kommt hierher und tretet mit Forderungen und Aenderungen an uns heran, als ob dies Land nicht uns, sondern euch gehöre und wir eure Gäste seien. Ein Gast kommt heut, verweilt einige Zeit und geht dann wieder fort. Er wird Spuren seines kurzen Besuches zurücklassen; aber wenn er ein verständiger Mann ist, wird er darauf verzichten, unsere Berge umzustürzen und unsere Thäler auszufüllen. Die Erde ist diesem Thale gleich; der Mensch kommt als ihr Gast. Auch die Völker sind nur Gäste. Sie lassen Spuren davon zurück, daß sie dagewesen sind; aber die Berge in die Thäler stürzen und die ganze Erde in ein einziges großes Feld verwandeln, auf dem es nichts als allgemeine Gleichheit geben würde, das wird kein noch so großer Mann und kein noch so mächtiges Volk fertig bringen. Und das ist ein Glück. Durch diese Ausgleichung würde alles Leben auf der Erde bald vernichtet werden. - So lautete der eine Gedanke des Ustad.“ Er dachte wieder nach und fuhr dann fort: „Du kommst zu uns, um uns diese Gleichheit aufzuzwingen. Du forderst die Vernichtung des Bestehenden. Du sprichst von einer anderen, höheren Kultur. Grad so wie du hat bisher noch jeder Mensch und jedes Volk von der seinigen gesprochen. Und die nach uns kommen, werden von der ihrigen ganz dasselbe sagen! Du hast das Bauwerk da drüben als häßlich, als sinnlos be- [497] zeichnet; ich aber sage dir, es hat nicht nur Sinn, und zwar einen tiefen, tiefen Sinn, sondern es ist eine ganze, ganze Predigt, eine so gewaltige Predigt, wie du mir wohl keine halten kannst! Wer hat diesen Bau errichtet? Etwa ein einziger Meister? Während kurzer Lebenszeit? Die Jahrtausende kamen und gingen; die Völker sind gekommen und gegangen; die Zeit war mit der Menschheit Gast auf Erden, und jeder Gast hat die Spur von dem zurückgelassen, was er hier in dieser seiner Fremde wollte. Die Menschen, welche hier erschienen und verschwanden, haben einst, da sie noch lebten, hörbare Worte gesprochen; ein höherer Wille aber trieb sie an, dem vergänglich Hörbaren steinerne Gestalt zu verleihen, um es bleibend sichtbar zu machen. Jeder von ihnen hat geglaubt, daß nur er allein der Weise, der Erleuchtete sei, daß nur er allein das Richtige getroffen habe. Aber nur einer von ihnen, der Erste, baute auf den eigentlichen Grund. Auf was aber setzten die anderen ihre Steine? Auf das, was sie verwarfen! Könntest du es anders machen, wenn du bei uns bleiben und da drüben bauen wolltest? Die Gedanken wären wohl vielleicht von einem anderen Orte; die Steine aber müßtest du von diesem unserm Berge nehmen, und die Arbeit müßte dir von uns geliefert werden. Nun frage ich dich, welchen Einfluß wohl dieses Material und diese unsere Arbeit auf deine Gedanken haben würden. Zeige mir in den Stockwerken da drüben einen reinen, einheitlichen Stil! Er fehlt, und darum hast du dieses Haus häßlich genannt. Giebt es überhaupt einen allein echten, einen allein wahren Stil? Bist du es, der ihn bringt? Wird in deiner Heimat ganz ausschließlich nur nach ihm gebaut? Du schweigst. Ich will dasselbe thun!“ [498] Es ist ganz selbstverständlich, daß der gute Tifl nicht so sprach, wie ich seine Aeußerungen hier niederschreibe. Er gab sich alle Mühe, die Ausdrucksweise seines Herrn nachzuahmen, und es war wohl rührend, zu hören, daß ihm das Unmögliche so ganz und gar nicht gelingen wollte. Aber ich hatte da wieder einen hochinteressanten Beweis von dem Einflusse jenes wohlthätigen Geistes, der mit dem geheimnisvollen Herrn des „hohen Hauses“ hier bei den Dschamikun eingezogen war. Ich mußte zwar vieles erraten und manches ergänzen, aber die Hauptsache war doch die, daß Tifl den Ustad verstanden hatte und mit mir nun hierüber sprechen konnte. Auf diesem bescheidenen Wege hatte wohl manches tiefe und schöne Wort des greisen, ehrwürdigen Denkers nicht nur im Duar, sondern auch noch weit über ihn hinaus die beabsichtigte Verbreitung gefunden. Der Mund des „Unmündigen“ spricht oft wirkungsvoller als die Lippe der Gelehrsamkeit. Als wir den Weg nun fortsetzten, führte er uns aus den Gärten heraus auf eine grüne Alm, die sich bis hinauf zu den Blumensäulen des Beit-y-Chodeh ausbreitete, hinter welchem dann der hohe, von zahlreichen Pfaden durchzogene Wald begann. Der Tempel selbst war, wie bereits längst gesagt, von einem umfangreichen Strauch- und Rosenpark umgeben, den des Schattens und der Winde wegen breitkronige Bäume flankierten. Als wir durch diese Anlage kamen, hätte ich am liebsten anhalten lassen, um aus der Sänfte zu steigen und bewundernd von Strauch zu Strauch, von Busch zu Busch zu gehen. Was für herrliche Rosen waren da zu sehen! Wie verschieden die Sorten, und wie schön jede einzelne in ihrer Art! Und zwar in dieser Höhe des Gebirges! Welche Mühe und Arbeit, welche Liebe und Geduld war nötig gewesen, um alle die duftenden Kinder des [499] Tieflandes und der windesstillen Täler hier oben zu akklimatisieren! Mit welchem Verständnisse war der Park angelegt, und wieviel fleißige „Blumenhände“ gehörten dazu, ihn so zu erhalten, wie er jetzt vor mir lag! Ich sah, daß man noch bis in die letzten Stunden mit dem Messer thätig gewesen war, um alles zu entfernen, was sich als unschön oder auch nur überflüssig zeigte. Das Beit-y-Chodeh lag mitten in dieser Herrlichkeit auf einer breiten, weit hervorstehenden und festgegründeten Felsenplatte; die aus der kompakten Masse des Berges nur zu dem Zwecke hervorgesprungen zu sein schien, als Trägerin eines so weit in die Umgegend hinausleuchtenden Gotteshauses dienen zu sollen. Die abfallende Lage brachte es mit sich, daß die vordern Säulen auf hohem Felsen fußten, der auf breiten Stufen zu ersteigen war, während die hintere Seite sich auf der Berührungslinie des Steines mit dem Berge erhob. Das Innere des Tempels war mit Platten ausgelegt und, wie schon einmal erwähnt, vollständig leer. Aber heut hatte man vorn, an der östlichen Säule, von welcher aus sich die beste Aussicht in die Weite und ein Ueberblick der ganzen Nähe bot, für mich einen Sitz hergerichtet, nach welchem ich direkt getragen wurde. Als ich ausgestiegen war, entfernten sich die Leute mit der Sänfte; Tifl aber sagte: „Ich bin dein Diener für den ganzen Tag, Effendi. Ich werde stets dort an der hintersten Säule sein. Du brauchst mir nur zu winken, wenn ich zu dir kommen soll. Aber es ist der Wunsch des Ustad und auch des Pedehr, daß niemand dich belästige. Sie bitten dich, zu denken, du seiest zwar hier in unserer Mitte, aber ganz unsichtbar für Jeden, mit dem du nicht verkehren willst. Hast du jetzt etwas zu befehlen?“ [500] „Bleib jetzt noch hier bei mir,“ antwortete ich. „Ich bin doch fremd und werde dich wahrscheinlich zunächst um Auskunft zu bitten haben.“ Er erwartete wohl, daß ich mich setzen werde; aber dies zu thun war mir unmöglich. Der Blick, der sich mir von dieser Stelle aus bot, war so köstlich, so einzig, so unvergleichlich schön, daß er einen Sterbenden hätte zwingen können, die Augen wieder aufzuschlagen und nach diesem Erdenparadiese zurückzukehren. Die Sonne stand jetzt fast im Scheitelpunkte; also lag das Innere des Tempels, durch welchen ein reger Lufthauch strich, in kühlem Schatten. Ich lehnte mich an die Außenseite der Säule und ließ mein Auge rundum wandern gehen. Im Osten schlossen sich die Berge bis auf jene Lücke, welche den Weg nach dem Hasen- und Courierpaß offen ließ. Im Norden ragten himmelhoch die stillen, ernsten Gipfel, die durch Nadel- und dann Laubwald, immer wilder werdend, zu den Gärten und mit diesen bis mitten in den Duar hinabstiegen. Im Süden stand ich hier auf frommer Höhe, und im Westen trat das „hohe Haus“, den Blick gefangen nehmend, aus dem mächtigen Massiv der schweren Felsenwand hervor. Tief unten lag der See. Da die Sonne fast senkrecht über ihm stand, so strahlte er in jenem köstlichen, adularen Blauweiß, welches den ceylonischen Mondsteinen eigen war, die mir in den Juwelenläden von Colombo zum Kaufe angeboten wurden. Auf dem Hauptwege des Duar herrschte reges Leben. Die Bewohner begannen, ihre Häuser und Zelte zu verlassen, um zum Beit-y-Chodeh emporzusteigen. Die Frauen und Mädchen trugen in malerischer Weise auf den Köpfen oder Schultern Thongefäße oder selbstgeflochtene Körbe mit Blumen und [501] den Speisen, welche mitzunehmen waren. Die sich nicht, wie sonst im Oriente, absondernden Männer gingen ihnen würdevoll zur Seite. Die Kinder füllten, stets in lebhafter Bewegung, sämtliche Lücken aus. Das waren nicht die langsamen, schweren, melancholischen und nur selten eine Miene verziehenden Puppen, als welche im Morgenlande sich so oft die Kinder zeigen! Auch ein Teil der Tierwelt war mit in Bewegung, denn man hatte für frische Milch zu sorgen; die deshalb mitzunehmenden Kühe und Ziegen waren mit grünen Zweigen geschmückt, und manche von ihnen trugen bunte Sträuße auf den Hörnern. Waffen sah ich nicht. Es war ein Bild der Eintracht und des Friedens. Das alles erfaßte ich mit einem kurzen Blicke. Dann lenkte ich meine Aufmerksamkeit dem „hohen Hause“ zu. Was ich in Tifls Manier von dem Gespräche des Ustad mit dem Fremden über dieses Haus gehört hatte, das sah ich nun vor meinen Augen liegen. Es war einiges dabei gewesen, was ich nicht verstehen konnte; nun aber begriff ich es sofort. Ja; der Ustad hatte recht gehabt: ich sah eine in Stein laut tönende Predigt der Jahrtausende vor mir liegen. War sie häßlich, war sie schön? Das fragte ich mich nicht. Ich sah und hörte sie zu mir herüberklingen, in Tönen, die so gewaltig waren, daß für Stilfragen weder Zeit noch Raum in mir gefunden wurde. Die Wirkung war da; was kümmerte mich der Stil! Was sind die altindischen Tempel? Die ägyptischen Pyramiden? Die mittelamerikanischen Teocalli? Gewaltige Menschenwerke, welche der Zerstörung bis heutigen Tages trotzten, ja. Doch reden sie zu uns von einer gewissen, ganz bestimmten Zeit in einem ebenso gewissen, ganz bestimmten Tone. Hier aber lag ein Bau vor mir, [502] zu dem in unberechenbarer Vorzeit der Grund gelegt worden war; die später Gekommenen hatten ihn fortgesetzt, und heut sah ich, daß er noch fortzusetzen war. Also kein Ueberrest aus einer vergangenen, besonderen Epoche, sondern ein steinernes Kalenderwerk von Anbeginn bis auf die Gegenwart, mit Raum auch noch für die zukünftige Zeit! Von Anbeginn? Ja, von Anbeginn! Denn die lange, untere, massive, viele, viele Meter hohe und bis in das Innere des Berges reichende Mauer hatte kein anderer als nur der gegründet, der von Anfang war! Waren vielleicht die höheren Teile dann ihm geweiht gewesen? Wie hieß hierauf der Mensch, der mächtige, dem diese Riesenmauer noch zu niedrig gewesen war? Vielleicht Olor, der sagenhafte? Oder war es Hasisadra, von dem man sagt, daß er zur Zeit der Sündflut dort König gewesen sei? Hatte er das Nahen der Flut geahnt und baute höher, um sich vor ihr zu schützen? Oder ging der Geist des ersten Brudermordes, Kains Gespenst, im Lande um? Mußte der Mensch sich von den Menschen durch Mauern trennen, die selbst für Giganten unersteigbar waren? Denn die Riesenquader, welche ich auf Gottes Fundament an- und übereinandergefügt sah, hatten wenigstens dieselben Dimensionen, wie die weltberühmten Mauersteine, welche die Umfassungsmauer von Baalbeck bildeten. Ich selbst bin, um ihn auszuschreiten, dort auf einen Block gestiegen, den man Chadschar el Hubla nennt, und habe ihn über einundzwanzig Meter lang, mehr als vier Meter hoch und genau vier Meter breit gefunden. Und hier am „hohen Hause“ zählte ich sechs Lagen solcher Steine. Sie waren nicht durch Mörtel, sondern durch ihre eigene Schwere miteinander verbunden und hatten so fein und [503] genau geschliffene Seiten, daß von da aus, wo ich stand, selbst nach verflossenen Jahrtausenden die Fugen nicht überall deutlich zu erkennen waren. In gleicher Höhe mit ihnen lagen in den Seiten des Berges die Brüche, denen man diese Kolosse entnommen hatte. Sie waren dunkel, fast schwarz gefärbt. Welche Art von Gestein, das konnte ich natürlich von so weit aus nicht bestimmen. Was für Innenräume waren durch diese Quader wohl nach außen abgeschlossen worden? Es gab in gewissen Zwischenräumen Oeffnungen, um Luft und Licht den Zutritt zu gestatten. Ich war sehr wißbegierig, zu erfahren, ob man noch heut von oben da hinuntersteigen könne. Da die Treppe eine spätere Erfindung ist, so hatte früher wohl ein steinerner Gangweg hinaufgeführt. War ein solcher doch sogar bis fast auf die Spitze des babylonischen Turmes, natürlich in Spiralen, angelegt gewesen! Jene Zeit verwendete kolossale Kräfte auf den Gebrauch kolossaler Mittel. Waren die Zwecke entsprechend groß? Wer will und kann die Antwort übernehmen? Diese Riesenquadermauer erreichte nicht die volle Breite des Felsenfundamentes. Es war überhaupt jedes folgende Stockwerk schmäler als das vorhergehende gebaut, dafür aber mehr artikuliert. Je mehr der Geist den Stoff beherrscht, desto weniger ist von dem letzteren zu gleichem Zwecke nötig. Die obere Lage der Steine war etwas vorgerückt, vielleicht den sechsten Teil von ihrer Breite. Dadurch war der Abschluß erreicht worden, der zugleich als Brüstung für das jedenfalls glatte Dach gedient hatte. Welchem Zwecke hatte dieser cyklopische Bau gedient? Der Verehrung des großen, einzig-einen El, dessen Name [504] in so vielen Gottesnamen wiederklingt? Warum ihm, dem „Allanwesenden“ und „Nieverschwindenden“ diese unzerstörbaren Felsenblöcke auf unwandelbarer, von der Natur selbst hergestellter Unterlage? Wie lange wohl hatte das obere Dach dieses Souterrain, wie ich es nennen will, das Sonnenlicht geschaut? Wer kann es sagen! Dann waren Andere gekommen und hatten weitergebaut. Die folgende Etage war, wie bereits erwähnt, schmäler; auch trat sie etwas zurück, um eine Vorhalle bilden zu können. Auch sie bestand aus schweren Werkstücken, welche teils dem schon angegebenen, teils den darüberliegenden Brüchen entnommen waren. Das Material der letzteren hatte hellere Farbe. Darum schaute die Etage nicht so sehr tiefernst, fast drohend wie das Erdgeschoß zu mir herüber. Sie war nicht hoch, zeigte dafür aber schon das Bestreben der Gliederung und des figurenbildenden Meißels. Die vordere Seite wurde nicht von einer kompakten Mauer gebildet, sondern von starken, breiten, ungemein tragfähigen Pfeilern, deren Zwischenräume dem Sonnenlicht direkten Zutritt gewährten. Der Abschluß über ihnen ließ schon den Versuch zur Bogenlinie sehen. Die beiden Pfeiler, welche den Haupteingang bildeten, fielen mir ganz besonders auf. Es traten aus ihnen zwei höchst eigenartige Hochreliefs hervor, welche sitzende Figuren bildeten, an denen die Zeit leider nicht schonend vorübergegangen war. Doch konnte man noch recht wohl erkennen, daß es sich um die Darstellung eines Wesens handelte, dessen Personifizierung vier Gesichter hatte. Durfte ich diese Figuren nur als Andeutung der Himmelsrichtung, der vier Winde betrachten? Ganz gewiß nicht. Wer wurde mit vier Gesichtern abgebildet? Brahma. Aber ihm direkt war doch nie ein Tempel geweiht! Und die Reste, welche von der [505] einstigen Vorhalle noch übrig waren, deuteten auf das alte Persien, nicht aber nach Indien hin. Sie war von einem auf leichteren Pfeilern ruhenden Dach überdeckt gewesen. Wahrscheinlich hatte es den Himmel darstellen sollen. Es war längst eingefallen, und von den Pfeilern standen nur noch zwei, deren Knäufe menschlichen Köpfen mit Hals und Schultern glichen. Von den letzteren gingen nach den Seiten Flügel aus, um das Architrav zu bilden. Geflügelte Wesen! Sollte diese Meißelarbeit auf die Strahlenflügel schlagenden Amschaspands deuten, welche nach altiranischem Glauben den Himmel bevölkerten und im Sonnenlichte zur Erde niederschwebten, um die Wünsche der Menschen im Gebete zu Gott emporzutragen? Man darf heutzutage kaum mehr von den Engeln reden, obgleich sogar in der Bibel zu wiederholten Malen und deutlich genug von ihnen erzählt und gesprochen wird. Warum? Der Eine versteht unter ihnen wirklich existierende Geschöpfe Gottes; der Andere läßt sie nur als Personifikationen gewisser Kräfte oder Eigenschaften gelten. Welcher von Beiden hat recht? Aber wer gab dem Anderen die Erlaubnis, über den beglückenden Kindesglauben des Einen zu zürnen? Und von wem wurde diesem Einen der Auftrag, dem Anderen zu verbieten, die Ursachen und Wirkungen im Bereiche der irdischen Natur zu poetischen Gestalten zu verklären? Die heilige Schrift bedient sich beider Anschauungsweisen. Sie erzählt von persönlich auftretenden Engeln, und sie spricht von Winden und Feuerflammen, die sie Engel nennt. Nur der Mensch allein ist es, der da ewig deutelt! Abermals zurücktretend und wieder etwas schmäler folgte nun ein zweietagiges Geschoß. Es stellte sich, obgleich aus hellerem Material gebaut, nichts weniger als [506] freundlich dar. Es hatte nur oben Fensteröffnungen, nicht aufrecht stehend, sondern wagrecht liegend, als solle jeder Blick von außen her abgewiesen werden. Wie schmal, wie niedrig sie doch waren! Und unten gab es nur eine ebenso schmale Thür, deren Oberschwelle von zwei steinernen Tafeln gebildet wurde. Sie hatten eine Schrift enthalten, welche man wahrscheinlich noch jetzt entziffern konnte, doch sah ich, daß sie durch einen quer darübergehenden Riß wie ausgestrichen worden war. Sie hatten nicht Festigkeit genug gehabt, den Druck von oben auszuhalten. Dieser Bau sah ganz so aus, als müsse sein Bewohner jeden Augenblick aus der engen Thür treten, um in alle Welt hinauszurufen: „Daß sich mir niemand nahe! Ich bin der Auserwählte von Anfang an und werde es ewig bleiben!“ Auf dem Vorhofe sah es wüst aus. Auf Haufen von Schutt und Scherben wucherte dichtes Unkraut. Besonders vor der Thür waren die Disteln und Stechranken so undurchdringlich geworden, daß der erwähnte imaginäre Bewohner am besten drinzubleiben und zu schweigen hatte. Ueppige Dornen wanden sich auch um den Ueberrest eines steinernen Gebildes, dessen Gestalt ich also nicht erkennen konnte. Es schien eine Säule zu sein, die sich in sieben Arme geteilt hatte. War es vielleicht ein Kandelaber gewesen? Aber die Arme hatten einander nicht gekreuzt gegenübergestanden, sondern ihre noch vorhandenen Stümpfe zeigten, daß sie nebeneinander, also in gleicher Fläche, emporgerichtet gewesen waren. Wo giebt oder gab es solche Leuchter? Wem war das siebenfache Licht verlöscht, als jener Riß dort an der Thür quer über die beiden Tafeln ging? Hatte der „allanwesende El“ da unten im Erdgeschoß nicht Macht genug besessen, die Leuchter hier oben [507] zu schützen? Oder hatte man sein vergessen gehabt, grad so, wie man das Vermächtnis dessen vergaß, der einst in Chaldäa sein wirklich Auserwählter gewesen war? Jede der bisherigen Etagen hatte, wenn nicht einen besonderen Stil, so doch wenigstens Einheitlichkeit. Nun aber kam ein Geschoß, welches nur das Einheitliche besaß, daß die Gesamtfassade aus einem und demselben Material bestand. Dies war ein weißlichgrauer, dichter Kalkstein, vermengt mit den Ueberresten fossiler Organismen, Schnecken, Muscheln und Korallen. Das Bauwerk erhielt durch diese hellere Färbung, welche auch die in gleicher Höhe liegenden Brüche zeigten, ein freundliches, beinahe einladendes Aussehen; leider aber wurde dieser gute Eindruck fast vollständig dadurch aufgehoben, daß es sich in allen übrigen Beziehungen als ein architektonisches Quodlibet darstellte. Es gab Thore und Thüren in den verschiedensten Formen und Größen. Eine imposante Freitreppe führte zu einem so engen und niedrigen Thürchen, das man nicht aufrecht passieren konnte; man war gezwungen, zu kriechen. Und vor einem hohen, breiten, weitgeöffneten Thore lag eine alte, schmale, wackelige, hölzerne Treppenstiege, der eine ganze Anzahl von Stufen abhanden gekommen waren. Es gab Eingänge ganz zur ebenen Erde und aber auch solche, die man nur per Leiter erreichen konnte. In so ganz verschiedener Höhe lagen auch die Fenster, bei denen die Ungleichheit noch viel größer als bei den Thüren war. Keines befand sich in gleicher Höhe mit dem anderen. Neben breiten, hohen Saal- oder Kirchenfenstern gab es kleine, arme Gucklöcher, in die kein Mensch den Kopf zu stecken vermochte. Hier war eines vollständig unbeschützt, dort ein anderes mit einem so starken Laden versehen, als ob man sich vor ganzen Räuber- [508] banden zu fürchten habe. Man denke sich hierzu die ebenso unregelmäßig und verworren angebrachten, oft ganz schief gehenden Haupt-, Brüstungs-, Gurt-, Kämpfer- und Sockelgesimse, die Eckarmierungen und Lisenen, die „Säulen- und Pilasterstellungen“, zwischen denen es keine einzige verbindende Idee gab, so kann man sich wohl schwerlich darüber wundern, daß der Fremde, von welchem Tifl mir erzählte, dieses Bauwerk häßlich genannt hatte. Ein anderer hätte es wohl gar als lächerlich bezeichnet, was doch noch schlimmer als nur häßlich ist! Und das Dach, oder vielmehr die Dächer? Denn ein einheitliches Dach, das gab es nicht. Ich sah zwei einander nahestehende, sehr hohe Abteilungen, welche noch gar nicht ausgebaut waren, von ihnen eingeengt aber, kaum einige Meter breit, ein winziges Parterregelaß, dessen nadeldünne Turmspitze zwischen den beiden anderen hoch empor und weit über sie hinausragte. Tief unten eine Zwiebelkuppel, hoch oben über ihr ein Schindeldach! Daneben ein mit Ziegeln gedeckter Balkenreiter! An dem einen Ende ein runder Quaderturm, stolz für die Ewigkeit gebaut, und doch schon fast in sich zusammengestürzt, weil auf die allerschwächste Stelle der Unterlage gesetzt. An dem anderen ein hagerer, schiefer Campanile, auch noch nicht fertig, weil er beim Weiterführen unbedingt eingestürzt wäre, denn man hatte ihn zwar absichtlich schief gebaut, aber den Schwerpunkt falsch berechnet. Wer war der Architekt, der dieses Unikum ersann? Oder hat ein solches Quodlibet gar nicht in seiner Absicht gelegen? Hat er keinen Plan, keine Zeichnung hinterlassen? Hat er keine Weisungen gegeben? Kein einziges Wort über die Aufgaben gesagt, die er den Arbeitern zu stellen hatte? Sollte es nicht eine Wohnung [509] für viele unter einem einzigen Dache werden? Wo sind die hin, welche anfingen, und dann die, welche aufhörten, hier zu bauen? Warum steht das ganze Gebäudekonglomerat jetzt leer? Warum haben nicht einmal die Dschamikun sich entschlossen, es zu bewohnen? Befürchten sie, daß es zusammenbrechen werde? Oder ist ihnen ihr auf Gottes ebenem Boden und am klaren Wasser liegender Duar lieber als die fremdartige, untrauliche Baute, die wie die Bergeszellen am Dschebel Qarantel bei Jericho1) [1) Siehe S. 339.] nur unfreiwilligen Anachoreten zur Wohnung dienen konnte? - Abseits von diesen bergan kletternden Etagen und von ihnen durch die schon wiederholt erwähnte Pferdeweide getrennt, lag in südlicher Richtung ein anderes Bauwerk, welches nun jetzt mein Auge auf sich zog. Der Grundfelsen stieg hier viel weiter als da drüben den Berg empor. Er trug ganz so wie dort, aber bedeutend höher, die Riesenmauer, von deren kolossalen Quadern der Garten des Ustad und der Vorplatz gehalten wurde, auf dem ich im Schatten der Dälbiplatanen gesessen hatte. Die Breite des Vorplatzes und Gartens freigebend, stand hier nun das gastliche Haus, dessen Bewohnern wir so viel, so viel zu verdanken hatten. Es war mir möglich gewesen, schon einen Teil desselben zu sehen, vom Vorplatze aus. Aber der lag so nahe am Gebäude, daß ich wohl an ihm emporschauen, es aber nicht ganz überblicken konnte. Nun sah ich es vollständig vor mir liegen. Da bemerkte ich denn, daß es aus einem uralten und aus einem späteren Mauerwerk bestand. Zu dem ersteren gehörte das Gewölbe, in welchem [510] jetzt die gefangenen „Soldaten“ steckten. Es stieg dann noch um zwei Stockwerke höher empor und schien ein altpersischer Wartturm gewesen zu sein, zum Aufenthalte für die Personen bestimmt, welche man in unserer Ritterzeit die Knappen nannte. Das einstige „Herrenhaus“, um zwei Geschosse höher gebaut, lag etwas davon entfernt. Sein glattes Dach hatte eine Mauerkrönung nach altassyrischer Weise. Haus und Wartturm waren später durch den jetzigen Versammlungssaal verbunden worden, in welchem Halefs und mein Lager sich befanden. Ich sah auf dem Dache dieses Saales Laubhütten stehen, in denen, wie ich später hörte, Hanneh und Kara schliefen. Daß es in dem Kalkfelsen über dem Hause Höhlen gab, habe ich schon erwähnt. Auch daß in einer von ihnen die Glocken hingen, zu denen ein Weg und eine bequeme Treppe führte. Nun aber sah ich noch etwas bisher für mich vollständig Unbekanntes. Nämlich das eigentliche „hohe Haus“. Ich hatte bei dieser Bezeichnung stets nur an die Wohnung des Ustad gedacht. Jetzt glaubte ich, den vorhin beschriebenen Etagenbau so nennen zu müssen. Ich fragte Tifl, und er sagte mir, daß das wirkliche „hohe Haus“ dort auf der höchsten Höhe stehe, daß man aber nebenbei diese Bezeichnung auch den beiden anderen Bauwerken gebe, weil auch sie von den Bewohnern des Duar dem Ustad überlassen worden seien. Auf der Spitze des Berges, hoch über der ganzen Umgegend, doch auf bequemen Pfaden zu erreichen, da, wo der klare Himmel sich für das Auge auf die grüne Alpe legte, stand in andächtiger Erdenstille ein nach vier Seiten offenes, weitgespanntes, weißes Leinwandzelt. So schien es mir beim ersten Blick. Aber die vermeintliche Leinwand empfing die Strahlen der über ihr stehenden [511] Sonne nur, um sie in so wunderbarer Weise in das Thal herniederzubrechen, daß ich mein Auge mit der Hand beschirmte, um das flimmernde Licht von ihnen abzuhalten. Da sah ich freilich, daß es nicht Leinen, sondern, man denke, Alabaster war. Freilich aber ist da nicht der echte Gipsalabaster gemeint, den man z. B. in Derby und Volterra findet und zur Herstellung teurer Kunstwerke verwendet, sondern der mit dem Tropfsteine verwandte und häufig vorkommende Kalkalabaster, den die Kalkhöhlen ihres Berges den Dschamikun geliefert hatten. Tifl bestätigte mir dieses letztere. Er nannte den Alabaster „weißen Rucham“1) [1) Marmor.] und sagte: „Im Innern dieses Berges und auch anderer Berge der Umgegend giebt es sehr große Mengen dieses schönen Steines. Man erkennt sein Vorhandensein an dem Wasser, wenn es aus dem Gebirge zu Tage tritt. Es löst den Kalk wie Zucker auf und setzt ihn in den Felsenzwischenräumen als festen Rucham wieder an. Doch nimmt es noch so viel Kalk mit sich fort, daß man ihn leicht bemerkt.“ „Wer hat das Zelt da oben gebaut?“ „Wir.“ „Giebt es denn Leute bei euch, welche gelernt haben, diesen Stein zu brechen, zu bearbeiten und zu polieren?“ „Ja. Der Ustad hat es sie gelehrt. Als er noch jung war, hat er in den Städten, wo es große Plätze für die Toten giebt, überall gern den Kabristan2) [2) Friedhof.] besucht, um die Grabdenkmäler zu betrachten. Er verweilte sehr oft in den Werkstätten der Bildhauer, wo die Türban3) [3) Grabsteine.] gehauen werden, um mit ihnen darüber zu sprechen, welche Gestalt und welchen Sinn man ihnen eigentlich [512] geben sollte. Da hat er nicht bloß zugeschaut, sondern auch mit zugegriffen und also gelernt, wie Bildnissteine zu behandeln sind. Von dem Zelte da oben hat er eine Zeichnung gemacht und vorher alles genau berechnet, ehe er mit den Leuten, die er dazu aussuchte, an die Arbeit ging. Sie waren nicht geübt, und es ist also manches Stück von ihnen zerbrochen oder verdorben worden. Aber der Ustad hatte Geduld, und so wurde das Werk, wie du siehst, endlich doch so fertig, wie es von ihm vorgeschrieben war. Aber es hat viel Zeit gekostet, sehr viel Zeit, weil die Arbeiter alles erst zu lernen hatten!“ Das glaubte ich ihm gern. Einem höhern Gedanken zeitlich dauernde Gestalt zu geben, dabei hat ja die Zeit ganz vorzugsweise mit beteiligt zu sein. Wahre Kunstwerke werden nicht vom Augenblick vollendet, auch wenn ihm gewandte Hände und nicht ungeübte Dschamikun zur Verfügung stehen. „Gefällt es dir, Effendi?“ fuhr Tifl fragend fort. „Gefallen? Das ist zu wenig gesagt. Ich möchte täglich hier stehen und zu ihm aufwärts schauen. Es wohnt ein Wort in diesem Zelte, ein großes, ernstes, und unendlich vertrauensvolles Wort. Es fällt mir jetzt nicht ein; ich muß es aber finden.“ „Vielleicht weiß ich es und kann es dir sagen.“ „Du?“ fragte ich verwundert und ungläubig. „Ja, ich! Freilich bin ich nicht klug genug, hierüber nachzudenken und das Wort zu finden. Aber wahrscheinlich ist es dasselbe Wort, welches der Ustad sagte, als das Zelt fertiggeworden war. Er bezeichnet es auch oft mit ihm.“ „Welches Wort ist es?“ „Amen! Wenn er von dem Zelte spricht, so nennt er es zuweilen „unser Amen“. Ich verstehe das nicht; aber du wirst es begreifen.“ [513] Ja, ich begriff es. Amen! Das war das richtige Wort. Nun ich es hatte, zeigte mir mein Auge die Bestätigung. Ich hatte bisher nicht auf einen Umstand geachtet, den ich erst jetzt bemerkte. Die Stelle, an welcher das Zelt stand, lag nämlich gerade über dem Etagenbau. Indem ich nun den Linien desselben folgte und sie bis oben weiterführte, sah ich, daß der unten auf der breiten Felsenbasis ruhende und aufwärts immer schmäler werdende Bau bei einer gedachten Weiterführung ein gleichschenkeliges Dreieck bilden mußte, dessen Spitze ganz genau das Zelt berühren würde. War dies Berechnung vom Ustad? Jedenfalls! Das Thema der vor mir in Stein erklingenden Predigt hatte mir der Felsengrund im tiefsten Tone heraufzurufen: „Wo warst denn du, o Mensch, als ich die Berge gründete? Wo stecktest du, als ich die Sonnen einst entzündete? Wo sind sie alle hin, die hier zum Berge kamen? Bau auf mein ew'ges Wort; steig auf zur Sonne. Amen!“ So sprach der Fels, der einst aus der Tiefe stieg, um alles, was da lebt, emporzuheben. Und nun der Menschenbau? Seine Lippe war längst erstarrt, hohl, leer und darum stumm sein Mund. Aber seine steinerne Leiche lag vor mir ausgestreckt in jener wortlosen und doch überwältigenden Beredsamkeit, die jedem von der Seele verlassenen Leibe eigen ist. Dann kam die leer gebliebene und also der Zukunft vorbehaltene Baustelle. Was sagte sie? Sie sprach nur Fragen aus. Wer ist es, der da kommen wird? Vielleicht einer, der niemals starb? Der, welcher mitten unter ihnen ist, wenn zwei oder drei versammelt sind in seinem Namen? Aber wenn er es thäte, würde er in der bisherigen Weise weiterbauen? Sprach er nicht immer nur von seines Vaters Hause, [514] in dem es viele Wohnungen gebe und daß er hingehe, sie für uns vorzubereiten? Warum also hier Stein auf Stein türmen, wenn wir gar nicht bleiben können? Warum Häuser neben und über Häuser bauen, während für unsere kurze Wanderung ja doch ein Zelt genügt? Da stand es oben, dieses Zelt, hell leuchtend an der Scheidelinie zwischen Himmel und Erde! Jahrtausende haben da unten gebaut, stark und fest wie für endlose Zeiten, und doch und doch vergeblich für die Ewigkeit! Und da kommst du, o Ustad, du Unbekannter, du, der du dem Auserwählten von Chaldäa gleichst, der dort sein Zelt abbrach, um es im Haine Mamre wieder aufzuschlagen. So schlugst auch du dein Zelt da oben auf. Du nennst es das Amen der unter ihm erklingenden Berg- und Felsenpredigt. Ich habe dich verstanden. Möchten doch auch andere dich verstehen! - - - Ich hätte jetzt noch gern verschiedene Fragen an Tifl gerichtet; aber da erklangen drüben, ganz unerwartet für mich, die Glocken, und ich sah die Dschamikun erscheinen. Sie bildeten einen Festzug, welcher mir hinter dem dichten Grün der Gärten verborgen geblieben war. Nun er die offene Matte erreichte, mußte ich ihn bemerken. Voran schritt der Pedehr. Ihm folgte eine Anzahl meist graubärtiger Männer, welche zusammenzugehören schienen. „Das ist die Dschemma1) [1) Versammlung der Aeltesten, Gemeiderat.],[“] sagte Tifl. Nach ihnen kamen die Bewohner des Duar mit allen ihren Gästen, wohl geordnet, doch in beliebiger Reihenfolge, zunächst die männlichen und dann die weiblichen mit den Kindern und dem wirtschaftlichen Zubehör. Sie [515] zogen heran, erst über die grünende Weide, dann durch den duftenden Park. Als der Zug den Tempel erreicht hatte, löste er sich auf. Die Tiere wurden nach dem Waldesrande geführt, wo eine reichlich fließende Quelle frisches Wasser gab. Jedermann ging, wohin es ihm beliebte. Der Pedehr aber kam mit der Dschemma die Stufen heraufgestiegen. Es waren feierliche Augenblicke. Ich fühlte mich ergriffen von dem Gefühle ernster und doch froher Erwartung. Wo aber war der Ustad? Ich sah ihn nicht. Da bemerkte ich, daß die Männer der Dschemma ihre Blicke aufwärts nach dem Walde richteten. Ich drehte mich um. Er kam. Sein Gewand war kein anderes als das bescheidene, härene, in welchem ich ihn schon gesehen hatte. Er trug keinen anderen Schmuck als nur eine halboffene Rosenknospe an der Brust und eine ebensolche in der Linken. Aber wie er so aus dem dunklen Walde trat und sinnend mild zu uns herniederstieg, mußte ich an das Wort Jesaias, des Sohnes Amos denken: „Wie köstlich sind auf den Bergen die Füße der Boten, welche den Frieden predigen, das Gute lehren und das Heil verkündigen! Die da sagen zu Zion: dein Gott ist der Herrscher!“ An ihm war nichts, was glänzte und was gleißte. Doch alle, die ihn sahen, schauten ihm so aufrichtig liebend und ehrfurchtsvoll entgegen, daß ich von dem, was sie bewegte, auch ergriffen wurde. Als er den Tempel betrat, verneigten sie sich. Er dankte still und gütig lächelnd mit der Hand und kam dann her zu mir. Mir die Rose gebend und dabei mit der Rechten mein Haupt berührend, sprach er: „Friede sei mit dir und mit uns allen! Die Glocken [516] des Gebetes klingen. Dein Herz sei wie die Rose hier. Warum ich dieses sage, das wirst du später hören! Sei heut mit uns ein unbekannter Dschamiki! Wen nur der Himmel kennt, der hat die rauhe Hand der Erde nicht zu fürchten!“ Hierauf wendete er sich von mir ab und zu der Dschemma hin. Ich hörte, daß er sagte: „Wir haben noch weitere Gäste zu empfangen. Ich war hoch über den Wald hinaufgestiegen und schaute in das weite Land hinaus. Da sah ich einen Trupp von Reitern, welche in großer Eile aus der Morgengegend kamen. Sie haben den Duar wohl schon erreicht.“ „Wahrscheinlich sind es Kalhuran, die sich erkundigen wollen, ob ihr Scheik wohl bald zurückkehren werde. Man wird ihnen sagen, daß wir oben sind. Doch was ist das? Warum hat man den Läutenden das Zeichen der Warnung gegeben? Sind nicht Freunde, sondern Feinde angekommen?“ antwortete der Pedehr. Das Glockenläuten hatte nämlich plötzlich aufgehört, doch ohne daß die Glocken schwiegen. Sie sprachen in einzelnen, auseinander gehaltenen Schlägen weiter, ungefähr so, wie bei uns im Abendlande, wenn von dem Turme Feuer gemeldet wird. Und jetzt sah man einen Reiter kommen, der sich in größter Eile auf das erste beste ungesattelte Pferd geworfen hatte. Er achtete der Krümmungen des Weges nicht, sondern trieb das Tier trotz der Steilheit der Matte in gerader Richtung auf den Tempel zu. Sobald er sich vernehmlich machen konnte, hörten wir ihn rufen, konnten aber die Worte nicht verstehen. Sie schienen aber nichts Gutes zu enthalten, denn die am untern Park befindlichen Dschamikun, die sie deutlich vernommen hatten, erhoben ihre Stimmen in zorniger Weise, um die Botschaft schnell weiter zu [517] geben. Sie ging von Mund zu Mund, bis wir sie hörten: „Ghulam el Multasim, der Bluträcher, ist im Duar!“ Eine so feindliche Kunde mitten in die Klänge des Friedens hinein! An jedem andern Orte hätte sie gewiß eine augenblickliche und große Verwirrung hervorgebracht. Hier nicht. Der Ustad trat vor die Säulen hinaus und hob die Hand empor. Da trat augenblicklich tiefste Stille ein. Hierauf ging er auf die Dschemma zu und sagte: „Bleiben wir ruhig! Wer hat den Thürdrücker zum Gewölbe der Gefangenen?“ „Ich habe ihn hier,“ antwortete der Pedehr. „So kann der Rächer nicht zu ihnen. Wir haben Zeit. Warten wir, was der Bote sagt!“ Dieser war am Blumenpark vom Pferde gesprungen und zu Fuße herbeigeeilt. Er kam soeben die Stufen herauf und meldete: „Ghulam el Multasim ist da! Einige große Herren sind bei ihm und auch noch bewaffnete Leute, zusammen zwölf Personen. Ich stand mit meinem Sohne am Eingange des Duar, als sie kamen. Sie fragten nach euch.“ „Sind sie nach dem hohen Hause?“ erkundigte sich der Ustad. „Nein. Ich wies sie hier herauf und gab ihnen meinen Sohn als Führer mit. Ich wollte sie vom hohen Hause abhalten, weil es jetzt dort nur wenige Männer giebt. Dann nahm ich das Pferd und ritt zu euch herauf, gleich quer den Berg heran, um ihnen zuvorzukommen. Aber die Gärten hinderten mich. Die Perser werden wohl sofort erscheinen!“ Ja, sie erschienen. Sie hatten soeben die Matte erreicht und hielten einen Augenblick an, um das Terrain zu beurteilen. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung. [518] Sie hatten einen Entschluß gefaßt; welchen, das sollten wir sogleich sehen. Der Park war ihnen im Wege. Sie wollten nicht absteigen, sondern ihre Befehle den Dschamikun vom Sattel herab erteilen. Darum ritten sie um ihn herum. An der hintern Seite angekommen, brachen sie durch die Rosen und kamen zwischen den Säulen zu uns herein, um ihre Pferde grad vor der Dschemma anzuhalten. Ein Dutzend Personen! Niemand fürchtete sie, obgleich sie, wie man zu sagen pflegt, bis an die Zähne bewaffnet waren. Aber es war nicht nur die Störung des Festes, auf welches sich jedermann gefreut hatte, zu beklagen, sondern der so unerwartete Einbruch des Bluträchers konnte auch außerdem sehr leicht noch Folgen haben, die jetzt nicht vorauszusehen waren. Ghulam stand im Rufe der Grausamkeit, und als Grausamer war er feig. Die Feigheit greift sehr gern zur Hinterlist. Was führte er im Schilde? Von den zwölf Reitern hatten einige das Aussehen vornehmer Leute. Sie ritten teure Pferde. Wenn sie die Freunde des Multasim waren und sich seiner Sache annahmen, konnte ihr Einfluß bei Hofe dem Ustad und seinen Dschamikun wohl schädlich werden. Ich war außerordentlich gespannt darauf, zu sehen, wie er sich überhaupt verhalten und was er im Besondern zu der rohen und rücksichtslosen Entweihung seines Tempels sagen werde. Konnte irgend eine Gelegenheit geeignet sein, ihn mir so zu zeigen, wie ich ihn kennen lernen wollte, so war es die gegenwärtige hier. Einer von den zwölfen ritt einen hochgebauten turkmenischen Fuchs von, wie es schien, hochedler Tiukihrasse. Er war ein schöner Mann von gegen sechzig Jahren, schwarzgrau bebartet, sehr wohlhabend gekleidet und außer mit ausgelegten Schießwaffen mit einem krummen Säbel [519] versehen, dessen von Steinen blinkende Scheide für sich allein ein kleines Vermögen bedeutete. Ich habe überhaupt keine besonders große Vorliebe für sogenannte schöne Männer, und wenn sie sich selbst bei gewöhnlichen Gelegenheiten so herausputzen wie dieser hier, so lasse ich sie am liebsten ihrer Selbstbewunderung über. Die wahre, edle Schönheit bedarf des Putzes und des Tandes nicht. Dieser Mann war Ghulam el Multasim, der sich einbildete, mit zwölf Pferden den ganzen Widerstand der Dschamikun niederreiten zu können. Er sah sich, sobald sein Turkmene still stand, im Kreise um, nahm den Ustad scharf in das Auge und fragte ihn in strengem Tone: „Wer bist du?“ Der Gefragte that, als ob er ihn weder gehört noch gesehen habe, als ob er gar nicht vorhanden sei. Er sagte zum Pedehr: „Reinige den Tempel! Sobald ich zurückkehre, wird die Feier dieses Freudentages beginnen.“ Hierauf ging er langsamen Schrittes hinaus zu seinen Rosen. „Der ist taub!“ lachte der Multasim. Und sich nun an den Pedehr wendend, fragte er diesen: „Wer war dieser alte Mann, der weder Augen noch Ohren zu haben scheint?“ Auch der Scheik antwortete nicht, wenigstens nicht durch Worte. Er that einige Schritte bis vor die nächste Säule hinaus und wehte mit einer emporgehobenen Falte seines weißen Oberkleides zum hohen Hause hinüber. Das Zeichen wurde gesehen; die Glocken verstummten. Hierauf rief er den draußen in den Gängen des Parkes wartenden Dschamikun einige mir nicht geläufige kurdische Worte zu. Das war ein Kommando, dem sie augenblicklich gehorchten. Sie besetzten im Nu und auf allen vier Seiten das In- [520] nere des Tempels in der Weise, daß für keinen Unbewaffneten ein Entkommen möglich gewesen wäre. Dann wendete er sich wieder zurück, sah dem Perser groß in die Augen und sagte: „Der ehrwürdige Mann, der jede Roheit flieht, ist der Schah-in-Schah der Dschamikun, die ihn ihren Ustad nennen. Ich bin der Scheik desselben Stammes. Wer bist du?“ „Man pflegt mich Ghulam el Multasim zu nennen. Du wirst mich kennen!“ „Wenn du dieser bist, so kenne ich dich besser, als dir lieb sein kann! Weißt du, wo du dich befindest?“ „Der Ort ist mir gleichgültig!“ „Aber uns nicht!“ „Dieses Haus ist keine Moschee und keine Kirche!“ „Aber auch kein Pferdestall! Schaut euch um! Hier stehen zweihundert Dschamikun; da draußen noch weit mehr. Was habt ihr hier zu schaffen!“ Ghulam wurde unsicher. Er begann einzusehen, daß sein Einfall einen andern Ausgang nehmen könne, als er gedacht hatte. Da aber zog einer der Reiter, der neben ihm hielt, seine Doppelpistole aus dem Gürtel, spannte beide Hähne und rief: „Was sollen Worte! Wir sind Bluträcher. Namen zu nennen ist unnötig; aber ich bin Mirza1) [1) Prinz.], und hier sind noch zwei andere, die auch Mirza sind. Was aber seid denn ihr?“ Der Pedehr sah ihm ruhig lächelnd in das Gesicht und antwortete: „Mirza nennt sich heut ein jeder, dessen Urahne verurteilt worden ist, der spätere Mann eines früheren [521] Weibes in Teheran oder Isfahan zu sein. Die Dschamikun aber sind ohne Ausnahme alle Prinzen, echte, wirkliche, wahre Prinzen, nicht einer unrühmlichen Abstammung wegen, sondern zufolge der edlen Zwecke, für welche sie leben und für welche sie jetzt auch zu handeln wissen werden!“ Das waren beleidigende Worte. Die Pistole war gespannt, die andern elf besaßen wahrscheinlich mehr Mut als der Multasim. Es war für sie mit solchen Pferden und solchen Gewehren sehr wohl möglich, die sich ihnen entgegenstellenden Dschamikun niederzureiten. Und selbst wenn ihnen dieses nicht gelingen sollte, so mußte es, wenn es einmal zum Schießen kam, Tote und Verwundete geben. Da kam mir ein Gedanke. Ich näherte mich der Gruppe, um im befürchteten Augenblicke der Gefahr entgegentreten zu können. „Welch eine Frechheit gegen uns!“ rief der vorige Sprecher aus. „Wer hätte das zu dulden?“ „Ich nicht - ich nicht - ich nicht - - auch ich nicht!“ So riefen die andern alle, indem sie die Flinten oder Pistolen schußfertig machten. In diesem Augenblicke geschah etwas, was uns später oft Veranlassung zur heitern Erinnerung gegeben hat. Es kam nämlich jemand sehr eilig die Stufen herauf, drängte sich zwischen den dort stehenden Dschamikun hindurch und blieb dann für einen Augenblick stehen, um die Situation mit einem Blicke zu überfliegen. Dieser Jemand war unser Kara Ben Halef. Er hatte sich vollständig bewaffnet und trug außerdem meinen Henrystutzen in der Hand. Sein Erscheinen warf eine kurze Pause in die Scene. Als er mich stehen sah, trat er schnell auf mich zu, reichte mir den Stutzen und sagte laut, so daß es alle hörten: [522] „Es kam die Meldung auf das hohe Haus, der Bluträcher sei gekommen und mit elf andern hierher geritten. Ich wußte, daß ihr ohne Waffen seid, nahm schnell die meinen und bestieg die ‚Sahm‘, die am nächsten zu handen war, um dir, Effendi, so schnell wie möglich dein Gewehr zu bringen. Sechs schieße ich auf der Stelle nieder. Die andern sechs nimmst du mit deinem Stutzen, aus welchem du endlos schießen kannst, ohne daß du zu laden brauchst. Sag nur ein Wort zu mir, so geht es los!“ Er spannte den Revolver seines Vaters, den ich diesem geschenkt hatte, und richtete ihn auf die Perser. Diese sahen die gefährliche Waffe. Sie sahen auch den Stutzen, dessen fremdartige Konstruktion sie zur Vorsicht mahnen mußte. Der Multasim gab den andern mit der Hand ein Zeichen, zu warten, und richtete an Kara die Frage: „Du hast einen Revolver! Und ein so gänzlich unbekanntes Gewehr! Bist du ein Dschamiki?“ „Nein,“ antwortete Kara, indem er ihm herausfordernd in das Gesicht sah. „Wer denn?“ „Ich bin Kara Ben Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn vom Stamme der Schammar.“ Was war das mit dem Pferde des Multasim? Warum stieg es vorn in die Höhe? War das die Folge eines unwillkürlichen Schenkeldruckes seines Reiters? War er erstaunt? Oder gar erschrocken? Kannte er den genannten Namen? Sein Gesicht hatte den Ausdruck ungewöhnlicher Spannung angenommen, und fast hastig ließ er die Frage hören: „Dieser Hadschi Halef Omar ist Scheik der Dschesireh-Haddedihn?“ [523] „Ja,“ nickte Kara stolz. „Ist er jetzt daheim bei seinem Stamme?“ „Nein.“ „War er kürzlich in Bagdad?“ „Ja.“ „Er ist im Kellek den Tigris hinab?“ „Ja.“ „War er auch am Birs Nimrud?“ „Ja.“ „Allein?“ „Nein.“ „Wer war bei ihm?“ Der kluge, vorsichtige Jüngling sah ein, daß er hier zu schweigen habe. Er sprach: „Was fragst du mich? Du bist hier fremd, verwegen eingedrungen; ich aber bin der Gast der Dschamikun. Ich frage dich! Wenn du nicht Antwort giebst, so schieße ich dich auf der Stelle nieder! Was hast du hier zu suchen?“ Da hob der Pedehr die Hand abwehrend empor und sagte: „Nicht schießen! Im Gebiete der Dschamikun wird niemand getötet, außer Chodeh tötet ihn! Und hier ist eine Stätte des Friedens, die von keiner That des Hasses je entweiht werden darf!“ Da ließ Kara den Revolver sinken, sah enttäuscht zu mir herüber und fragte mich: „Was ist zu thun, Sihdi? Ich darf nicht, wie ich will!“ „Du kannst auch nicht,“ antwortete ich lächelnd. „Warum?“ „Schau den Revolver genauer an!“ Er that es. Da blitzte es lustig über sein Gesicht. [524] „Er ist ja gar nicht mehr geladen!“ rief er. „Die Patronen sind alle heraus!“ „Sollten sie einrosten? Ich selbst habe sie herausgenommen, am Tage, an welchem ich mein Krankenlager zum erstenmal verließ.“ „Aber dein Stutzen ist geladen?“ „Auch nicht!“ „Maschallah! So lacht man uns ja aus!“ Die Perser erhoben allerdings ein höhnisches Gelächter. Das störte mich aber nicht. Ich stand dem Multasim jetzt nahe und sah einen Ring der Sillan an seiner Hand. „Laß sie lachen!“ sagte er. „Wir brauchen keine Gewehre. Thue den Revolver ruhig weg!“ „Wenn du es sagst, Effendi, hat es guten Grund!“ Er schob die Waffe in den Gürtel, und ich gab ihm auch den Henrystutzen wieder. Da ließ der Multasim seinen Turkmenen bis ganz nahe zu mir herangehen und sagte: „Du wirst ‚Sihdi‘ und ‚Effendi‘ genannt. So nannte der Scheik der Haddedihn einen Fremden, der sich bei ihm befand. Bist du aus Dschermanistan?“ „Ja,“ antwortete ich. „Heißest du Kara Ben Nemsi?“ „Man nennt mich so.“ „Du warst mit dem Haddedihn am Birs Nimrud?“ „Ja.“ „So verdamme dich Allah tausendmal! Du wirst die Stelle, an der du stehst, nicht lebendig verlassen!“ Ich legte die Hand unter die Mähne seines Pferdes, befühlte die Muskeln und sagte höchst unbefangen: „Zu weich! Dieser Fuchs würde keinen langen Galopp aushalten. Du mußt ihm weniger Gerste geben und [525] ihn des Nachts in Decken hüllen, damit er sich das Fleisch härter schwitze!“ „Schweig, Hund!“ Früher hätte ich mir dieses Wort nicht gefallen lassen. Jetzt nahm ich es ruhig hin und fuhr fort: „Die Rippen liegen gut; aber für einen echten Tiukih ist der Hals zu kurz und der Kopf zu klein. Auch die Hufe müßten größer sein. Ich glaube, der Vater war ein voller Turkmene, die Mutter aber eine Araberin nicht allerersten Ranges.“ „Bist du verrückt?“ fuhr er auf. „Ich will mit dir wegen eurer Thaten am Birs Nimrud abrechnen, und du gebärdest dich, als ob ich als dein Reitknecht dir Rechenschaft über mein Pferd zu geben habe!“ „Was kannst du denn von unsern Thaten wissen!“ lachte ich, um ihn zur Unvorsichtigkeit zu verleiten. „Alles weiß ich, alles!“ rühmte er. „Was?“ „Daß ihr die Sill - - - - -“ Er hielt schnell und erschrocken inne. „Sprich weiter!“ forderte ich ihn auf. „Oder fürchtest du dich vielleicht vor mir?“ „Allah behüte mich, vor einem Christen Angst zu haben!“ „Bist du denn Muhammedaner?“ Ich sah den Augen seiner Gefährten sofort an, daß ich mit dieser Frage eine schwärende Stelle getroffen hatte. Darum fuhr ich fort: „Hättest du nicht eine persische Lammfellmütze auf dem Kopfe, so dürftest du wohl keinen Turban tragen! Ihr Christen raucht mit Muhammed den Kaliun1) [1) Persische Wasserpfeife.], so [526] lange er euch den guten Tabak liefert, und zwar zu billigem Preise oder gar umsonst. Sobald ihr aber zahlen sollt, schüttet ihr ihm euer schmutziges Pfeifenwasser vor die Füße und kehrt zu Isa und seiner Mutter Marryam zurück!“ Er wollte mir eine zornige Antwort zuschleudern; aber ich fuhr schnell fort: „Du hältst mich für deinen Feind und hast mich Hund genannt. Du solltest vorsichtiger sein! Du hättest wohl anders, ganz anders zu mir gesprochen, wenn dir bekannt gewesen wäre, daß ich dich grüßen soll!“ „Grüßen? Du? Mich?“ fragte er erstaunt. „Ja.“ „Von wem?“ „Wünschest du, daß ich hier den Namen sage?“ „Ja.“ „Ich thue es nicht.“ „Warum?“ „Weil ich dein Bestes will.“ „Mein Bestes? Glaubst du, etwas sagen zu können, was mir schadet?“ „Nicht bloß das! Aber es ist nicht nur dein Geheimnis, sondern auch das meinige. Ich rate dir, vorsichtig zu sein, denn es handelt sich nicht um dich und mich allein. Du täuschest dich in Personen, die du gar nicht kennst!“ „Ich verstehe dich nicht!“ gestand er verlegen. „Das glaube ich wohl! Ich will dich schonen und also vorsichtig sein. Du hast gefragt, von wem ich dich zu grüßen habe. Höre mich an, und sage mir, wenn ich innehalten soll, damit ich dir nicht schade! Sind dir die Ufer des Schatt el Arab bekannt?“ „Ja,“ antwortete er zögernd. [527] „Wohnt an ihnen jemand, der mir einen Gruß an dich anvertraut haben könnte?“ „Nein.“ „Gut! Gehen wir also weiter aufwärts. Kennst du den Ort, der oberhalb der Stelle liegt, an welcher der Schatt el Arab aus dem Euphrat und Tigris entsteht?“ „Das ist Korna.“ „Giebt es dort einen Mann, der mir ebenso bekannt sein könnte, wie dir? Der mich vielleicht sogar lieber hätte, als dich?“ „Nein.“ Seine Verlegenheit wuchs. Ich fuhr fort: „Ich meine nämlich einen Mann, der nur ein Auge hat!“ „Allah!“ rief er da aus. „Der infolgedessen Esara el Awar heißt und -“ „Schweig, schweig!“ unterbrach er mich schnell. „Effendi, es ist möglich, daß ich dich verkannt habe; ja, es ist sogar sehr wahrscheinlich! Komm schnell zur Seite, damit ich mit dir sprechen kann!“ Er sprang vom Pferde und ergriff meinen Arm. Sein Verhältnis zu dem Einäugigen mußte für ihn eine außerordentliche Wichtigkeit besitzen. Ich kannte es nicht, weil ich den von dem Kaffeewirte in Basra bekommenen Brief ja nicht gelesen hatte. Ich besaß ihn aber noch. Der Multasim wollte mich mit sich fortziehen, während seine Gefährten nun auch von ihren Pferden stiegen; ich machte mich aber von ihm los und sagte: „Höre mich an! Vor Allen, die hier bei uns stehen! Was ich sage, ist wie ein Schwur. Ich nehme nichts davon und thue nichts dazu!“ „Was? Sage es!“ [528] In seinen Augen flimmerte ein ungewisses Licht. Er befand sich in großer Aufregung. Er konnte sie kaum beherrschen. Das benutzte ich, indem ich fortfuhr: „Es giebt für dich drei mächtige Personen. Die eine bist du selbst; die andere bin ich, und die dritte ist unser Esara el Awar in Korna. Du mußt wünschen, daß keiner von diesen Dreien der Gegner eines der beiden andern sei. Nun stelle dich so zu mir, wie es dir gefällt! Ich bin Gast der Dschamikun. Ihr Feind ist mein Feind. Du kommst als Bluträcher, also als mein Feind! Du hast die Feindschaft sogar so weit getrieben, diesen Ort hier durch die Hufe eurer Pferde zu entweihen. Mache das schleunigst wieder gut! Die Blutrache liegt zwischen mir und dir. Fordre Blut, oder fordre den Preis. Wir werden uns nach dieser Forderung richten und dir ebenso Blut oder Preis entgegenhalten. Durch eine Kugel vergossenes Blut ist nicht so teuer wie das Blut, welches an der Peitsche deines Sohnes hängt. Rache gegen Rache und Gnade gegen Gnade! Die Dschemma der Dschamikun ist bereit, mit dir zu verhandeln, doch nicht heut. Es ist keine Zeit dazu. Aber in Beziehung auf mich kann ich dir schon jetzt, in diesem Augenblicke sagen: Ich werde mit dir kein Wort über Esara el Awar sprechen, als bis du mir beweisen kannst, daß diese gegenseitige Forderung in Frieden und für immer ausgeglichen ist. Jetzt bin ich fertig! Ich werde sehen, was du thust!“ Ich wendete mich ab und ging hinaus, die Stufen hinab und zwischen Rosen einen Weg entlang, der zu einem kleinen Rasenplatze führte. Dort setzte ich mich nieder. Das Stehen hatte mich müd gemacht. Ueber mir hingen herrliche Paskaleh-Rosen, deren Duft süß wie die Liebe und erquickend wie die Freund- [529] schaft ist, und zwischen ihnen große, dunkelrote Fritillarien-Glocken. Wie ist der Schöpfer dieser Blumenwelt so gütig und so lieb! Kann er derselbe sein, der auch die Menschenwelt erschuf? Oder ist die Blume nur deshalb ohne Sünde, weil es ihr, der nur sich Hingebenden, unmöglich ist, sich einen Unterschied zwischen Für und Gegen, zwischen Mein und Dein zu konstruieren? Könnte doch der Mensch so wie die Blume sein! Wie hatte vorhin der Ustad gesagt, indem er mir die Rose gab? War denn er so unendlich glücklich, in der Selbstüberwindung so weit gekommen zu sein, daß er kein eigenes Ich mehr kannte? Es stieg in mir das heiße Wünschen auf, doch einmal so sehr, so schwer, so bitter, so tief gekränkt zu werden, daß jeder, jeder Andere es nicht erdulden und nicht ertragen könnte. Ich aber möchte dann die Selbstlosigkeit und das unerschütterliche, beglückende Gottvertrauen besitzen, alles still und heiter über mich ergehen zu lassen, als ob der Menschenhaß nur der naturnotwendige Schatten der Liebe Gottes sei. Die Sillan, diese Schatten, ruhig in den Ruinen Babels nach alten Ziegeln und Schriften, nach modernden Beweisen menschlicher Schwächen wühlen lassen, indem ich hier vom lieben, rosenduftumwobenen Beit-y-Chodeh hinauf zum herrlichen Alabasterzelte schaue und von unten herauf die Felsenstimme ertönt: „Steig auf zur Sonne. Amen!“ Nach einiger Zeit stand ich wieder auf, um nach dem Tempel zurückzukehren. Ich ging nach der hintern Seite desselben und begegnete auf dem Wege dorthin vielen Frauen und Kindern, von denen einige mir sagten, daß ich von Tifl gesucht werde. Ich traf ihn schließlich selbst. Er war überall nach mir herumgelaufen, ohne mich zu finden. [530] „Effendi, du wirst gebraucht,“ rief er mir zu, noch ehe er mich erreicht hatte. „Von wem? Wozu?“ erkundigte ich mich. „Von dem Bluträcher. Er sagte, er habe mit dir zu sprechen.“ „Aber ich nicht mit ihm. Ich bin mit ihm fertig. Wo ist er?“ „Sie lagern oben am Waldesrande. Sie haben unseren Pedehr gebeten, dem Feste zuschauen zu dürfen.“ „Was? Wirklich? Das wäre ja ein Sieg für uns!“ „So sagte auch der Pedehr. Ein Sieg, den wir dir verdanken. Er läßt dich bitten, den Bluträcher ja nicht abzuweisen, denn es sei höchst wahrscheinlich wirklich wichtig, was er dir zu sagen habe.“ „So komm!“ Als wir den Tempelbau erreichten, bemerkte ich zunächst, daß er nicht mehr von den Männern besetzt war. Sie hatten sich wieder zu ihren Angehörigen in den Park zurückgezogen. Das war ein Zeichen, daß die Feindseligkeit, wenigstens für einstweilen, zu ruhen hatte. Wir traten hinten, da, wo die Pferde die Rosen niedergestampft hatten, hinaus auf die Matte. Da sah ich die Perser im Schatten der ersten Waldbäume sitzen. Der Multasim bemerkte mich, stand auf und kam herab; ich ging ihm langsam entgegen. Sein Gesicht war sehr ernst, doch nicht feindselig. In seinen Augen lag aber etwas Lauerndes. Wir standen nun vor einander. „Ich schickte nach dir,“ sagte er. „Ich erfuhr es,“ antwortete ich. „Du hast uns in unserem Thun gestört. Ich habe nachgegeben. Nun möchte ich wissen, ob ich recht gethan habe. Ich kenne euch. Woher, das wirst du wissen; [531] wenn nicht, so kannst du es ahnen. Deine Vorsicht geht oft über alle List. Aber eine Lüge machst du nie. Ist das so?“ „Ja.“ „Wirst du jetzt lügen?“ „Nein. Warum fragst du das?“ „Weil ich die Wahrheit von dir wissen will.“ „Wenn ich überhaupt spreche, so wirst du nichts anderes von mir hören als nur sie.“ „Auch wenn es dein größter Schade wäre? Wenn es dein Leben kosten könnte?“ „Auch dann!“ Es war ein ganz eigenartiger Blick, mit dem er mich nun musterte. Lachte er innerlich mich aus? Oder zitterte irgend eine gute Saite seiner Seele? „Ich glaube es,“ nickte er. Dann fuhr er fort: „Ich will wissen, ob du ein Freund oder ein Feind von mir bist. Sage es!“ „Ich bin keines Menschen Feind. Ich hasse keinen bösen Menschen; aber das Böse in ihm kann ich nicht lieben.“ „Das will ich nicht wissen. Warst du vorhin gegen mich wahr oder listig?“ „Beides, wahr und listig.“ „Hast du einen Gruß an mich?“ „Ja. Aber er wurde nicht mir, sondern einem anderen anvertraut. Ich erfuhr zufällig von ihm.“ Das war keine Lüge, denn ich hatte einen Brief, und ein Brief enthält doch wohl noch mehr als bloß einen Gruß. „So hast du dich zwischen mich und Esara el Awar eingedrängt?“ „Ja.“ [532] „Weiß er davon?“ „Das verrate ich nicht. Er mag es dir selbst sagen.“ „Was weißt du alles von ihm und mir?“ „Hierüber schweige ich.“ „Bist du unser Verbündeter?“ „Nein.“ „Also unser Gegner? Ein Drittes giebt es nicht. Ich verlange die Wahrheit von dir!“ „Ich sage sie. Ich habe mit euch nichts zu schaffen. Aber handelt ihr gegen die Gesetze und berührt meine Person dabei, so bekommt ihr es mit mir zu thun. Ich rate euch also, mich und meine Freunde in Ruhe zu lassen!“ Bis jetzt hatte er an sich gehalten. Er beherrschte sich auch noch; aber seine Augen blitzten; sein Gesicht verzerrte sich vor Haß, und er ballte die Fäuste. „Also - - - Feind!“ knirschte er. „Ja, wenn du es so nennst - - - Feind!“ antwortete ich ruhig. „Weißt du, was das für dich bedeutet?“ „Ich weiß nur, wie gefährlich es für dich ist. Ich habe nichts zu fürchten.“ „Bin ich etwa nichts? Heut muß ich dir weichen. Heut muß ich verzichten. Du würdest mich sonst verraten. Aber es kommt eine andere Zeit. Und ich werde dafür sorgen, daß sie sehr bald kommt. Dann rechne ich mit dir ab. Bestehst du noch auf dem, was du vorhin sagtest?“ „Ja.“ „Daß ich mich zu vergleichen habe?“ „Unbedingt!“ Da streckte er mir die Hand hin. Seine Stimme zitterte. [533] „Hier nimm meine Hand. Es ist die Hand des ärgsten Feindes, den es für dich giebt. Du zwingst mich, auf die Blutrache gegen die Kalhuran und Dschamikun zu verzichten. Aber ich entsage nicht; ich werfe sie auf dich. Nimmst du sie an?“ Er stand vor mir wie einer, der sich kaum mehr zu beherrschen vermag. Ich ergriff seine Hand und antwortete: „Ja. Ich nehme sie an.“ „Du weißt also, daß ich der Bluträcher gegen dich bin?“ „Ja.“ „So sei von dieser Stunde an gesegnet von allen Teufeln, die in des obersten Scheitan tiefster Hölle wohnen. Du entgehst mir nicht!“ „Und du sei geleitet und geführt von den Engeln der Selbsterkenntnis und der göttlichen Barmherzigkeit. Der, welcher über allen Menschen steht, der steht auch über dir. Wehre dich, so viel du willst, ihm entgehst du nicht!“ „Hund!“ „Mensch!“ „Ich speie aus vor dir. Lecke es auf! Wenn nicht jetzt, so dann später. Ich werde dich dazu zwingen!“ Er spuckte vor mir nieder, warf mir die geballte Faust entgegen, drehte sich um und ging. Ich hatte Hafis Aram, den Scheik der Kalhuran, und sein Weib von der Blutrache erlöst. Dafür aber war ich ihr nun selbst verfallen. Diesen letzteren Umstand aber durften die Dschamikun nicht erfahren. Wer wahrhaft dankbar ist, wird nie vom Danke sprechen! - - - [534] Fünftes Kapitel. Ahriman Mirza. Eine musikalische Familie. Der Vater spielt die erste Violine, der Onkel das Cello, der eine Sohn die zweite Violine und der andere die Viola. Für heut sind alle Freunde eingeladen. Es soll ein Quartett gegeben werden. Kammermusik. Ob von Mozart, Haydn oder einem anderen, das weiß ich nicht. Aber daß man nur Schönes, Gutes, von den vier Künstlern Durchdachtes und Verstandenes hören werde, davon ist man überzeugt. Man freut sich also auf den Genuß. Man kommt. Man weiß, daß man gern gesehen ist. Man nimmt Platz. Die Noten liegen auf den Pulten. Die Instrumente sind bereit, schon wohlgestimmt. Auch die Zuhörerschaft befindet sich in jener Stimmung, welche dem Erfolge gern und einsichtsvoll entgegenkommt. Da sind die Vier. Sie nehmen Platz. Sie greifen nach den Instrumenten. Durch den Raum geht das Geräusch leise gerückter Stühle; hier ein erwartungsvolles, kurzes Räuspern, dort das Rauschen bequemgelegter Seide. Dann tiefe Stille. Jetzt! Die Bogen berühren die Saiten. Die ersten Takte er- [535] klingen. Die Erwartung hat sich in offenruhende Empfänglichkeit verwandelt. Man lauscht. Da wird die Thür aufgerissen. Ein Feind der Familie kommt lärmend herein, rücksichtslos störend, ungeladen. Er erklärt, daß er die Absicht habe, einen Strafprozeß gegen die Familie zu führen, und macht in ganz ungesitteter Weise die Anwesenden mit dem Inhalte der Anklage bekannt. Man unterbricht ihn. Man entzieht ihm das Wort. Man sagt ihm, daß er unrecht habe und daß doch jetzt und hier nicht die rechte Zeit und der rechte Ort zu solchen Dingen sei. Man sei zu einem Kunstgenuß versammelt, nicht aber, um sich mit dem jus criminale zu befassen. Da entschließt er sich, mit zuzuhören, nimmt einen Stuhl und setzt sich nieder. Soll man die unangenehme Scene gewaltsam enden? Ihn hinauswerfen? Nein! Man entschließt sich, ihn gewähren zu lassen und das Stück von neuem anzufangen. Aber in welcher Stimmung befindet man sich nun? Werden die in Geist, Herz und Gemüt anzuschlagenden Accorde so befriedigend ausklingen, wie es vorher mit froher Bestimmtheit zu erwarten war? Das ist ein Bild. Ich bringe es, um begreiflch zu machen, daß auch die vorhin vom Glockentone berührten Saiten unsers Innern durch den rauhen Gedanken der Blutrache vollständig zum Schweigen gebracht worden waren. Ob sie wieder so ungezwungen und rein erklingen würden wie vorher, das war wohl zu bezweifeln. - Tifl war, während ich mit dem Multasim sprach, nach dem Tempel gegangen. Als ich nun zu diesem zurückkehrte, hatte er von meinem Platze ein Kissen geholt und an eine der beiden Säulen des hintern Ausganges gelegt. Der Chodj-y-Dschuna stand dabei. Ich sah, daß er mir etwas zu sagen hatte. [536] „Wir sollen dich nicht stören, Effendi,“ entschuldigte er sich. „Ich bitte dich aber, für kurze Zeit zunächst hier zu bleiben. Hier ist der beste Platz, zu hören, wie es klingt, wenn alle Winde zum Gebete kommen. In deiner Ecke dort würde dich die Harfe stören.“ Hierauf ging er nach der Mitte des Tempels, wo eine Harfe lag. An der einen Ecksäule stand Schakara, die ihrige vor sich haltend. Das veranlaßte mich, auch nach den drei andern Ecken zu sehen. Sie waren in ganz gleicher Weise von Dschamikinnen besetzt. Am Haupteingange hatten sich der Ustad und der Pedehr einander gegenüber niedergelassen. Zu ihren beiden Seiten saß die Dschemma. Rund um das Gebäude hatten sich die Bewohner und Bewohnerinnen des Duar aufgestellt. Es war so still, man sagt, „wie in einer Kirche“. Da gab der Ustad mit der Hand ein Zeichen. Der Chodj-y-Dschuna griff einige einleitende Accorde, um das Metrum anzugeben. Hierauf die vorige Stille wieder. Ich ahnte, was nun kommen solle, und schloß die Augen. Wo gab es die Lüfte, als es Anfang war? Im göttlichen Gedanken! Unendlich mild, als beginne ein warmer Sonnenstrahl mit leiser Zärtlichkeit dem andern zuzuflüstern, ward dieser Gedanke jetzt zum ersten Ton. Es war ein einig-ungeteilter, aber doch kein einzelner Ton. Er erklang nicht hoch, nicht tief, und doch war er erklungen. War er nach Schwingungen zu messen? Nein! Das irdische Maß ist ja doch nur ein Notbehelf. Es wird sich immer irren! In diesem ersten, einen Tone lagen, wie die Strahlen im Lichte, alle die unzählbaren Klänge der Zeit und Ewigkeit unisono verborgen. So klang es leise, leise, sich selbst kaum ahnend, hin, noch unberührt vom schöpferischen Willen. Aber da, plötzlich, als ob der Schöpfer prüfen wolle, wie er dereinst das [537] Licht geprüft, indem er, bevor die Sonnen waren, die Strahlen alle durch das Weltall blitzte und dann wieder zu sich rief, - so that auch dieser erste Ton sich plötzlich auf, um alle Harmonieen, die es gab und geben wird, aufleuchtend von sich auszusenden und aber augenblicklich wieder in sich zu vereinen. Nun aber begann es, sich in ihm zu regen. Alles, was dieser eine Aufblitz in unendlicher Fülle zeigte, das hatte sich nun langsam, eines aus oder mit dem andern, harmonisch zu entwickeln. Es teilte sich der Ton und blieb doch ungeteilt. Er gab sich ganz in tausend andern Tönen hin und hörte doch nicht auf, zu sein und zu bleiben, was er war. Der Lufthauch kam und wiegte ihn, als ob er mit und von ihm träume, auf und nieder. Da gebar der Traum das erste Intervall, welchem, ewig stammverwandt, die anderen alle folgten. Sie umschlangen sich, vereint zur Tonika, und klangen in das Erdenparadies hernieder, um, wenn der Mensch seiner Seligkeit gedenkt, sich in ihm wieder aufzulösen, daß er den Stimmen dieser Erde die Klänge des Himmels geben möge. Wie aber klingt so himmlische Musik? Die Winde sagen es. Sie lauschen überall. Und wo ein frommer, heiliger Ton sich hören läßt, da nehmen sie ihn auf, um ihn zur großen Harmonie zu tragen, die betend aufwärts steigt, um als Lob und Dank zu dem zurückzukehren, aus dessen Mund sie einst als erster Ton erklang. Die Harfen schwiegen. Ich schlug die Augen wieder auf. Die vier Spielerinnen legten ihre Instrumente fort. Der Chodj-y-Dschuna zögerte, dies auch zu thun. Er schaute mit zagenden Augen zu mir her. Da stand ich auf, ging zu ihm hin und gab ihm, dem Herzensdrange folgend, meine Rose. [538] „Sie ist vom Ustad,“ sagte ich. „Ich bin so arm gegen dich, du reicher Mann. Ich habe nichts Besseres.“ „Du beschämst mich!“ antwortete er. „Ich lehre nichts, als das, was ich empfangen habe. Auch daß ich es wiedergeben kann, verdanke ich nicht mir. Nimm du nun meine Rose. Ich bitte dich!“ Er reichte sie mir. Das war so einfach, so menschlich lieb, daß es mich herzlich rührte. „Sende mir deine Schülerinnen heraus, damit ich auch jeder von ihnen eine breche,“ bat ich ihn. Hierauf ging ich hinaus. Die Mädchen kamen. Die Rosen gehörten nicht mir, sondern ihnen, und doch sah ich ihnen an, daß ich für einen Dank die rechte Weise getroffen hatte. Tifl wartete mein, um mir zu sagen, daß ich nun wieder nach meinem Platze gehen könne, wenn ich wolle. Ich that es, voller Erwartung, was nun kommen werde. Nichts Gewöhnliches, davon war ich überzeugt! Dieser Gesanglehrer besaß mehr als das, was man Talent zu nennen pflegt! Es kam jetzt eine Anzahl Dschamikun mit Frauen und Mädchen herein. Sie stellten sich in der Mitte auf, um zu singen, ohne Leitung; der Chodj-y-Dschuna war nicht bei ihnen. Was ich hörte, war ein dreistimmiges Lied. Der Text lautete: „Ich komm zu dir im Sonnenstrahl Und laß mir deine Rosen blühen. In tiefer Andacht liegt das Thal Vom Morgen- bis zum Abendglühen. Ich sehe aus der stillen Flut Die Berge Gottes aufwärts steigen, Und wo sein Haus auf Säulen ruht, Soll heut sich mir der Himmel zeigen. [539] „Ich komm zu dir im Sonnenstrahl,“ So spricht der Herr und steigt hernieder. Die Glocken klingen übers Thal, Und von den Bergen tönt es wieder. Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, In der sich alle Düfte regen. Es naht sich dir das Himmelreich; Brich auf, und dufte ihm entgegen!“ Ueber diesen Text ist nichts zu sagen, kein Wort. Er spricht ja selbst! Wovon? Von einer Begegnung im Beit-y-Chodeh. Nun verstand ich die Worte, welche der Ustad sagte, als er mir die Rose gab. Aber die Tonweise! War das Gesang, oder war es Sprache? Gesangssprache oder Sprachgesang? Ich meine keineswegs Recitativ. Mit diesem hatte es nicht die entfernteste Aehnlichkeit. Unser Gesang ist Kunst; dieser war Natur. Aus unserer Harmonisierung ist jeder einzelne Akkord zu lösen; hier war das eine Unmöglichkeit. Bei uns pflegt man im Liedgesange die Melodie einer einzelnen Stimme, den andern die Begleitung zu geben; hier war alles Melodie, jede Stimme, und doch wurde jede eine von den andern harmonisch unterstützt. Das war schwer, sehr schwer und klang aber doch so außerordentlich natürlich, so ungewollt, so ganz von selbst. Es gab keine Absicht, irgend einen bestimmten Akkord zu bilden, eine Septe in die Sexte herabzuleiten. Alles, was ich über Komposition wußte, war hier gleich Null! Und aber doch diese Wirkung! Von mir und den Dschamikun selbst will ich in dieser Beziehung nicht sprechen; aber das Lied hatte sämtliche Perser vom Waldesrande herabgelockt. Sie hatten ihre Pferde oben gelassen und sich hinten bei den Säulen hingesetzt. Es war ihnen und ihrem Verhalten anzusehen, welchen Ein- [540] druck das Lied auf sie gemacht hatte. Indem sie miteinander sprachen, drückten ihre Mienen und Blicke sehr deutlich den Wunsch aus, daß man doch weitersingen möge. Er wurde erfüllt. Die vorigen Sänger hatten sich entfernt. Jetzt kamen vier Männer und vier Frauen, also acht Personen. Man nennt das bei uns ein Doppelquartett. Was sie sangen, klang außerordentlich ernst. Die Worte lauteten: „Wir knieen hier vor deinem Angesichte Im Geist vom Geiste, nicht im Staub vom Staube, Wir flehen um das Licht von deinem Lichte; Im Dunkel bleibt der falsche Erdenglaube. Du bist der Vater. Alle sind wir dein. Laß uns im Lichte deine Kinder sein! Du schufst die Welt als größtes Wort der Liebe, Doch will die Menschheit dieses Wort nicht fassen. Und wenn sie tausend heilge Bücher schriebe, Sie würde doch nicht lieben, sondern hassen. Du bist der Vater. Alle sind wir dein. Laß uns in Liebe deine Kinder sein! In ewgem Frieden kreisen deine Sterne. Ihr Licht umfließt die ganze, ganze Erde, O daß sie doch von diesem Lichte lerne Und endlich, endlich menschenfreundlich werde! Du bist der Vater. Alle sind wir dein. Laß uns im Frieden deine Kinder sein!“ Das war ein Gebet! Und wie wurde es gesungen! Nicht etwa nach einer alten, wohlbekannten Melodie, der man auch jeden andern Text unterlegen kann. Hier beteten die Töne noch deutlicher als die Worte. Die Perser waren doch wohl Leute, welche durch Worte nicht so [541] leicht überwältigt werden konnten; aber als der letzte Ton jetzt über das Thal hinüber nach den lauschenden Bergen klang, wo die Hirten still bei ihren Herden standen, da sah ich alle zwölf Köpfe tief herabgesenkt, und es dauerte längere Zeit, ehe sich die Gesichter wieder sehen ließen. Worte klingen sehr leicht nur an das Ohr. Waren bei ihnen die Töne tiefer eingedrungen, um ihnen das erbetene Licht zu der Erkenntnis zu bringen, daß niemand sich der wahren Liebe rühmen darf, wenn er nicht den Frieden seines Nächsten achtet. Dann hätte der zum Menschenherzen trachtende Himmelsklang hier, am Beit-y-Chodeh der Dschamikun, ein Wunder bewirkt, welches den wohlerwogenen Worten und wohlgesetzten Reimen und Liedern anderer nicht gelingen will! Nun kam Tifl zu mir her und sagte, indem er mich von der Seite her pfiffig anlächelte: „Effendi, jetzt ist die Zeit gekommen, in der man essen muß - - wenn man nämlich etwas hat.“ „Ich habe aber nichts!“ klagte ich. „O, mehr als ich! Sogar Pflaumen!“ „Wo?“ „Da, wo es im Wald am schönsten ist. Der Ort ist nur für einen einzigen, und ich soll dich bitten, heut auch einmal dort sein Gast zu sein.“ „Wer ist's?“ „Du wirst ihn sehen.“ „Aber, bin ich nicht zu schwach, da hinaufzusteigen?“ „Es ist nicht weit von hier. Auch kannst du unterwegs ruhen, so oft du willst.“ „So laß uns gehen!“ Er führte mich an den Persern vorüber, bergan dem Walde zu. Der Stock erleichterte mir den Weg. Dennoch mußte ich schon am Waldesrande anhalten, um aus- [542] zuruhen. Man konnte von hier aus den ganzen Park übersehen, durch dessen vielgewundene Gänge schmale, lebendige Menschenströme wie durch Rosenadern pulsierten. Der Ustad und der Pedehr waren noch im Tempel. Wer Schatten suchte, kam herauf zum Walde. Ueberall glänzten freundliche Gesichter. Heiteres Lachen erscholl. Hier und da erklang schon die abgerissene Zeile eines kleinen Liedchens. Allerlei sangeslustige, flügellose Lerchen stimmten vorschnell ihre Kehlen. „Man soll jetzt noch nicht singen,“ erklärte mir „das Kind“. „O, Sihdi, wir haben viele schöne Lieder! Für Kinder, für Jünglinge und Jungfrauen und auch für die Alten.“ „Singst auch du?“ Da warf er sich in die Brust, richtete sich hoch auf und antwortete: „Höre, was ich dir sage: Ich singe sie alle, alle stumm! Willst du es hören?“ „Ja.“ „So bitte ich dich aber, zu warten. Jetzt darf ich noch nicht.“ „Warum nicht?“ „So bald nach den ernsten Gesängen hört der Ustad Liebeslieder nicht gern.“ „Liebeslieder? Tifl, Tifl! Was höre ich!“ Der Gute verstand mich gar nicht. Fast schämte ich mich, diesen scherzenden Vorwurf ausgesprochen zu haben. Man sieht: Die Sittenrichterei kann selbst im Scherz den Ankläger an Stelle des vermeintlichen Delinquenten schlagen. Wie gefährlich mag sie da wohl erst im Ernste sein! Wir gingen weiter, waldaufwärts. Es führte uns [543] ein Weg zwischen hohen Bäumen hin. Es war ein sichtbar wenig benutzter Seitenweg. „Hier geht nur er,“ sagte Tifl. „Wer?“ „Er! Du mußt es raten!“ Selbstverständlich riet ich nun den Ustad. Nach einiger Zeit kamen wir an einen vor langen Jahren freigemachten Platz, in dessen Mitte ein großer, weitästiger Birnbaum stand. Er hing voll schöner, reifer Früchte. Die hohen Waldbäume gewährten ihm Schutz. Sonst hätte er in dieser Höhe nicht gedeihen können. Unter ihm stand - ich staunte! - ein wohlgedeckter Tisch. Eine Holzplatte auf in die Erde geschlagenen Beinen, nicht niedrig, wie die orientalischen sind. Vor ihm zwei hohe Bänke, auf denen man ganz nach europäischer Art sitzen konnte. Er war mit einem weißen Tuch belegt, auf welchem weißporzellanene Schalen und Teller, auch eine Weinflasche mit Glas, meiner warteten. Es gab kalte Küche, fein säuberlich verteilt. Und wer stand da bei diesen Herrlichkeiten? In ihrer ganzen blitzblanken Sauberkeit? Strahlend vor Stolz und Freude? Mit liebevollen Aeuglein und rotblühenden Rosenwänglein? Natürlich Pekala, die Köstliche, heut meine Festjungfrau in wahrster Wirklichkeit! „Sei willkommen, Effendi!“ rief sie mir entgegen. „Ich habe für dich angerichtet. Auch Pflaumen sind da. Tifl hat sie für dich gepflückt. Der Ustad gebot es ihm.“ Ich reichte ihr die Hand. „Pekala, was bist du doch gut!“ sagte ich. „Gut muß man immer sein; das ist ja Pflicht. Und man ist es auch so gern! Man will ja gar nicht anders sein! Aber euch, euch, Effendi, möchten wir doch [544] recht, recht glücklich machen! Euch möchten wir die größte Liebe zeigen, die wir haben!“ „Warum grad uns, du Liebe? Es sind so viele Menschen da, und es giebt doch wohl nur eine einzige Liebe für sie alle!“ „So sagt auch der Ustad, ganz genau so. Aber ihr macht es uns so leicht, und andere machen es uns so schwer. Doch, was sagst du zu diesem Tische, Effendi?“ Sie stemmte die Arme in die Seiten und schaute mich an, als ob ich etwas ganz Unbegreifliches anzustaunen habe. „Wunderbar!“ antwortete ich. „Ja, es ist auch wirklich wunderbar! Siehst du das herrliche Fakhfuri takymy1) [1) Porzellangeschirr.]?“ „Ja. Weiß, wie frischer Schnee!“ „Das grüne Scharab kardehi2) [2) Weinglas.]?“ „Grad wie Smaragd!“ „Das Sofra bezi3) [3) Tischtuch.] mit geblümten Mustern?“ „Sehr schön! Das hast wohl du geplättet?“ „Ja. Aber wir haben kein Ütü4) [4) Plättglocke.] hier. Ich habe ein Hackebeil heiß gemacht und ein Papier dazwischen gelegt. Da ging es auch. Weißt du, wer eine Türkin ist, der weiß sich stets zu helfen!“ „Wie schade da, daß ich keine bin!“ „Effendi, klage nicht! Du bist ja ohnedies auch recht klug. Es kann nicht jedermann eine Türkin sein. Es muß auch andere Völker geben! Aber siehst du auch das Jemek takymy5) [5) Eßbesteck.] mit den blankgeputzten Griffen? Habe ich es richtig hergelegt?“ [545] „Ja, denn ich nehme es da weg, wo es liegt. Ganz fein aber ist es, wenn das Messer rechts und die Gabel links liegt.“ Ich wollte sie doch nicht eines Fehlers zeihen; darum drückte ich mich in dieser Weise aus. Sie wechselte aber das Besteck schnell um, indem sie sagte: „Du bist für mich der feinste Mann, und ich denke, daß du mich auch für eine feine Dienerin hältst. Machen wir es also nicht wie für gewöhnliche Leute, sondern fein. Bemerkst du auch den Tapa tschekedscheji1) [1) Korkzieher.]? Du siehst, wir haben alles. Du sollst die Flasche doch nicht in der Weise öffnen, wie Tifl damals that, indem er die Hälse herunterschlug. Dann ist es kein Wunder, wenn man betrunken wird!“ Diese Betrachtung lenkte ihre Aufmerksamkeit auf „das Kind“. Sie drehte sich nach ihm um und sagte: „Ich bediene den Effendi selbst. Du kannst gehen!“ Er that zwei Schritte, blieb dann aber stehen. „Nun, warum nicht?“ fragte sie. „Weil ich es doch auch einmal sehen möchte.“ „Was?“ „Das Tuch und das Porzellan und alle die seltenen Sachen da auf dem Tisch.“ „Schau dir es nachher an!“ „Und auch wie der Effendi fränkisch sitzt und ißt.“ „Das würde ihn stören!“ „Und wie schön und fein du ihn bedienst, nachdem du alles so trefflich vorbereitet hast.“ Dieses Lob stimmte sie augenblicklich für ihn um. „So bleib,“ sagte sie. „Steig auf den Baum und hole die besten Früchte herab!“ [546] Er war im Nu hinauf. „Es sind Armudlar1) [1) Birnen.], Effendi,“ belehrte sie mich. „Das meine ich auch,“ stimmte ich ihr bei. „Sie heißen Gulab-i-Schahi2) [2) Kaiserbirnen.]“, verbesserte Tifl vom Baume herunter, indem er die Sorte nannte. „Würdest du sie auch als Armud kompostusu3) [3) Gekochte Birnen.] essen, Effendi?“ fragte sie weiter. „Wenn man frisches Obst hat, soll man es frisch essen. Aber ich liebe es auch gekocht.“ „So sollst du beides bekommen: die frischen Birnen und auch den süßen Kompostusu4) [4) Kompot.]. Nun setze dich aber nieder, und iß! Aber alles! Du mußt wieder rund werden - so, wie ich! Du mußt rote, dicke Backen bekommen - so wie meine hier!“ „Ich danke dir, liebe Pekala!“ „Danke mir nicht schon jetzt, sondern dann, wenn du sie hast! Ich habe dich nur so gesehen, wie du durch die Krankheit geworden bist: unendlich hager und mit eingefallenen Wangen. Nun aber sollst du wieder so werden, wie es sich für einen Effendi aus Dschermanistan schickt und gehört. Erlaube mir, dir meine Gestalt und Fülle als Muster anzubieten, welchem du nachzustreben hast, um es zu erreichen und wo möglich noch zu übertreffen! Einer der größten Vorzüge, den wir Türken haben, ist der, daß wir unserer Seele einen möglichst umfangreichen Körper bieten. Da hat sie Platz! Da kann sie sich rühren und bewegen! Da fühlt sie sich nicht eingeengt und kann, wenn sie will, sogar spazieren gehen. Wird sie aber in der Weise, wie jetzt bei dir, zwischen Haut und Knochen eingedrückt, so entstehen jene unglück- [547] seligen, ezmisch gewordenen Dschanlar1) [1) Zerquetschten Seelen.], denen man es nicht übelnehmen kann, daß sie über das Erdenleben stets nur zu schimpfen und zu räsonnieren haben. Ein wohlgestalteter, runder Mann hingegen wird immer guter Laune sein und stets ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen haben. Ich weiß das ganz genau. Ich sehe es an mir!“ „Du bist sehr scharfsinnig, liebe Pekala!“ „Nicht wahr? Beinahe eine Kizfeilesuf2) [2) Philosophin.]! Du mußt mir aber auch ansehen, daß ich gewohnt bin, sehr viel nachzudenken. Ich kann das auch, weil meine Seele vollständig Platz zum ausgiebigsten Nachdenken hat. Da ist nichts zum Verwundern. Nun aber iß! Und erlaube mir noch eine Frage, die ich mir trotz alles Nachdenkens nicht beantworten kann! Gehört etwa noch ein kleiner Tisch hierher?“ „Nein.“ „Nicht? Aber wozu da das andere, kleinere Tuch?“ „Wo?“ „Hier.“ Sie griff in die Innentasche ihres Gewandes und zog eine weiße Serviette hervor. Ich nahm sie ihr aus der Hand und schlug sie aus den Falten. Sie war nicht gezeichnet, doch mit winzigen, liebevollen Stichen eingesäumt. Mein Gesicht fiel, indem ich dieses Leinenstück betrachtete, der Köchin auf. „Du staunst, Effendi?“ sagte sie. „Du bist verwundert? Sogar sehr?“ „Ja,“ antwortete ich. „Das hätte ich hier nie gesucht!“ „Nicht? Das freut mich, denn es muß also etwas sehr Feines sein!“ [548] „Es ist ein Peschkir. Man sagt auch Petschata1) [1) Serviette.].“ „Das kenne ich nicht. Wozu ist es?“ „Um beim Essen das Gewand zu schonen. Wenn man etwas verschüttet oder sonstwie Flecke macht, so werden sie von der Petschata aufgefangen. Wer vorsichtig ißt, der braucht sie nur so herzulegen. Wer aber unschön ißt, der steckt die Ecke da oben herein. Man sieht also an der Petschata, was für einen Esser man vor sich hat. Schau her!“ Ich machte es ihr vor. Da schlug sie die Hände zusammen, daß es schallte, und rief entzückt: „Wie mir das doch gefällt! Das ist fein, wirklich fein! Weißt du, Effendi, ich werde, wenn er sich zu meiner Zufriedenheit beträgt, für unsern Tifl eine machen!“ „Zwei!“ rief der Genannte vom Baume herunter. „Warum?“ fragte sie hinauf. „Für dich auch eine, falls ich mich nicht über dich zu beklagen habe!“ „Ich möchte wissen, worüber du dich bei mir beklagen könntest! Ich trage dich auf allen meinen Händen und sehe dir einen jeden Wunsch von den Augen ab. Du bist der glücklichste Mensch, den es nur geben kann. Drum pflücke ruhig weiter, und laß die Petschata Petschata sein!“ Ich hatte während dieses kleinen, gutgemeinten Wortgefechtes die Serviette wieder zusammengeschlagen und dann weggelegt. Als Pekala dies nun bemerkte, fragte sie: „Du nimmst sie nicht? Warum? Ich bitte dich!“ Sie nahm sie vom Tisch und hielt sie mir wieder hin. Ich wehrte ihre Hand aber ab. „Nein, meine gute Pekala! Ich will von diesem Tuche, von diesem Porzellane und mit diesem Messer und [549] dieser Gabel essen, weil ich dich sonst betrüben würde - vielleicht auch noch einen Andern. Aber was nicht unbedingt nötig ist, das werde ich nicht berühren.“ „So sag mir aber, warum?“ „Du ahnst es wahrscheinlich nicht; aber diese Sachen sind, außer für diesen Andern, wohl eigentlich unberührbar. Ich vermute, daß er sie außerordentlich ehrt, ja heilig hält.“ Sie sah mich nachdenklich an, trat dann ganz nahe zu mir her und sagte: „Das ist wahrscheinlich richtig. Ich will es dir mitteilen, weil mir nicht verboten wurde, davon zu sprechen. Diese und noch einige andere Sachen sind in einer kleinen Lade wohl verwahrt. Es giebt einen Tag, einen einzigen Tag im Jahre, an dem der Ustad diese Lade aufschließt. Da deckt er sich den Tisch mit eigener Hand, ganz so, wie ich es hier gemacht habe. Ich bringe ihm die Speisen selbst hinauf. Ich sehe einen fränkischen Stuhl vor dem fränkischen Tisch; aber der Ustad sitzt noch nicht. Er steht mit gefalteten Händen am Fenster und schaut so unverwandt, wie innerlich betend, zu unserem lieben Beit-y-Chodeh hinüber. Er trägt an diesem Tage ein ganz altes, härenes Gewand, welches auch in dieser Lade liegt und hinten einen Baschlyk1) [1) Kapuze.] hat. Ein ebenso alter Strick schlingt sich um seine Lenden, und um den Hals hat er eine Perlenschnur, an welcher ein kleines Bild hängt; was für eines, das weiß ich nicht. Er ißt erst dann, wenn ich wieder gegangen bin. Er ist an diesem Tage noch ernster und noch stiller, als zu jeder andern Zeit. Niemand darf ihn stören, außer ich, wenn ich ihm das Essen bringe. Aber früh, am Morgen, kommt er herab [550] und teilt an alle, die im hohen Hause wohnen, kleine, freundliche Geschenke aus, die er während des Jahres mit eigenen Händen für sie gefertigt hat. Begreifst du das?“ „Wenn du mir den Tag nennen kannst, so ist es möglich, daß ich es verstehe.“ „Ich habe ihn mir gar wohl gemerkt, und es ist für mich sehr leicht, ihn nicht zu vergessen, weil er mein Geburtstag ist.“ „Vielleicht ist es auch der seinige?“ „O nein. Das weiß ich ganz genau.“ „Woher?“ „Er selbst hat es mir gesagt. Ich habe bisher darüber geschwiegen, weil es so eigen, so geheimnisvoll klang; dir aber möchte ich es erzählen, grad dir.“ „Warum mir, liebe Pekala?“ „Weil er heut für dich jene Lade, die er so heilig hält, geöffnet hat. Er ließ mich zu sich kommen. Er hatte alle diese Sachen für dich bereit gelegt und übergab sie mir mit der Weisung, dich hier mit ihnen zu bedienen, sie aber von niemandem, höchstens noch von „unserm Kinde“, berühren zu lassen. Das habe ich gethan. Kein Mensch hat sie gesehen.“ „Sagte er noch sonst etwas hierüber?“ „Ja. Fast ganz dasselbe, was er mir damals sagte. Ich will es dir erzählen. Tifl, steig vom Baume herab. Leg die Birnen her, und geh vor an den Weg! Es soll uns niemand stören.“ Er gehorchte gleich, denn er hatte alles gehört und sah also ein, weshalb er fortgeschickt wurde. Als er gegangen war, berichtete sie: „Es war an diesem Tage. Der Ustad hatte mich reicher beschenkt als die andern, weil er wußte, daß mein [551] Geburtstag sei. Als es gegen Abend dunkelte, ging ich hinauf zu ihm, um die Reste der Mahlzeiten zu holen. Du wirst gesehen haben, daß vor seinem Gemache ein Schahnischin1) [1) Söller.] ist. Da saß er auf dem fränkischen Stuhle, was er sonst niemals thut, und las in einem Buche, obgleich es auch da draußen schon fast dunkel war. Als er mich hörte, kam er herein, um das Licht anzuzünden. Ich hatte mich so sehr gefreut und sagte ihm noch einmal für die heutigen Geschenke Dank. Da schaute er im Dämmerschein der kleinen Kerze von so hoch zu mir hernieder, legte mir die Hand auf den Kopf und sprach: „Der Eine giebt; der Andere nimmt. Der Eine stirbt; der Andere wird geboren. Wenn die Menschen doch wüßten, daß jeder Geburtstag auch zugleich ein Tag des Sterbens ist! Mein Sterbetag war heute!“ Sie schwieg und wendete sich halb von mir ab, indem sie mit der Hand nach ihren Augen griff. Als sie sich wieder herumdrehte, sah ich die Feuchtigkeit der Thräne noch, die sie hatte entfernen wollen. Dann fuhr sie fort: „Ich weiß nicht, wie es kam, ich mußte weinen, als ich diese seine Worte hörte. Und indem ich weinte, sprach er sie noch einmal, als ob ich sie ja nie vergessen solle: „Der Eine giebt; der Andere nimmt. Der Eine stirbt; der Andere wird geboren. Wenn die Menschen doch wüßten, daß jeder Geburtstag auch zugleich ein Tag des Sterbens ist! Mein Sterbetag war heute!“„ Die gute Pekala hatte diese Wiederholung nur schwer zu Ende gebracht. Jetzt hob sie die Falten ihres Schleiers zum Gesicht empor, um es darin zu verbergen, und weinte, leise schluchzend, vor sich hin. Wie kam es doch, daß auch [552] mir die Augen feucht wurden? Es giebt Worte, welche, mögen sie gesprochen werden, wann und wo es auch sei, sich so tief in das Herz des fühlenden Menschen senken, daß er sich ihrer Wirkung nicht entziehen kann. „Du hast dir das sehr gut gemerkt, liebe Pekala,“ sagte ich, um sie von ihrem Schmerze abzulenken. Sie strich die Thränen fort, ließ den Schleier wieder nieder und antwortete: „Ich bin dann sogleich draußen vor seiner Thür stehen geblieben und habe die Worte auswendig gelernt, um sie niemals zu vergessen.“ „War das alles, was er sagte?“ „Alles! Aber war das nicht genug, mehr als genug, Effendi? Muß es nicht fürchterlich für einen Menschen sein, zu wissen, an welchem Tage er sterben werde?“ „Noch ganz anders ist es, wenn ein Mensch weiß, daß er gestorben ist!“ „Das ist unmöglich. Kann er denn leben und doch wissen, daß er tot sei? Aber daß es Leute giebt, welche ihren Sterbetag voraus wissen, das habe ich schon oft gehört.“ „Kein Mensch kann ihn wissen, kein einziger, außer er will zum Selbstmörder werden. Gott hat sich die Bestimmung dieses Tages vorbehalten und wird entweder in seiner Güte oder in seiner Gerechtigkeit die Entscheidung treffen.“ „Aber der Ustad weiß ja doch den seinen!“ „Nein, auch er nicht!“ „Hast du nicht soeben seine eigenen Worte gehört?“ „Du deutest sie falsch. Du hast das Wörtchen ‚war‘ mit dem Wörtchen ‚ist‘ verwechselt.“ „Das verstehe ich nicht, Effendi.“ „Denke nach, und erinnere dich genau! Hat er ge- [553] sagt ‚Mein Sterbetag war heute.‘ Oder sagte er: ‚Mein Sterbetag ist heute.‘ War oder ist? Hierauf kommt es an.“ „Ich weiß es: ‚war heute‘; so sagte er.“ „Also hat er nicht ein zukünftiges, sondern ein schon vergangenes Sterben gemeint. Es ist das ein tiefes, tiefes Wort von ihm gewesen, und ich wundere mich nicht darüber, daß du dich in seiner Deutung irrtest.“ „Also meinte er, daß er schon gestorben sei?“ „Ja.“ „So war sein Wort ein Rätsel!“ „Allerdings.“ „Wer kann es lösen? Ich nicht!“ „Ich auch nicht. Kein anderer Mensch kann es lösen, als nur er allein. Wem der Tod oder vielmehr das Sterben überhaupt ein Rätsel ist, dem wird der wahre Todestag, die eigentliche, wirkliche Zeit des Sterbens, ganz gewiß erst recht verborgen bleiben. Es giebt nur wenige, sehr wenige Menschenkinder, welche wissen, warum und wo und wie und wann man stirbt. Man kann körperlich leben und geistig oder seelisch doch gestorben sein. Und wie das Eine möglich ist, so auch das Andere. Auch Isa Ben Marryam, den wir den Heiland nennen, verlangt vom Menschen, daß er neu geboren werde. Wer hat da aber zu sterben? Die Bibel antwortet: Der alte Adam. Wer ist das? Du siehst also, daß die christliche Religion ein Sterben und Geborenwerden mitten in diesem unsern gegenwärtigen Leben von uns fordert. Hierin liegt eine der verschiedenen Weisen, in denen das Rätsel des Ustad gelöst werden kann. Für ihn ist es schon längst kein Rätsel mehr. Denn wer da weiß, daß er gestorben ist, und sogar den Tag genau kennt, an welchem es geschah, der schaut nicht [554] mehr in ein trügerisches Dämmerlicht, sondern vor seinen Augen liegt der helle Tag in seliger Klarheit ausgebreitet.“ Ich hatte mich an den Tisch gesetzt und zu Messer und Gabel gegriffen; da erscholl vom Rande der Lichtung her die Stimme „unseres Kindes“: „Der Ustad kommt. Ich trete auf die Seite.“ Er zog sich hinter die Bäume zurück. Ich wollte wieder aufstehen, aber Pekala bat mich: „Thu nicht, als ob du es weißt! Er wird sich gewiß freuen, dich essen zu sehen.“ Da begann ich denn, zuzulangen. Tifl hatte ihn gewiß schon von weitem bemerkt, denn es dauerte längere Zeit, ehe er erschien. Nun, als er auf die Lichtung trat, legte ich das Besteck natürlich wieder weg. So, wie jetzt er, war wohl auch Abraham einst einhergeschritten, wenn er im Haine Mamra wandeln ging. Und seine Gäste hatten ihm in solcher Ehrfurcht entgegengesehen, wie ich sie fühlte, als dieser Patriarch der Kurden sich mir näherte. Aus seinen Augen schaute mich die Seelengüte an, und mir war es, als ob ich meine Arme um ihn schlingen müsse, um ihm zu sagen, daß ich ihn nie, niemals verlassen möchte. Ich wollte sprechen, um ihm zu danken. Er sah das und veranlaßte mich durch eine kleine, stille Handbewegung, dies nicht zu thun. Sein Blick überflog den Tisch und blieb auf der unbenutzten Serviette haften. Dann sah er mich mit einem lieben, lieben Blicke an. Er hatte mich durchschaut. „Es war eine Segenshand, die dieses Speisetuch mit vielen, vielen Stichen für mich säumte,“ sagte er. „Es war am Tage, da ich einstens starb, da schenkte sie es mir. Nun nehme ich es in die meinige von Jahr zu Jahr, wenn ich das stumme Gedächtnismahl des eigenen [555] Todes halte. Warum steht heut derselbe Tisch für dich gedeckt? Ich liebe dich und habe dich erkannt. Du bist derselbe, der ich einstens war, in jener Zeit, da ich noch suchen ging. Es lebt der Geist in dir, der damals mich verführte, ihn für den Geist des Weltenalls zu halten. Und doch ist's nur der Geist der armen, kleinen Erde, der seinen Menschen vorgelogen hat, er sei der Allmächtige, der den ganzen, unendlich weiten Himmel nur allein für sie geschaffen habe. Du wirst wie ich aus diesem Himmel herabgerissen werden, der weder ihm noch dir gehört, wenn du ihm weiterfolgst. Du wirst da unten liegen, so wie einst ich am Boden lag - - ein stillgewordener Acker Gottes, über den des Todes Pflugschar gehen muß, damit er zubereitet sei, wenn der Säemann kommt, den man das Leid der Erde nennt. Da wird der Pflug aus deinem Herzen reißen, was jener Erdengeist hineingepflanzt. Und wenn er seine letzte, tiefste Furche zieht und dir die stärkste Wurzel aus dem Herzen zerrt, dann mache dich bereit: Es naht dein - - - Sterbetag!“ Sein Auge ruhte nicht auf mir. Er hatte vor sich hin, wie in weite Ferne geschaut, als ob er das alles sehe, was er sagte. Nun hob er den Blick zu den Baumkronen empor, deren Zweige und Nadeln im Sonnenstrahle goldgerändert zitterten. Ein milder Farbenschein, wie durch eine rosig angehauchte Lichtglocke geworfen, überflutete sein Angesicht. „Dann naht der Säemann und giebt den Furchen neues Leben,“ fuhr er fort. „Du wirst ihm stillehalten müssen, so wie auch ich ihm stillehielt. Die Egge schmerzt; die Stacheln reißen Wunden. Doch darfst du sie nicht achten. So viele ihrer seien, aus jeder sproßt und grünt es froh zum Himmel auf, damit der stillgewordene Acker Gottes dereinst zum reichen Erntefelde werde. Das meine [556] liegt im wilden Kurdistan. Umringt von Feinden, die mich hassen, neiden! Die Berge tragen meine Einsamkeit; sie sind mit ihr mein Schutz, der nimmer wankt. Wo aber, fragst du, wird das deine liegen?!“ Jetzt senkte er den Blick zu mir nieder und sah mir lächelnd ins Gesicht. Seine Hand legte sich auf mein Haupt und glitt dann leise, fast zärtlich an der Wange nieder. Dann sprach er weiter: „Wo es liegt? Du weißt es nicht, und doch hab' ich's von dir erfahren. Ich stand an deinem Lager. Kein Mensch war da, als ich und meine beiden Kranken. Du lagst besinnungslos, doch sprachst du mit dir selbst. Da lernte ich dich kennen. Da hörte ich zwar dich, doch auch den Geist, der einst der meine war. Dann klangen liebe Worte, die Worte deiner Seele. Du ahnst wohl nicht, wie mächtig Seelen sind! Sie wird den Geist bezwingen, wie einst die meine ihn bezwang. Was ich dir sage, das ist, als hätte sie es gesagt! Dein Erntefeld liegt fern von diesem meinem Lande. Es ist ein anderes, als das meinige. Ich sehe Thäler und ich sehe Berge. Auch dir ist, so wie mir, die Ebene gram. Drum mache es so wie ich: Such auf den Bergen Schutz, und steige nie zur Fläche nieder, auf der die dunklen Zelte deiner Feinde stehen. Geh in die hehre Einsamkeit, wie ich, und sei, wenn dir ein Gegner naht, so stumm, wie ich es heut zu meinen Feinden war. Auch dir lebt ein Pedehr, der gern es übernimmt, den Feiertag, den du zu leben hast, vom Schmutz des Werkeltages zu befreien!“ Er griff jetzt nach der Serviette, gab sie mir und sagte: „Du dachtest zart. Ich danke dir dafür. Doch sei mein Gast an meinem Sterbetag! Nimm dieses Tuch getrost! Es ist für mich ein großes Heiligtum. Die [557] mir es gab, sie stand an meiner Seite, als ich im Sterben lag. Die letzte, tiefste Furche ging durch mich. Da bäumte ich mich auf. Ich wollte meinem Leiden nicht gehorchen. Sie aber sagte mir ein großes Wort, ein Wort, so groß, daß es die ganze Welt umfaßt. Da brach ich wieder nieder, um ganz in meiner Kleinheit zu verschwinden. Und als ich dann, nach langer, langer Zeit, als Auferstandener kam, um ihr zu danken, da sagte sie, sie habe mir zu danken, weil sie in mir zum zweiten Male auferstanden sei. Wirst du wohl ihren Namen nun erraten? Er ist auch dir von Herzen lieb geworden.“ „Unsere Marah Durimeh!“ Dieser Name flog förmlich aus meinem Munde. Es konnte ja keine andere sein als sie! „Ja, sie, die Einzige!“ sagte er. „Denk, daß sie hier an deiner Seite sitze und dir erzähle von jemand, dem nichts erspart geblieben ist von allem, was die Erde Schlimmes bietet, und der nur durch das Schweigen jenen Sieg errang, mit dem man nicht den Feind allein, nein, auch sich selbst bezwingt. Denn merke wohl: Dein größter Feind bist du. Um ihn versammelt sich der andern ganze Schar. Sie steht und fällt mit ihm. Er ist's, der fallen muß in deiner Sterbestunde. Für den, der dann, von dir befreit, das andere Leben lebt, giebt es dann nur noch Menschen, im schlimmsten Fall beklagenswerte Thoren, doch Feinde, Feinde nie!“ Hierauf legte er mir die Hand auf die Brust und sprach in warmem, bittendem Tone: „Laß dein Herz so ruhig schlagen, wie das meine schlägt! Wenn es aufbegehren will, so gebiete ihm Schweigen! Betrachte die Menschen so, als ob du bereits gestorben seist und von ihnen nicht mehr erreicht [558] werden könntest! Es gehöre ihnen von allem, was du bist und was du hast, nichts, nichts, als nur allein die Liebe!“ Er ging hierauf wieder fort. Welch ein Mensch! Solche Charaktere können wohl nur in der Einsamkeit der Berge reifen! Aber glücklicherweise ragen Berge überall. Warum sollen es immer nur geographische Höhen sein? Giebt es nicht auch noch andere Alpen, auf denen man sich ein „hohes Haus“ erbauen und ein „Beit-y-Chodeh“ errichten kann? Redet nicht auch die Heilige Schrift von solchen Bergen? Sagt nicht der Psalmist, daß von ihnen seine Hilfe komme? An was für Berge dachte ich wohl, als ich vor Jahren, im Notizbuche Reiseeindrücke festhaltend, auch folgende Zeilen niederschrieb: „Schon weicht die Fläche hinter mir; Die Ebene beginnt, zu steigen. So naht das Herz, Jehovah, dir, Wenn hinter ihm die Zweifel weichen. Mir ist, als ob am Horizont Ich Bergesspitzen leuchten sähe. So reinigt, läutert, wärmt und sonnt Die Seele sich in Himmelsnähe. Hinauf, hinauf! Ich raste nicht. Ich will und will nicht unten bleiben. Mein frömmstes, seligstes Gedicht Will ich beim Glühn der Alpen schreiben. Das werde ich dann heimlich, still In einem Kirchlein niederlegen. Vielleicht gereicht's, so Gott es will, Dem, der es findet, einst zum Segen!“ [559] Unsere gute Pekala hatte sich, als der Ustad kam, bescheiden vom Tische zurückgezogen. Nun, als er fort war, kam sie wieder, um von neuem ihres Amtes zu walten. Die Entfernung war allerdings keine große gewesen. Darum hatte sie Verschiedenes von dem, was gesprochen worden war, gehört. Das zeigte sich durch die Frage, welche sie sogleich an mich richtete: „Nicht wahr, ich hatte mit dem Sterbetage recht, Effendi? Er sprach doch auch mit dir davon.“ „Ja; aber da wirst du mir eine Bitte zu erfüllen haben, liebe Pekala.“ „Sehr gern! Welche?“ „Denke nicht zu oft und zu viel über den deinigen nach! Und sei schweigsam über das, was du hier vernommen hast! Wenn man von so etwas redet, muß man es verstanden haben.“ „Das habe ich freilich nicht. Es war zu schwer für mich.“ „Trotzdem du dich eine Kizfeilesuf genannt hast?“ scherzte ich. „Das bin ich auch. Aber es hat jeder Mensch seinen eigenen Feilesufluk1) [1) Philosophie.], den der andere nicht begreift. Der meinige wächst in der Küche und sagt mir jeden Tag, daß alle Menschen essen müssen. Darum setze dich nun wieder nieder, und laß mich die Freude erleben, daß es dir schmeckt!“ „Das wird nun wohl nicht so werden, wie du wünschest. Ich bitte dich, noch einige Zeit Geduld zu haben.“ „Warum, Effendi? Willst du nun etwa gar nicht essen?“ [560] „Nicht sogleich. Ich möchte nachdenken. Geh mit deinem Tifl ein Stündchen spazieren, und komm dann wieder!“ „Wie schade! Das ist es ja eben, was meine Feilesufluk nicht begreifen kann! Wenn gelehrte Männer in den Sattel ihres Geistes steigen, um in seinem Reiche herumzugaloppieren, da lassen sie ihn hungern. Sie sagen, sie können nicht essen, wenn sie denken. Was wird er da wohl für Sprünge mit ihnen machen können! Gieb ihm Futter, Effendi, viel Futter! Wenn du das thust, dann wirst du erst bemerken und an dir selbst erfahren, was ich, eure Pekala, unter Nachdenken verstehe! Was soll aus dir werden? Die Seele hat keinen Platz; der Geist muß darben, und der Körper darf nicht essen. Du gehst mir ja zugrunde! Wozu bin ich denn mit meiner schönen, großen Küche da? Doch dazu, daß alles, was ich mache, aufgegessen wird! Doch will ich nicht zanken, denn ich sehe, daß es dir wehe thut. Ich gehe!“ Wehe thun? Das nun freilich nicht! Sie deutete meine Bemühungen, das Lachen zu unterdrücken, falsch. Es waren nur wenige Schritte, welche sie that; dann blieb sie stehen, sah auf die Erde nieder, kam wieder zurück, ganz nahe an mich heran und sagte halblaut, damit Tifl, der sich nun wieder auf der Lichtung befand, es nicht hören möge: „Weißt du, was ich mir über unsern Ustad ausgesonnen habe? Während er mit dir sprach, kam es mir in den Kopf.“ „Was?“ „Es liegt ein Geheimnis über ihm, und ich habe etwas davon entdeckt. Er kann alles; er weiß alles. Er kennt das ganze Morgen- und wohl auch sehr viel vom Abendlande. Er hat sehr, sehr viele Bücher in [561] abendländischer Schrift. Ich glaube, daß er früher dort gewesen ist, um alles, was man dort lernen kann, sich anzueignen. Da hat er auch an solchen Tischen, wie dieser ist, gegessen. Er kehrte in die Heimat zurück. Dann starb etwas in ihm; denn in dieser Weise meint er es doch, wenn er von seinem Tode spricht. Das Gedeck hier ist ein Andenken an diesen seinen Toten, und darum hebt er es so heilig auf und sucht es an jedem Sterbetag hervor. Was sagst du dazu? Ob ich wohl recht habe?“ „Pekala, du hast ein kluges Köpfchen!“ „Nichts weiter? Das habe ich längst gewußt! Aber es freut mich, daß auch du es nun erfahren hast. Jetzt gehe ich wirklich!“ Und sie ging auch wirklich; Tifl mit. Ich war allein. Ueber mir schlug ein persischer Ispinos1) [1) Finke.]. Er sprang von Zweig zu Zweig, immer weiter herab. Ich warf ihm Brocken hin, und er kam bis an den Tisch heran, um sie zu nehmen. Seine hellen Augen waren ohne Furcht auf mich gerichtet. Warum läßt die sogenannte unvernünftige Kreatur sich von der Güte locken? Warum lacht nur der Mensch über den, der selbstlos alle liebt? Oder ist das nicht der Mensch überhaupt, sondern nur der Menschengeist, der raffinierende Teil der „Schöpfungskrone“? Wie glücklich dann die niederen Geschöpfe, von denen man behauptet, daß sie keinen „Geist“ besitzen! Was versteht das gesellschaftliche Tier, Mensch genannt, denn eigentlich unter „Liebe“? Wenn die Hassenden sich zusammenrotten, damit Liga gegen Liga, Konfession gegen Konfession, Fraktion gegen Fraktion aufeinanderplatze, so [562] behaupten auch sie, in Liebe verbunden zu sein. Eine Liebe aber, welche hassen kann, giebt es einfach nicht! In ganz derselben Weise belieb- und zugleich behaßäugeln sich die Völker ebenso wie auch die einzelnen Individuen. Wer aber wahre Liebe bringt oder brachte, die vor allen Dingen und zunächst nach Frieden strebt, der wurde stets und wird noch heute an das liebe Kreuz geschlagen. Und dabei behauptet jede Partei, daß sie allein es sei, die den Frieden wolle! Natürlich aber behält sie sich stillschweigend vor, daß er nur zu ihrem Vorteil abzuschließen sei! Ist das denn Frieden? Nein, sondern neuer Grund zum Kampfe! Das Weltmeer kann nicht ruhig sein. Es ist eine den Winden preisgegebene, willenlose Flüssigkeit. Aber muß denn die Menschheit mit ihren anderthalbtausend Millionen bewußter und denkender Intelligenzen sich ebenso in stetem Wogengange befinden? Muß der hochbegabte, seiner Verantwortlichkeit sich sehr wohl bewußte Mensch, sobald sein Nachbar wellt, sofort auch Wellen schlagen und sie weitergeben? Giebt es keinen Halt auf weiter See? Kein festes Land? Und muß auch jedes der vorhin gezählten kleinen, winzigen Binnenwässerlein gleich lächerlich hohe Brandung schlagen, wenn vom Andern her ein Lufthauch es berührt? Kennt denn niemand jene Wunderhand, die damals, als auf dem See Genezareth der Ruf „Herr, wir verderben“ erscholl, den Elementen sofort Ruhe gab? Weiß man nur in seinem Namen, aber nicht in seinem Geiste zu handeln? Erheben sich nicht augenblicklich tausend Wogen ringsumher, wenn es einmal eine freundliche Herzenswelle wagt, sich von dem allgemeinen Strom zu trennen? Wie manche solche Welle, die nach den Gärten und Feldern des Ufers fließen wollte, um sie zu befruchten, ist von den dunkeln [563] Fluten, auf deren Grund die schwere, stählerne Schlepperkette ruht, mit fortgerissen worden! Aber droben auf den Bergen, da liegen sie, in tiefer Einsamkeit, vom hohen Forst beschützt, die immer klaren Wasserspiegel. Von unentweihten Quellen gespeist, fließen sie über von Heil und Segen für jedermann, der von dem sumpf- und fieberreichen Strome aufwärts nach seinem Ursprung wandert. Anstatt Menschenrecht herrscht hier noch Gottesrecht. Die holde Fee der Menschheitskinderzeit geht liebreich wandeln von Haus zu Haus. Des Edens fromme Sage wird beim Scheine des brennenden Spanes an jedem Herd erzählt, und wenn die Ahne im lauschenden Kreise der Enkel eine mit ihr altgewordene Mähr erzählt, so hebt sie wohl mit den Worten an: „Als wir noch Kinder waren.“ Sie weiß ja nicht, daß sie stets Kind geblieben ist! So sitzt nach vollbrachtem Tagewerke oft auch die gute Pekala mit „ihrem Kind“ auf jener Bank im Garten, wo ich von beiden als Pflaumendieb überfallen wurde. Was mag sie ihm erzählen, die ebenso Kind wie er geblieben ist? Hat doch der Ustad es erreicht, seine früher unbotmäßigen Dschamikun in wohlerzogene, dankbare Kinder zu verwandeln! Mit welchen Mitteln hat er das fertiggebracht? Mit Hilfe jener Fee, welche keine Gewaltthat kennt und doch alle Menschen zwingt: sie heißt - - die Güte! Aber mit welchen andern Mächten mag er gerungen haben, um sie in sich abzutöten, ehe er den Weg nach diesen seinen Bergen fand! Es sei ihm nichts, gar nichts erspart geblieben, sagte er. Nun aber war es glücklich überwunden. Warum geben unsere Dichter solchen Lebenskämpfen fast immer einen tragischen Schluß? Kennen sie unsern Herrgott nicht? Die Erdenbühne, für welche er seine Gestalten schafft und, wie es [564] scheint, nach freiem Willen handeln läßt, kennt die Tragik nur als kurze Episode. So ist auch das, was der befangene Mensch für ein Lustspiel, einen Schwank oder gar für eine Farce hält, nichts weiter, als eine vom Schauspieler eigenmächtig extemporierte Scene, welche der unbestechliche Regisseur sehr bald zu rügen weiß. Auf dieser Bühne geht niemand tragisch unter. Wer in dem einen Akt am Boden zu liegen scheint, darf sich im nächsten zum neuen Kampf erheben. Und wenn für ihn nach endlich errungenem Siege die letzte Erdenscene kommt, so hält der Dichter selbst den Kranz für ihn bereit. Ich saß hier - um mich des Bühnenjargon zu bedienen - vor den pietätvoll aufbewahrten Requisiten mir unbekannter Leidensscenen. Warum war es grad mir erlaubt, sie zu berühren? Weil ich Marah Durimeh kannte? Weil der Ustad Grund zu haben glaubte, anzunehmen, daß ich, so wie er, durch die Schule der Leiden zu gehen haben werde? Es mußte noch einen andern, dritten Grund haben, den ich aber jetzt wohl noch nicht wissen durfte. Ich verzichtete darauf, über ihn nachzudenken. Wer so weitausschauend ist, den Berg mit jenem Amen sagenden Alabasterzelt zu krönen, der weiß auch wohl, wann die rechte Zeit, zu sprechen, gekommen ist. War denn schon eine Stunde vorüber? Wohl kaum eine halbe. Aber Pekala hatte es nicht länger ausgehalten. Sie kam jetzt mit ihrem Tifl wieder und sagte, jedenfalls um ihre zu schnelle Rückkehr zu entschuldigen: „Effendi, du mußt nun schnell essen. Kara Ben Halef ritt nach Hause, um beim Vater zu bleiben, damit seine Mutter zum Beit-y-Chodeh kommen könne. Sie ist da und fragt nach dir. Sie möchte dich gern bei sich haben.“ [565] Ich brauchte die dienstfertige „Festjungfrau“ eigentlich gar nicht; es lag ja alles bei der Hand. Aber sie ließ es sich nun einmal nicht nehmen, dabei zu sein. Jetzt griff sie nach der Flasche und dem Korkzieher. Indem sie letzteren verlegen betrachtete, sagte sie in ihrer vom Ustad jedenfalls nicht gewollten Offenheit: „Flaschen sind sehr selten hier bei uns. Ich habe, seit ich hier bin, keine als nur diese hier gesehen. Ich weiß wirklich nicht, wie man es macht, um die Tapa1) [1) Kork.] mit diesem eisernen Dinge herauszuziehen.“ „Trinkt der Ustad Wein?“ fragte ich. „Nie. Es ist die einzige Flasche, die er hat. Alles, was gegoren ist, trinkt er nicht. Und alles, woran Blut war, ißt er nicht. Warum, das weiß ich nicht.“ „So lassen wir den Wein unberührt.“ „Aber, er ist doch für dich bestimmt.“ „Es wird schon einmal ein Gast kommen, dem er nötiger ist, als mir. Jetzt fange ich an!“ „Die Muhammedaner sagen „Bismilla“2) [2) In Gottes Namen.], wenn sie zu essen beginnen. Das ist ein gutes Wort. Verzeih, daß ich es vorhin vergessen habe!“ Nun war es unterhaltend, zu beobachten, wie die beiden zuschauten. Ich machte mir den Spaß, die europäische Art, zu essen, so verwickelt wie möglich darzustellen. Welche Wonne dieses Hantieren der „Festjungfrau“ bereitete! Wie oft rief sie „dem Kinde“ zu: „Du, das ist fein!“ Und als ich endlich gar einige Birnen und Pflaumen schälte, schlug sie die Hände zusammen und sagte: „Das ist das Allerfeinste. So etwas giebt's in der ganzen Welt gar niemals wieder!“ Hierauf war es Zeit, mit Tifl zu den Dschamikun zurückzukehren. Als wir aus dem Walde traten, bot sich [566] mir ein sehr bewegtes, freundliches Bild. Die Perser saßen, links von uns, hier oben. Am Tempel hatte sich der Pedehr zu Hanneh gesellt. Den Ustad sah ich nicht. Ueberall gab es sitzende, stehende oder heiter sich bewegende Menschengruppen. Die jungen Männer unterhielten sich mit verschiedenartigen Spielen, welche den Zweck hatten, Kraft und Gewandtheit zu verleihen. „Soll ich anfangen, Effendi?“ fragte mich Tifl. „Womit?“ „Singen. Ich sagte dir doch, daß ich sie alle stumm singen werde. Man wollte schon längst damit beginnen. Aber der Pedehr hat mir versprechen müssen, daß ich der erste sein darf.“ „Du willst es hier thun, gleich hier oben?“ „Ja. Meine Stimme geht weit, bis dort zum Berg hinüber, und hier sehen mich auch alle. Paß auf, Effendi, wie still und ruhig alle sein werden, wenn ich anfange!“ Ich wurde wirklich neugierig. „Das Kind“ als Solosänger! Ich hatte gar kein so rechtes Vertrauen zu ihm; aber wenn er so singen, wie er reiten konnte, so war das Selbstvertrauen, welches er zeigte, sehr wohlbegründet. „Was wirst du singen?“ fragte ich. „Was ich dir schon sagte: ein Liebeslied. Dieses bringe ich von allen am besten. Paß auf!“ Er stellte sich in Positur, räusperte sich und begann. Welch eine Stimme! Fast hätte ich ihn mit „Maschallah“ unterbrochen. Das war ja ein Tenor, ein Heldentenor von unbeschreiblicher Fülle und herrlichster Klangfarbe! Allwissender Pollini! Von unserm Tifl aber hast du nichts gewußt, sonst wärest du schon längst hier bei den Dschamikun gewesen, um wo möglich den Besitzer dieser geradezu phänomenalen Stimme hier auf- und daheim am [567] Alsterbassin wieder abzuladen! Es war genau so, wie er gesagt hatte: Gleich bei dem ersten Tone schaute alles herauf zu uns, und noch war kaum die zweite Zeile beendet, so hatte auf der Graslehne und im Parke jede Bewegung aufgehört. Ich sah zu den Persern hinüber. Sie waren alle aufgesprungen, wie von der Macht, welche in Tifls Kehle steckte, elektrisiert. Wie reich begabt war dieses „unser Kind“! Und welcher Text war es, der dem Liede unterlag? Folgender: „Die schönste Blume auf der Welt Stand morgens an des Nachbars Zelt. Da kam der Tag im goldnen Licht Und küßte fromm ihr Angesicht. Kaum glaubte ich dem Sonnenschein: Das konnte nur ein Märchen sein. Die schönste Blume auf der Welt Stand abends an des Nachbars Zelt. Da kam die Nacht im Mondeslicht Und küßte fromm ihr Angesicht. Kaum glaubte ich dem Mondenschein: Das konnte nur ein Märchen sein. Die schönste Blume auf der Welt Steht nun bei mir in meinem Zelt. Wer kommt nun jetzt mit seinem Licht? Wer küßt nun fromm ihr Angesicht? Wer geht bei uns nun aus und ein? Das muß erst recht das Märchen sein!“ Das also war ein Liebeslied! Ich lasse es ohne Kommentar, denn es redet seine eigene Sprache! Als der letzte Ton verklungen war, ertönten von allen Seiten laute Achsant- und Jagadarufe1) [1) „Hast du es schön gemacht,“ Bravo!]. [568] „Nun, Effendi, kann ich singen?“ fragte er. „Fast noch besser, als du reiten kannst,“ antwortete ich. „Und waren nicht gleich alle stumm?“ „Alle!“ „Ja; ich singe über alle weg und reite an allen vorbei. Das wirst du sehen, wenn wir Wettrennen haben. Unsere Stute wird die Siegerin sein. Sie steht dort an der Tempelecke.“ „Wie kommt das? Ich denke, Kara ist mit ihr heimgeritten?“ „Ja; aber seine Mutter ist dann auf ihr herübergekommen. Siehst du, daß sie dir winkt?“ Hanneh forderte mich allerdings mit der Hand auf, zu ihr zu kommen. Ich leistete natürlich Folge und erlöste dadurch den Pedehr von der Verpflichtung, bei ihr zu bleiben. Sie ging mit mir nach meiner Ecke, wo wir uns neben einander niedersetzten. „Hast du schon einmal so herrlich singen gehört wie heute, Sihdi?“ fragte sie. „Wir haben im Abendlande wunderbare Musik und sehr berühmte Sänger und Sängerinnen,“ antwortete ich. „Aber wir nicht. Du kennst doch unsere arabische Musik. Ich habe sie bisher für unvergleichlich gehalten. Aber was ist sie gegen diese hier! Wir schreien, quieken und jammern; das nennen wir singen. Hier aber habe ich zum ersten Male in meinem Leben singen gehört!“ „Wirklich?“ „Ja.“ „Besinne dich, Hanneh!“ „Worauf? Ich weiß nichts.“ [569] „Ich habe im Lager der Haddedihn einige Male deutsche Lieder gesungen, um euch zu zeigen, wie sie klingen. Nun sagst du, du habest nie singen gehört!“ Es machte mir heimlich Spaß, sie in Verlegenheit zu bringen. Sie errötete zwar, war aber doch schnell mit der Antwort da: „Das hatte ich vergessen. Auch ist es ein Unterschied, ob nur einer singt oder mehrere.“ „Tifl sang auch allein!“ „O, der! Nimm es mir nicht übel, Effendi, aber an den kommst selbst du noch lange nicht. Er selbst ist ein so langer, langer Mensch. Aber seine Stimme ist noch tausendmal länger als er. Sie reicht, so weit das ganze Thal sich dehnt!“ „Es scheint sehr praktisch zu sein, die Stimme nach ihrer Länge zu beurteilen!“ „Natürlich ist das richtig! Thust du das nicht auch? Denke doch, wenn vorhin die beiden Lieder hier im Tempel gesungen wurden! Sie sind aber so lang, daß ich sie noch jetzt in meinen Ohren und in meinem Herzen klingen höre.“ „Wo warst du, als man sang?“ „Halef schlief fest; da brauchte ich nicht ganz in seiner Nähe zu sein. Ich setzte mich an deine Säule, wo ich dich bei unserer Ankunft sah. Da war es plötzlich, als ob sich der Himmel öffne und als ob die heiligen Malaïka1) [1) Engel.] ihre Stimmen hören ließen, um Allahs Herrlichkeit zu preisen. Da faltete ich die Hände, denn es war jemand in mir, der beten wollte. Wer es war, das weiß ich nicht; aber ich fühlte es, daß er auch vom Himmel ist. - Was haben dort die Perser mit dem Pferde?“ [570] „Weißt du, warum sie gekommen sind und wie wir sie empfangen haben?“ „Ja. Kara erzählte es mir. Jetzt stehen sie dort bei der ‚Sahm‘ des Ustad. Sie sprechen von ihr. Tifl kommt. Sie reden mit ihm. Er thut so stolz. Jetzt lacht er über sie. Sie scheinen sich zu ärgern. Er wird das Pferd gelobt haben; sie aber tadeln es.“ So schien es allerdings zu sein. Sie waren vom Waldesrande herabgekommen, denn sie fühlten wohl das Bedürfnis, nicht so allein für sich zu bleiben. Nun beschäftigten sie sich mit der „Sahm“, deren Verteidiger Tifl machte. Das dauerte längere Zeit. Sie schienen nicht bloß über das Pferd, sondern auch über andere Dinge mit ihm zu sprechen. Dann suchten sie den Pedehr auf, mit welchem sie einige Zeit verhandelten. Es schien wichtig zu sein, denn er schickte einen Boten zu den Aeltesten, um sie zusammenrufen zu lassen. Dann kam er zu mir. „Effendi, die Dschemma wird gebildet. Ich bitte dich, mit beizuwohnen,“ sagte er. „In welcher Angelegenheit?“ „Der Blutrache wegen. Die Perser wollen fort. Das ist uns lieb. Darum bin ich auf ihren Wunsch, jetzt in Kürze zu verhandeln, eingegangen.“ „An welchem Orte wird es sein?“ „Da oben, wo sie gesessen haben. Bring auch unsere Freundin Hanneh mit.“ „Mich?“ fragte sie. „Was hat ein Weib in eurer Dschemma und mit dieser Blutrache zu schaffen?“ „Weil ein Weib, die Frau des Scheikes der Kalhuran, mit in sie verstrickt ist. Wir möchten dich ersuchen, an ihrer Stelle zu sprechen. Kara Ben Nemsi wird sich ihres Mannes annehmen. Unser Ustad wollte [571] es selbst tun; aber weil die Beratung so plötzlich kommt und er fortgegangen ist, um erst gegen Abend wiederzukommen, kann ich ihn nicht damit belästigen.“ Als er fort war, sagte Hanneh: „Ist das nicht sonderbar, Sihdi, daß man mich zu der Versammlung der Aeltesten ruft?“ „Es ist noch eine viel größere Ehre für dich, als für mich, Hanneh; du kannst stolz auf sie sein!“ „Ich bin es auch. Was sind dieses Dschamikun doch für seltene Menschen! Ich werde für die Frau des Scheikes sprechen, als ob ich sie selbst sei. Ich habe sie gesehen und mit ihr gesprochen. Sie heißt Amineh und soll mit meiner Verteidigung zufrieden sein!“ „Da will ich dir eine wichtige Mitteilung machen, meine liebe Hanneh. Ich halte nämlich diesen Bluträcher nicht für einen Moslem. Wahrscheinlich ist auch sein Sohn keiner gewesen. Es giebt zwei berühmte arabische Rechtslehrer, El Mohekkik und Minhadj, nach deren Aussprüchen man vorkommenden Falles entscheidet. Sie haben beide den Satz aufgestellt: Wenn ein Moslem einen Nichtmoslem tötet, so unterliegt er der Blutrache nicht.“ „O, das ist gut! Ich danke dir, Sihdi!“ „Du bist scharfsinnig. Vielleicht gelingt es dir, herauszubringen, ob er Muhammedaner ist oder nicht.“ „Laß mich nur machen! Werden seine Gefährten auch dabei sein?“ „Nein. Das wäre gegen die Regel.“ „So erlaube, daß ich vorangehe!“ „Wohin?“ „Zu ihm.“ „Aber Hanneh! Warum?“ „Das hörst du später. Er kennt mich nicht und weiß nicht, daß ich bei der Dschemma sein werde.“ [572] Sie stand auf und ging. Dabei zog sie den Burko1) [1) Schleier.] aus ihrem Ueberwurf und verhüllte mit ihm ihr Gesicht. Ich folgte ihr. Ghulam el Multasim befand sich wegen der zu erwartenden Verhandlung in Unruhe. Er hatte sich von seinen Gefährten getrennt und war allein, um sich das, was er sagen wollte, zurechtzulegen. Hanneh richtete es so ein, daß sie an ihm vorüberkam. Ich sah, daß sie ihm ein Wort zuwarf. Er antwortete. Sie blieb stehen, nur kurze Zeit, um einige Bemerkungen mit ihm zu wechseln. Dann entfernte sie den Schleier vom Gesicht, nickte ihm zu und entfernte sich. Ich ahnte, warum: sie hatte gesiegt. Nach einiger Zeit waren die Aeltesten beisammen. Sie setzten sich in einem Kreise nieder, in dessen Mitte der Pedehr sich niederließ. Ich mußte an seiner linken Seite Platz nehmen. Der Bluträcher erschien und stellte sich vor uns auf. Zuletzt kam Hanneh, unverschleiert. Der Pedehr wies ihr ihren Platz an seiner rechten Seite an. Als das der Multasim sah, rief er erstaunt aus: „Ein Weib? Das kann ich nicht dulden!“ „Diese Frau ist das Weib von Hadschi Halef Omar, des Scheikes der Haddedihn,“ entgegnete der Pedehr. „Du mußt es dir gefallen lassen, daß sie für Amineh spricht, die deinen Sohn erschoß! Wenn es dir nicht paßt, so kannst du gehen. In diesem Falle aber hast du auf alles zu verzichten. So will es das Gesetz.“ „Ich bleibe!“ „Nun wohl. So sei die Dschemma hiermit eröffnet. Du hast zunächst deine Anklage mit ihren Beweisen vorzubringen und dann deine Forderungen mit ihren Be- [573] gründungen zu stellen. Ehe das geschieht, habe ich dich auf etwas aufmerksam zu machen, was für dich von größter Wichtigkeit ist. Wirst du Blut fordern oder den Preis?“ „Blut!“ antwortete er, indem er mir einen bezeichnenden Blick zuwarf. „Du bist persischen Glaubens?“ „Persischen? Ja!“ „So wird deine Blutrache nach schiitischen Gesetzen, und zwar nach den Auslegungen des Khalil behandelt werden müssen. Ich hoffe, daß du rechnen kannst?“ „Beleidige mich nicht!“ „Hast du das Blut berechnet?“ „Blut? Berechnet? Ich verstehe dich nicht.“ „Wie viele Personen sind getötet worden?“ „Eine.“ „Von wie vielen wurde sie getötet?“ „Von zweien.“ „Welchen Geschlechtes waren diese?“ „Ein Mann und ein Weib.“ „Gelten beide in Beziehung auf die Blutrache gleich?“ „Nein, das Weib halb. Was fragst du mich nach so bekannten Dingen!“ „Du wirst es gleich hören. Anderthalb Personen haben eine Person getötet. Nach Khalil gehört also jeder der beiden Täter nur zu drei Vierteilen deiner Rache. Das andere Viertel darfst du nicht berühren. Wenn du es verletzen solltest, bist du selbst der Rache verfallen. Das ist es, was ich dir vorher zu sagen hatte.“ Man sah dem Multasim an, daß ihm diese pfiffige, aber durchaus auf dem Gesetze beruhende Ausführung das Gleichgewicht störte. Solche Bruchteile lassen sich nur dann bezahlen, wenn der Preis, nicht aber Blut ge- [574] fordert wird. Uebrigens war ich neugierig, ob er unsere unter vier Augen getroffene Verabredung erwähnen werde. That er das, so durfte er sich nicht an den beiden anderen rächen. Forderte er aber deren Blut, so war ich wieder frei. Seine nun zu erwartende Anklage mußte Licht in diese Sache bringen. Er öffnete bereits den Mund, um zu beginnen, da ergriff Hanneh vor ihm das Wort: „Halt!“ sagte sie. „Auch ich habe vorher ein Wort zu sagen. Nämlich nach den Auslegungen von El Mohekkik und Minhadj giebt es keine - - -“ „Maschallah!“ unterbrach sie der Pedehr erstaunt. „Daß du so gelehrt bist, das ahnte ich nicht!“ Sie nickte mir lächelnd zu, antwortete ihm nicht und begann von neuem: „Nach den Auslegungen von El Mohekkik und Minhadj giebt es keine Blutrache, wenn der Getötete kein Muhammedaner ist. Der tote Muhassil aber war ein Christ.“ „Beweise es!“ fuhr der Multasim sie zornig an. „Bist du, sein Vater, ein Moslem?“ „Ja.“ „Du hast vorhin gesagt, du seist armenischer Christ!“ „Ich scherzte.“ „So hast du dein Leben verwirkt!“ Sie erhob sich, zeigte auf ihn und fuhr im strengsten Tone fort: „Ich ging vorhin an diesem Lügner vorüber und würdigte ihn, von meinen Lippen gegrüßt zu werden. Er dankte. Ich hatte eine Frage. Er antwortete. Da war ich so höflich, mich zu entschuldigen, daß ich durch den Schleier zu ihm sprechen müsse, weil er kein Dschamiki, sondern ein Moslem sei. Da sagte er, ich brauche [575] das nicht zu thun, denn er sei armenischer Christ. Das war die Wahrheit. Sie entfuhr seiner Unbedachtsamkeit. Als Muhammedaner hat er sich uns jetzt nur vorgelogen!“ Und sich nun direkt zu ihm kehrend, fügte sie hinzu: „Wähle! Bist du Christ, so giebt es keine Rache. Bist du ein Anhänger des Propheten, so habe ich dir, weil du mich belogst, mein Angesicht gezeigt, und diese Schande schreit nach deinem Blute. Du wirst diesen Berg nicht lebend verlassen. Ich rufe meinen Sohn, der die Ehre seiner Mutter wieder herstellen und dich niederschießen wird wie einen Schakal. Also, wähle!“ Der Multasim war, wie schon einmal gesagt, ein Feigling. Hanneh stand so außerordentlich drohend, und er wußte nicht, daß ihr Sohn jetzt gar nicht hier sei. Die Situation kam ihm bedenklich vor. Das Leben war ihm lieber als die Ehre, und so antwortete er: „Ob ich Christ oder Muhammedaner bin, das ist jetzt gleich. Ich habe dafür gesorgt, daß mein Sohn gerächt wird. Aber wie ist's? Wäre ich ein Christ, so hätte ich auf Blut zu verzichten. Ob aber auch auf den Blutpreis? Wer ist so ehrlich, es zu sagen?“ „Wir sind alle ehrlich!“ erklärte der Pedehr. „Nicht Blut, aber den Preis hättest du zu bekommen.“ „Wie hoch?“ „Das hätten wir hier zu besprechen. Aber bedenke: Die Peitsche deines Sohnes hat das Blut des Scheikes der Kalhuran vergossen, der ein freier Beduine ist!“ „Dafür hat er sich das Leben meines Sohnes genommen!“ „Aber Peitschenhiebe kosten zweimal so viel wie ein Leben, wenn nicht in Blut bezahlt wird. Wir haben also noch den Preis eines Lebens zu fordern!“ „So fordert es!“ lachte der Perser. „Ich verlange [576] als Blutpreis die Stute des Ustad. Das ist so billig, daß ihr selbst euch darüber wundern werdet.“ „Du willst also nicht, daß Leben gegen Leben sich aufhebe?“ „Nein! Und ich biete euch meinen Turkmenen, den ihr alle gesehen habt, als Preis für die Schläge an. Ich hörte, daß bei euch nächstens Wettrennen sei. Wenn wir einig werden, so komme ich. Die beiden Pferde mögen mit einander laufen. Der Sieger rettet das seine und gewinnt das andere dazu.“ Das war ein überraschender Vorschlag. Aber ich durchschaute ihn, obgleich seine Worte friedlich klangen. Er hielt sein Pferd für der Stute überlegen. Er war überzeugt, daß er diese gewinnen werde. Damit wäre dann die Rache beigelegt gewesen, und unsere geheime Abmachung hätte nicht zu gelten. Aber dieser Mensch wollte die Stute haben und auch mich. Das Wettrennen gab ihm Gelegenheit, wiederzukommen, also in meiner Nähe zu sein. Wer weiß, was er plante. Ich hatte vorsichtig zu sein. Der Pedehr war ein energischer Mann. Er bedachte sich nicht lange. Pferd gegen Pferd, das elektrisierte auch ihn, wie uns alle. Die Stute „Sahm“ war zwar nicht sein eigentliches Eigentum; aber er kannte den Ustad, und er kannte noch einen, den er rief. Dieser eine war - - Tifl. Als er kam, fragte ihn der Pedehr: „Hast du dort den turkmenischen Fuchs gesehen?“ „Ja,“ antwortete ‚das Kind‘. „Er soll zum Rennen mit unserer ‚Sahm‘ laufen.“ „Darüber wird meine Pekala lachen!“ „Meinst du das wirklich?“ „Ja. Ich lache auch!“ [577] Da fragte der Multasim in höhnischem Tone: „Ist dieser lächerliche Mensch euer Sachverständiger? Wird etwa er die Stute reiten?“ „Wer sie reitet, ist gleichgültig. Es geht nicht Reiter gegen Reiter, sondern Pferd gegen Pferd!“ Da schien dem Perser ein weiterer Gedanke zu kommen. Er sah eine Weile sinnend vor sich nieder und sagte dann: „Ich setze jedes Pferd, welches ich mitbringe, gegen jedes Pferd, welches ihr ihm entgegenstellen könnt. Gehst du darauf ein?“ „Welche Bedingung stellst du da?“ „Erstens, daß ihr gezwungen seid, mitzumachen. Und wenn ich euch zehn Pferde brächte, so hättet ihr zehn Pferde gegen sie zu setzen.“ „Und zweitens?“ „Und zweitens verlange ich, daß jedes siegende Pferd das besiegte gewinnt.“ „Du bist sehr kühn!“ „Das sagst du, weil du dich fürchtest. Ich bin meiner Sache so gewiß, daß ich sogar fordern möchte, außer den Pferden auch Kamele stellen zu können.“ Da ging ein leises Lächeln über das Gesicht des Pedehr. Er streifte mich mit einem schnellen, fragenden Blicke, den der Perser nicht bemerkte, und fragte diesen, nachdem ich mit einem ebenso unbemerkten Kopfnicken geantwortet hatte: „Hast du vielleicht die gefährliche Absicht, uns um unser ganzes Vollblut zu bringen?“ „Ja, die habe ich! Ich werde dafür sorgen, daß euch nie wieder beikommen kann, euch mit der Kavallerie eines Muhassil zu messen! Wenn ihr Mut habt, so [578] schlagt in meine Hand! Wo nicht, so seid ihr mir verächtlich!“ „Deine Verachtung ist dein Eigentum, von welchem dich kein Mensch befreien wird. Du wirst sie also wohl für dich behalten müssen!“ „Brülle, wie du willst, alter Löwe; beißen aber kannst du nicht. Nimmst du die Wette an, so reiße ich dir auch noch die letzten Zähne aus!“ „Ich warne dich, Unvorsichtiger!“ „Und ich lache!“ „So sei es denn! Bring also auch Kamele! Wir halten gegen alles, was du zum Wettlauf bringst. Aber es bleibe so, wie du gesagt hast: Es ist gleichgültig - - -“ „Wem die Tiere gehören!“ fiel da der Multasim schnell ein. „Ihr könnt nicht verlangen, daß ich, der ich in der Stadt wohne und ein einzelner Mann bin, so viel Vieh besitze wie ihr!“ Er ahnte gar nicht, wie willkommen diese neue Bedingung dem Pedehr war. Dieser besaß die Klugheit, ein bedenkliches Gesicht zu zeigen; erklärte aber dann doch: „Wenn ich hierauf eingehe, so kannst du ja das Vollblut von ganz Persien gegen uns zusammentreiben. Aber es sei! Die Besitzer und Reiter sind gleichgültig. Jedem Tiere, welches ihr bringt, muß von uns ein Gegner gestellt werden. Pferd gegen Pferd; Kamel gegen Kamel! Jedes kann gegen jedes laufen, so oft es dir oder uns gefällt. Und zuletzt die Hauptsache: Der Besiegte geht sofort in den Besitz des Siegers über!“ Da ging über das Gesicht des Multasim ein so triumphierender Ausdruck, als ob er eine schwere Schlacht geschlagen und gewonnen habe. Er hielt dem Pedehr die Hand hin und rief aus: [579] „Angenommen! Endlich, endlich habe ich euch! Schlag ein!“ „Hier ist sie,“ sagte der Pedehr, indem er ihm die seine gab. „Du lachst. Ich lache nicht. Die Sache ist mir ernst. Es steht mehr, viel mehr auf dem Spiele, als du denkst.“ „Wo? Doch nur bei euch!“ „Irre dich nicht! Wir haben zwar nur gesagt: Pferd gegen Pferd und Kamel gegen Kamel; aber wer die sind, die sich eigentlich und in Wahrheit hinter diesen Tieren gegenüberstehen, das scheinst du nicht zu wissen!“ „Nicht? Da sage ich dasselbe Wort zu dir: Irre dich nicht! Die Wette ist fertig, denn du bist der Scheik und hast eingeschlagen. Es kann nichts rückgängig gemacht werden, und darum habe ich nicht notwendig, vorsichtig zu schweigen, wenn du mir mit leeren Drohungen und Warnungen, die mich einschüchtern sollen, kommst. Du sagst, ich wisse nicht, wer sich gegenübersteht. Ich weiß es nur zu gut; du aber weißt es nicht. Soll ich es dir etwa sagen?“ „Du stehst ja hier, um zu sprechen. Selbst wenn ich dir das Wort verbieten könnte, würde ich es doch nicht thun.“ „Wohlan; ihr sollt es hören! Aber es genügt mir nicht, es nur euch zu sagen. Ich möchte, daß es jeder Dschamiki zu hören bekomme!“ „Das wird geschehen. Was hier gesprochen wird, erfährt der ganze Stamm.“ „Und ich will, daß meine Gefährten dabei sind, wenn ich spreche. Sie sollen euch die Wahrheit aller meiner Worte bekräftigen.“ „So sei dir erlaubt, sie herbeizurufen, obgleich sie in der Dschemma der Dschamikun nichts zu suchen haben!“ [580] „Ich rufe sie nicht, sondern ich hole sie!“ „Auch das sei dir gestattet!“ „Erlaubt? Gestattet? Du redest ja außerordentlich hoch herunter! Nimm dich in acht! Höre erst, was wir dir sagen werden, und dann schau, ob du noch so hoch da oben stehst!“ Er entfernte sich. Da sahen wir, daß der Ustad wieder auf dem Festplatze angekommen war. Er sah uns hier versammelt und kam langsamen Schrittes zu uns herauf. Der Pedehr berichtete ihm, warum die Dschemma zusammenberufen und was in ihr gesprochen und beschlossen worden war. Er beendete seinen Bericht mit der Entschuldigung: „Ich hätte dich fragen sollen, ehe ich über die ‚Sahm‘ bestimmte. Wir würden in ihr unser bestes Pferd verlieren. Aber ich war überzeugt, deiner Zustimmung gewiß sein zu können.“ „So erleichtere ich dein Gewissen, indem ich dir sage, daß du recht gehandelt hast,“ erklärte der Ustad. „Ich danke dir! Der Multasim wird höchstwahrscheinlich mit den besten Vollblutpferden kommen, die er nur aufzutreiben vermag. Aber er hat in seinem kurzsichtigen Eifer nicht an unsere Gäste gedacht. Mit Assil Ben Rih, Barkh, Ghalib und unserer Sahm müssen wir ja siegen, denn ich zweifle nicht, daß sie mitlaufen dürfen werden.“ Er sah mich bei diesen Worten an. - Darum sagte ich: „Das versteht sich ganz von selbst. Dschamikun und Haddedihn, diese beiden Namen klingen jetzt zusammen wie ein einziges Wort. Mag der Multasim bringen, was er will; er wird geschlagen werden. Ich kenne unsere Pferde!“ [581] „Und ich meine zwei Hudschuhn1) [1) Plural von Hedschihn = Reit- oder Eilkamel.]!“ fügte Hanneh rasch hinzu. „Was die Dschamikun für Kamele besitzen, das weiß ich nicht; aber so schnellfüßig und ausdauernd sie auch sein mögen, sie wurden hier im Gebirge geboren und auferzogen und können also unmöglich das leisten, was jedes meiner echten Bischari-Hudschuhn im Wettlaufe zeigen wird. Ich wette mit ihnen den ganzen Besitz der Haddedihn gegen jeden andern Preis!“ Der Ustad und der Pedehr sahen einander lächelnd an. „Da hörst du es ja!“ sagte der letztere. „Der Tag des Rennens wird noch interessanter werden, als wir zu ahnen vermochten. Der Tag deines Kommens! Auch in dieser Beziehung ein Siegestag für uns. Wir können ruhig sein. Schau hingegen die Perser dort! Wie erregt sie sind! Was ist in sie gefahren? Warum wünschte der Multasim überhaupt, daß sie hören, was er sagen will? Der Umstand, daß die Wette von uns angenommen worden ist, scheint ihn ganz verwandelt zu haben. Man sollte meinen, daß hinter ihr noch ganz andere, verborgene Absichten stecken! Vielleicht sind sie so unvorsichtig, sich zu verraten. Wer sich so benimmt, wie jetzt sie, bei dem ist nichts mehr von Bedachtsamkeit zu suchen.“ Die Perser zeigten jetzt allerdings ein ziemlich auffälliges Benehmen. Ihre bisherige Ruhe und Gemessenheit war verschwunden. Die Gruppe, welche sie bildeten, stand keinen Augenblick still. Die einzelnen Personen sprachen und quirlten durcheinander, als ob die Geister der Besessenen in sie geraten seien, von denen das Evangelium erzählt. Es mußte ein für sie sehr wichtiger Gedanke sein, der sie gar nicht daran denken ließ, daß der Mensch sich in allen Lebenslagen zu beherrschen habe. [582] Und ihre jetzige war doch eine solche, daß sie sich wohl hätten hüten sollen, sich in dieser Weise auffällig zu benehmen. Noch während sie zu uns kamen, bemerkte man an ihnen nichts von der Besonnenheit, mit welcher die Beisitzenden der Dschemma ihnen entgegenblickten. Der Ustad hatte sich nicht zu uns gesetzt, sondern sich unter einen nahen Baum gestellt, wo er alles hören konnte. Er schaute in die weite Ferne. Für die Perser hatte er kein Auge. „Hier sind wir!“ begann der Multasim. „Wir haben beschlossen, daß ein anderer euch das sage, was ich euch sagen wollte. Vorher aber habe ich mich nach den Reitern meines Sohnes zu erkundigen. Wo sie sich befinden, das hörte ich von dem langen Menschen, der sich Tifl nennt; aber ich konnte ihm das unmöglich glauben. Darum frage ich jetzt: Wo sind diese Leute?“ „Drüben im hohen Hause,“ antwortete der Pedehr. „Als Gäste?“ „Nein.“ „Als was sonst?“ „Als Gefangene.“ „Wer hat sie gefangen genommen?“ „Ich!“ „Mit welchem Rechte?“ „Mit dem Rechte, welches uns der Schah-in-Schah verlieh: Wer unser Gebiet mit den Waffen in der Hand betritt, ohne unsere Erlaubnis zu besitzen, ist uns verfallen.“ „Wir sind auch bewaffnet!“ „Ich sehe es. Auch ihr habt das Gebot des Beherrschers übertreten, und ich könnte mit euch thun, was mir beliebt. Es wird ganz auf euer weiteres Verhalten und auf meine Entscheidung ankommen, ob ich euch fortreiten oder einsperren lasse.“ [583] „Das wagst du nicht!“ rief der Perser aus. „Ich wage nie etwas, denn es kommt mir niemals bei, irgend etwas Unüberlegtes zu thun. Ich kann euch alles, was ihr bei euch habt, abnehmen. Auch eure Pferde sind von dem Augenblicke, an welchem ihr einen der Pässe dort im Osten hinter euch hattet, unser Eigentum, unsere rechtmäßige Beute. Du siehst, wie gütig wir handelten, indem wir auf die Wette eingingen, durch welche wir uns selbst genötigt haben, etwas, was uns schon so gehört, noch extra zu gewinnen!“ „Hiervon sprechen wir jetzt nicht. Ich besitze dein Wort, und das wirst du nicht brechen!“ „Gewiß nicht! Aber ihr selbst könnt es sehr leicht durch ein unangemessenes Verhalten brechen. Ich warne euch!“ Der Multasim wurde verlegen. Er sah zu seinen Gefährten hinüber, als ob er sich aus ihren Augen neuen Mut holen wolle, und fuhr dann fort: „Wann giebst du diese Leute wieder frei?“ „Wann es mir gefällt.“ „Ich fordere eine bestimmte Antwort!“ Da schaute der Pedehr ihm mit einem großen, langen Blicke in die Augen und sagte dann: „Du forderst? Und in diesem Tone? Ich warne dich zum zweitenmal! Weißt du, was das bedeutet? Die dritte Warnung bricht mein Wort. Dann seid auch ihr dem Rechte verfallen, welches euch so außerordentlich verhaßt zu sein scheint. Sprich also höflich, sage ich dir! Du bist nicht hier, um Steuern einzutreiben, sondern wir sind hier versammelt, um euch den Hochmut auszutreiben! Ich behalte diese Leute nicht in unserm Duar. Ich werde sie freigeben, aber genau zu der Zeit und in der Art und Weise, wann und wie es uns gefällt.“ [584] „Und ihr Eigentum?“ „Sie haben keines.“ „Es gehört dem Schah!“ „Das ist nicht wahr. Dein Sohn hat sie ausgerüstet. Sie waren nicht Soldaten, sondern seine feilen Schergen.“ „So gehörte es ihm und jetzt mir, der ich sein Erbe bin!“ „Es gehört den armen Menschen, denen er es abgenommen hat. Ich werde nach ihnen forschen, um es ihnen wiederzugeben. Darauf gebe ich dir auch mein Wort. Und damit ist diese Angelegenheit erledigt!“ Damit hätte sich der Multasim gewiß nicht beruhigt, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, die dritte Warnung zu vermeiden. Er machte eine entschuldigende Handbewegung zu den andern Personen hin und sagte dann, sich wieder zu dem Pedehr wendend: „Wir beschlossen vorhin, die Gefangenen mit uns zu nehmen, wenn wir fortreiten. Giebst du sie uns mit?“ „Nein.“ „Besinne dich! Giebst du sie uns mit?“ „Nein!“ „Denke an die Folgen! Jetzt sage ich: Ich warne dich! Giebst du sie uns mit?“ „Zum drittenmal: Nein! Nun gut! Es ist bei den Dschamikun nicht gebräuchlich, Raubtiere gegen Menschen loszulassen!“ „So bin ich mit dir fertig. Nun wird ein Anderer sprechen!“ Er wollte diesem Anderen Platz machen; da aber fiel der Pedehr in entschiedenem Tone ein: „Nicht ohne daß ich es erlaube! Du warst zur Dschemma geladen und durftest also reden.“ [585] „Aber du gabst zu, daß ich meine Gefährten holte!“ „Daß sie zuhören, aber nicht, daß sie sprechen sollten! Ich bin es, der die Dschemma leitet; ich allein habe also zu bestimmen, wer sprechen darf und wer nicht. Befehlen lasse ich mir nichts. Einem höflichen Worte aber wird mein Ohr geöffnet sein.“ „So bitte ich dich, zu erlauben, daß einer meiner Freunde euch das sage, was uns eigentlich hierher zu euch geführt hat.“ „Die Blutrache.“ „Nein. Sie kam hinzu. Die eigentliche Ursache, daß wir zu euch wollten, ist eine andere. Unser Weg führte uns durch das Gebiet der Kalhuran. Ich schlug grad diesen ein, um meinen Sohn mit aufzusuchen. Ich fand nur seine Leiche, wenige Stunden, nachdem er ermordet worden war. So bin ich also auch als Bluträcher da. Die eigentliche Ursache werdet ihr von diesem Mirza hören, dessen Worte bei uns als Befehle gelten.“ „Wie heißt er?“ „Ahriman Mirza.“ „Den kennen wir nicht.“ „Ich weiß es, aber ihr werdet ihn kennen lernen. Er ist von kaiserlichem Geblüt, und seine Macht geht über das ganze Reich.“ „Wie kommt es da, daß wir uns seines Namens nicht erinnern. Seine Abstammung gilt hier im Lande der Dschamikun nicht mehr, als der Stammbaum jedes anderen Unterthanen des Beherrschers. Er steht nicht höher, als ich stehe und als auch unser Tifl steht, über den du spottetest. Sein Wort hat keinen größeren Wert, als jedes andere Wort, welches von uns in Erwägung gezogen wird. So mag er denn vortreten und sprechen. [586] Wir werden ihn hören und ihm dann die Antwort geben, welche wir für die richtige halten.“ Da trat der Multasim zurück und der Andere vor. Ich hatte bisher nicht auf die Einzelnen, also auch nicht auf ihn geachtet. Jetzt sah ich ihn genau an. Was zunächst seinen Anzug betrifft, so bestand dieser aus roten Schnürstiefeln mit goldenen Zügen, einer ebenso roten, weiten, persischen Hose, vorn und an den Seiten mit breiten, auffallend reichen Goldstickereien versehen, einer roten, mit silbernen Tressen fast ganz bedeckten, langen Weste, einer braunen Ueberjacke mit eng aneinanderstehenden Knöpfen, deren Brillantsteine doch ganz unmöglich echt sein konnten, und weit herabfallenden, orientalischen Schlappärmeln, kostbar rotseiden unterfüttert, und einer Lammfellmütze jener seltenen Art, welche von ungeborenen, lebendig aus der Mutter geschnittenen Lämmern stammt. Sie hatte vorn eine Agraffe, deren Diamant, wenn er nicht Bergkrystall gewesen wäre, gewiß ein Fürstentum gekostet hätte. Waren die Tressen und Stickereien vielleicht auch nicht echt? Um das bestimmen zu können, mußte man sie genauer betrachten, als jetzt möglich war. Dieser Mann hing fast ganz voller Waffen. Es giebt ja Charaktere, welche schon durch den Anblick einer so überschwenglichen Arminierung imponieren wollen. Ein gebogener Säbel und eine breite, federnde Tigerklinge an der Seite. Im strotzenden Gürtel ein Messer, einige Dolche und mehrere Pistolen. Querüber von der linken Schulter nach der rechten Hüfte ein gefüllter Patronengürtel. In der Hand eine fast übermäßig lange, orientalische Flinte mit rotgelb glänzendem Bronzelauf. Die Schäfte, Griffe und Scheiden dieser Waffen brillierten in blitzenden Facetten. Selbst der Handknauf der tief in [587] das Fleisch schneidenden, stahlharten Krokodilhautpeitsche, welche zum handlichen Gebrauche neben dem Säbel hing, flimmerte blutigrot, als ob er aus lauter dunklen Rubinen zusammengesetzt sei. Und nun die Person selbst: Habe ich jemals einen schönen Mann gesehen, so war es dieser hier! Hoch und schlank gewachsen, doch stark und voll gebaut, ließ der edel geformte Körper ungewöhnliche Kraft und große Gewandtheit ahnen. Und dieser Kopf! Er kam mir bekannt vor. Ich besann mich. Ich hatte einmal ein Bild gesehen: Loki mit dem herrlichen Heimdall um Friggas Halsband kämpfend. Der Künstler hatte es verstanden, dem Kopfe und den Zügen Lokis jene dämonisch verführende Schönheit zu geben, welche Seligkeit verspricht und doch aber nur Verderben giebt. Und nun ich diesen Ahriman Mirza vor mir stehen sah, war es mir, als ob er jenem Maler als Modell gesessen haben müsse. Ganz besonders deutlich war ihm die Ueberzeugung anzusehen, daß er ein schöner Mann sei, dem niemand widerstehen könne. Aber das „Licht“ seiner Augen stand nicht gerade, sondern schief; das willensstarke Kinn zog das Lächeln des Mundes nieder, und die begehrlichen, zum Hohne geneigten Lippen waren voller und breiter, als sich mit dem übrigen Gesicht vertrug. Und seine Stimme! Kraftvoll und wohllautend, der feinsten Schattierung, der unwiderstehlichsten Ueberredung fähig. Aber plötzlich zischend scharf, schrill, widerlich rauh. Es war die Stimme eines Verführers unter zweien, aber auch eines grausamen Kommandanten unter vielen! Als er stolz und hochaufgerichtet vor uns stand und aller Augen auf sich ruhen sah, zog er einen der Dolche [588] aus dem Gürtel und steckte ihn vor sich in die Erde. Ich wußte sehr wohl, was das bedeutete, schnellte mich aber doch, der augenblicklichen Eingebung folgend, hin zu ihm und zog den Dolch wieder heraus, um ihn zu betrachten. Sofort riß er ein Pistol hervor und richtete es auf mich. Der Hahn knackte. „Du nimmst den Kampf auf?“ fragte er drohend. „Nein,“ antwortete ich. Wir sahen einander in die Augen. Es war mir, als ob wir noch öfters so vor einander stehen würden. In den seinen lag der Haß sprungbereit. Mein Blick war kalt; er verriet mich nicht. Da ließ er die Waffe sinken, nahm die verächtlichste Miene an, die ich jemals gesehen habe, und sagte: „Ich weiß, du bist jener Dschermane, der mit dem Scheik der Haddedihn im Orient spionieren geht! Aber du kennst ihn nicht. Du kennst nicht einmal seine bekanntesten Gebräuche. Wenn ein Feind zum Feinde kommt, um mit ihm zu reden, so sticht er die Klinge seines Messers in die Erde, um anzudeuten, daß die Feindschaft ruht, so lange gesprochen wird. Dasselbe meinte auch ich. Du Unerfahrener hast mich nicht verstanden. Ich konnte dich niederschießen, wenn ich wollte. Ich habe dich aber begnadigt. Doch nicht auf lange Zeit. Sofort wieder in die Erde mit dem Chandschar1) [1) Dolch.]! Sonst schieße ich!“ Ich bückte mich und steckte ihn genau an seine vorige Stelle. Ich hatte gesehen, wovon ich mich hatte überzeugen wollen. Dieser Dolch glich auf das Haar dem Chandschar, den ich in Amerika damals von Mirza Dschafar als Geschenk bekommen hatte. Beide mußten [589] unbedingt aus der Hand eines und desselben Waffenschmiedes hervorgegangen sein. Zwischen beiden mußte es irgend eine innige Beziehung geben, die ich aber nicht kannte. Und zwischen meinem Freunde Dschafar und diesem Ahriman Mirza, mußte irgend ein Verhältnis liegen, von dem ich jetzt, in diesem Augenblicke, zu ahnen wagte, daß es für mich von der schwerwiegendsten Bedeutung sei. Es verstand sich ganz von selbst, daß der Perser nicht erfahren durfte, weshalb ich nach dem Messer gegriffen hatte. Mochte er mich immerhin für einen unerfahrenen Menschen halten! Es gewährt ja stets nur Vorteil, vom Feinde unterschätzt zu werden. Als das Messer wieder an seinem Platze war, erklang die Stimme des Persers höhnisch: „Ein Glück für dich, daß du mir gehorchst! Wahrscheinlich wirst du dich noch oft so voller Angst, wie jetzt, zu fügen haben!“ Ich gestehe, daß es mich bedeutende Selbstüberwindung kostete, ihm nicht in das vom Spotte so schnell verunschönte Gesicht zu lachen. Aber um der anwesenden Dschamikun willen war ich gezwungen, doch wenigstens eine Antwort zu geben, und so sagte ich in ruhigem Tone: „Ich habe nicht dir, sondern dem Gebrauche gehorcht. Ist dieser Chandschar dein Eigentum?“ „Wem sollte er sonst gehören!“ „Und kennst du ihn?“ „Frag nicht so thöricht!“ „Ist der ein Thor, der an Märchen glaubt?“ „Wird vielleicht in ‚Tausend und eine Nacht‘ von diesem Chandschar erzählt?“ lachte er übermütig auf. „Nein. Aber in ‚Tausend und ein Tag‘ ist von einem ähnlichen die Rede, der niemals tötet, obgleich jeder Stich [590] durch Leib und Seele geht. Der deinige ist es nicht. Das habe ich gesehen.“ „Das glaube ich wohl! Er ist kein Märchendolch. Sieh zu, daß du seine Schärfe nicht vielleicht einmal kennen lernst!“ Ich kehrte an meinen Platz zurück. Der ganze Vorgang war den Dschamikun ein Rätsel. Hanneh sah mich fragend an. Sie kannte mich und ahnte also, daß ich nicht ohne guten Grund gehandelt hatte. Der Ustad lehnte am Stamme des Baumes und sah nicht her. Er kannte meinen Chandschar. Hatte er den des Persers gesehen? Wenn ja, so aber wohl nicht deutlich. Aber er mußte sich doch einen Grund denken, daß ich nach dem Dolche gegriffen hatte! Sein Gesicht war still. Es verriet kein Wort von dem, was er sich dachte. Nun, nachdem diese kleine, unerwartete Scene vorüber war, begann Ahriman Mirza zu sprechen. Er sah uns dabei nicht an. Auch er schaute hinaus in das Weite. Giebt es jenseits des Horizontes Punkte, an denen Gedanken zusammentreffen können oder gar zusammentreffen müssen? In welcher Ferne lag da wohl die Stelle, an der sich beides zu vereinen hatte: Das, was der Ustad dachte, und das, was der Mirza sprach? Das letztere klang, als ob er es sich selbst schon tausendmal vorgesprochen habe und auch noch tausendmal vorsprechen werde. Er konnte es auswendig, wie die Engel ihr Halleluja singen und die Teufel ihr Dschehenna brüllen. Er sagte: „Unser Reich lag in Frieden. Der Schah-in-Schah herrschte, und wir thaten, was uns beliebte. Der Schah war streng, und wir waren noch strenger als er. Wir standen uns gut dabei. Das Volk gehorchte uns mehr als ihm, denn es sah uns, ihn aber nicht. Es wohnten [591] nur Wenige in der Nähe seines Thrones. Wir setzten seine Diener in ihre Aemter und geboten ihnen, wie sie ihm zu dienen hätten. Sie ehrten ihn in Worten, uns in Werken. Dabei dachte das Volk, daß es glücklich sei. Da kamen fremde Menschen, mit ihrer längst vergessenen, vergrabenen Lehre von der Liebe. Sie erzählten von Isa Ben Marryam, der zwar gestorben, doch wieder auferstanden sei. Sie sprachen nichts als nur von Frieden und Versöhnung, von Gnade und Barmherzigkeit. Sie zogen predigend durch das Land und kamen auch zu uns, um uns, wie sie sagten, zu bekehren. Schon glaubten wir, daß sie Propheten seien, die uns durch die Macht ihrer Liebe zwingen würden, den Platz zu räumen und dem Volke den Weg zum Herrscher freizugeben. Da schauten wir sie uns an. Wir verglichen ihre Worte mit ihren Werken. Wir sahen, für wen die Worte, und für wen die Werke waren. Wir wurden wieder ruhig, denn sie glichen uns. Sie hatten nichts in das Land gebracht, als nur einen andern Namen. Sie hatten unsere Strenge in ihre Liebe umgetauft. Sie sprachen vom Frieden und bekämpften einander selbst. Sie lehrten die Versöhnlichkeit und entzweiten sich untereinander doch immer mehr. Sie predigten von der Gnade, verziehen einander aber nie. Sie verkündeten Barmherzigkeit und versagten einander des allerärmsten Bettlers Brot. Da sahen wir Strengen einander an, lachten und sagten: ‚Das sind Leute, die wir brauchen können! Ihre Lehre ist uns ungefährlich. Nach ihren Worten zwar hat Isa Ben Marryam die Welt erlöst; nach ihren Thaten aber kann er kein Erlöser sein, da er nun schon seit zweitausend Jahren als Heiland bei und in ihnen lebt, ohne ihren gegenseitigen Haß in Liebe verwandeln zu können!‘ So sagten wir und ließen sie uns ruhig dienen, wie [592] uns noch niemand gedient hatte. Unsere Herrschaft war von ihnen nicht erschüttert, sondern nur befestigt worden. Ja, wir konnten nur wünschen, daß diese Religion des in der Liebe versteckten Hasses ewig dauern möge, denn da war in alle Unendlichkeit hinein der Schah-in-Schah nur dem Namen nach ein Herrscher, die Macht aber hatten wir!“ Als Ahriman Mirza so weit gekommen war, hielt er inne. Er schaute zu dem Ustad hinüber, in dessen Gesicht sich eine auffällige Veränderung vollzogen hatte. Der Herr des „Hohen Hauses“ hatte seinen Blick aus der Ferne zurückkehren lassen. Seine Hände lagen jetzt gefaltet ineinander. Betete er? Wenn er es that, so konnte es nur ein Gebet des Dankes sein, welches er still und unhörbar zum Himmel sandte, denn seine ehrwürdigen und doch so jugendlichen Züge wurden von dem Ausdrucke einer Freude verklärt, die sich auf keinen irdischen Gegenstand beziehen konnte. War ihm dort, wohin er geschaut hatte, ein Blick in jene Welt geöffnet worden, in welcher tausend Jahre sind wie eine kurze Erdenstunde? War ihm dort die Erkenntnis aufgegangen, daß in den beiden schnell verflogenen Erdenstunden, welche seit Christi Kreuzestod verflossen sind, doch auch noch Anderes geschehen ist, als Ahriman Mirza zu erwähnen für gut befand? Fast schien es so, denn indem er jetzt seine Hände trennte, hob er erst den einen und dann den andern Arm empor, breitete beide aus, als ob er das ganze Thal seiner geliebten, treuen Dschamikun mit allem, was darüber draußen lag, umfassen wolle, um es segnend an das Herz zu drücken, und sprach: „Und doch und doch wird einst die Zeit erscheinen, in der alle irdische Kreatur erkennen muß, daß Isa Ben Marryam im Geist und in der Wahrheit ihr Erlöser [593] ist! Er ging voran. Wir haben ihm zu folgen. Ihm war die Nächstenliebe gleich der Gottesliebe. Wer auch nur einen einzigen Stein aufhebt, um seinen Bruder mit ihm zu treffen, der steinigt seine eigene Seligkeit und wird gerichtet werden! Ben Marryam nahm den reuigen Verbrecher vom Pfahl des Kreuzes weg mit sich in Chodehs Paradies. Nur wer sein Kreuz auf sich genommen hat, um, was er that, zu büßen, wird, wenn er stirbt, des Heilandes Worte hören: ‚Wahrlich, ich sage dir, du wirst noch heute mit mir in meinem Himmel sein!‘ Ben Marryam war so göttlich groß, daß er sogar die Teufel liebte. Er fuhr zu ihnen nieder in die Hölle, um sie zum Thore jener Zeit zurückzuführen, in der sie Chodehs gute Engel waren - - -“ Bis hierher hatte Ahriman Mirza den Ustad mit seinen Worten kommen lassen. Jetzt aber glühten seine Blicke zornig auf wie Funken, die aus dunkeln Kohlen sprühen. Sein diabolisch schönes Gesicht verzerrte sich zur Häßlichkeit, und kreischend, scharf und schrill klang seine Stimme: „Aber die Teufel lachten über ihn und seine selige Zeit! Sein hoher Schah-in-Schah lebt in der Menschheit Worten, doch nicht in ihren Thaten. Wer ist der wahre Herr der Erdenwelt? Der, den ihr Satan nennt! Das Himmelreich des Einen wird ihr nur immerfort verheißen; das Reich des Andern aber ist schon da! Der Eine thront in ewiger Himmelsliebe, die aber hier auf Erden unaufhörlich haßt. Mit ihrer Ewigkeit ist es also schon längst vorbei. Der Andre thront in diesem ihrem Hasse, der wahrhaft ewig ist, weil er ja niemals liebt. Sein Reich wird folglich nie zu Ende gehen! Nun öffne, Ustad, deinen weisen Mund, und sag mir: Wer vertauscht die mächtige Wirklichkeit mit einem leeren [594] Schein, der nichts vermag, als Thoren zu betrügen? Man sagt von deinem Isa Ben Marryam, es sei der Teufel einst zu ihm getreten und habe ihn versucht. Was für ein Teufel ist das wohl gewesen? Der Hölle ist er sicher unbekannt. Wenn sie den Heiland aller Welt versucht, versucht sie ihn nicht so, wie jeden kleinen Menschen. Sie läßt sein Evangelium sich zeigen und blättert nach, was es enthalten mag. Wenn sie sodann auf jeder, jeder Seite das gleißnerische Wort der Liebe liest, von der sie weiß, daß sie kein einziges Menschenkind, viel weniger die ganze Welt erfüllen kann, wen wird sie da wohl prüfen? Ben Marryam in öder Felsenwüste, wo es nichts giebt, was ihn verführen könnte? Ben Marryam auf hoher Tempelzinne, wo ihn der Menschen Bosheit nicht berührt? Ben Marryam auf einsamer Bergesspitze, von welcher aus sie ihm wohl ihr Reich, doch er nicht ihr das seine zeigen kann? So thöricht ist sie nicht! Aber sie wird alle ihre Teufel senden, um auf Erden nachzuschauen, ob sich irgendwo ein Mensch befindet, der nicht mit den andern Schäflein auf des Hasses Weide geht! An diesen wird sie sich, zunächst in ihrer verführerischesten und dann, wenn dies nichts fruchtet, in ihrer abschreckendsten Gestalt zu hängen wissen, um ihn entweder zur Herde zurückzulocken oder durch den Haß zum Gegenhaß, zur Rache zu verführen. Wo wäre der Mensch, der ihr widerstehen könnte? Ich will ihn sehen!“ Er sah den Ustad auffordernd an, doch dieser antwortete nicht. Da fuhr er fort: „Zeige mir den ganz Unmöglichen, Undenkbaren, den ich als Mensch vernichten will und der, in diese Vernichtung stürzend, kein Wort des Fluches, sondern Segen für mich hat! Zeige mir ihn, so sei alles, alles sein, [595] was ich besitze, und mein Herz mit allem Haß dazu, den er zur Liebe wandeln möge! Zeige mir ihn, den es nie gegeben hat und niemals geben wird, den aus dem Himmel einst Verschollenen, der plötzlich, unerwartet, mitten in der Hölle unter Teufeln sitzt und für die betet, die ihn da hinabgerissen haben! Ich will ihm die Macht und Gewalt über alle diese Teufel geben, damit er sie bekehre und die Hölle ein Beit-y-Chodeh werde, unendlich größer und unendlich herrlicher als das, welches hier vor unsern Augen steht! Zeige ihn mir, so bin ich dein! Wo nicht, so bist du aber mir mit allen deinen Dschamikun verfallen!“ Er trat einige Schritte vor, bis fast an den Ring, den die Aeltesten bildeten. Die halb geballte Faust emporgehoben, schaute er den Ustad mit einem so herausfordernden Blicke an, als ob er wirklich über eine Hölle mit allen ihren Teufeln zu gebieten habe. Was hatte ich über diesen Mann zu denken? War er ein Besessener? Oder litt er an einer Monomanie, die ihn um die Kenntnis seiner selbst gebracht hatte? Ahriman Mirza! Hieß er wirklich so, oder wurde er nur so genannt? Welcher Vater giebt seinem Sohne den Namen Ahriman! Wie hatte ich ihn zu nehmen? Ernst oder lächerlich? Ich sah die Dschamikun einen nach dem andern an. Auf ihren Gesichtern war nichts zu lesen. Aber der Ustad? Dieser wendete sich dem Perser zu. Sein Gesicht zeigte die mildstrahlende Güte, in welcher er vorhin zu mir an den Tisch gekommen war. Er sprach zu ihm, und zwar ganz so herzlich, wie dort zu mir. Und wie erstaunte ich, als er mit Worten begann, die ich als einen augenblicklichen Einfall von mir, also als mein geistiges Eigentum betrachten mußte! Er sagte: [596] „In den Märchen von ‚Tausend und ein Tag‘ wird folgendes erzählt: Es war am Tag, an welchem die Erlösung suchen ging. Sie klopfte an an allen, allen Erdenpforten. Doch als sie sagte, wer sie ausgesandt, da fand sie keine Thür, die ihr geöffnet wurde. Da ging sie trauernd weiter, bis zum tiefsten Schlund, in welchem die verdammten Geister wohnen. Sie setzte sich an seinem Rande hin und weinte über Chodehs Menschenkinder. Es floß der Thränen still vergoss'ne Flut. Wohin? Der Schmerz weint bei geschloss'nen Augen. Sie sah es nicht! Doch als sie dann die nassen Lider hob, da kam es aus dem Dunkel hell emporgestiegen. Wer waren sie, die engelslicht und rein an ihr, der Trauernden, vorüberschwebten und, leuchtend wie der letzte Sonnenstrahl, der Abschied nahm, im Abendrot verschwanden? Da kam er selbst, von Chodeh einst verbannt, der sich erkühnt, dem Himmelsherrn zu gleichen! Er stand vor ihr, sah lange stumm sie an und breitete dann seine starken Schwingen. ‚Gieb mir die Hand!‘ sprach er. ‚Ich trage dich im Abendrot zurück zur Morgenröte. Was keiner Himmelsliebe möglich war, hast du erreicht durch deine Erdenthränen. Wenn die Erlösung um die Menschen weint, so muß sogar das Herz der Hölle brechen. Ich war der Erste aller Kreatur. Ich war der erste, der den Herrn betrübte. Nun will ich auch der Allererste sein, der reuig wiederkehrt mit der Erlösung!‘ Er schaute ätherwärts. Da kam der Abendstern. Süß dufteten ringsum die Nachtviolen. Da schloß der Abgrund sich. Der Himmel that sich auf. Und mit dem Duft der Blumen schwanden Beide.“ Ahriman Mirza war Wort für Wort dem Märchen mit immer wachsender Spannung gefolgt. Jetzt zischte er in sich überstürzender Weise dem Ustad zornig zu: [597] „Was soll das sein? Was willst du mir mit diesem Märchen sagen? Wo hast du es her? Sind es deine eigenen Gedanken? Von diesen ‚Tausend und ein Tag‘ hörte man noch nichts! Du willst mir entgehen, indem du dich hinter alte, mythenhafte oder neue, selbstersonnene Lügen versteckst. Gieb mir Antwort auf das, was du von mir hörtest! Ich sagte: Zeige mir einen solchen Unmöglichen, Undenkbaren, so bin ich dein. Wo nicht, so bist du aber mir mit allen deinen Dschamikun verfallen! Du weißt nicht, was euch droht. Ich bin gekommen, euch zu vernichten!“ Da kam der Ustad langsamen Schrittes herbei, trat in den Kreis, sah mitleidig auf ihn hernieder und antwortete: „Du armer, armer Mann! Deine Macht mag noch so groß sein; die Allmacht aber, gegen welche du dich aufbäumst, ist doch noch größer! Hast du nicht zugestanden, daß du alles, alles geben würdest, selbst dein Herz mit seinem ganzen Hasse, wenn du einen einzigen wahrhaft Liebenden fändest? Du hast am falschen Ort gesucht. Suche an der rechten Stelle! Denn daß du überhaupt suchst, das hast du mit diesen deinen Worten zugegeben. Und man sucht doch nichts, ohne daß man es begehrt und es zu haben wünscht. Du willst uns vernichten? Wohl durch deinen Haß? Ich aber sage dir, daß ich es bin, der dich vernichten wird! Und zwar durch meine Liebe, indem ich dich segne! Du wirst von diesem meinem Segen aufgezehrt werden, so aufgezehrt, daß nichts mehr von dir übrig bleibt. Und doch zu gleicher Zeit wirst du in diesem meinem Segen erstehen und wachsen zu einem neuen, wunderbaren Leben. Ich gebe ihn dir, den Segen, der dich ganz und voll erneuern wird!“ [598] Bei diesen Worten legte er ihm die beiden Hände auf die Schultern. Der Perser aber fuhr vor ihm wie vor einer Natter zurück und rief aus: „Ich mag ihn nicht! Ich schüttele ihn ab! Dein Segen ist ein Fluch für mich!“ „Ich habe ihn dir gegeben, und er bleibt! Du bist ihm verfallen und der Liebe, die dich verfolgen wird, bis du vor ihr zusammenbrichst!“ Da lachte Ahriman Mirza in schallendem Hohne auf und antwortete: „Du sprichst so kindisch und zugleich so altersschwach, wie eure sogenannte Frömmigkeit ja stets zu reden pflegt! Sie ist die alt und schwach gewordene, lächerliche Tante aller der augenverdrehenden Seelen, welche so gern die Hände auflegen, um ihre Bettlerarmut und Begehrlichkeit hinter dem nur allzu durchsichtigen Schleier des sogenannten Segens zu verbergen. Hast du schon einmal einen Menschen gesehen, der dir seinen Segen umsonst gegeben hat? Was hast du bezahlen müssen, bevor oder nachdem du ihn bekamst? Wer sind die von Himmelsgaben strotzenden Millionäre, welche zu segnen wagen? Untersuche ihre Taschen, um darin noch weniger als nichts zu finden. So stehst auch du vor mir in deiner ganzen, armseligen Bettelhaftigkeit! Was giebst du mir? Ein leeres Wort, welches dich nichts kostet! Und was forderst du dafür? Mich selbst mit allem, was ich bin und was ich habe. Ja, nicht nur das! Du verlangst auch gar noch das, was ich durch diesen Segen zu werden habe! Du siehst es jetzt an dir: euer Himmel giebt nur Worte und läßt sie sich mit dem vollen Inhalte einer ganzen Zeit und Ewigkeit bezahlen. Die Hölle aber giebt, giebt und giebt ohne Unterlaß. Sie teilt die ganze Fülle der Glückseligkeit an den durch euch verarmten Menschen aus [599] und will nichts, nichts von ihm dafür, als daß er sie genieße! Sag, bist du vielleicht schon so tief in eure Lügenhaftigkeit versunken, daß du es wagen kannst, dies leugnen zu wollen?“ Da wich die bisherige Milde aus dem Gesichte des Ustad. Sein Gesicht wurde tiefernst, und sein Auge richtete sich auf den Perser, als ob der Blick desselben alle Bestandteile seines Leibes und seiner Seele aufzulösen vermöge. „Du stehst weit, weit jenseits jener Grenze, an welcher das Geschöpf zum Teufel wird!“ sagte er. „Deine Gedanken besitzen die betrügerische Geschmeidigkeit der Hölle. Wollte ich dich mit Worten schlagen, so müßte ich mit ihnen zu dir hinab in die Dschehenna steigen. Aber ich verzichte auf das Wort, denn ich weiß, daß dich deine eigene That zerschmettern wird! Im heiligsten der Bücher steht geschrieben, daß die Menschen sich von der Weisheit Chodehs nicht überzeugen und von seiner Gerechtigkeit nicht strafen lassen. Und in den Büchern der Geschichte ist zu lesen, daß sie seine Güte verachten und keine Nächstenliebe haben. Sie sind hartnäckiger als die Teufel, welche sich vom Geiste Chodehs strafen ließen und sich selbst in der Hölle die gegenseitige Hilfe nicht versagen. Was die nicht thun, die ihr Menschen nennt, das thaten die, welchen ihr den Namen Teufel gebt: Sie nahmen das Kreuz auf sich, welches die Folge ihres Sündenfalles war. Nun sollen sie auch die Ersten vor allen Andern sein, die sich der göttlichen Macht der Gnade fügen. Wenn der Himmel über die Hartherzigkeit seiner Erdenkinder weint, werden die Thränen der Erlösung an ihnen vorüber in die Hölle träufeln. Dann wird aus dieser Thränenflut ein Jubel sich erheben. Die Tiefe wird zur Höhe, die Dunkelheit zum Lichte, der Fluch zum Segen auf- [600] wärts steigen. Und wer ist der, der dann sich aus dem Abgrund heben wird, um der Erlösung stumm ins Auge zu schauen? Der ihr dann sagt, daß er in Reue wiederkehren wolle? Das wirst du sein, Ahriman Mirza, du selbst, der hier vor meinen Augen steht! Und wenn sich hinter dir die Hölle schließt und vor und über dir der ganze Himmel öffnet, so wirst du selbst, du selbst die Antwort sein, die er dir giebt auf das, was heut die Hölle hier durch deinen Mund gefragt! - Nun habe ich dir weiter nichts zu sagen. Was du noch vorzubringen hast, das ist der Andern Sache. Ich überlasse dich dem Scheik der Dschamikun!“ Er verließ den Kreis, in welchem er mitten unter uns gestanden hatte, und schritt die grüne Alm hinab, dem Tempel zu. Der Perser verschränkte die Arme über der Brust, warf den stolzen Kopf zurück und schaute ihm nach, bis er hinter dem Rosengebüsch verschwunden war. Dann sagte er in schneidender Ironie: „Ein alter Mann, der nicht mehr denken kann und darum nur noch lieben will, weil er sich ohne Liebe hilflos fühlt! Wie stolz könnt ihr auf diesen Schwächling sein, der für die Faust, die ich gegen euch ballen werde, nicht eine mutige Antwort, sondern nur die von der Angst geöffnete Hand des Segens hat! Mit welchem Rechte hat er überhaupt gesprochen? Ist er ein Dschamiki? Bei euch geboren? Er scheint nicht zur Dschemma zu gehören. Er verwies mich auf den Scheik. Warum hat er meine Rede unterbrochen? Ich sprach zur Dschemma, aber nicht für Andere. Ich wollte euch sagen, weshalb wir eigentlich hierher zu euch gekommen sind.“ Da antwortete der Pedehr: „Was du da fragst, geht keinen Fremden an. Wurdest du unterbrochen, so sprich jetzt weiter. Aber fasse dich [601] kurz! Es ist nur Gefälligkeit von uns, daß wir dir überhaupt Gehör schenken!“ „Welche Güte!“ lachte er. „Ich danke euch!“ Er ließ seine Gestalt eine höchst nachlässige, mißachtende Haltung annehmen und fuhr dann fort: „Ich erzählte von jenen Anhängern Isa Ben Marryams, welche wir, als sie kamen, für Feinde hielten und dann aber ganz im Gegenteile als unsere allerbesten und brauchbarsten Helfer anerkannten. In ihrer inneren Zerrissenheit sorgen sie ja selbst dafür, daß sie uns nie beherrschen können werden. Der Raum zwischen dem Schah-in-Schah und seinem Volke wird von uns und ihnen ausgefüllt. Wer bei dem Herrscher etwas erreichen will, der hat sich an uns zu wenden. So war es stets, und so muß es immer bleiben! Aber da hörten wir vor einiger Zeit, daß ein Mann beim Schah-in-Schah gewesen sei, ohne uns vorher zu fragen, und daß er einen Stamm regiere, dessen Angelegenheiten alle direkt zwischen ihm und dem Schah-in-Schah entschieden werden, ohne daß man uns Beachtung schenkt. Ja, wir erfuhren sogar, daß jeder Mensch, der diesem Stamme angehört, sich selbst persönlich an den Herrscher wenden könne. Wir erkundigten uns. Es war der Stamm der Dschamikun. Der Mann aber, der sich erdreistet hat, in solcher Weise uns unserer heilig gewordenen Rechte zu berauben, ist nicht etwa ein Dschamiki, sondern ein vollständig Landfremder, von dessen Herkommen niemand etwas weiß. Auch er spricht von Isa Ben Marryam. Auch er redet, ganz wie jene Vorherigen, von Frieden und Versöhnung, von Gnade und Barmherzigkeit. Darum mußten wir ihn für ebenso uns nützlich wie die Andern halten, so lange wir nichts näheres erfuhren. Da aber verbreitete sich das Gerücht, daß die Dschamikun eine [602] große Schar der Massaban gefangen genommen und nach Teheran abgeliefert hätten. Diese Massaban gehören zu uns. Sie bilden zwar keinen Stamm für sich, stehen aber unter unserm ganz besondern Schutze. Auf den Vorschlag eures Ustad hat der Schah-in-Schah, ganz ohne sich vorher bei uns zu erkundigen, diese Massaban nach den Fiebergegenden verbannt, die einer Hölle gleichen. Da wir übergangen worden sind, ist es uns nicht möglich gewesen, dies zu verhindern. Durch diese unerhörte, eigenmächtige That eures Ustad habt ihr euch verraten. Wir haben euch erkannt. Könnt ihr leugnen, daß es wahr ist, was ich erzähle?“ „Leugnen?“ antwortete der Pedehr. „Bei den Dschamikun darf die Lüge nicht wagen, sich einzuschleichen. Und sollte sie sich etwa offen zeigen, so offen, wie heut ihr zu uns gekommen seid, so würde sie genau so weichen müssen, wie ihr am Schlusse des Rennens beschämt abzuziehen haben werdet.“ „Das Rennen warte ab!“ fuhr der Perser auf. „Wir verfügen über Pferde von so adeligem Blute, wie - - -“ Da fiel der Pedehr schnell ein: „Von so adeligem Blute, wie eure Freunde, die Massaban, besitzen, die Mörder, Räuber und Diebe sind, von denen wir das Land befreien mußten! Jetzt sage ich dir, was du uns soeben sagtest: Durch diese Freundschaft habt ihr euch verraten. Wir haben euch erkannt! Ihr seid noch größere Massaban als die, welche der Schah-in-Schah nach der Hölle des Südens schickte! Nehmt euch in acht, daß ihr ihnen nicht zu folgen habt!“ „Scheik - - -! Drohst du uns?!“ erklang es schnell und giftig. [603] „Ja!“ antwortete er. „Der Ustad hatte für dich und euch nur Liebe. Er kann nichts anderes haben. Du lachtest über seine offene Hand des Segens, welche er deiner Faust entgegenhielt. Du nanntest ihn furchtsam, einen Schwächling. So wisse denn: Die geballte Faust, die du von ihm erwartet zu haben scheinst, wird sich dir sicher zeigen, sobald er es für nötig hält! Ich bin diese Faust! Wenn ich meine Finger, die Tausende von Dschamikun, zusammenziehe, so giebt das einen Schlag für euch, der euch wohl noch ganz anders treffen würde, als wir jene unglücklichen Massaban getroffen haben, welche nur die Werkzeuge waren, während ihr die Thäter seid. Du hast gehöhnt, daß der Ustad sich ohne Liebe hilflos fühle. Er ist nicht ohne Liebe. Wir alle lieben ihn; das ist genug! Und er ist der Gebieter dieser Faust, auf deren Stärke er sich stets verlassen kann! Ich habe vorhin den Multasim gewarnt; jetzt warne ich dich: Zwinge mich nicht, mein Wort zurückzunehmen! Du selbst wirst es mir brechen, sobald du abermals beleidigend wirst. Hüte dich, so weiter wie jetzt aus deiner eingebildeten Höhe zu uns herabzusprechen! Thust du das noch einmal, so stecken wir euch zu euren edlen Kavalleristen, die jedenfalls ebenso adeligen Blutes sind wie die Massaban und auch ihr!“ Man sah Ahriman Mirza an, daß diese Rede des Pedehr aufregend auf ihn wirkte; aber die Sorge, daß dieser seine Drohung wahrscheinlich ausführen werde, veranlaßte ihn, sich zu beherrschen. Er fuhr mit den beiden Daumen hüben und drüben hinter seinen Gürtel und krallte die übrigen Finger um die in demselben steckenden Waffen. Dadurch wurde das Gürtelschloß frei, welches ich bis jetzt entweder nicht gesehen oder nicht beachtet hatte. Nun aber zog es meine Aufmerksamkeit derart [604] auf sich, daß ich mir Mühe geben mußte, sie geheimzuhalten. Auf dem goldenen oder vergoldeten Grunde dieses Schlosses war nämlich ein silberner Ring angebracht, der ein Sa und ein Lam umschloß, welche beiden Buchstaben über sich das Verdoppelungszeichen hatten. Ahriman gehörte also zu den Sillan, und wie es schien, bekleidete er in dieser geheimen Verbindung einen hohen Rang, vielleicht gar den allerhöchsten! Ich hatte dieses Zeichen bisher nur an Fingerringen gesehen. Daß er es so groß und deutlich an dieser augenfälligen Stelle trug, konnte keinen anderen Grund als den angegebenen haben. Hatte ich ihn bisher schon an sich für einen ungewöhnlichen Mann halten müssen, so war er nun auch in besonderer Beziehung zu den Sillan zu distinguieren. Freilich ließ er mir nicht Zeit, diesen meinen heimlichen Betrachtungen nachzuhängen, denn er sprach jetzt weiter, und zwar schnell; in abgerissenen Sätzen, denen man es anhörte, daß er so rasch wie möglich zu Ende kommen und nicht gegen die Warnung des Pedehr verstoßen wolle. Eigentümlicherweise gebrauchte er jetzt nicht mehr die erste Person der Mehr-, sondern der Einzahl. Er verriet hierdurch den Druck, den die Drohung des Scheikes auf ihn ausübte und gegen den sich sein Selbstbewußtsein so gern aufgebäumt hätte und aber doch nicht konnte. „Ich durfte das nicht länger dulden,“ sagte er. „Ich beschloß, selbst hierher zu gehen. Ich mußte diesen fremden Ustad sehen. Ich hatte zu erfahren, wie es bei euch steht. Ich wollte vor allen Dingen nach eurer Liebe suchen. Ich brauchte dazu keine lange Zeit. Ein kurzer Besuch genügte. Meine Augen sind scharf. Es entgeht ihnen nichts! Ich nahm mir vor, euch zu - - -“ Hier hielt er inne. Er hatte wohl etwas sagen wollen, was er nun mitten im Satze als eine Unvor- [605] sichtigkeit erkannte. Dann sprach er weiter, immer nur im Ich: „Ich kam zu den Kalhuran. Ich hörte, was dort geschehen war. Ich erfuhr, daß die Mörder zu euch seien. Ich sah eure Boten und sprach mit ihnen. Ich richtete es so ein, daß wir eher wieder abritten als sie. Ich erfuhr, daß ihr den Mördern des Muhassil Schutz gewährt. Ihr fürchtet euch nicht, dies zu thun. Ist das die gewöhnliche Liebe, die kein Opfer bringt? Auf alle Fälle aber war es kühn von euch! Ich hörte von euren fremden Gästen. Ihr habt sie aufgenommen und wochenlang gepflegt. Die Krankheit war ansteckend, außerordentlich gefährlich für euch. Ist das die Liebe, die kein Opfer bringt? Wir kamen hier an. Ich sah euer Hohes Haus, euer Beit-y-Chodeh. Ich hörte eure Musik und eure Lieder. Ich spreche nicht davon. Dieses Geplärr ist mir zuwider! Ich redete mit diesem lächerlichen Tifl. Das ‚kleine Kind‘ ließ mich auf die Erwachsenen schließen. Was ich noch sah und hörte, wißt ihr selbst. Es war und ist und bleibt genug für mich! Und nun - nun - - nun?“ Er schaute zum Tempel hinab und dann hinüber, rund um das ganze Thal. Seine Augen leuchteten. War das Wohlgefallen oder Mißfallen? Man sah es ihm nicht an. Hierauf ließ er den Blick im Kreise über die ganze Dschemma gehen. Seine Hand fuhr nach den Augen und legte sich über sie. Kam der tief aufseufzende Atemzug, den man jetzt hörte, aus seinem Munde? Er hatte einen Rundblick über das Paradies der Dschamikun gehalten. Tauchte jetzt, bei zugehaltenen Augen, in seinem Innern das Bild eines anderen, noch herrlicheren auf? Als er die Hand nun wieder fallen ließ, kam es mir vor, als ob seine Wange plötzlich eingefallen und [606] bleicher sei. Der dunkle Bart zuckte um seine Lippen, und seine Stimme zitterte leise, indem er das Wort von neuem ergriff: „Wäre euer Ustad hier, so würde ich ihm auch ein Märchen erzählen, nicht aus ‚Tausend und eine Nacht‘, auch nicht aus seinem ‚Tausend und ein Tag‘, sondern aus ‚Tausend und eine Qual‘. - - - Es giebt Einen, den ich glühend, glühend hasse. Und wahrlich, wahrlich, ich weiß, daß es ihn giebt! Und es giebt ein Buch, welches ich vernichten möchte, daß kein Blatt, keine Zeile, kein Buchstabe übrig bliebe! Dieses Buch sagt von diesem Einen: ‚Tausend Jahre sind vor dir wie der Tag, der gestern vergangen ist.‘ Würde ich einem Menschen gebieten, ein Buch über mich, mich, mich zu schreiben, so müßte darin zu lesen sein: ‚Tausend Qualen sind vor dir wie ein Lächeln - - - wenn sie vergangen sind!‘ Aber diese eine, eine, letzte, die nach den tausend früheren kam, sie ist die fürchterlichste, die entsetzlichste, die unbeschreiblichste, weil sie niemals, niemals, niemals enden wird. Sie muß ewig sein, weil jener Eine, Eine ewig ist!“ Er beugte den Kopf und stand zusammengesunken da, als ob er zusammenbrechen wolle. Da aber richtete er sich plötzlich wieder auf und sprach in wieder energischem Tone: „Rückblicke, wo doch niemand je zurückkann! Weder der Mensch, noch der Teufel, noch die Hölle! Ich komme zum Schluß. Ich mache euch einen Vorschlag. Ihr sollt ihn hören. Anzunehmen braucht ihr ihn heut noch nicht. Ich gebe euch Zeit bis zum Tage des Wettrennens. Da sollt ihr mir sagen, was ihr beschlossen habt. Also hört!“ Unweit von uns saß Tifl mit einigen Männern, mit denen er sich unterhielt. Pekala, welche jetzt nicht [607] mehr mit Speiseangelegenheiten beschäftigt war, hatte sich zu ihnen gesellt. „Das Kind“ schaute soeben zu uns herüber. Da winkte der Perser ihm zu, näherzukommen, und setzte dann seine Rede fort: „Ihr seht mich heut zum erstenmal. Auch mein Name war euch bisher unbekannt. Ihr wißt also nicht, wer und was ich bin, werdet es aber erfahren, sobald ihr meinen Vorschlag angenommen habt. Ich bin der oberste derer, durch welche man mit dem Schah-in-Schah verkehrt. Meine Freundschaft kann selig machen, und meine Feindschaft kann verdammen. Das ist mein altes Recht, welches ich mir nicht nehmen lasse. Wer es antastet, richtet sich zu Grunde. Euer Ustad hat sich an diesem Rechte vergriffen. Ich sollte ihn wohl eigentlich verderben. Die Macht dazu ist in meinen Händen. Aber er gefällt mir, und auch ihr habt mir gefallen. Ich weiß, daß ihr einen vom Beherrscher eigenhändig unterschriebenen Vertrag besitzet. Ich könnte ihn euch abverlangen. Oder ich könnte den Schah-in-Schah veranlassen, ihn für nichtig zu erklären. Dann wäre es mit euch aus. Ich würde mit Militär kommen und euer Gebiet besetzen, um euch zu vertreiben. Viel mitzunehmen würde euch wohl nicht bleiben. Ihr kennt ja unsere Macht und unsere Art. Dies alles werde ich thun, ganz unbedingt und sicher, wenn ihr meinen Vorschlag von euch weiset. Ich bin aber überzeugt, daß ihr zu klug seid, dies zu thun. Ich möchte euch Freund sein und Freund bleiben. Ihr sollt euern Ustad behalten, euer Land, euer Eigentum und alle eure Rechte. Es soll bei euch alles und jedes genau so bleiben, wie es ist. Ich will nichts, gar nichts von euch haben, sondern ich will euch ganz im Gegenteile etwas geben, etwas so Seltenes und Köstliches, daß die Großen des Reiches alle ihre Finger danach lecken. Ihr [608] hört und seht, wie gut ich es mit euch meine. Ich bin als euer wahrer, als euer bester Freund zu euch gekommen.“ Er ließ seine Augen wieder im Kreise herumgehen; sie trafen selbstverständlich auf sehr erwartungsvolle Gesichter. Der Pedehr aber lächelte still vor sich hin. Niemand sagte ein Wort. Darum fuhr der Perser fort: „Macht euch klar, was ich euch bringe! Auf der einen Seite ist euch tiefste Armut, Vertreibung über die Grenze, wohl gar Vernichtung gewiß. Auf der anderen Seite behaltet ihr alles: es bleibt alles genau so, wie es ist, und ich bringe euch dazu noch ein Gnaden- oder auch Ehrengeschenk des Schah-in-Schah, um welches euch das ganze Land beneiden wird, weil es euch noch inniger mit ihm verbindet. Sag, was du denkst, o Scheik!“ „Du scheinst mächtiger und gütiger zu sein, als sogar der Himmel. Selbst Chodeh giebt nicht mehr, als man besitzt. Wir haben genug. Laß uns das!“ „Hast du einen Sohn?“ „Nein.“ „Ich hörte es. Er ist tot.“ „Ermordet von deinen Massaban!“ „Das ist vorüber! Hast du eine Tochter?“ „Nein.“ „Wer ist dein Erbe?“ „Der Stamm wird es sein.“ „Wer wird nach deinem Tode Scheik?“ „Der, welchen die Dschemma wählt und unser Ustad bestätigt.“ „Kann er schon vorher gewählt werden? Also wenn du noch lebst?“ „Ja. Ich wünsche sogar, daß es geschehe.“ „Hierauf bezieht sich mein Vorschlag.“ [609] „Maschallah! Du willst dich in die Wahl meines Nachfolgers mischen?“ „Nein. Es soll gar nicht gewählt werden. Ich will ihn euch bezeichnen.“ „Wer soll es sein?“ „Tifl.“ Man kann sich die Wirkung dieses einen, kleinen, einsilbigen Wörtchens denken! Aber niemand sprach. Tiefe Stille herrschte rundum. Auch der Pedehr schwieg, doch war jetzt sein Lächeln ein ganz anderes als vorher. „Also Tifl wird als zukünftiger Scheik gewählt,“ setzte der Perser seine Rede fort, „und der Schah-in-Schah giebt ihm eine Frau.“ „Das also ist das Gnaden- oder Ehrengeschenk?“ fragte der Pedehr. „Ja. Ein kostbares Geschenk, denn sie ist die Tochter eines Freundes von mir, der Prinz ist und also den Titel Mirza hat. Ich sehe, daß ich mich nicht in euch getäuscht habe. Ihr scheint vor Entzücken über dieses unerwartete Glück ganz starr zu sein.“ „Macht das Entzücken starr?“ „Ich denke es. Die Sprache hat es dir aber nicht geraubt. Was hast du mir zu sagen?“ „Ich? Hier kann doch wohl nur der, den es betrifft, zu sprechen haben. Tifl, komm her!“ Der Gerufene trat näher. Er lachte am ganzen Gesicht; aber es war ein Lachen deutlichster Verlegenheit. „Hast du gehört, was gesagt worden ist?“ fragte ihn der Pedehr. „Ja,“ antwortete „das Kind“. „Was sollst du werden?“ „Scheik.“ „Willst du?“ [610] „Nein.“ „Warum nicht?“ „Ich bin ja viel zu dumm dazu!“ „Aber das ist ja grad der Grund, weshalb er dich vorgeschlagen hat!“ „Wenn er so dumm ist, wie er denkt, daß ich bin, so mag er es selber werden!“ „Jetzt hältst du dich aber doch wieder für klug!“ „Auch das ist richtig!“ „Wieso?“ „Um Scheik zu sein, dazu bin ich zu dumm. Und um mich zum Scheik machen zu lassen, bin ich zu klug. Eben weil ich mich für dumm halte, bin ich gescheit. Bei diesem Perser aber ist es umgekehrt: er hält sich für gescheit und ist folglich dumm!“ Das war ein urechtes Tiflwort. Alle lachten, nur Ahriman Mirza nicht. „Noch etwas, lieber Tifl!“ fuhr der Pedehr fort. „Hast du alles gehört?“ „Ja.“ „Auch daß du eine Frau bekommen sollst?“ „Auch das.“ „Was meinst du dazu?“ „Ich mag keine.“ „Aber sie ist eine Prinzessin!“ „Umso schlimmer!“ „Also nicht?“ „Nein! Wenn ich mir eine Frau nähme, so könnte es doch wohl keine andere sein als meine Pekala. Die bäckt und kocht. Die kann alles und thut alles. Die erzieht mich sogar. Eine Prinzessin aber müßte ich erziehen, und das ist mir nicht einmal bei meiner Pekala [611] eingefallen und kann mir also bei einer Fremden erst recht nicht einfallen!“ „Aber du sollst doch von ihr erzogen werden! Das ist es ja eben, was dieser Ahriman Mirza will! Einen dummen Scheik der Dschamikun mit einer verschmitzten, arglistigen, ränkevollen Frau, welche ihren Anhang mit allen Fehlern, Gebrechen und Sünden, an denen wir dann langsam zugrunde gehen sollen, mit zu uns bringt! Und das bezeichnet man als ein Gnaden- und Ehrengeschenk des Schah-in-Schah! Solche Geschenke giebt die Hölle, aber nicht der Beherrscher, der nur das Gute will! Uebrigens, mein lieber Tifl, will ich dir ein Wort der Wahrheit sagen. Schau dir den Perser an! Genau!“ Tifl that es sehr eingehend. „Bist du fertig!“ fragte dann der Scheik. „Ja.“ „Gefällt er dir?“ „Nein!“ „Uns auch nicht. Auch wir gefallen ihm nicht, obgleich er, um uns zu überreden, das Gegenteil behauptete. Das war aber von ihm gelogen. Er hat sich über dich lustig gemacht. Er kennt dich nicht, deinen Mut, deine Gewandtheit, deine Fertigkeiten, deine Treue und Liebe, dein reines Herz, dein tiefes Gemüt und alle, alle die tausend Himmelsgaben, die dir von Chodeh verliehen worden sind. Er ist genau und wirklich das, was du vorhin von ihm sagtest: dumm! Wenn der neue Scheik der Dschamikun jetzt gleich bestimmt werden sollte und wir hätten die Wahl zwischen dir und ihm, so versichere ich dir, daß wir dich wählen würden; er aber müßte mit einer Nase abziehen, die gewiß zehnmal größer wäre als der Weg von Teheran nach Isfahan! So, das mußte ich dir sagen, weil wir dich lieben und achten und es [612] nicht dulden können, daß ein Fremder glaubt, seine Prinzessin genüge den Ansprüchen, die unser Tifl machen kann! Mit solchem Köder fängt man keinen Dschamiki! - - - Ich erkläre die Dschemma für beendet! Die Versammlung der Aeltesten ist nicht da, um Albernheiten anzuhören! Zugleich aber erinnere ich noch einmal daran, daß ich diesen Fremden nur so lange Sicherheit biete, als sie jedes beleidigende Wort vermeiden. Tifl, nimm vierzig Krieger, die sich bewaffnen mögen, und schaffe die ungeladenen Perser bis jenseits des Hasenpasses! Ich wähle dich dazu, damit sie sehen, daß selbst der, den sie für den Allerdümmsten von uns halten, zum Befehlshaber einer ganzen Reiterschar geeignet ist!“ „Unser Kind“ eilte freudestrahlend fort. Einen solchen Ausgang der Verhandlung und eine solche Beantwortung seines Vorschlages hatte Ahriman Mirza nicht erwartet. Er kochte vor Grimm; das war ihm anzusehen. Aber er sah ein, daß er, wenigstens für jetzt, seinem Hasse keinen Ausdruck geben dürfe. Er hatte von seiner raffinierten Intelligenz geglaubt, daß sie der naiven Klugheit der Dschamikun über sei, und mußte sich nun doch als der von ihr Geschlagene fühlen. Er zwang seine Wut hinunter, aber sie bebte in dem Klange jedes Wortes, als er, indem die Aeltesten alle aufstanden, laut ausrief: „Ich soll niemand beleidigen, werde aber selbst als dumm bezeichnet! Wir rechnen später hierüber ab! Uebrigens habe ich nicht verlangt, daß ihr euch schon heut entscheiden sollt!“ „Wir haben es aber trotzdem gethan,“ antwortete der Pedehr. „Ich nehme es nicht an!“ „Um deine Niederlage nicht einzugestehen!“ [613] „Schweig! Es bleibt bei dem, was ich gesagt habe: Ich gebe euch Zeit bis zum Tage des Rennens.“ „Wir werden dann nichts anderes zu sagen haben als heut.“ „Warte es ab! Man weiß nicht, was inzwischen geschieht. Was die Wette betrifft, so werden wir dich zwingen, an ihr festzuhalten!“ „Ich habe keine Ursache, zurückzutreten.“ „Wir kommen alle, alle Zwölf!“ „Uns ist das gleich. Aber wißt ihr auch, was ihr damit thut?“ „Nun - was?“ „Der Tag des Rennens ist ein Freudentag für alle Dschamikun und ein Ehrentag für unsern Ustad. Wir feiern ihn seinetwegen. Wenn ihr euch an dieser Feier beteiligt, so ehrt ihr ihn. Das mußte ich euch sagen.“ Da stieß Ahriman Mirza ein häßliches Lachen aus und antwortete: „Die Muhammedaner feiern ihren Freitag und die Christen ihren Sonntag, beide Allah und Gott zur Ehre. Aber ich sage euch, daß der Teufel, indem er sich an dieser Feier beteiligt, seine besten Ernten hält. Kein anderer Tag bringt der Hölle soviel ein, wie solche Feiertage, an denen der Mensch von wem? - von wem? gezwungen wird, sich aus den schützenden Armen der segenbringenden Arbeit zu reißen. Hat er sie aus der Hand gelegt, so gehe er, wohin er will, er wird vom Teufel gepackt und hat keinen anderen Schutz und Schirm als nur sich selbst und jenes mir verhaßte Haus, in welchem er sich doch nicht den ganzen Tag verbergen kann! Wenn wir kommen, so kommen wir nicht eures Ustad willen, sondern aus ganz anderen Gründen. Versteckt euch in euer Beit-y-Chodeh oder thut sonst, was ihr wollt, wir [614] packen euch doch! Der Alte hat mich gesegnet. Nun segne auch ich euch. Wie ich es meine, und was mein Segen bringt, das werdet ihr erfahren!“ Er wollte sich abwenden und gehen, da nannte Hanneh seinen Namen: „Ahriman Mirza, noch ein Wort!“ „Was?“ fragte er, indem er sie verwundert ansah. „Du wirst es gleich sehen. Ich muß dir jemand zeigen.“ Wer sich in der Nähe befand, der schaute wegen der sich auflösenden Dschemma jetzt her zu uns. So auch Pekala. Darum konnte Hanneh, ohne ihren Namen nennen zu müssen, ihr winken, herbeizukommen. Pekala gehorchte. Ihre ganze schneeweiße, rotblühende und wohlgenährte Erscheinung war ein neugieriges Fragezeichen, was sie wohl bei den Aeltesten und Fremden zu schaffen haben werde. Hanneh nahm sie bei der Hand, führte sie zu dem Mirza und sagte da zu ihr: „Schau dir diesen Irani an! Er verlangte, daß Tifl Scheik der Dschamikun werde!“ „Warum nicht?“ fragte die Festjungfrau ganz ernsthaft. „Er hat ganz das Geschick dazu! Der Tag der Wahl muß ja früher oder später eintreten. Da schlage ich ihn vor!“ Diese Antwort hatte Hanneh freilich nicht erwartet! Sie fuhr fort: „Er soll eine persische Prinzessin heiraten!“ „Welche?“ „Dieser Irani weiß es. Er will sie ihm bringen.“ „Warum nicht? Für meinen Tifl ist die Tochter des Schah-in-Schah grad gut genug! Wenn sie kommt, werde ich sie erziehen. Vor allen Dingen hat sie unserm Ustad und meinem Tifl zu gehorchen. Andere Gepflogenheiten [615] gelten bei mir nicht. Er mag sie bringen. Ich werde sie mir ansehen. Paßt sie mir nicht, so mag er sie in seine eigene Küche stecken. Für ihn ist sie dann wohl noch viel zu gut!“ Jetzt nun erklärte Hanneh dem Perser, indem sie ihm mit ihrem freundlichsten Lächeln in das Gesicht sah: „Das ist Pekala, welche Tifl für besser als deine Prinzessin gehalten hat! Das mag bei euch wohl anders sein; bei uns aber befassen sich mit dem Heiratsstiften nur alte Weiber, denen die Zähne zum Regieren ihres Zeltes ausgefallen sind! Du hast so oft vom Teufel gesprochen. Bei den Dschamikun und bei den Haddedihn nehmen die Männer nicht von ihm, sondern aus Allahs Hand ihre Frauen. Führe deine Prinzessin zu den Massaban. Die glauben vielleicht an das Gnaden- und an das Ehrengeschenk; wir aber nicht!“ Der selbstbewußte, überstolze Mann! Sich von Frauen so etwas sagen zu lassen! Und grad dieser sein Hyperstolz verbot ihm, eine Antwort zu geben! Er drehte sich um und ging zu seinem Pferde, denn seine Gefährten machten sich auch schon mit den ihrigen zu schaffen. Sie wollten fortreiten. Als der Multasim Sattel und Zaum seines Fuchses geordnet hatte, stieg er nicht sogleich auf, sondern kam zu mir, der ich abseits stand und ihnen zuschaute. „Denkst du daran?“ fragte er kurz. „Ja,“ antwortete ich ebenso. „Ich habe es als Geheimnis betrachtet.“ „Ich auch.“ „Die Wette gilt?“ „Gewiß!“ „Aber sie hebt die Blutrache nicht auf!“ „Eigentlich doch!“ [616] „Für mich nicht!“ „Nun, dann auch nicht für mich!“ „Ich fasse dich!“ „Oder ich dich!“ Er sah mich erstaunt an. Er hatte wohl angenommen, daß nur ganz allein er diese Angelegenheit deuten und behandeln könne, wie es ihm beliebte. „Du mich?“ fragte er. „Bist denn du der Bluträcher, oder bin ich es?“ „Eigentlich keiner von uns, nun aber alle beide.“ „Das verstehe ich nicht!“ „So bedaure ich dich um dein Gehirn! Du hattest eine Blutrache gegen den Scheik der Kalhuran, weil er deinen Sohn erschossen hat. Er hatte eine gegen dich, weil sein Blut durch die Peitsche deines Sohnes vergossen worden ist. Beides wurde durch die Wette ausgeglichen. Du bestehst im Geheimen trotzdem noch auf Blut, und zwar auf dem meinigen. Nun wohl, so trete auch ich nicht zurück und fordere das deinige. Ich habe sogar ein größeres Recht dazu, denn der Scheik der Kalhuran war Moslem, dein Sohn ein Christ, und außerdem ist Kugelblut um vieles, vieles billiger als Peitschenblut. Du packst mich, und ich packe dich, wann, wo und wie es uns paßt. Du bist vor mir nur auf dem Gebiete der Dschamikun sicher. Das merke dir!“ „So gegenseitig habe ich es nicht gemeint,“ sagte er, indem er verlegen vor sich niedersah. „Das dachte ich mir, denn ihr hochedeln und vornehmen Beschützer der Massaban denkt nicht anders als sie, die Räuber und die Mörder. Nun aber weißt du, woran du bist!“ Da war seine Verlegenheit weg, und der Trotz trat ihm wieder in die Augen. [617] „Es sei, wie du sagst!“ zischte er mich an. „Also Blut gegen Blut! Das meinige und das deinige! Du kennst mich nicht, kannst mich leider auch nicht kennen lernen, denn der Augenblick, an dem dies möglich wäre, wird der Augenblick deines Todes sein!“ „Wie das so fürchterlich klingt!“ lachte ich. „Es ist ja gar nicht so! Es ist im ganzen Land bekannt, daß du der größte Feigling Persiens bist. Ich werde dir mit offener Waffe entgegentreten, die aber weder Dolch noch Pistole, sondern etwas ganz anderes ist. Doch du wirst mir nur mit verborgener Arglist kommen, um an mir zum verächtlichen Meuchelmörder zu werden. Ich bin darauf gefaßt. Das sage ich dir in aller Ehrlichkeit.“ „Gefaßt?!“ entfuhr es ihm. „So sei gefaßt, dreimal oder tausendmal gefaßt; mein wirst du sicher werden!“ Sein Benehmen in diesem Augenblick war unvorsichtig. Seine blitzschnelle Antwort und der versteckt sein sollende Blick seines heimtückischen Auges ließen mich vermuten, daß er schon einen Plan gefaßt habe. Und da stand für mich sehr fest, daß es ein bald möglichst auszuführender sei. Er eilte zu seinem Pferde, denn die Andern waren schon aufgestiegen. Ahriman Mirza saß in einem reichgeschmückten Schuhsattel, von welchem ebenso wie von jedem Riemen bunte Fransen und Quasten rund um den Leib des Pferdes niederhingen. Er spornte es hin zum Pedehr, hielt vor ihm an und sagte: „Wir reiten fort, hinüber nach dem Hasenpaß, wie du gesagt hast. Aber bevor wir den Duar verlassen, haben wir mit den Reitern des Multasim zu sprechen. Ihr gebt sie nicht frei. Dagegen ist nichts zu machen. [618] Aber er hatte diese Leute seinem Sohne nur geliehen. Er ist ihr Herr und Gebieter und hat sie viel zu fragen und ihnen viel zu sagen.“ „Ihr Herr und Gebieter bin jetzt ich,“ antwortete der Pedehr. „Es ist, sobald ihr hier angekommen waret, ein Bote nach dem Hohen Hause geschickt worden. Sobald ihr euch dort sehen laßt, wird man auf euch schießen. Mit diesen Leuten darf nur der sprechen, dem ich es gestatte, euch aber erlaube ich es nicht. Richtet euch danach!“ „Du scheinst nicht zu wissen, wie sehr du dich irrst. Hast du sie für zusammengelaufenes Gesindel gehalten, welches der Muhassil angeworben hat?“ „Ja. Das sind sie auch!“ „Nein. Sie sind Milizen, die seinem Vater, dem Multasim, vom Sipahsalar1) [1) Kriegsminister.], geliefert worden sind. Ihre Uniformen haben sie abgelegt, weil sie einstweilen aus dem Dienste des Krieges in den der Finanzen traten. Ihre Anführer sind wirkliche Offiziere, welche dich beim Sipahsalar verklagen werden, und er wird dich bestrafen lassen. Du hast trotz der Unterschrift des Schah-in-Schah, welche sich nur auf eure Rechte und auf eure eigene Gerichtsbarkeit bezieht, nicht die Erlaubnis, dich an Soldaten zu vergreifen, welche von einem ganz Andern zu richten sind!“ „Ich richte sie nicht. Ich bestrafe sie nicht. Ich weiß genau, wie weit meine Rechte gehen. Ich habe diese Menschen eingesperrt, weil es in diesen meinen Rechten liegt. Dein Multasim mag mir die vom Sipahsalar unterzeichnete Beglaubigung bringen, daß sie wirklich Soldaten sind! Wir werden mit diesem Zeugnisse [619] zum Beherrscher gehen und ihn fragen, ob seine Offiziere und Soldaten etwa vorhanden seien, um gegen friedliche Bewohner seines eigenen Landes Krieg zu führen, oder ob diese Bewohner nur zu dem Zwecke Soldaten werden, um wie verachtete Massaban gegen ihre Mitunterthanen losgelassen zu werden.“ „Das wage nicht!“ „Ich habe dir schon einmal gesagt: ich wage nicht! Die Ausübung heiliger Rechte ist kein Wagnis!“ „Die Rechte Ghulams, des Multasim, sind ebenso heilig!“ „Seine Rechte? Und auch nur vielleicht! Aber wie er sie ausübt, das ist nichts weniger als heilig! Das hat der Herrscher nicht gewollt, als er sie ihm verlieh! Oder - - - sind sie ihm etwa gar nicht vom Schah-in-Schah verliehen? Ich habe gehört, sein Kontrakt sei damals von zwei Ministern unterzeichnet worden. Befindet sich auch das allerhöchste Siegel dabei?“ „Das geht dich nichts an!“ „Es geht jeden an, der hier im Lande wohnt. Und uns geht es gar doppelt an, weil dieser Multasim es wagt, mit den Waffen in der Hand unser Gebiet zu betreten, um hier den Herrn zu spielen! Ich bin der Scheik der Dschamikun. Mir ist ihr Glück und der Frieden ihres Landes anvertraut. Es ist meine Aufgabe, in diesem Frieden für die Wohlfahrt des Landes, welches ihnen gehört, zu sorgen. Wir wollen auch mit Andern in demselben Frieden leben. Wir haben es gethan. Wir sind es nicht, die ihn jemals brechen werden. Aber sollten sie das zu thun wagen, dann wehe ihnen!“ „Wehe!“ lachte der Mirza. „Willst du es nicht gleich dreimal ausrufen? Ein solches Wehegeheul aus einem Munde, der sich der Friedfertigkeit und der [620] Nächstenliebe rühmt, muß ja, wenn es zum Himmel eures Chodeh aufgestiegen ist, von den Lippen aller Seligen, die dort wohnen, lobpreisend widerhallen! Liebe und Wehe! Hier hast du dich ebenso entlarvt, wie vorhin euer frommer Ustad sich verriet!“ „Und du bist ganz derselbe Verdreher der Ursachen und der Folgen gegen mich wie gegen ihn! Als du dich aufmachtest, um zu uns zu reiten, hattest du vergessen, die Ueberlegung zu Rate zu ziehen. Und weder unterwegs noch hier an deinem Ziele bemerktest du, daß du die Vorsicht daheim gelassen hast. Du behauptest, so große Macht zu besitzen, daß wir uns vor dir zu fürchten hätten. Bist du denn so thöricht gewesen, zu glauben, daß sich diese Macht auch über uns erstreckt? Hast du angenommen, daß es uns nicht einfallen werde, nach ihr zu forschen, um sie kennen zu lernen? Du prahlst ebenso wie der Multasim mit der Gewalt, die euch gegeben worden sei. Wohlan! Wir werden thun, was jeder Kluge thun würde. Wir schlagen nicht blind auf sie los, sondern ganz so, wie du zu uns gekommen bist, so werden wir dorthin gehen, woher sie zu stammen hat, wenn sie keine angemaßte ist. Und wenn - - -“ „Also Spione!“ unterbrach ihn der Perser. „Nein! Ein Spion sagt dem Feinde nicht mit dieser meiner Ehrlichkeit, was er zu thun beabsichtige. Und grad diese Ehrlichkeit hast du außer Berechnung gelassen. Was wird der Schah-in-Schah sagen, wenn er erfährt, daß du dich rühmst, mächtiger zu sein als er! Was wird er thun, wenn er hört, daß es euer wohlerworbenes Recht sei, ihn als eine Puppe zu behandeln, der ihr von allem Reichtume und allen Erzeugnissen des Landes nur den billigen Weihrauch streut, um alles andere in den eigenen Säckel stecken zu können! Was wird er beschließen, [621] falls er vernimmt, daß ihr diejenigen seiner Unterthanen mit Vernichtung bedroht, welche nur allein ihm gehorchen wollen und sich also weigern, euch als Götzen zu betrachten, vor denen man anbetend niederzusinken hat! - Diese Folgen deines Rittes hast du nicht bedacht. Du hast dir angemaßt, hierzu zu kommen, um uns kennen zu lernen. Es hat uns nur einer zu kennen, der Schah-in-Schah, vor dem unsere Herzen offen liegen. Aber eure Herzen? Ihr seid so unvorsichtig gewesen, sie vor uns zu öffnen, während ihr sie gegen ihn verschlossen hieltet. Nur wird sein Blick in ihre tiefsten Tiefen gehen, und was sich ihm da offenbart, das kann nichts anderes als das Wehe sein, welches ich dir zugerufen habe. Dieses Wehe stammt also nicht von mir; es wohnt in euch selbst und wird aufsteigen wie ein verzehrendes Feuer und wie ein alles verschüttender Aschenregen, wenn die Hand des Herrschers niederfährt, um den Janardagh1) [1) Vulkan.] aufzusprengen und auseinander zu reißen. Dann wird das Land von all den giftig bösen Dünsten frei, die diesem Berge des Unheiles bisher entstiegen, und wenn der dunkle Rauch, der über Chodehs Erde ging, verschwunden ist, wird endlich, endlich jedermann den reinen Himmel und den wahren Herrscher schauen! - Ich bin mit dir zu Ende - - - für heute und jetzt. Reitet fort! Ihr möget euch wenden, wohin ihr wollt, es erwartet euch dort nicht dieses, sondern ein noch ganz anderes Ende!“ Während die beiden mit einander sprachen, waren auch die andern Perser zu ihnen herangekommen. Sie hatten den letzten Teil der Rede des Pedehr gehört und sahen nun den Mirza an, was er thun werde. Er bohrte die Innenspitzen seiner Schuhbügel in die Flanken des [622] Pferdes, daß dieses vor Schmerzen sich bäumte und fast überschlug. Dann warf er die Hand verächtlich in die Luft und rief unter grellem, weithin schmetterndem Lachen aus: „Ein noch ganz anderes Ende! Alter Narr! Es giebt ja gar kein Ende! Welch ein Glück, wenn es so wäre, wie du sagst! Vielleicht aber hast du recht, denn uns fehlt nichts weiter, als nur das Eine, die Allwissenheit! Versuchen wir es! Ist es ein Phantom, oder ist es Wirklichkeit! Reiten wir ihm zu, dem von dir angedrohten, von Anderen aber heiß ersehnten Ende!“ „Dem Ende - dem Ende!“ lachten die Andern ihm nach. Sie trieben ihre Pferde an und ritten, das Beit-y-Chodeh jetzt in einem weiten Bogen vermeidend, die grüne Alm hinab und verschwanden bald hinter dem Gebüsch der unten liegenden Gärten. Wir schauten ihnen nach, bis wir sie nicht mehr sahen. Dann wendete sich der Pedehr mir zu, indem er fragte: „Sind dir schon einmal derartige Menschen begegnet, Effendi? Sollte man sie nicht für etwas ganz Anderes halten?“ „Es ist mir an ihnen vieles rätselhaft,“ antwortete ich. „Kannst du mir sagen, was?“ „Wohl kaum! Es giebt Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat. Es kommen uns Ahnungen, die wir uns nicht einmal in Gedanken deuten, noch viel weniger aber in hörbare Laute kleiden können. Es war mir, als ob Ahriman Mirza zwei verschiedene Leben besitze und zwei verschiedenen Reichen angehöre. Seine hörbare Rede gehörte dem einen an, dem andern aber der Sinn, der in ihr lag, und der Geist, der sie ihm diktierte. Ich habe viele, viele Menschen kennen gelernt, [623] so einen aber noch nicht! Es gab, während er sprach, gewisse Stellen, an denen ich mir sagte, daß ich mich hüten müsse, an mir selbst irre zu werden. Er riß mir Gedanken aus der Tiefe, von denen ich niemals eine Ahnung gehabt habe. Und er wußte sie so zu leiten und zu gestalten, daß es mir schwer wurde, sie als irrig zu erkennen. Wehe dem denkschwachen, vertrauensvollen Opfer, welches er sich erwählt! Es muß ihm unbedingt verfallen sein! Da taucht ein Bild vor meinen Augen auf, ein Bild, widerlich und schön zugleich. Aber es gehört nicht hierher in Tempelsnähe. Könnte ich es dir zeigen, so würde in ihm wohl wenigstens einigermaßen die Antwort auf die Frage liegen, die du an mich gerichtet hast.“ „Sprich immerhin! Es giebt kein Bild im Himmel und auf Erden, welches der Sonnenglanz, der jetzt von unserem Beit-y-Chodeh für heut Abschied nehmen will, nicht doch verklären könnte.“ „Du sagst: im Himmel und auf Erden. Und dieses Bild bezieht sich allerdings auf beide. Ich habe daheim ein liebes altes Buch. Es ist gewiß vierhundert Jahre alt und von meinen Vorfahren auf mich gekommen. Es enthält nur Bilder, keinen Text, aber die Rückseiten wurden von den Händen der jeweiligen Besitzer fromm beschrieben. Denn diese Bilder wurden zur Erklärung und Veranschaulichung dessen gedruckt, was uns das Kitab el mukkadas1) [1) Heiliges Buch, Bibel.] erzählt. Es ist für mich von unschätzbarem Werte. Ich habe es schon als Kind sehr oft mit meinen kleinen Händen aufgeschlagen und schaue auch noch jetzt so gern hinein. Es dünkt mich heut, als sei ich es selbst, dessen Gefühle und Gedanken, dessen Kämpfe, [624] Niederlagen und Siege auf diesen Blättern abgebildet seien. Die Menschheit in ihrer Kinderzeit, dem Vater vertrauend und in dankbarer Liebe ihn verehrend. Des Knaben Trotz und Unbedachtsamkeit, die, wie einst Israel, nicht gehorchen wollen. Des Jünglings heißgeliebte Ideale, im Harfenton der Psalmen aufwärts erklingend. Hierauf der eigene Sinn, welcher verlangt, mit den Augen schauen zu müssen, was das Herz bisher ohne Einwand glaubte. Das immer suchende und nicht ermüdende Forschen nach Bestätigung. Der Kampf mit andern Völkern, die andere Götter hatten. Die fürchterliche Gegnerschaft dessen, der einst zu Hiob kam, um ihn zu vernichten. Das feste Halten an dem Gottesglauben, trotz aller Siege, denen ich erlag. Der schwere, heiße Kampf des tapferen Judas Makkabäus, sich aus diesen Niederlagen wieder aufzurichten und, obwohl von seinen eigenen Brüdern verachtet und verdammt, die Höhe von Moria wieder zu ersteigen und sich die Liebe seines Volkes zu erringen. Wie war das so schwer, jawohl das aller-, allerschwerste! Doch glaube ich, ich habe es erreicht!“ Der Pedehr hatte sich in das Gras niedergelassen. Ich stand aufrecht vor ihm. Ich hatte von einem Bilde reden wollen, und wovon sprach ich aber nun? Konnte ich dafür? Warum waren die schönen, mildglänzenden Augen, mit denen er zu mir aufblickte, so liebreich fragend und so seelengut! Seine Dschamikun nannten ihn Pedehr, den Vater. Sie liebten ihn; sie ehrten ihn; sie vertrauten ihm. Er verdiente das, denn er war ihnen im wahrhaftesten Sinn des Wortes und in vollster Wirklichkeit ein Vater. Wie kam es doch, daß ich jetzt an den meinigen denken mußte! Er war ein einfacher Bürgersmann gewesen, schlicht und recht, wie arme Leute sind, vor deren Thür die Dürftigkeit am Tage wacht und auch [625] des Nachts nicht schläft. Er hatte jenes Forschen und Suchen nicht begreifen können. Die materielle Not ist blind gegen Ideale. Er litt unter meinen äußeren Niederlagen; an den inneren Siegen aber, zu denen sie mich führten, konnte er nicht teilnehmen; sie brachten ihm keinen Gewinn. Und als ich endlich, endlich oben war, aus voller Brust tief Atem holend, weil ich in meinem Glauben an die Menschheit die Ueberzeugung in mir trug, daß mir vergeben sei, da legte er sich hin und starb, mich zwingend, meine schöne Hoffnung, alles, alles an ihm gut machen zu können, nach jenem Lande zu richten, in welchem ein jeder nachzusühnen hat, was hier auf Erden zu sühnen vergessen worden ist! War es der Pedehr, der vor mir saß und mich so still und doch so erwartungsvoll anschaute? Diese Stirn! Dieser fragende Blick! Auch mein Vater war so, wie er, trotz seines hohen Alters immer jung gewesen! Was wollte dieses Auge? Dieser Blick? Was kann ein Vater wollen, wenn der vor ihm sitzende Sohn von seinen Fehlern spricht. Verzeihen doch, verzeihen! Sang man da unten im Tempel jetzt wieder das „Rosenlied?“ Nein. Es klang mir nur im Innern, und es bedurfte nur einer geringen Aenderung, so war auch ich gemeint: „Brich auf, mein Herz, der Rose gleich, In der sich alle Düfte regen. Gott ist an Gnade überreich; Brich auf, und dufte ihm entgegen!“ „Effendi, was thust du hier?“ fragte der Scheik. „Höre ich recht? Stand das in deinem Bilderbuche? Du beichtest ja dich selbst hinein! Oder nicht?“ „Ja, Pedehr, ich beichte!“ gestand ich ihm. „Das Bilderbuch, von dem ich spreche, enthält die Beichte aller, [626] aller Welt. Wenn ich von dieser Menschheitsbeichte spreche, so darf auch die nicht fehlen, die ich der Menschheit schuldig bin! Sie nehme diese Beichte mit in die ihrige auf! Dann kann ihr nicht vergeben werden, wenn sie nicht mir vergiebt!“ Da faßte er mit seinen beiden Händen die meinigen, zog mich halb zu sich nieder und sprach: „Aber du beichtest hier im fernen Kurdistan! Vor mir allein! Die Menschheit hört dich nicht!“ „Sie wird mich hören! Denn sie wird es lesen!“ „Etwa in einem deiner Bücher?“ „Ja!“ „Und genau so ehrlich und so offen, wie du hier zu mir gesprochen hast?“ „Genau so!“ „Ef - - - fen - - - di - - -!“ Er sah mich staunend, fast erschrocken an. Mir aber war so warm, so leicht, so frei ums Herz. Ich fühlte, daß ein frohes Lächeln um meine Lippen spielte. „Weißt du, was du dir da vorgenommen hast? Diese deine Menschheit wird dir gern verzeihen; aber alle, alle, die ihr Ganzes bilden, werden einzeln vortreten, um dich zu verdammen!“ „Ich fürchte mich weder vor der Menschheit noch vor dem Einzelnen! Was hier geschieht, geschieht auch dort! Ich beichte auch für dort! Vor dem, der jenseits richtet! Läßt er dann, so wie man hier mit mir gethan, die einzelnen vor seine Stufen treten, so bin ich frei von Schuld!“ Da zog er mich vollends zu sich nieder, schlang seine Arme um meinen Hals, küßte mich auf beide Wangen und sprach: [627] „Mein lieber, lieber Sohn! Glaubst du, daß ich mit meinen Dschamikun auch mit zur Menschheit gehöre? Ja? Du nickst! Du bist ergriffen! Ich sehe Thränen! Weine nicht! Ich sage dir: Unter denen, die aus der Menschheit treten, weil sie nicht menschlich denken und verzeihen, wird sich kein einziger Dschamiki befinden! Für die andern aber, die es thun, sei das, was du schreibst, wie nicht geschrieben, denn du beichtest der Menschheit, aber nicht denen, die aus ihr getreten sind!“ Da stand der Ustad vor den Säulen des Tempels und gab ein Zeichen nach dem „hohen Hause“ hinüber. Man hatte auf dieses Zeichen gewartet, denn die Sonne war im Untergehen, und sogleich erklangen die Glocken. Der Pedehr erhob sich, zog mich mit sich empor, behielt mich mit der Linken umarmt und zeigte mit der Rechten nach dem Alabasterzelt hinauf. „Erzähle mir von deinem Bilde weiter!“ sagte er. „Es wird sich jetzt ein anderes zeigen. Auch aus einem Kitab el mukkadas, aber nicht aus einem geschriebenen, welches man nach Belieben öffnen und schließen kann, sondern aus dem, welches unaufhörlich über die ganze Erde offen ausgebreitet liegt. Wenn du die Bilder deines Buches recht verstanden hast, so wirst du auch dieses recht verstehen.“ Jetzt drehte der Ustad sich nach unserer Seite. Als er uns in Umarmung stehen sah, nickte er zu uns herauf und verließ den Tempel, um herbeizukommen. Die Augen aller anwesenden Dschamikun und ihrer Gäste waren hinüber nach dem höchsten Punkte des Gebirges gerichtet. Die Sonne hatte unser Thal verlassen und senkte sich jenseits der Berge nieder. Während sie diese auf der uns abgelegenen Seite beleuchtete, begann hier die Dämmerung emporzusteigen. Schon webten um den See dunkle [628] Schatten, die wie abgeschiedene Seelen über seine Gewässer zu schiffen schienen. So, wie diese Dämmerung emporstieg, um schließlich das ganze Thal in Dunkel zu hüllen, so klettert auch das Leid im Menschenherzen immer höher und höher, um es gänzlich auszufüllen. Giebt es denn keinen Punkt, den es nicht erreichen kann, den es niemals ganz zu umnachten vermag? Doch! Schon waren die Bergeshäupter im Süden, Osten und Norden in ihr letztes, tiefstes Violett gefärbt; dann wurden sie von den Strahlen verlassen, die empor zum Firmament flüchteten, um sich in dem Glanze der Sterne aufzulösen. Im Westen aber, wo der Himmel in Flammenglut gestanden hatte, erschien der letzte Tagesgruß im Abendrot, um sich am Alabasterzelte sterbend auszuleuchten. Es stand in dieser keuschen Abschiedsglut, als sammelte es am Thore der Seligkeit die hochgestiegenen Pilgerseelen allesamt, die, durch des Lebens Leid und Weh verklärt, dem höchsten Erdenpunkt entschweben sollen, damit der Felsengrund, auf dem das „hohe Haus“ errichtet wurde, sich als vom Herrn mit eigener Hand gelegt erweise. Der Himmelsstrahl brach sich auf dem halbdurchsichtigen Steine in alle seine Erdenfarben. Sie schimmerten und blitzten, als sei das ganze Zelt mit den Schmuckstücken der Herrscher aller Zeiten und aller Welten ausgelegt. Und noch als diese märchenhafte Herrlichkeit vom abendlichen Dunkel erreicht und unsern Augen entzogen wurde, war es anzusehen, als ob jeder einzelne der Brillanten sich weigere, für heut bis morgen ausgelöscht zu werden. Ich stand noch längere Zeit und schloß die Augen, um dieses wunderbare Bild fürs Leben festzuhalten. Man sagt, die Erde könne schon die Hölle sein. Jawohl; ich [629] glaube es! Doch mit demselben Rechte der Ewigkeit, sich uns schon hier in der Zeit zu offenbaren, kann uns die Erde auch ein Himmel sein. Wenn der Himmel nur von Engeln oder Seligen und die Hölle nur von Teufeln oder Verdammten bevölkert wird, so kommt es ja wohl nur auf die Menschen an, welches von beiden sie sein und wozu sie die Erde machen wollen! Der Pedehr riß mich aus meinem Sinnen. „Nun, Effendi,“ fragte er, „gleicht dieses Bild dem deinen, von welchem du sprechen wolltest?“ Mit einigen kurzen Worten erklärte er dem Ustad, auf was sich diese seine Frage bezog. Dann antwortete ich: „Könnte ich dir deutlich machen, was das ist, was wir im Abendlande ein Pendant nennen. Sonderbarerweise sind beide Bilder ähnlichen Inhaltes und einander nahe verwandt. Ich möchte das meinige ‚Vom Himmel nach der Erde‘ und dieses hier ‚Von der Erde nach dem Himmel‘ unterzeichnen. In meinem alten Buche fehlen Blätter. Ich habe es versucht, die Lücken durch meine Phantasie zu ergänzen. Das erste Blatt, welches ich ihm geben möchte, ist das, von dem ich sprach. Ich dachte folgendes: Ein hoher Punkt in Ahuramazdas lichtem Himmel, der steil zur Tiefe fällt, in der die Erde liegt. Da oben eine Schar seiner Engel, die wißbegierig und verlangend nieder in das Unbekannte schauen. Zu ihnen tritt Ahriman, der Empörer, der sich dünkt, Gott gleich zu sein. Er will hinab, doch nicht allein. Er sucht sie zu verführen, den Himmel zu verlassen und mit ihm ein Reich zu gründen, in dem der Herr nichts zu befehlen habe. Um sie dem ewigen Gebieter abwendig zu machen, spricht er zu ihnen in jener Weise, welche man heut diabolisch nennt. Er bethört sie so mit Aftergründen und [630] trügerischen Schlüssen, wie heut Ahriman Mirza es mit uns zu thun versuchte. Und erstaunlich ist es wohl: der Ahriman auf meinem Bilde glich ganz genau dem Mirza, der dort am Waldesrande vor uns stand. Hat diesselbe Idee auch stets die gleiche Gestalt, mag sie stammen, woher sie auch sei? Das Böse hat für den ersten, flüchtigen Blick wohl immer eine verlockende Gestalt. Aber wenn man sie zwingt, den Mund zu öffnen, so ist das sicherste Erkennungszeichen die Leidenschaft, mit der sie alles treibt und thut und redet. Der, welcher einst dem Teufel den Quastenschwanz und Pferdefuß verlieh, hat sicherlich in seinem Dienst gestanden. Die Hölle ist ein Sumpf, auf dem die Decke üppig grünt und blüht, den irren Lebenswanderer anzulocken. Der Himmel glänzt, sie aber kann nur gleißen. Ihr Gold ist falsch, wie ihre Diamanten. Die flimmernden Steine des Mirza sind wohl auch nicht echt!“ Die verschiedenen Gruppen der Dschamikun vereinigten sich, um unter dem noch fortdauernden Glockenläuten nach dem Duar zu ziehen. Meine Sänfte wurde gebracht. Hanneh stand in der Nähe. Ich lud sie ein, mit einzusteigen. Es war genügend Platz für zwei Personen da. Sie nahm es an, doch sagte sie: „Laß uns noch warten, bis die Sterne leuchten! Ich möchte gern das Zelt da oben in ihrem Lichte schauen.“ Das war mir recht. Der Ustad und der Pedehr gingen. Der letztere kam aber noch einmal zurück zu mir und fragte mich: „Effendi, erlaubst du mir, ihm zu sagen, was wir gesprochen haben? Ich kann kein Geheimnis vor ihm haben, und möchte doch auch gern, daß er von deiner tapfern Beichte erfahre, die weder Menschenfurcht noch sonstige Feigheit kennt.“ [631] „Ich kenne keinen Grund, es ihm zu verschweigen,“ antwortete ich. „Es ist nichts in mir, was ich ihm verheimlichen möchte.“ Hierauf führte ich Hanneh quer durch den Tempel. Wir setzten uns an seinen Stufen nieder. Sie war still, ich auch. Ein jetzt noch matter Schein lag zwischen hier und dort. Nur der Abendstern stand schon in vollem Glanze. Früh heißt er Morgenstern. Er ist derselbe; nur die Namen sind verschieden. Nicht so auch Gott? Zwischen den beiden Namen des Sternes liegt eine Nacht. Welche Nächte sind es, die zwischen den verschiedenen Namen Gottes liegen? Und wer ist es, von dem diese Dunkelheiten ausgegangen sind? Von ihm, dem ewigen Lichte, nicht! „Ich sehe es,“ sagte Hanneh leise, als ob das Alabasterzelt ein Heiligtum sei, von welchem man nicht in lauten, rauhen Worten sprechen dürfe. Auch ich sah es nun. Der Berg, auf dem es lag, erschien uns jetzt als eine formlose, finstere Masse. Nur in der Höhe hatte er Konturen, welche der Himmel ihm verlieh. So scheinen auch die Berge des Lebens in der Tiefe ohne Gestalt zu sein; aber sie tritt um so mehr und um so deutlicher hervor, je näher sie zum Firmamente steigen. Auch das Zelt selbst erschien noch schattenhaft. Im Innern war es ohne Licht, doch nahte dies von oben. Als ob der Gedanke, der es erstehen ließ, erst jetzt geboren und sofort zum Körper werde, so that es sich im heller werdenden Schein der Sterne vor unsern Augen immer weiter und immer deutlicher auf, bis es in magischer Schönheit, klar und rein, dem Meister dankte, welcher die im Gesteine verborgene Bergesseele aus ihrer schwermassigen Gestaltlosigkeit befreit und ihr im bedeutungsvollen Bildnisse die Erlösung gebracht hatte. [632] Wir saßen und schauten, ohne zu sprechen. Was soll man reden, wenn man von Gefühlen bewegt wird, für die es keine Worte giebt! Nach wohl geraumer Zeit stand Hanneh auf. Wir gingen zur Sänfte und wurden heimgetragen. Im Duar herrschte lautes, froh bewegtes Leben. Droben war es still. Als wir unsern Saal betraten, fiel es mir auf, daß sich mein Lager nicht mehr dort befand. Kara saß bei seinem Vater. Der Ustad und der Pedehr standen dabei. Halef schlief. Aber sein Gesicht hatte nicht die Ausdruckslosigkeit, welche dem vollständigen Unbewußtsein eigen ist. „Er war froh über seinen Traum,“ sagte Kara leise, um ihn nicht etwa zu wecken. „Hat er wieder geträumt?“ fragte Hanneh. „Ja. Und zwar wieder vom Effendi.“ „Doch nicht etwa von den fürchterlichen Maden!“ „Doch! Der erste Traum war wiedergekehrt. Ich weiß, daß so etwas zuweilen geschieht. Auch schrie er wieder. Bald aber beruhigte er sich. Ich sah ihm sogar an, daß er sich über etwas freute, und als er dann erwachte, sagte er mir, worüber. Das machte ihn so glücklich!“ „Was?“ „Die Würmer hatten einander schließlich selbst aufgefressen, bis endlich die letzte aller Maden so dick geworden war, daß sie an sich selbst zerplatzen mußte. Der Effendi aber stand so heiter und so rüstig da, als ob er gar nicht von ihnen berührt worden sei. Nachdem der Vater mir dies erzählt hatte, schlief er wieder ein.“ „Wie sonderbar! Was sagst du dazu, Sihdi?“ [633] „Ich bin kein Ruja tschykaran1) [1) Traumdeuter.],“ antwortete ich. „Eigentümlich ist es freilich, daß der eine Traum so deutlich und so sicher an den andern knüpfte.“ „Warum eigentümlich?“ fragte der Pedehr. „Ist es nicht mit dem Leben ganz dasselbe? Knüpft da nicht auch das eine an das andere an? Wenn in dieser Beziehung etwas sonderbar sein kann, so ist es nur der unbegreifliche Wahn, daß ein von der Seele und von dem Geiste so unendlich reich ausgefülltes Dasein in dem Leibe von Würmern und von Maden enden könne! Der Traum des Hadschi ist mehr, als ein Traum, denn er zeigt uns die Wirklichkeit. Wenn alle Menschen, die auf Erden wohnen, nichts als Würmer oder Maden wären, und nur ein einziger besäße Geist und Seele, sie würden doch nicht im stande sein, ihn auch nur körperlich, und noch viel weniger geistig oder seelisch zu vernichten! Der Effendi kann nicht nur, wenn andere von ihm träumen, sondern auch wenn sie von diesem Traume erwachen, vollständig ruhig sein!“ „Nicht nur ruhig!“ sagte der Ustad; „sondern sogar glücklich! Komm, Effendi; geh mit mir!“ Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus nach der Stelle, wo ich abends immer gesessen hatte. Er legte mir seine Rechte aufs Haupt und sprach: „Hier war es, wo, grad so wie jetzt, diese meine Hand auf dir ruhte. Kannst du dich noch besinnen, mit welchen Worten ich dich willkommen hieß?“ „Ja,“ erwiderte ich. „Sage sie!“ „Ich heiße dich zum zweitenmal willkommen und bitte dich, bei mir zu bleiben, so lange es dir und deinem [634] höheren Ich, welches ihr Seele zu nennen pflegt, bei mir und meiner Seele gefällt. Ich habe auf dich gewartet!“ „Ja; so sagte ich. Du hast es dir gemerkt. Und heute wiederhole ich diese meine Worte. Ich heiße dich zum drittenmale willkommen! Bis jetzt warst du bei mir. Heut aber hat es sich herausgestellt, daß auch deine Seele bei der meinen ist. Effendi, weiß du, was das heißt? Noch nicht!“ Er ließ seine Hand von mir herabgleiten, deutete nach dem Tempel, der drüben hell im Sternenlichte stand, und fuhr fort: „Es giebt Welten, von denen du keine Ahnung hast. Wie die Sterne immer weiter und weiter entfernt von der Erde liegen, so erheben sich diese Welten in unirdischen Entfernungen über einander. Keine niedere kann die höher liegende stören. Wer sich in eine höhere emporgerungen hat, der bleibt für die niedere unerreicht; es sei denn, daß er freiwillig zu ihr niedersteige. In allen diesen Welten giebt es Bewohner, welche die höhere entweder hassen oder sich nach ihr sehnen. Die Hassenden sind für sie unschädlich. Die sich Sehnenden werden emporgehoben. Es liegt eine unermeßliche Macht in diesem Sehnen. Sie ist wie die Gewalt des gläubigen Gebetes, welchem Chodeh nicht widerstehen kann, wenn es selbstlos ist! Diese Welten sind vor deinem Auge unsichtbar, deiner Seele aber wohlbekannt. Aber daß sie vorhanden sind, das kannst du fühlen, wenn sich in deiner Seele Sehnsucht nach einer höheren regt. Diese Sehnsucht ist eine schmerzliche, weil der Geist, von dem sie sich nicht trennen darf, nicht folgen will. Er ist das Selbst; sie aber ist die Liebe. Er will nicht auf das verzichten, was er jetzt besitzt, weil er nicht an das glaubt, was [635] wohl ihr Auge sieht, aber nicht das seine. - Wie unendlich glücklich bist du da, Effendi! Du besitzest diesen Glauben; ja, er ist sogar doppelt dein: Was deine Seele glaubt, glaubt auch dein Geist. Was sie erstrebt, wird auch von ihm ersehnt. Du wirst es erreichen!“ Er senkte den Kopf und schwieg eine kleine Weile. Dann sprach er mit leiserer Stimme weiter: „So war es nicht bei mir! Mein Wesen war nicht ein vereintes wie das deinige; es war geteilt. Der Zwiespalt wohnte zwischen meiner Stirn und meinem Herzen. Ahnst du wohl, wie er hieß?“ „Ahriman Mirza?“ wagte ich zu raten. „Ja; er war es! Er ist's zu jeder Zeit, der sich zwischen Geist und Seele drängt, um wo möglich beide zu vernichten. Du kennst ihn nicht in dieser fürchterlichen Thätigkeit, weil bei dir Geist und Seele einig sind. Er konnte nicht zwischen sie treten. Und aber dennoch solltest du ihn kennen. Er griff bei dir an anderer Stelle zerstörend ein. Er drängte sich zwischen sie beide und den Körper! Dein leibliches, dein äußeres Leben war es, welches er vernichten wollte, um dadurch auch sie bis auf den Tod zu treffen! Nicht innerlich, denn das vermochte er nicht, sondern in diesem äußeren, leiblichen Leben rang er dich nieder, und du hattest es nur dem unantastbaren Frieden und der unbesieglichen Kraft deines Innern zu verdanken, daß es dir gelang, dich aufzuschnellen und nach langem, schweren Kampfe endlich für immer obzusiegen! Niemand, kein Mensch hat das gesehen! Doch einer sah es, und der vergißt es nicht. Er hörte auch, was du da drüben zum Pedehr gesagt. Ich weiß, du wirst es thun; du wirst es halten! Und noch eines weiß ich darum auch, nämlich daß du der wirklich bist, als den ich dich bei mir erwartet habe. Bis jetzt stand dir der [636] Raum der Dschemma offen, weil du der kranke Gast des ganzen Stammes warst. Von heute an wohnst du bei mir, in meinem stillen, lieben Heim, wo du, vom Alltag nicht gestört, dem Klange der Glocken näher bist als hier. Du sahst wohl schon, daß deine Lagerstätte hier in der Halle fehlt. Es ist bei mir schon alles für dich vorbereitet. Gieb mir die Hand!“ - - - - - - -