„So beeile dich, damit man nicht auf unsere Abwesenheit aufmerksam wird und Verdacht schöpft.“
Als ich das hörte, zog ich mich schnell zurück. Assil stand noch genau so, wie ich ihn verlassen hatte. Ich stieg auf und ritt denselben Weg hinunter, den ich heraufgekommen war. Hinter den Buchen schlug ich dann noch einen Bogen nach auswärts, so daß es, als man mich kommen sah, den Anschein hatte, als sei ich abwärts, aber nicht aufwärts geritten gewesen. Der Chodj und Kara befanden sich noch an derselben Stelle. Die Perser waren jetzt beisammen. Sie standen im Innern des Tempels, Tifl bei ihnen. Ich stieg am Beit-y-Chodeh ab und ging zu ihnen hinauf. Als ich kam, wendeten sie sich mir zu, und der angebliche Scheik ul Islam fragte, indem er nach den Ruinen hinüberdeutete:
„Weißt du vielleicht, Effendi, was das für ein altes, sonderbares Bauwerk ist, da drüben?“
„Das wollte ich soeben dich fragen,“ antwortete ich. „Du weißt ja, daß ich weder Priester oder Offizier, noch Beamter oder sonst Etwas von Bedeutung bin. Wie kann ich also, noch dazu als Europäer, hierüber besser Auskunft geben als du, der als ein Licht des Glaubens hoch über allem Wissen und aller Kenntnis steht!“
Er warf einen lächelnden Blick auf den „Schreiber“, nickte mir wohlwollend zu und sprach:
„Du hast Recht. Für die von Allah Erleuchteten liegt alles klar und offen da, was selbst das scharfe Auge der Wissenschaft niemals erkennen wird. Dieses Bauwerk war der Abgötterei gewidmet, dem Götzendienste, der uranfänglich nur Bilder verehrte, doch zuletzt sogar auch [287] Idole anbetete, welche Menschen gewesen waren. Indem du da hinüberschaust, wirst du an alle Religionen erinnert, nur allein an unsern Islam nicht. Wie kommt das wohl? Weil der Islam die einzige Religion ist, welche Gottes Befehl erfüllt, daß wir uns kein Bild noch irgend ein Gleichnis machen sollen. Oder hast du jemals eine Moschee gesehen, in welcher das Bildnis eines Menschen hängt, um verehrt zu werden?“
„Nein,“ antwortete ich im Tone kindlichster Unbefangenheit. „Das habt Ihr doch nicht nötig. Denn eure ‚Heiligen‘ und ‚Seligen‘ werden nicht erst nach dem Tode, sondern schon hier im Leben derart vor andern Menschen ausgezeichnet, daß sie auf spätere Anbetung recht wohl verzichten können.“
Bei diesen Worten machte ich dem Heiligen und auch dem Seligen eine tiefe, ehrfurchtsvolle Verbeugung. Sie bedankten sich mit gütigem Kopfnicken. Der Mann mit dem großen Turbane aber sah mich mit einem zweifelhaft prüfenden Blicke an, ob nicht vielleicht hinter dieser meiner Unbefangenheit etwas Anderes stecke. Wahrscheinlich konnte er in meinem Gesicht nichts Verräterisches entdecken, denn er fuhr fort:
„Wir haben gehört, daß der Ustad beabsichtigt, mit diesem alten Bauwerke aufzuräumen. Er will die Ueberreste aus jenen götzendienerischen Zeiten abtragen. Warum? Wozu will er dieses kolossale Material verwenden, welches er doch nicht einfach verschwinden lassen kann? Wir können uns mit einem solchen Vorhaben unmöglich befreunden. Bis heut schwiegen wir dazu. Nun wir aber den Bund mit dir und ihm geschlossen und besiegelt haben, steht uns das Recht zu, Einspruch zu erheben. Diese Bauten haben zu bleiben, wie sie sind! Sie sind ein Denkmal der Vergangenheit, an welchem nicht ge- [288] rüttelt werden darf. Denn selbst der Wahn wird heilig, wenn er so lange besteht, daß er durch sein Alter zur Ehrfurcht mahnt. Also, ich warne dich, Effendi, und ich warne den Ustad! Ich habe als Scheik ul Islam die heilige Pflicht, selbst den Irrtum zu erhalten, weil wir nur durch ihn zur Wahrheit kommen. Ihr gehört von jetzt an zu den Takikurden, und was ich als Oberster der Taki will, das hat auch jeder Dschamiki zu wollen!“
Ah! Bisher das weiche Pfötchen; jetzt kam schon die Kralle! Etwas vorzeitig! Sein eigentliches Interesse an der Erhaltung der Ruinen konnte er mir natürlich nicht mitteilen! Glücklicherweise war ich einer Antwort überhoben, denn die beiden „Generale“ kamen soeben, und es wurde beschlossen, wieder aufzubrechen. Ich bemerkte gar wohl das befriedigte Lächeln, mit welchem sie dem „Schreiber“ heimlich kundtaten, daß ihnen ihr Vorhaben wohlgelungen sei.
Die Heimkehr geschah in derselben Weise, wie der Ritt zum Berge; man ließ mich zurück, und es fiel mir gar nicht ein, mich darüber zu kränken. Als ich heimkam, sah ich, daß man nicht einmal mit dem Essen auf mich gewartet hatte; es war bereits im vollsten Gange. Ich nahm aber in der freundlichsten Weise meinen Platz ein und langte zu. Es gab mir heimlich Spaß, daß sich die Herren schon ganz wie zu Hause fühlten. Der Beturbante tat, als ob er nur so zu befehlen habe. Der Pedehr war hierüber so ärgerlich, daß er fast gar nichts genoß. Nicht etwa, daß man es an Höflichkeit hätte mangeln lassen; o nein! Man schmeichelte uns sogar in jeder Weise; zuweilen so auffällig, daß es gar nicht schwer war, zu erröten. Der Leutseligste von allen war der „Schreiber“. Er sprach nicht viel; aber was er sagte, war stets ein Kompliment für uns, welches Dankbarkeit [289] erheischte. Er war so einfach, so bescheiden, so unendlich wohlwollend. Und all diese Einfachheit, diese Bescheidenheit, dieses Wohlwollen schien er mit Hilfe seines stetig wiederholten Augenaufschlages vom Himmel herabzunehmen. Er brachte Alles so still, so geräuschlos fertig. Die Andern schmatzten als Orientalen überlaut beim Essen; er als der Einzige nicht. Was bei ihnen klapperte und klirrte, das ging bei ihm so leise, so unhörbar von statten, als ob sein ganzer Körper nur von Watte sei. Aber zuweilen, wenn er sich unbeachtet wähnte, schoß aus seinem Auge ein Blick hervor, welcher, im Bilde gesprochen, noch lauter schnarrte, als das Rrrrrr an seinem Gaumen!
Wir erfuhren während des Essens, daß die Perser von uns weg nicht etwa zurück nach Chorremabad, sondern hinüber zu den Takikurden wollten. Man war so unvorsichtig, hinzuzufügen, daß man dies auch getan hätte, wenn unser „Vertrag“ nicht zu stande gekommen wäre! Hierbei kam die Rede auf die Pferdezucht der Taki, und da geschah es, daß der „Schreiber“ sich zum ersten Male zu einem zusammenhängenden Gespräch mit mir animiert zeigte. Er ahnte nicht, daß er durch dieses sein Interesse für die Pferde verriet oder vielmehr bestätigte, wer er sei. Er sagte:
„Wir haben gehört, daß bei Euch ein großes Rennen stattfindet, Effendi. Wer darf sich daran beteiligen?“
„Jedermann,“ antwortete ich.
„Welches sind die Bedingungen, die Preise?“
„Der Sieger gewinnt den Besiegten.“
Da leuchtete sein Auge auf, und er fragte auffallend rasch:
„Auch Eure Haddedihnpferde?“
„Ja.“
[290] „Darf man sich den Gegner wählen?“
„Nein. Jeder stellt, was ihm beliebt. Doch es darf kein Angebot abgewiesen werden. Die Ehre allein hat zu bestimmen. Es hat Niemand zu befürchten, daß ihm minderwertiges Material gegenübergestellt wird.“
„Darf ein Pferd nur einmal rennen?“
„Nein, sondern so oft es beliebt.“
„Das ist vortrefflich! Wir haben beschlossen, uns zu beteiligen. Ist es erlaubt?“
„Sehr gern!“
„Müssen wir sagen, mit wieviel und mit welchen Pferden?“
„Nein. Ihr bringt, so viele Ihr wollt.“
„Und Ihr dürft keines zurückweisen?“
„Nein.“
„Muß man vorher melden, wer sie reiten wird?“
„Auch nicht.“
„So setze ich den Fall, daß wir eines unserer Pferde von einem Dschamiki reiten lassen wollen. Würdet Ihr ihn daran hindern?“
„Ganz gewiß nicht. Wer so ehrlos ist, dies tun zu wollen, dem haben wir niemals mehr Etwas zu befehlen oder Etwas zu verbieten.“
„Seine Person bleibt also auf alle Fälle unangetastet?“
„So lange er sich nur als Renngegner, nicht auch sonst als Feind beträgt, ja.“
„Das ist es, was ich wissen wollte. Ich bin befriedigt. Wir betrachten uns also als angemeldet und werden sicher kommen.“
Er sah vor sich nieder, warf dann einen sehr freundlichen, beinahe zärtlichen Blick auf mich und fuhr fort:
[291] „Eigentlich habe ich noch eine Frage. Sie betrifft deinen Glauben. Du bist Christ?“
„Ja. Du doch auch!“
Ich gab diese sonderbare Antwort, weil ich eine lange, unfruchtbare, religiöse Auseinandersetzung erwartete und die Sache so kurz wie möglich machen wollte. Die Zeit des Versteckenspielens war nämlich für mich vorüber. Ich wußte nun genug und hatte keinen Grund mehr, mich und meine Weltanschauung für geistig rückständig halten zu lassen. Er warf den Kopf wie erschrocken in die Höhe und rief aus:
„Ich? Ein Christ? Allah verhüte es! Wer hat dir diese größte aller Lügen weisgemacht?“
„Lüge, sagst du? Ist der Kuran ein Lügner?“
„Nein. Jedes seiner Worte, ist heilig und unsere Auslegungen sind ebenso heilig. Willst du etwa behaupten, das, was du sagst, aus diesen Quellen zu haben?“
„Ja.“
„So beweise es! Was aber kann ein Europäer, ein Christ vom Kuran und seine Auslegungen wissen!“
Er faltete mitleidig die Hände, schlug die Augen auf und holte sich einen Blick des himmlischen Erbarmens herab, den er mir ganz unverkürzt herüberschickte. Ich nahm ihn ruhig hin und fragte:
„Was steht dir höher, der Himmel oder die Erde?“
„Natürlich der Himmel,“ antwortete er.
„Das Zeitliche oder das Ewige?“
„Das Ewige.“
„Ein Fürst und Richter über einige Millionen oder ein Fürst und Richter über Alles, was da lebte, lebt und auch noch leben wird?“
„Dieser Letztere.“
[292] „Du verehrst Mohammed. Du glaubst an seine Lehre und richtest hier auf Erden nach den Worten, die er Euch hinterließ. Er ist also der Gesetzgeber aller Mohammedaner. Was aber wird er einst in jenem Himmel sein?“
„Der herrlichste von Allen, die Propheten waren.“
„Hast du von der Moschee der Omajjaden in Damaskus gehört?“
„Ja. Sie ist die prächtigste und hochberühmt, des jüngsten Gerichtes wegen. Denn Isa Ben Marryam1)
[1) Jesus, Mariens Sohn.] wird sich an diesem Tage auf einen ihrer Türme niederlassen, um Alle zu richten, die da sind und waren, die Lebenden und die Toten. Wozu aber diese Fragen, die mir ganz zwecklos und überflüssig erscheinen ?“
„Wie du so fragen kannst, o Katib! Dein Herr, der Scheik ul Islam, welcher neben dir sitzt, wird scharfsinniger sein als du und dir sagen, daß du soeben zugegeben hast, ein Christ zu sein.“
„Ich?“ fuhr er zornig auf. „Klüger als ich? Eff - - -“
Er hielt inne, denn er fühlte, daß er soeben ganz aus seiner untergeordneten Rolle gefallen sei. Sein Blick stieg himmelan, um sich die erforderliche Gemütsruhe herabzuholen, und als dies geschehen war, fuhr er fort:
„Ich verstehe dich nicht. Mach, daß ich dich begreife!“
„Du sagtest, daß Christus der himmlische Herr und Richter sei, der Spender der Seligkeit, dem aber auch die Verdammten zu gehorchen haben. Ich brauche dich gar nicht zu fragen, wer also höher stehe, er oder Mohammed, sondern ich bestätige nur, was du sagtest: [293] Christus richtet einst Alle, auch die Moslemin. Er ist also Euer höchster Herr, und folglich seid Ihr Christen, so wie wir!“
Er war still. Die Andern auch. Tiefste Verlegenheit in allen ihren Gesichtern.
„Wer von Euch wagt es, mir zu widersprechen?“ fragte ich. „Wer von Euch glaubt, in dem Kuran und seinen Auslegungen besser bewandert zu sein als ich, der Christ, der Europäer? Er widerspreche mir, und ich werde ihm mit den Worten des Kurans und seiner Erklärungen antworten!“
Da versuchte der Schreiber eine Ausrede:
„Du bist uns gleich zu hoch gestiegen, Effendi. Man hat von unten zu beginnen. Du aber fängst gleich im Himmel an, beim großen Weltgericht!“
„Wer noch nichts weiß, der mag von unten beginnen. Wir Christen aber sind im Himmel wohlbewandert, denn dort ist unser Vaterhaus, wo Isa Ben Marryam unser wartet. Es gibt keine einzige Religion, über welcher nicht Jener steht, der nach Eurer eigenen Ansicht Tod oder Leben, Verdammnis oder Seligkeit verteilt, und also sind die Menschen alle Christen. Sträubt Euch, so viel Ihr wollt, über diesen Punkt kommt Ihr doch nicht weg! Gebt Eurer Religion den Namen, der Euch beliebt; hoch über allen diesen Namen steht doch der, nach welchem wir uns Christen nennen! Willst du noch mehr Auskunft über meinen Glauben, o Katib ? Ich gebe sie dir sehr gern!“
„Nicht mehr Religion, nichts weiter vom Glauben!“ fiel da der angebliche Scheik ul Islam schnell ein, um seinen „Schreiber“ aus der sichtlich sehr großen Verlegenheit zu reißen. „Wir befinden uns hier bei den Dschamikun, aber noch nicht im Himmel. Wir sind auf [294] der Erde, und da muß ich dich bitten, Effendi, anzuerkennen, was hier im Lande gilt, nämlich die Oberhoheit Mohammeds!“
Er glaubte, einen Trumpf ausgespielt zu haben; ich aber antwortete:
„Ja, wir sitzen hier bei den Dschamikun und haben uns nach dem zu richten, was hier im Lande gilt. Das ist aber nicht die Hoheit Mohammeds!“
„Doch!“ fuhr er auf. „Ihr seid seit heute Taki-Dschamikun und habt also an Mohammed zu glauben! Das ist es ja, was wir erreichen wollten. Wir haben es mit Salz und Brot besiegelt und Ihr könnt nicht mehr zurück. Bei uns gilt das Wort: Ein Schurke, der nicht hält, was er bei Salz und Brot verspricht! Willst du ein Schurke sein?“
Da stand ich langsam auf, steckte die Hände gemächlich in den Gürtel und sprach:
„Was ist uns angetragen worden und was haben wir angenommen und besiegelt? Das ganze Gebiet der Takikurden solle heut in die Hand des Ustad übergehen! Er soll ihr Ustad sein, nichts Anderes! Du sagtest wörtlich: „Die Vereinigung der beiden Stämme soll sich in der Hand und unter der Aufsicht des Ustad vollziehen, und er wird der Gebieter dieses neuen Stammes sein![“] Das ist mit Salz und Brot besiegelt worden. Nun frage ich, wer wird jetzt Schurke sein?“
Keiner antwortete. Da sprach ich weiter:
„Es gibt also für die Taki-Dschamikun keinen andern Gebieter als den Ustad. Und da ich an seiner Stelle vor Euch stehe, so bin ich der Herr, dem man hier zu gehorchen hat, hier und drüben bei den Taki. Wo ist der Andere, der uns befehlen will, was wir zu glauben haben? Er stehe auf wie ich und stelle sich vor mich her! Ich [295] möchte nämlich gern wissen, was für Augen so ein Schurke macht!“
Keiner regte sich. Sie sahen alle vor sich nieder. Aber die Augen des Pedehr funkelten, und der Chodj-y-Dschuna lächelte leise vor sich hin.
„Ihr schweigt,“ fuhr ich fort. „So beantwortet wenigstens meine andern Fragen! In wessen Machtvollkommenheit kamt Ihr hierher, um uns dieses vermeintliche Geschenk zu machen? Sandte Euch der Landesherr, der Schah-in-Schah? Wurdet Ihr vom Stamm der Taki-Kurden geschickt, die sich nach unserm Ustad sehnen? Haben sie eine Dschemma abgehalten und beschlossen, daß er ihr Herr und Gebieter werden solle? Seid Ihr die Gesandtschaft, welche sie schicken, uns dies mitzuteilen? Wo ist die Unterschrift des Schah? Wo sind die Siegel der Aeltesten des Stammes? Habt Ihr es denn wirklich für möglich gehalten, daß es Euch gelingen werde, mit uns ein solches Kara göz ojunu1) [1) Schattenspiel, Posse.] aufzuführen? Muß ich es für Wahrheit halten, daß Ihr so töricht waret, über den Fortbestand der Ruinen uns Befehle erteilen zu können? Ich glaubte, es sei ein schlechter Scherz! Welch ein Wahnsinn, zu denken, daß wir auf leere Worte hin Euch sofort alles, was wir sind und was wir haben, gehorsam vor die Füße werfen, um dann im neuen Stamm so viel wie nichts zu sein! Ihr habt ja nichts, doch sage ich: Gebt mir das ganze Land, gebt mir die ganze Welt, so könnt Ihr die Ruinen, die Euch so sehr am Herzen liegen, doch nicht retten! Kommt ihre Zeit, so brechen sie zusammen, denn diese Zeit wird keinen Scheik ul Islam um Erlaubnis fragen!“
Da sprang der „Schreiber“ schnell wie eine Spann- [296] feder auf. Seine Augen waren jetzt ganz andere. Sie blitzten mir in plötzlich offenem Haß entgegen, und er rief aus, indem auch die Andern sich erhoben:
„Das, das ist also der wahre, der wirkliche Effendi, nicht der kranke, schwache, der sich so wunderbar zu verstellen wußte! Der Effendi, der nichts, gar nichts ist in seinem Lande und doch hier den Herrn und Pascha spielen will! Ich weiß nun genug von dir, du aber nichts von mir. So will ich dir denn sagen - - -“
„Daß du der große Scheik ul Islam bist, der zu uns kommt, nur um uns anzulügen!“ fiel ich ihm in die Rede. „Ich weiß noch mehr von dir, doch mag schon das genügen. Wer sich für Allahs höchsten Auserwählten hält und heimlich sich als Inbegriff des ganzen Kuran betrachtet, der sollte dies doch offen und ehrlich zeigen und nicht in trügerischer Demut zur Niedrigkeit des Katib niedersinken!“
Da verschlang er die Arme auf der Brust, richtete sich hoch auf und fragte:
„Bist du fertig?“
„Mit dir? Ja!“
„Aber nicht ich mit dir! Denke an das Rennen! Das wird nun ein ganz anderes! Nehmt Euch in acht; wir kommen. Ich sage dir nur einen einzigen Namen: Ich bringe Euch das beste Pferd von Luristan und lasse alle Eure Mähren niederreiten! Und noch ein anderes habe ich. Was das für eines ist, das werdet Ihr zu Eurem Leid erfahren!“
Er wendete sich ab und schritt in stolzer Haltung zur Halle hinaus. Die Andern folgten, ohne ein Wort zu sagen. Sie würdigten uns keines Blickes mehr. Bald ritten sie den Berg hinab, und der Pedehr sorgte dafür, daß sie, wenn auch nur von Weitem, bis zur Taki-Grenze [297] begleitet wurden. Wir gingen zu ihm hinaus in den Hof. Er wendete sich zu mir.
„Das war ein Schlag über sämtliche Köpfe, Effendi!“ sagte er. „Wer hätte das gedacht, nachdem du dir vorher Alles so ruhig gefallen ließest! Keiner konnte antworten! Nun reiten sie als offenbare Schurken fort! Das wird man überall erfahren, und Jeder, der auf Ehre hält, wird sich vor ihnen hüten! Aber die Rache nun, die Rache! Fürchtest du sie nicht?“
„Nein,“ antwortete ich. „Sie wird ganz denselben Erfolg haben wie ihre heutige Pfiffigkeit - - - Hiebe über die Köpfe. Nur dürfen wir nicht so tun, wie du wolltest, nicht vorschnell handeln. Wir lauschen, bis wir wissen, was sie wollen. Dann aber warten wir nicht etwa, bis es ihnen beliebt, sondern wir machen es wie jetzt: Wir erheben uns ganz unerwartet von dem Sitze und schlagen derart los, daß sie sofort die Mäuler halten müssen. Der wahrhaft Kluge scheut sich nicht, für übertölpelt angesehen zu werden, weil er schweigt. Er ist nur still, die Feinde zu durchschauen. Doch kommt dann seine Zeit, so schont er selbst den Höchsten nicht, auch keinen Scheik ul Islam, um zu zeigen, wer eigentlich der Schuft, der Tölpel war!“
Eben als ich das sagte, kam Tifl aus dem Garten. Er saß auf der Sahm, die vollständig gesattelt war, und wollte zum Tore hinaus.
„Wohin?“ fragte ich, indem ich mich ihm in den Weg stellte und nach dem Zügel griff.
„Ausreiten,“ antwortete er. „Die Sahm auf das Wettrennen üben.“
„Du reitest sie nicht. Wozu also das Ueben! Steig ab!“
„Unser Ustad sagte es mir!“ entgegnete er, indem er ruhig sitzen blieb.
[298] „Der Ustad bin jetzt ich, und du steigst ab, sofort! Du wirst auf diesem Pferd nie wieder sitzen!“
„Warum?“
Der Mensch sah mich bei dieser Frage so an, als ob er entschlossen sei, mir Widerstand zu leisten. Es fiel mir natürlich nicht ein, mich selbst an ihm zu vergreifen. Ich drehte mich vielmehr zu dem Pedehr, dem Chodj und dem jungen Haddedihn um und forderte den Letztern auf:
„Kara, herab vom Pferd mit diesem Kerl!“
Ein fröhlicher Blitz ging über sein Gesicht. Ein schneller Sprung und Schwung, so saß er hinter Tifl auf der Stute, und im nächsten Augenblicke flog der Lahme herunter auf die Erde.
„Effendi, warum das?“ fragte der Pedehr erstaunt. „Unser ‚Kind‘ hat doch die Erlaubnis, jederzeit zu - -“
„Warte!“ unterbrach ich ihn. Dann wendete ich mich an Tifl, der sich vom Boden aufrichtete und nun ganz verlegen dreinschaute: „Warum hängen an der Sahm die Satteltaschen? Warum trägst du nicht bloß die Mütze, sondern auch das Turbantuch darüber? Warum hast du Schuhe an und auch den Mantel über deiner Jacke? Reitet man so aus, um zu üben?“
Er gab keine Antwort, doch verwandelte sich die Verlegenheit seines Gesichtes in den Ausdruck des Trotzes.
„Wo wolltest du hin?“ fragte ich weiter. „Glaubtest du wirklich, nicht durchschaut zu sein und mir die Sahm entführen zu können, du undankbarer Bube? Vergiltst du so die Wohltat mit Heimtücke und Verrat? Du willst den Persern nach, mit ihnen zu den Taki-Kurden hinüber! Du sollst beim Rennen gegen uns und für den Scheik ul Islam reiten! Ich hindere dich nicht; ihr paßt ja gut zusammen. Ich spreche dich von unserm Stamme los und überlasse dich den Feinden drüben. Du magst [299] getrost zum Rennen kommen; es wird dir nichts geschehen. Doch nach demselben trolle dich sofort! Verräter dulden wir in unserm Bereiche nicht!“
Er machte nicht den geringsten Versuch, mich zu widerlegen. Da rief der Pedehr aus:
„Ist das die Möglichkeit? Für solche Wohltat so verfluchter Lohn! Effendi, dieser Mensch sollte gepeitscht werden!“
„Nein! Ich will ihm sogar seinen Fortgang noch erleichtern. Er bekomme eines der zurückbehaltenen Soldatenpferde, doch mögen zwei Dschamikun ihn begleiten, bis er die Perser erreicht. Besorge das sogleich! Jetzt fort mit ihm!“
„Ich selbst werde ihn hinunterbringen. Komm!“
Er faßte ihn beim Mantel und schob ihn vor sich her zum Tore hinaus. Der Chodj-y-Dschuna verabschiedete sich von mir und ging ihnen nach. Zu Kara aber sagte ich:
„Du siehst, was du mir über diesen Tifl sagtest, hat schnelle Frucht gebracht. Heut abend habe ich Etwas vor, was Niemand wissen darf. Halte dich bereit, mit mir nach dem See hinunterzugehen, wenn Alle schlafen!“
Da schaute er in herzlicher Freude zu mir her und sagte:
„Ein Abenteuer, ein verschwiegenes! Mit dir, Effendi! Ich weiß, was dieses Vertrauen bedeutet, und danke dir dafür!“
Er zog meine Hand an sein Herz. Dann ging ich in die Wohnung des Ustad, um die Karte des Schah an ihre Stelle zurückzulegen. Ich hatte sie nicht gebraucht.
Der übrige Teil des Tages war nur dem Schlafe und der Sammlung weiterer, neuer Kräfte gewidmet. Am Abende aßen wir in der Halle. Ich hatte erfahren, daß [300] nach dem Wettrennen eine Beleuchtung sämtlicher Höhen stattfinden solle. Es waren auch schon viele Fackeln angefertigt worden, darunter sehr lange und starke von Palmenfaser, welche mehrere Stunden lang brennen und nur schwer zu verlöschen sind. Ich ließ mir von Schakara heimlich ein halbes Dutzend von diesen geben und nahm sie nach dem Essen mit hinauf zu mir. Schakara wurde überhaupt mit in das Geheimnis gezogen, denn ich brauchte Jemand, der für mich und Kara das Tor offen zu halten hatte. Was ich tun wollte, war nicht ungefährlich. Darum teilte ich es ihr mit, daß ich die Absicht habe, vom See aus in den versteckten Kanal einzudringen, und forderte sie auf, nur höchstens drei Stunden auf uns zu warten und, falls wir da noch nicht zurückgekehrt seien, uns schleunigst Hilfe zu senden.
Als man zur Ruhe gegangen war, nach zehn Uhr, begab ich mich in den Hof. Kara stand bereit; Schakara war bei ihm. Ich wiederholte ihr, wie ich mir ihre etwaige Hilfe dachte. Er nahm die mitgebrachten Fackeln; dann gingen wir. Im Duar gab es kein Licht. Man schlief auch hier bereits. Am Landeplatze fanden wir das Boot. Es war nur angebunden. Die beiden Ruder hingen in den Dollen. Wir stiegen ein und paddelten uns leise nach der Stelle, welche ich untersucht hatte. Es war nicht schwer, die Maueröffnung hinter dem Gestrüpp aufzufinden. Wir stellten das Boot rechtwinkelig dagegen an und gaben hinten einige kräftige Ruderschläge. Es drang mit seiner ganzen vorderen Hälfte ein. Wir nahmen die Ruder in das Boot, bückten uns nieder und krochen unter dem nun auseinandergeteilten Rankengewirr bis an die Spitze des Kahns vor. Nun war der Sternenhimmel über uns verschwunden. Wir befanden uns in dichtester Finsternis. Die Ruder an uns nehmend, tasteten [301] wir mit ihnen rechts und links aus dem Kahn heraus. Wir fühlten harte Wände und stießen uns an diesen so weit hinein, daß auch das Hinterteil des Fahrzeuges durch das Gestrüpp kam. Hierauf zog ich das Schibhata1) [1) Zündhölzer.] aus der Tasche, um eine der Fackeln anzubrennen. Bei ihrem Scheine sah ich ein ganz vorn im Schnabel des Bootes befindliches Loch, in welches ich sie steckte. Später hörte ich, daß dieses Loch genau zu diesem Zwecke angebracht worden sei, weil die [D]Schamiki des Abends gern rund um den See zum Nur-y-Saratin2) [2) Krebsleuchten.] ruderten.
Der Kanal war hier, am Anfange, sehr schmal. Aber als wir uns eine Strecke weit fortgegriffen hatten, traten die Wände doppelt weit zurück, und auch die Höhe nahm in demselben Verhältnisse zu. Die Luft war kalt und feucht, doch gut und leicht zu atmen. Die Wände und die Decke bestanden aus den schon oft erwähnten Riesenquadern. Nun schoben wir uns statt mit den Händen mit den Rudern fort. Der Kanal ging stetig geradeaus. Das Wasser war tief und schwarz, dabei aber durchsichtig wie Kristall. Das Bild unserer ruhig brennenden Flamme schaute wie aus unergründlicher Tiefe zu uns herauf.
Ich war so vorsichtig gewesen, die Länge des Kanals abzuschätzen, natürlich nur so ungefähr, bloß mit dem Auge. Die Zahl der Quader gab mir den Anhalt hierzu. Vierzig, sechzig, achtzig Meter! Ein solcher Aufwand von Material und Arbeitskraft konnte nicht bloß den Zweck einer einfachen Zu- oder Ableitung des See- oder Bergwassers haben. Es mußte noch ganz andere Gründe gegeben haben, diesen Zu- oder Abfluß nicht oben vor aller Augen, sondern hier unten in der Verborgenheit [302] geschehen zu lassen. Wenn ich mich in die ferne Zeit zurückdachte, in welcher diese Bauten entstanden waren, so drängte mir die von unserer Fackel kaum einige Bootslängen weit durchbrochene Finsternis die Frage auf, ob dieses Wasser wohl als lebenspendendes Element oder aber als verschwiegener, düsterer Helfer des Todes betrachtet worden sei.
Bereits über achtzig Meter waren wir vorgedrungen. Der Duar lag droben hinter uns. Wir mußten uns ungefähr an der Stelle befinden, wo draußen, auf fester Felsenunterlage, die Cyklopenmauer begann. Da hörten hier unten die behauenen Quader auf; der Kanal wurde noch breiter und höher, so daß wir die Ruder bequem ausstrecken und rühren konnten, und die Wände bestanden aus dem mühsam durchbrochenen Gestein des Berges. Die Decke war gewölbt.
Hierauf kamen wir an einen Seitenkanal, welcher rechtsab führte, und lenkten in ihn ein. Er war genau so breit und so hoch wie der Hauptkanal, aber nicht lang. Auch hatte man sich bei der Herstellung weniger Mühe gegeben. Die rechte Seite war Naturgestein, die linke aber Mauer, aus Riesenblöcken aufgeführt, doch nichts weniger als glatt behauen. Es gab hüben wie drüben hervorragende Ecken, Kanten und Spitzen, welche nicht beseitigt worden waren. Da, wo dieser Seitenkanal aufhörte, wich die Decke plötzlich zurück. Wir sahen in eine dunkle Oeffnung hinauf, deren Höhe nicht abzumessen war, weil unser Licht sich hierzu als unzulänglich erwies.
„Was mag da oben sein, Effendi?“ fragte Kara. „Ich sinne darüber nach, wo wir uns jetzt wohl befinden. Unter den Ruinen jedenfalls, aber an welcher Stelle?“
„Ich habe soeben auch im Stillen gerechnet,“ antwortete ich. „Wenn ich morgen am Tage in den Ruinen [303] nachrechne, werde ich es wissen. Auf dem Rückwege nachher werde ich die Steine, die alle von gleicher Länge und Höhe sind, genauer zählen. Jetzt schätze ich nur so ungefähr, daß grad über uns der unterste Urbau liegt, in dessen Vordermauer die kleinen Oeffnungen sind, welche wahrscheinlich Fenster bilden sollen. Ich schließe das auch aus dem Umstande, daß dieser Bau auf derselben Gesteinsart liegt, aus welcher hier die rechte Seite des Kanales besteht. Die Steine der linken Seite habe ich gezählt. Ich werde es mir notieren.“
Ich nahm mein Buch aus der Tasche, um mir diese Anmerkung zu machen. Da sagte Kara, indem er nach oben wies:
„Dort hängt Etwas an einer Spitze im Gestein. Es sieht genauso aus, als ob Jemand von da oben, wo hinauf wir nicht sehen können, heruntergestürzt sei, wobei ein Fetzen seines Gewandes dort losgerissen und festgehalten worden ist.“
Ich schaute hinauf. Es war so. Der hängen gebliebene Fetzen war ganz mit Kalksinter überzogen und also nicht vermodert.
„Mich schauert, Effendi!“, fuhr Kara fort. „Wenn dieses finstre Loch da oben in der Decke erzählen könnte, wie Viele hier in diesem dunkeln, eiseskalten Wasser sterben mußten - - - Laß uns umkehren! Mich friert!“
Wir griffen zu den Rudern und brachten uns in den Hauptkanal zurück, welcher nur noch eine kurze Strecke weiterführte und dann auf ein großes, unterirdisches Wasserbecken mündete, an dessen südlichem Ende wir uns befanden. Die Decke war so hoch, daß wir sie bei unserm schwachen Licht nicht sehen konnten. Zu unserer linken Hand verlor sich die natürliche Felsenwand dieses Bassins [304] in tiefe Dunkelheit. Rechts lag die unbewegte und scheinbar ununterbrochene Flut in drohender Finsternis. Die Luft war feuchter als vorher, beinahe nässend und von einer moderigen Schärfe, als ob sich hier Fäulnisprozesse abgespielt hätten, die nun zwar vorüber waren, doch ohne daß der stechende Duft der Verwesung sich vollständig niedergeschlagen hatte. Das war nicht gut zu atmen, doch auszuhalten immerhin. Dabei brannte die Fackel ziemlich hell. Es mußte irgendwo eine Stelle geben, durch welche dieser unheimliche Raum mit der äußeren Atmosphäre in Verbindung stand.
„Das stinkt wie alte, nasse Gräber!“ sagte Kara, indem er sich schüttelte. „Mich friert jetzt noch mehr als dort. Ich habe das Gefühl, als müßten in dem Wasser unter uns nur lauter Leichen liegen! Was tun wir jetzt, Effendi?“
„Wir untersuchen dieses Wasserbecken.“
„Meinst du, daß wir uns zurückfinden werden?“
„Ja.“
„Du hattest aber doch Sorge! Das zeigt die Weisung, die du Schakara erteiltest.“
„Ich dachte dabei an ein Unglück durch schlechte, erstickende Luft. Wir können aber doch atmen, und diese natürliche Höhlung ist doch wohl nicht so groß, daß man sich trotz aller Aufmerksamkeit in ihr verirren müßte. Wenn wir bedächtig vorgehen, kann uns nichts geschehen. Bleiben wir zunächst am Rande des Wassers! Hier links ist es alle. Wenn wir nach rechts hinüber diesem Rande folgen, bis wir zur jetzigen Stelle zurückkehren, haben wir seine Ausdehnung kennen gelernt und wissen, was es uns hierauf noch bietet. Komm!“
Wir lenkten vom Kanale rechts ab und fuhren längs der überstark erscheinenden Mauer hin, an deren andern [305] Seite wir uns im Nebenkanale befunden hatten. Ich zählte ihre Quadern. Sie war hier etwas länger als drüben und schloß einen zweiten Seitenkanal mit ein, welcher zu unserer andern Hand nicht durch eine feste, kompakte Wand, sondern durch natürliche Pfeiler eingefaßt wurde, deren Höhe eine so beträchtliche war, daß wir die Decke selbst dann, als ich noch eine Fackel anbrannte, nur undeutlich sehen konnten. Diese Decke reichte auch hier nicht bis ganz an das Ende des Kanales. Es gab auch hier eine dunkel gähnende Öffnung oben, die irgend einen Zweck gehabt haben mußte. Indem ich prüfend emporschaute, äußerte sich Kara:
„Wahrscheinlich stürzte man auch hier diejenigen Personen hinunter in den Tod, die man verschwinden lassen wollte! Es gibt zwar kein bestimmtes Zeichen hierfür, aber - - - Allah 'l Allah! Sieh dorthin! Was liegt da auf dem Stein?“
Er deutete nach dem letzten der erwähnten Pfeiler. Dieser ragte in einem Durchmesser von wenigstens sechs Meter aus dem Wasser, verjüngte sich aber sofort in einer Weise, daß dieser Durchmesser kaum noch zwei Meter betrug. Hierdurch entstand eine ebene Platte von vier Meter Breite, und auf dieser lag das, was Kara veranlaßt hatte, seinem Satz ein so erschrockenes Ende zu geben. Wir paddelten das Boot hin und sahen, daß der betreffende Gegenstand ein menschliches Gerippe war, ganz zusammengekrümmt, die Kniee bis an den Leib herangezogen, die eine Hand geöffnet, um nach Hilfe auszufassen, die andere aber geballt, wie in fluchender Drohung ausgestreckt.
„Das ist einer der Unglücklichen, von denen ich sprach!“ rief Kara aus. „Er hat schwimmen können und sich über Wasser gehalten, bis er in der Finsternis zu- [306] fälligerweise an den Pfeiler stieß. Er fühlte die ebene Stelle und kroch hinauf. Da ist er dann elend verschmachtet, verhungert, zu Grunde gegangen. Wie mag er gebetet, geflucht, geschrieen, gewimmert haben in dieser schrecklichen, nassen, erbarmungslosen Unterwelt! Geächzt, gestöhnt, gebrüllt, gezetert in fürchterlichster Qual und Todesangst, bis ihm die Heiserkeit die Stimme raubte, so daß er nur noch innerlich zu fluchen vermochte und mit dem letzten Fluch zu Allah ging, der ihn erhören mußte!“
Ich sagte nichts. Die Untersuchung des Skelettes war mir wichtiger als alle Reflexionen. Es war feucht, aber hart wie Stein, von Kalk ganz durch- und überzogen. Ein ausgewachsener Mann in den kräftigsten Jahren. Eine hohe, breite Stirn. Im Leben wohl ein schöner, kluger Denkerkopf. Der erste Gedanke seines Lebens ein Segen für die Mutter, der letzte eine Verwünschung seiner Geburt! Wie lange lag das versteinerte Gerippe hier an dieser Stelle. Jahrhunderte? Jahrtausende? Welchem Volke, welchem Stande, welcher Religion gehörten die Gräßlichen an, die ihn in einen derartigen Tod geschleudert hatten? Ich vermutete grad über uns den zweiten Werkstückbau mit den beiden Hochreliefs. Also Heiden!
„Fort von hier!“ sagte ich. „Ich habe mich absichtlich warm angezogen, weil ich mir sagte, daß es hier unten naßkalt sein werde. Aber ich glaube, hier friert auch mich!“
Das Bassin bog sich von hier nach links, um erst einen dritten und dann noch einen vierten Seitenkanal zu bilden. Und sonderbar: Erstens lagen diese Kanäle meiner Vermutung nach genau unter der dritten und vierten Etage der Ruinen. Und zweitens endete jeder [307] mit einer ähnlichen Deckenöffnung, wie wir bei den beiden ersten beobachtet hatten. Wozu diese schauerliche Verbindung der sonnigen Oberwelt mit dem lichtlosen, unterirdischen Becken? Wasser war da oben doch stets und für alle Bedürfnisse mehr als genug vorhanden gewesen! Waren die Gründe vielleicht ebenso finster und unerbittlich wie die eiseskalte Flut, die unser Boot jetzt trug?
Indem wir wenden wollten und darum die Ruder tief in das Wasser tauchten, brachten wir dieses in lebhaftere Bewegung als bisher. Dieser Wellenschlag vervielfältigte in der Tiefe die Bilder unserer Fackelflammen. Die Brechung des Lichtes bewirkte ein scheinbares Emporsteigen alles Dessen, was sich da unten befand, und so erhob sich vor unsern Augen eine Menge menschlicher Gestalten, welche sich zu bewegen und drohend auf uns zuzuschwimmen schienen. Kara stieß einen gellenden Ruf des Schreckens aus, und auch auf mich wirkte dieser Anblick so, daß mir fast das Ruder entfallen wäre.
„Leichen, nichts als Leichen, über denen wir uns befinden!“ preßte der junge Haddedihn hervor. „Effendi, leben wir noch, oder sind wir gestorben und müssen selbst auch da hinunter?“
„Fasse dich, Kara!“ ermutigte ich ihn. „Wir leben, und auch unter uns ist nicht der Tod, sondern etwas ganz Anderes. Was das Verbrechen früherer Zeiten zu verbergen und zu vernichten suchte, das wurde durch das schwer kalkhaltige Wasser in Stein verwandelt, damit man später wisse, was der, welcher wirklich Mensch ist, von dem zu erwarten habe, der sich mit seinem Menschentum nur brüstet. Was du jetzt sahst, war Kalk, war Gips, war aufgelöster, weißer Ruchamstein. Denk dir, es seien bloß nur Marmorbilder, die man hier tief ver- [308] steckte, damit sie nicht in falsche Hände kommen möchten! Rudern wir ruhig weiter!“
„Ja. Aber brenn noch eine Fackel an, damit es lichter um uns werde! Mir ist, als schaute rings der Tod aus tausend leeren Augenhöhlen zu uns her, und das ist eine Vorstellung, die mich peinigt!“
Ich tat es. Dann setzten wir die Untersuchung fort.
Diese ergab, daß wir es nicht mit einem, sondern mit zwei Wasserbecken zu tun hatten, einem vorderen, in dem wir uns befanden, und einem hinteren, welches wir einstweilen noch unbeachtet ließen, um das erstere vollständig kennen zu lernen. Wir vermuteten über uns eine hohe Wölbung. Sehen konnten wir sie nicht. Sie wurde von natürlichen, regellos stehenden Pfeilern getragen, Ueberreste der Steinwände, deren weiche, erdige Zwischenfüllung das Wasser weg- und in den See gespült hatte. Auch diese Wände waren nach und nach aufgelöst und zerfressen worden, und was von ihnen noch übrig war und von mir als „Säulen“ bezeichnet wurde, sah so zerrissen, zerklüftet und durchlöchert aus, als ob es jeden Augenblick zusammenbrechen müsse. Diese Deckenträger hatten alle, ohne Ausnahme, das Aussehen, als ob sie aus weißem Pfefferkuchen beständen, der im Wasser gelegen habe und nur notdürftig getrocknet worden sei, um wenigstens einen Anschein von Festigkeit zu bekommen. Es gab in diesen ausgelaugten Gebilden Stellen, bei deren Anblick es mir war, als ob ich sie laut krachen und prasseln höre und als ob sie sich schon bewegten, um zusammenzubrechen. Wenn ich an die ungeheuren Mauerlasten dachte, welche auf diesem höchst unzuverlässigen Gewölbe ruhten, unter dem ich mich befand, so wollte mich eine Gänsehaut überlaufen, und es prickelte [309] mir ängstlich in allen Fingerspitzen. Kara schien ganz dieselbe Empfindung zu haben, denn er sagte:
„Wer hier auf den Gedanken käme, eine Pistole abzufeuern, der wäre unrettbar verloren, denn der ganze Berg würde von dieser kleinen Erschütterung über ihm zusammenbrechen und ihn unter sich begraben! Wollen uns beeilen, fortzukommen, Effendi! Mir will fast bange werden!“
„Nur noch das hintere Becken!“ sagte ich. „Vermutlich ist es nicht so groß wie dieses, und wir werden also schneller mit ihm fertig.“
„Aber, um Allahs willen, nur leise, leise; das bitte ich dich! Ich sehe Alles um und über uns wackeln!“
Daß dieses Gefühl nicht falsch war, das sollte sich uns später mehr als deutlich zeigen! Jetzt aber ruderten wir uns nach dem Hintergrunde, wo wir sonderbarer Weise wieder auf Menschenarbeit trafen. Es gab eine breite Mauer von gewaltigen, unbehauenen Blöcken, welche auf kompaktem Fels errichtet worden war. Es schien, als ob man durch diese Mauer das hintere Bassin habe vollständig verschließen und verbergen wollen. Warum wohl das? Doch bestand dieser Fels aus Kalk. Das Wasser hatte auch hier so auflösend und zerstörend gewirkt, daß nur noch die allerhärtesten Teile von ihm vorhanden waren. Und auf diesen wenigen, leichten Ueberresten lag die ganze Wucht der Riesenmauer! Wie war es doch nur möglich, daß nicht schon längst hier Alles, Alles zusammengebrochen war! Ein Halt war hier nicht mehr zu suchen und zu finden. Er mußte anderswo liegen, seitwärts oder oben, in irgend einem an sich geringfügigen Gegendrucke. Hörte dieser auf, so stand die Katastrophe zu erwarten! Ein Gewitter, ein kleiner Erdrutsch oder etwas dem Aehnliches konnte die letzte, wenn [310] auch unbedeutende Veranlassung zu dem gewaltigen Zusammenbruche sein, welcher längst schon vorbereitet war. Einen längst entwurzelten Baum wirft, sei er noch so groß und stark, schließlich doch ein kleiner Druck schon um.
Wir schlüpften an einer der Stellen, wo die Mauer frei in der Luft schwebte, unter ihr weg und befanden uns dann im hintern Becken. Es war, wie ich vermutet hatte, nicht so groß wie das vordere. Säulen schien es nicht zu geben. Wir umruderten es in kurzer Zeit. Es bildete einen Halbkreis, dessen schnurgerade gebauter Durchmesser die Mauer war. Der Bogen bestand aus lückenlosem Fels, der sich hoch oben nischenförmig zusammenzuneigen schien. Als ich dies bemerkte, fiel mir die Sage von „Chodeh, dem Eingemauerten“ ein, welche Schakara mir erzählt hatte. Fast unbegreiflicher Weise war dieser Fels fast glänzend schwarz, so ungefähr wie recht dunkler, polierter Serpentin. Wie das wohl kam?
Nachdem wir nun den Umfang dieses Innenbeckens kennengelernt hatten, beschlossen wir, es auch einmal zu durchqueren. Da stießen wir schon nach wenigen Ruderschlägen auf einen aus dem Wasser ragenden Riesenblock von genau rechteckiger Gestalt. Er war feucht, schlüpfrig, unten weiß überkalkt, je höher hinauf aber um so trockener und dunkler. Seine Kanten waren so geradlinig und scharf, daß ich diese Regelmäßigkeit für Menschenarbeit halten mußte. Seine oberen Linien lagen im Bereiche unserer Flammen. Auch sie waren genau wie nach Schnur oder Wasserwage gebildet. Das Ganze hatte so sehr das Aussehen eines allerdings gewaltigen Sockels oder Postamentes, daß ich eine der Fackeln nahm, mich aufrichtete und in die Höhe leuchtete, um zu sehen, ob sich Etwas darauf befinde, was seinen ganz ungewöhnlichen Dimensionen entsprechend war. Und richtig! Fast glich meine [311] Ueberraschung einem frohen Schrecke! Das Licht fiel auf etwas wunderbar rein weiß Glitzerndes, etwas so schneeig Zartes und Unbeflecktes, daß ich zunächst meinen Augen gar nicht trauen wollte. Dieses lautere, keusche, unschuldige Weiß, auf welchem Millionen Flammenkörnchen brillierten, kam mir nach Allem, was wir hier unten bisher gesehen hatten, so heilig, so unbegreiflich vor, als ob mein Blick auf etwas Ueberirdisches, vollendet Seelisches gefallen sei!
„Siehst du Etwas, Effendi?“ fragte Kara unter mir.
„Ja,“ antwortete ich, noch immer staunend.
„Was?“
„Etwas wie aus dem Paradiese! Wir haben die Dschehenna1) [1) Hölle.] hinter uns, den Ort des steingewordenen Erdenfluches. Hier aber ist es mir, als sei der Fluch in Segen umgewandelt, und was dort Kalk im Todeswasser war, das kniet hier erlöst im alabasternen Gebete!“
„Ich höre dich, aber ich verstehe dich nicht!“
„Das glaube ich! Auch ich kann nicht verstehen, wie das, was ich jetzt sehe, hierher gekommen ist. Es kniet hier Jemand, den ich bloß nur ahne. Ein betender Gigant! Mir leuchtet nur das Glied, das er vor Gott, dem Allerhöchsten beugt; das Andre steigt empor in Nacht und Grauen. Hebt er die Hände fordernd auf zum Himmel? Hält er sie still gefaltet in Ergebung? Hebt er kühn seine Stirn? Ist sie gesenkt zur Erde? Wirft er den Blick vertrauensvoll ins Weite? Bedeckt er zaghaft ihn mit demutsvollen Lidern? Was frage ich? Es ist genug, daß ich hier beten sehe!“
Ich ließ die Fackel sinken, steckte sie an ihren Ort und setzte mich wieder nieder. Es war mir, als müsse [312] ich hier bleiben, bis irgend ein Ereignis nahe, diese „Anbetung in der Verborgenheit“ nach Matthäus 6 Vers 6 zu beantworten. Aber ich nahm mir vor, recht bald zurückzukehren und diesen Ort so genügend zu beleuchten, daß ich die ganze Figur, die hoffentlich kein Torso war, vollständig und deutlich vor mir stehen hatte. Für heute war unser Werk vollbracht.
Wir verließen das zweite Bassin, nachdem ich mir einige Notizen über dasselbe gemacht hatte. Das vordere nahm ich noch sorgfältiger auf. Und als wir wieder in den Hauptkanal einfuhren, maß ich mit Hilfe einer Leine, die wir im Boote fanden, einen der Steine bis auf den Zentimeter genau, und da diese Quader alle die ganz gleiche Länge und Höhe hatten, so war es später leicht, eine Zeichnung anzufertigen, die es mir ermöglichte, die unterirdischen Linien zu Tage festzulegen. Wir passierten das verschließende Gestrüpp ganz in derselben Weise wie bei unserm Kommen, und als wir dann den Sternenhimmel wieder über uns hatten und die Zeit bestimmen konnten, sahen wir, daß während unsers Aufenthaltes in der Unterwelt doch mehr als zwei Stunden vergangen waren. Die Fackeln hatten wir natürlich verlöscht, bevor wir wieder in das Freie gelangten. Am Landeplatze angekommen, banden wir das Boot fest. Kara nahm die Fackeln, ich die Maßleine, und dann traten wir den Heimweg an.
„Effendi, glaubst du, daß ich froh bin, wieder festen Boden unter den Füßen und den Himmel über mir zu haben?“ fragte er. „Dieses fürchterliche, tief verschwiegene Wasser! Diese lügnerischen Säulen! Und dieser unermeßliche Druck von oben, den sie zu halten vorgaben und doch unmöglich halten können! Ich habe fast gezittert, und es ist mir, als ob ich einem bei- [313] nahe unvermeidlichen und gräßlich heimtückischen Tode entronnen sei!“
Er hatte ganz meine eigenen Gefühle ausgesprochen. Bei mir kam ja noch dazu, daß ich schwer krank gewesen war und für solche Eindrücke also empfänglicher sein mußte als er. Es war eigentlich höchst unvorsichtig von mir gewesen, diese Untersuchung des Erdinnern schon jetzt vorzunehmen; aber die Zeit und die Ereignisse drängten, und glücklicher Weise hatte ich mich weder erkältet, noch fühlte ich mich sonstwie körperlich geschädigt. Es hatte ganz im Gegenteile den Anschein, als ob durch dieses Unternehmen die Energie sowohl des Leibes wie auch der Seele gehoben worden sei. Ich fühlte mich eher gekräftigt als ermüdet oder gar abgespannt.
Schakara freute sich, als wir kamen. Sie sagte, daß sie bereits begonnen habe, um uns besorgt zu werden. Als Kara mich fragte, ob er ihr Alles erzählen dürfe, sagte ich, daß dies ganz selbstverständlich sei, forderte ihn aber auf, gegen Jedermann sonst zu schweigen. Dann ging ich hinauf zu mir, brannte die Lampe an und setzte mich an den Tisch, um die Zeichnung der beiden Bassins jetzt sofort anzufertigen. Die Eindrücke waren jetzt so frisch, daß ich fast jede Einzelheit in größter Deutlichkeit vor mir sah, und als ich fertig war, konnte ich überzeugt sein, mich um keinen einzigen Meter geirrt zu haben. Es galt nur noch morgen am Tage diese Grundebene mit der Neigung des äußern Terrains in Einklang zu bringen.
Ganz von selber versteht es sich, daß die unverlöschlich tiefen Bilder, welche ich mit nach Hause gebracht hatte, mich noch auf das Lebhafteste beschäftigten, als ich mich hierauf zur Ruhe legte. Der Schlaf wollte nicht kommen, und als er sich endlich doch einstellte, nahm er [314] sie mit in jenes seelische Gebiet hinein, welches für uns noch im Geheimen liegt und mit dem Verlegenheitsnamen Traumwelt bezeichnet wird.
Ich träumte, und zwar mit einer Lebhaftigkeit und Deutlichkeit, als ob ich nicht schlafe, sondern wache. Und ich träumte sonderbarer Weise, daß ich nicht ich, sondern der Ustad sei. Ich war völlig identisch mit ihm und kannte jede verflossene Minute seines Lebens und jedes Wort, welches er geschrieben hatte. Und das verwischte sich nicht; das blieb auch nach dem Traume. Sein Inhalt war folgender:
Ich kam als Ustad in das Land der Dschamikun und sah die Bauten hier am Berge liegen. Ich nahm ihr Aeußeres in Augenschein, und was ich dabei sah, das ließ den Wunsch in mir erwachen, auch mit dem Innern genau bekannt zu werden. Ich fragte Jemand, wo der Eingang sei. Da sah er mich mit kalten Augen an und sprach:
„Ich bin kein Dschamiki. Ich bin der Geist, der jeden Nahenden vor der Versuchung warnt, den kühnen Schritt in diesen Bau zu lenken. Wer ihn betritt, der hat für alle Ewigkeit auf sich, auf Leib und Geist und Seele zu verzichten. Wer das nicht tut, verläßt ihn niemals wieder, nicht lebend und nicht tot. Die Schatten dulden nicht, daß sie verraten werden.“
„Die Schatten?“ lachte ich. „Wo ist der wesenlose, impotente Sill, der eine wirkliche Persönlichkeit wohl fürchten machen könnte!“
„Frag anders! Frage so: Wo ist die mächtige Persönlichkeit, die Jeden, der ihr dunkles Reich betritt, zum Schatten macht, verzaubert oder tötet? Sie wohnt und herrscht in diesem Riesenbau. Willst du hinein, so halte ich dich nicht; ich habe nur zu warnen, nicht zu [315] zwingen. Unzählige schon hörten nicht auf mich. Die Starken sah ich niemals wiederkehren; die Andern aber waren ihm, dem Zauberer, in andrer Art verfallen. Sie kamen zwar zurück, doch nur als seine Schatten, die geist- und körperlos an mir vorüberschlichen, um vampyrgleich der Menschen Blut zu saugen.“
„Und fand sich Keiner, der ihm widerstand?“
„Nicht Einer!“
„Das schreckt mich nicht. Was Zauber heißt, ist Lüge. Nur wer die Lüge glaubt, ist ihr verfallen. Ich tue so, wie Alle, die nicht hörten: Ich will hinein, ja nun erst recht hinein! Gib mir den Mächtigen zu sehen, von dem du sagst, daß Jedermann dem Tode oder ihm verfallen sei! Ich glaube nicht an seine Macht und auch nicht an den Tod!“
„Du glaubst nicht an den Tod?“ fragte er, indem er mich ganz eigen ansah. „Kannst du beten?“
„Ja.“
„Richtig?“
„Ich hoffe es.“
„So geh hinein! Wenn du nicht anders willst! Du bist der Erste, der Einzige, bei dem ich es wage, einen Wink zu geben. Er heißt: Such dir den Rückweg selbst; laß ihn dir ja nicht zeigen!“
Nach diesen Worten winkte er unter sich. Da öffnete sich die Erde, und ich sah die Stufen einer Treppe.
„Ich danke dir! Mich siehst du nicht als Schatten wieder!“ sagte ich und stieg hinab.
Da kam ich denn zunächst in jenen Urzeitbau, der auf dem festen Felsengrunde steht. Der Tag gab durch die Maueröffnungen ein falbes Dämmerlicht. Ich wanderte im Innern auf und ab, sah aber nichts; der Raum war völlig leer. Es schien, man habe ihn vollständig [316] ausgeraubt, wie man zum Beispiel hier und da mit gottesdienstlichen und philosophischen Systemen tat. Da werden die Gedanken fortgeschleppt wie Möbelgegenstände, die man, gehörig ausgeklopft und wieder neu poliert, in eine neue Wohnung stellt und auch als neu bezeichnet! Das Ende dieses Baues gegen Süden war zugeschüttet worden. Ich wußte wohl, warum: Das war der Ort des Sturzes in das Wasser.
Auf Binnenstufen ging's hinauf zum zweiten Bau, der mich an Altiranisches, an Zarathustra mahnte. Auch er war leer, vollständig leer. Kein Mensch, kein andres Wesen ließ sich sehen. Auch ausgeraubt und Alles fortgeschafft! Man sollte doch Vergangnes heilig halten! Nicht es dem eignen Zwecke dienstbar machen und dann die Zeit verdammen, die es schuf! Der Schluß nach Süden war vermauert worden.
Nun ging es wieder stufenauf ins doppelte Geschoß mit den zersprungenen Tafeln. Da lag wohl hier und da ein alter Gegenstand, den man des Raubes nicht für wert gehalten hatte, auch gab es Spuren, die mich schließen ließen, daß Menschen hier zuweilen noch verkehrten, doch jetzt war ich allein. Wirklich? Ganz allein? Wurde ich nicht beobachtet? Der letzte Raum nach Süden war verschüttet, doch nicht bis an die Decke. Man konnte sich da oben wohl verstecken, und in dem losen Schutt sah ich die Spuren, daß man noch kürzlich hier hinaufgestiegen war. Das war zwar ungefährlich für Vertraute, doch nicht für Fremde, die vielleicht hier einen Ausgang suchten; denn jenseits ging der Sturz jäh ins Bassin hinab. Und als ich so von Weitem stand und nach der Decke schaute, schob sich ein Kopf da oben leise vor, um mich in scharfen Augenschein zu nehmen. Das Haar war weiß wie Schnee, der Blick spitz wie die [317] Klinge eines Dolches. Ein Mensch, der solche Augen hat, weiß, was er will, und kennt die Schonung nicht. Er hat sogar den Mut, sich dicht am Abgrund lauschend zu verbergen, wenn es nur Hoffnung gibt, daß dann ein Andrer stürzt. Ich tat natürlich so, als ob er von mir ungesehen sei, und ging zur nächsten Treppe, um nach dem obersten Geschoß, dem vielgestaltigen, emporzusteigen.
Sie führte nicht direkt zu ihm empor. Sie mündete auf eine offene Tür, an welcher eine dunkle Schattenhaftigkeit sich tief vor mir verbeugte und mit gedämpfter, hohler Stimme sprach:
„Wir kennen deinen Wunsch und haben dich erwartet. Du glaubtest gleich hinauf zum Oberbau zu kommen, mußt aber erst durch die Gewölbe hier, als deren Resultat er stein- und ziegelweis entstand. Hier sind die Schätze alle aufgespeichert, die sich der Mensch seit Anbeginn erdacht. Wir trugen sie zusammen, woher, wozu, warum, das wirst du dann erst hören, wenn dich die Gnade unsers Herrn erleuchtet. Er ist bereit, mit dir zu sprechen. Er ist sogar gewillt, dich seinem Dienst zu weihen. Damit du siehst, wie reich er lohnen kann, wie übervoll er spendet, soll ich dich vorher erst durch diese Räume führen. Doch hast du mir dein Wort zu geben, nie zu verraten, was ich dir hier zeige. Von Andern fordere ich den heiligsten der Schwüre, doch von dir weiß ich, daß dein Wort genügt. Willst du es geben?“
„Ja,“ antwortete ich, obgleich ein Etwas in mir sagte: „Gib es ihm nicht, und berühre ihn nicht, sonst bist du ihm verfallen!“
„So reiche mir die Rechte!“
Ich tat es. Seine Hand fühlte sich so gegenstandslos weich, so leichenkühl, so gallertglatt und schlangen- [318] schlüpfrig an! Es war, als ob er durch diese meine Berührung nun erst Leben und Energie bekäme.
„Komm, folge mir!“ forderte er mich in plötzlich befehlendem Tone auf. „Und sprich mit Niemand als mit mir allein! Denn durch die Hand, die du als Schwur mir gabst, bist du mein Eigentum in Gott, dem Herrn geworden. Du hast kein Recht, an Andre dich zu wenden, als nur an mich, den für dich Sorgenden!“
Er faßte meine Hand kräftiger, und darum bemerkte ich deutlicher, daß er mir die Kraft entzog, die von mir auf ihn überging. Dann richtete sich die Gestalt, die sich soeben noch so tief vor mir verneigt hatte, so hoch auf, daß sie mich weit überragte, und fuhr in höchst bestimmter, gebieterischer Weise fort:
„Mein ist dein Geist; mein ist auch deine Seele, und nur der Leib bleibt einstweilen dein, bis ich bestimme, wie und wo er uns zu dienen habe. Aus meiner Hand strömt dir das höchste Glück, das es für Menschen gibt in Zeit und Ewigkeit: Du bist vollständig willenlos und folglich frei von jeder Schuld und Sühne! Tu Alles, was ich sage, ob Gutes oder Böses, der Rechenschaft bist du fortan enthoben, denn ich bin es, der sie zu leisten hat. Auch ich gehorche nur, um frei zu sein. Das tut ein Jeder, bis hinauf zum Höchsten! Im Auftrag meines Herrn belohne ich dir schleunigst jede Tat, durch welche du uns nützest. Und in derselben Machtvollkommenheit verzeihe ich dir Alles, wodurch du Andern schadest, nur nicht uns! Drum sei getrost, mag kommen, was da will! An unsrer Macht geht jeder Feind zu Grunde!“
Hierauf zog sich die, wie es schien, ganz beliebig dehnbare Gestalt in ihre vorherige Bescheidenheit zusammen und begann mit mir den Gang durch die Ge- [319] wölbe, meine Hand nicht einen Augenblick aus der ihrigen lassend. Es war mir, als ob ich mit ihr durch ein unsichtbares Röhrchen verbunden sei, durch welches der Abfluß meiner Lebensenergie zu diesem Schatten hinüber stattfinde. Es konnte nicht sehr lange Zeit dauern, so war mein Mut dahin und mit ihm auch die Kraft zum Widerstande. Ein Vampyr geistiger Natur! Ein schwammiges Gespenst von unersättlicher Porosität! Durfte ich mir zumuten, ihm die Hand so lange zu lassen, bis ich gesehen hatte, was ich sehen wollte? War ich dann nicht wahrscheinlich schon so willenlos, daß ich sie ihm nicht mehr entziehen konnte? Ich wagte es, denn ich glaubte, mich genau zu kennen! Wer Vampyre entlarven will, der muß es wagen, sie an sich saugen zu lassen, bis sie so voll sind, daß sie ihm nicht entfliehen können!
Es waren viele Räume, durch welche wir kamen, weit mehr, als ich für möglich gehalten hätte. Lange, niedrige Gewölbe mit schmalen Mauernischen, in denen düsterrot die wenigen Fackeln brannten. Alles Wertvolle, was sich einst in den untern Etagen befunden hatte, war hier aufgestapelt. Dazu die köstlichsten Schmuggelwaren aus allen Ländern, Zonen und Gedankenreichen. Ich dachte an unsern Fund im Innern des Birs Nimrud. Aber was wir dort gesehen hatten, war Bettelarmut gegen diesen Reichtum hier! Und dort gab es kein Leben in der Tiefe. Hier aber huschten zwischen diesen Schätzen geschäftige Dämonen hin und her, die alle Hände voller Arbeit hatten. Unhörbar waren alle ihre Schritte, und Alles, was sie taten, erzeugte nicht das mindeste Geräusch. Die Gieresblicke, die sie auf mich warfen, verrieten mir, wie heiß sie mich begehrten. Doch wenn sich einer nahte, die Hand nach mir zu strecken, so schwoll mein Führer zum Giganten [320] auf und schleuderte den Schwachen auf die Seite. Das war die Kraft, die er von mir zu sich hinüberzog. Da er mich hatte und sie aber Keinen, von dessen Uebermacht sie zehren konnten, war er für sie der große Held des Tages, von dem sie sich für heut beherrschen ließen.
Ich wollte wissen, was sie alle taten, und blieb zuweilen stehn, um zuzusehen. Mein Führer glaubte, mich für immer in seiner Hand zu haben, und zeigte mir ganz offen, was man trieb. Es wurde hier gefälscht, gefälscht und nur gefälscht! Das Echte hatte man der Außenwelt entzogen, das Wahre, Reine, Edle hier versteckt. Die Täuschung und den Schein, die Falschheit und Entstellung verfertigte man hier und trug sie dann hinaus als ehrliche, rechtschaffne, gute Ware! Und diese Arbeit ging sehr flott von statten. Ich sah, es war ein glänzendes Geschäft! Ein einziger Verrat, dem es gelang, ans Tageslicht zu kommen, bedeutete für dieses Fälschertum sofortigen Ruin! Daher die einz'ge Wahl: Mitmachen oder Tod! Wozu von Beidem würde ich, wenn man mich zwingen sollte, mich wohl entschließen?
Bei diesem Gedanken entriß ich dem Schatten meine Hand mit einem so unerwarteten, kräftigen Rucke, daß er überaus schnell und klein zusammenfuhr. Er dehnte sich aber hierauf sofort zur riesenhaften Größe aus und donnerte mich an:
„Was fällt dir ein! Diese Hand gehört mir, denn du bist mein Eigentum! Gib sie augenblicklich wieder her!“
Ich wußte, daß jetzt der Kampf zwischen mir und ihm beginnen werde. Und die anwesenden Sillan ahnten das wohl auch. Sie drängten sich herbei. Ich schob sie auseinander, um zur nächsten Nische zu gelangen, ergriff [321] die dort brennende Fackel und drehte mich dann mit ihr nach ihnen um. Was geschah? Sie verschwanden. Sie versteckten sich hinter ihre aufgehäuften Waren; sie waren eben Schatten, die, bei Licht betrachtet, hinter ihre Gegenstände gehören. Nur der Eine blieb. Er allein hatte Mut, nämlich meinen Mut, von mir in seine wesenlose Schwammigkeit hinübergesaugt. Wir standen, beide hoch aufgerichtet, vor einander. Er schaute mir mit einem vernichtend sein sollenden Blicke in die Augen; ich ihm ebenso! Jetzt galt es, Wahrheit gegen Lüge, Person gegen Schatten, Individualität gegen Scheinmenschlichkeit, Licht gegen Finsternis!
Ich sprach kein Wort, er auch nicht. Ich wollte nicht, und er konnte nicht. Ich sah ihn fest und unverwandt an und zuckte mit keiner Wimper. Er wollte diesem Blicke standhalten, mußte aber bald die Augen senken. Ich stand still, fest, unbewegt; er begann zu wanken, zu zittern, endlich gar zu flackern wie die Flamme meiner Fackel. Dann wurde er kleiner, immer kleiner, sank nieder, bis er auf dem Boden lag und kroch da langsam an mir vorüber, um nach hinten zu kommen. Und als er da so vor mir bebte und sich so ängstlich vor mir wand, da fühlte ich, daß die mir gestohlene Kraft und Energie zurückkehrte, bis er nicht mehr eine Spur von ihr besaß und in seiner ganzen Ohnmacht hinter mir am Boden lag. Da drehte ich mich zu ihm um, die Fackel in der Rechten. Er floh zur linken Seite, nach der Wand, und versuchte, sich an dieser aufzurichten. Als ich hinüberschaute, wendete auch er das Gesicht. Denn ein wahrhaftiger und ehrlicher Mensch hat es noch nie erlebt, daß so ein entlarvter Lügner und Betrüger es wagte, ihn offen anzusehen. Diesen Mut besitzt er nur dann, wenn es ihm gelungen ist, sich durch den Diebstahl [322] fremder Charakterhaftigkeit das Ansehen zu geben, daß er auch eine Art von Person und nicht bloß nur ein nichtiger, bedeutungsloser Schatten sei!
Das war der Sieg, in aller Stille, ohne jeden Zorn und ohne alle Worte! Und nun auch dieser Schatten überwunden war, begann ich den Rundgang durch die Gewölbe von Neuem, um besser und tiefer zu sehen, als ich vorher gesehen hatte. Ich war allein. Es getraute sich nichts mehr an mich heran. Wo ich mit meiner Leuchte erschien, verkroch sich jeder Schatten augenblicklich. Der meinige schlich zwar beständig hinter mir her, wagte aber nicht, sich wieder zu erheben.
Bei diesem meinem zweiten Rundgange bemerkte ich, wenn nicht zu meinem Schrecken, so doch zu meiner Ueberraschung, daß die Tür, in welche die Treppe eingemündet hatte, nicht mehr vorhanden war. Ich wußte die betreffende Stelle ganz genau. Die Gegenstände, welche ich bei meinem Eintritte zuerst gesehen hatte, standen und lagen alle noch an ihrem Orte. Aber anstatt der Tür gab es jetzt nur Mauer, starke, dicke, undurchdringliche Mauer! Ich suchte darum mit allem Fleiße nach einem zweiten Ausgange, fand aber keinen andern als nur den am Südende dieses Baues. Auch dieser führte zum jähen Sturz hinunter in das Bassin. Er war weder vermauert noch verschüttet, sondern bestand aus einer hölzernen, unverschlossenen und unverriegelten Tür, welche durch einen leisen Druck geöffnet werden konnte. Das sah so unschuldig aus, ganz genau so, als ob sie in ein weiteres Gemach oder Gewölbe führe; aber wehe dem, der diesem Betruge traute! Ich öffnete sie und leuchtete hinaus. Gleich hinter der Schwelle hörte der Fußboden auf. Der Abgrund gähnte aus dem tiefen Wasser herauf, und eine kalte, feuchte Luft roch nach Verwesungsgasen.
[323] Ich machte wieder zu und wendete mich zurück. Wie hatte der Warnende draußen vor dem Bau gesagt? „Die Starken sah ich niemals wiederkehren!“ Ja, sie hatten zwar widerstanden, waren aber nicht auf den Gedanken gekommen, nach einer Fackel zu greifen, um die Schatten von sich abzuweisen. Nach einem Ausgange suchend, waren sie von ihnen zu dieser Tür gewiesen worden und hierauf ahnungslos hinabgestürzt.
Ich dachte an die verkalkten Leichen auf dem Grunde des Bassins, welche grad unter dieser Tür im tiefen Wasser lagen, da hörte ich Schritte, welche vom andern Ende des Gewölbes kamen, und als der Betreffende in den Scheinkreis meiner schon fast ganz herabgebrannten Fackel trat, erkannte ich ihn sofort. Er war der Lauscher mit dem weißen Haare und den Dolchaugen, der mich in der vorigen Etage von dem Schutthaufen aus beobachtet hatte. Hinter ihm eine so große und so dicht zusammengedrängte Menge von Schatten, daß sie gar nicht einzeln unterschieden werden konnten, sondern zusammen eine kompakte Finsternis bildeten. In meine Nähe gekommen, blieb er stehen und rief mich an:
„Was will der Ustad hier in meinem Reiche? Der größte Feind, den ich auf dieser Erde habe! Du suchst nach einer Tür, mir wieder zu entschlüpfen! Für dich, der mich vernichten will, gibt's keine!“
Er trat noch mehrere Schritte auf mich zu. Indem er dies tat, wurde er höher und immer höher. Nun überragte er mich um Kopfeslänge und auch um eine ganze Schulterbreite. Seine Stimme klang fest, stark, keinen Widerspruch erwartend. Ich sah ihm ruhig in die stechenden Augen, denn es galt hier einen zweiten, aber andern Kampf, und wer siegen will, muß ruhigbleiben können.
[324] „Es wurde dir gesagt, daß ich dich sprechen wolle,“ fuhr er fort. „Es sei dir hier die Audienz gestattet. Nun sag, um welche Gunst du mich zu bitten hast!“
„Ich höre, daß ich mich im Schattenreich befinde,“ antwortete ich. „Es sei die Wahrheit noch so sonnenklar, der Schatten wendet sie gewiß zur Lüge! Mir fiel es nicht im tiefsten Traume ein, mit dir auch nur das kleinste Wort zu sprechen. Du aber ließest mir durch eines deiner Nichtse sagen, daß du den Wunsch besäßest, mich zu sprechen. Wer ist es nun, der Audienz erteilt? Wer ist der Wünschende, und wer ist der Gewährende? Und eine Gunst? Von dir? Für mich? Du bist verrückt! Doch wird es mir vielleicht ergötzlich sein, zu hören, was die Narrheit von mir fordert. Drum sprich!“
Täuschte ich mich, oder war es wirklich so? Seine Höhe nahm wieder ab, auch seine Breite. Und seine Stimme klang nicht so voll und so gebieterisch wie vorher, als er jetzt erwiderte:
„Du sprichst ja ungeheuer stolz, Ustad! Doch werde ich dich schnell zur Demut bringen. Du bist der Erste nicht und sicherlich auch nicht der Letzte! Ich weiß es, was geschah, als du den Berg betratest, das Reich des Zauberers, des Schwachheitshassenden zu sehen. Man warnte dich. Man sagte dir, daß du nur zwischen Schatten oder Tod zu wählen habest. Du kamst trotz alledem. Nun bist du mir verfallen. Nun wähle!“
„Wählen?“ fragte ich. „Wer kann es wagen, mich vor eine Wahl zu stellen, die mir von dem, was mir beliebt, nichts bietet! Gibt es hier eine Wahl, so lautet sie: Du oder ich; nichts weiter. Natürlich wähl ich mich!“
Da trat er mir wieder einen Schritt näher und fragte mich in giftig zischendem Tone:
„Nicht Schatten willst du sein? Der Schatten von [325] mir, der ich der Herr und Meister bin, dem Keiner widersteht?“
„Versuch es doch, ob ich nicht widerstehe!“
„So bleibt dir nur der Tod!“
„Der eine deiner größten Lügen ist!“ lachte ich. „Mit diesem Tode konntest du nur jene schwachen Köpfe schrecken, die nicht erkannten, daß er nur ein Hirngespinst zu ihrer Knechtung sei. Indem sie ihren Leib vor dieser Vogelscheuche retten wollten, verfielen sie dem Geist- und Seelenmorde. Zeig mir doch diesen Tod, den lächerlichen Schatten, den nur das Leben der Betrognen wirft, weil ihm das falsche Licht der Lüge leuchtet!“
„Du hast ihn schon gesehen!“ rief er aus. „Ich stand von Weitem, als du öffnetest und ihm ins kalte, feuchte Antlitz schautest. Wagst du vielleicht, es noch einmal zu tun?“
Da riß ich die Tür auf, zeigte hinaus und sagte:
„Geh doch voran, zu zeigen, wo er steht! Hast du den Mut? Ich laß nicht auf mich warten!“
Es stieg bei diesen Worten in mir ein Entschluß auf. Woher er kam? Ich weiß es nicht. Wohin er führte? Hier durch diese Tür. Ich fühlte, daß seine Kühnheit mir die Wangen rötete und meine Augen leuchten ließ. Und während ich dies empfand, kam mir im Traume das Bewußtsein, daß ich träume und daß ich ich und nicht der Ustad sei. Sonderbar! Auch in den Zügen meines Gegners ging eine sichtbare Veränderung vor. Er sah mich starren Blickes an, erst überrascht, dann verwundert, staunend, endlich gar betroffen. War es ein Wehe- oder ein Jubelruf, den ich hierauf von seinen Lippen hörte:
„Ustad, Ustad - - - was ist mit dir?! - - - Dein Gesicht wird ein ganz anderes! - - - Du bist [326] nicht mehr der Ustad, nein, nein - - - nein! - - - Wer aber bist du denn? Etwa der fremde Effendi, der jetzt bei ihm im hohen Hause wohnt und unten im Birs Nimrud verwegen in die Tiefe stieg, um ihr Geheimnis an das Licht zu bringen?“
„Ja, der bin ich,“ antwortete ich. „Doch träumte ich bisher, daß ich der Ustad sei.“
Da sprang er auf mich zu, faßte mich am Arme, schüttelte mich und schrie:
„Du träumst, du träumst und bist ein Anderer! Was soll geschehen; was habe ich zu tun! Ich weiß es nicht; ich weiß es wahrlich nicht! Wach auf; wach auf! Ich öffne dir sofort des Berges Tore! Du sollst nicht Schatten sein und auch nicht sterben! Nur eile fort von hier! Ich selbst will dich hinaus ins Freie lassen, damit dein Traum ein frohes Ende nimmt und du zu deinem Körper wiederkehrst, damit er jetzt erwache!“
Da schob ich ihn von mir, sah ihm ruhig in das erregte Angesicht und entgegnete:
„Dieser Körper ruht in Frieden. Er mag weiterschlafen! Warum soll ich nicht vollenden, was ich begonnen habe? Ich bleibe hier! Grad deine Angst zeigt mir, daß ich es bin, der hier Audienz erteilt! Ich fordre jetzt von dir, daß du erfüllst, was du mir drohtest: Mach mich zum Schatten, oder töte mich! Tu das, was du von Beiden fertig bringst!“
Da zog sich seine Gestalt noch weiter zusammen. Doch versuchte er, seiner Stimme die alte Kraft zu geben, als er mir versicherte:
„Wenn du hierauf bestehst, so bist du verloren, denn ich habe die Macht, Beides wahr zu machen! Indem ich dir folgte, ließ ich sämtliche Fackeln hinter dir auslöschen und verbergen. Du hast die einzige in deiner [327] Hand, und sie ist nur noch ein kleiner Stumpf, der kaum noch einige Minuten brennen wird. Dann kannst du meine Schatten nicht mehr scheuchen. Sie drängen sich an dich und nehmen dir den Willen und die Kraft, bis du das bist, was du nicht werden willst: mein Sill!“
„Wer kann mich zwingen! Verlöscht das Licht, so steht die Tür hier offen!“
„Doch draußen auch der Tod!“
„Deine Scheuche! Mich aber schreckt er nicht!“
Was war denn das? Es ging jetzt wie ein frohes, verklärtes Staunen über sein Gesicht. Und doch klang es wie Angst, als er mich aufforderte:
„Du bist also entschlossen, zu sterben, Effendi! So fordere ich dich auf, dich vorzubereiten. Du stehst vor deinem letzten Augenblick und hast dich dem Gebete zuzuwenden. Falte also deine Hände, und sprich nach, was ich dir vorzubeten habe!“
Er legte die seinigen zusammen und sah mich an, als ob er ganz bestimmt erwarte, daß ich diesem seinem Beispiele folgen werde. Ich aber sprach:
„Meinst du, daß ich dich brauche, dich, dich, wenn ich zu beten habe? Für mich ist das Gebet von göttlicher Natur, und darum ist das rechte, wahre Beten wenn nicht die allergrößte, so doch die schwerste und die heiligste der Künste. Hier aber sah ich nichts als Trug und Fälschung, und darum glaube ich, daß du sogar betrügst, indem du betest!“
Da ballte er die Fäuste wie zum Kampfe und schrie mich an:
„So stirb in deinen Sünden und fahre hin zur Hölle!“
Er holte aus und schnellte sich mit aller Kraft auf mich, um mich hinabzustürzen, der ich in fast unmittelbarer Nähe der Tür stand. Ich aber wich blitzschnell zur Seite. [328] Die Gewalt des Sprunges trieb ihn also, anstatt mich zu treffen, in die Türöffnung hinein. Er brüllte vor Schreck laut auf und faßte hüben und drüben an, um sich zu halten.
„Voran mit dir, damit ich Wort zu halten habe!“ rief ich. „Ich laß nicht auf mich warten!“
Ein Stoß von meiner Faust, und er flog hinaus ins Bodenlose. Die Fackel in meiner andern Hand stand im letzten Flackern. Ich schleuderte sie ihm nach. Von unten klang ein Schrei und dann ein dumpfer Schlag. Vor mir die tiefste Finsternis und hinter mir das Grausen aller Schatten! Ich trat auf die Schwelle. Ein einziges Wort, ein allereinziges, klang betend in mir auf. Dann schnellte ich mich, um nicht am Gemäuer anzuschlagen, mit weitem Sprung hinaus in das, was mir als „Tod“ bezeichnet worden war.
Die Beine zusammenhaltend, die Arme angezogen und die Augen geschlossen, fuhr ich in eine Eiseskälte, die mich sofort erstarren machen wollte. Aber sie hatte auch noch eine zweite Wirkung: Es war mir, als ob ich in eine Flut der Kraft, das [des] Lebens tauche, die nur im ersten Augenblick erschrecke, dann aber grad das Gegenteil von der Erstarrung bewirke. Der Sprung war hoch gewesen, so hoch, daß ich bis auf den Boden des Wassers niederkam, zu den Verkalkten, die da unten lagen. Dann breitete ich die Arme aus, tat den bekannten Schlag, um wieder hochzukommen, und legte mich hierauf, leicht paddelnd, auf die Flut. Nun horchte ich.
Hier um mich her war Alles still. Jedoch in einiger Entfernung klang das Wasser. Es war, als schwimme Jemand dort und hole ängstlich Atem. Ich kannte wohl die Stelle, an der ich mich befand, jedoch noch nicht die Richtung. Ich war mit dem Gesicht nach Süd herab- [329] gesprungen. Hatte ich das beibehalten, so mußte die Mauer hinter mir liegen. Dort schwamm ich hin und fühlte schon nach einigen Stößen den Stein. Das konnte auch ein Pfeiler sein. Darum griff ich mich an ihm hin. Es war die Mauer. Ich hatte sie rechter Hand und lag also mit dem Kopfe nach dem inneren Bassin hin auf dem Wasser.
Von dorther klang Geräusch. Es rauschte, und es stöhnte. War das der „Zauberer“? Hatte er sich gerettet? Kannte er die Oertlichkeit? Wußte er Etwas von dem Kanal? Wenn nicht, so war er verloren, wenn ich ihn im Stiche ließ. Ich schwamm also hin, leise, leise, um ihn nicht durch Zurufe vor der Zeit in Angst zu bringen. Wenn er mich hörte, mußte er denken, daß ich ihn verfolge, und das konnte ihn verwirren, so lange er noch auf offenem Wasser war. Ich berechnete hierbei jeden Stoß und jeden Schlag, den ich tat, um zu wissen, wo ich immer sei.
Als ich nach meiner Schätzung unter der in der Luft hängenden Mauer hindurchgekommen war, hörte ich ein lautes, schweres Atmen, als ob sich Jemand anstrenge, an irgend Etwas emporzukommen. Das war dort beim Riesenpostamente. Ich näherte mich ihm. Nun hörte ich nichts mehr. Dann aber klang eine halblaute, doch hier in diesem akustischen Raume sehr vernehmliche Stimme:
„Ist er tot? Ich hörte nichts! Mein Gott und Herr, laß ihn doch leben! Erhalte ihn, den Ersten, den Allerersten und den Einzigen, der über unsre ‚Vogelscheuche‘ lachte!“
Das war ja ein Gebet! Und zwar für mich! Kein angelerntes, sondern eingegebenes! Da durfte und mußte ich allerdings antworten!
„Ich lebe, denn es gibt ja keinen Tod!“ sagte ich [330] in gewöhnlichem Tone, und doch erdröhnte es, als ob es mit aller Kraft der Stimme hinausgerufen worden sei. Die Schallwellen fluteten unter der hängenden Mauer hinaus in das vordere Bassin, und da hörte ich es von Säule zu Säule durch die Finsternis weiter und weiter klingen: „Keinen Tod - - keinen Tod - - keinen Tod - - keinen Tod - - Tod - - Tod - - Tod!“
„Du bist es, Effendi, du?“ fragte er.
„Ja.“
„Komm, rette mich!“
„Sogleich! Wo befindest du dich?“
„Da, wo du mich - - mich - - mich - - ich darf es dir nicht sagen. Das muß von selbst geschehen!“
„Was?“
„Komm herauf!“ wiederholte er, ohne auf dieses mein „Was?“ einzugehen.
Ich erreichte den Sockel. Im Wachen war er mir ganz unersteigbar vorgekommen; jetzt aber, im Traume, gelang es mir fast leicht, mich hinaufzuschwingen. Er hockte auf der einen Seite der Figur; ich setzte mich auf die andere.
„Sei still!“ bat er.
„Warum?“ fragte ich doch.
„Warte! Es wird kommen. Wir werden auch noch sehen!“
Ich schwieg also.
Wie kam es doch, daß ich nicht fror, obgleich ich mich in dem eiskalten Wasser befunden hatte und nun so still auf dem ebenso kalten Steine saß? Wohl, weil ich doch nur träumte! Es herrschte die tiefste Stille um uns her, und nur von weitem war es, als ob es draußen im vordern Bassin ein leises, leises Flüstern gebe, wie Gedanken, welche aus dem Wasser steigen und lebendig zu werden [331] beginnen. Und aber dieses Wasser! Und die auf ihm liegende, dichte Finsternis! Wie war es doch mit diesen beiden?! Man spricht von Wärme und Kälte. Je größer die Kälte wird, umso deutlicher fühlt man sie als Wärme. Man sagt dann „meine Ohren brennen“. Ist es mit Licht und Finsternis vielleicht so ähnlich? Kann die Finsternis verdichtet werden, so verdichtet, daß sie die Wirkung des Lichtes bekommt? Das schien jetzt hier von unserm Sitze aus der Fall zu sein.
Das war hier nur so im ganz, ganz Kleinen. Aber so wie hier konnte es, freilich im unendlich Großen, gewesen sein, als sich einst am Anfange das Licht von der Finsternis zu scheiden begann. Das Licht wurde aus seiner Gefangenschaft errettet, aus seiner Latenz befreit, aus seiner Verzauberung erlöst und schwamm zunächst als Phosphoreszenz, so fast wie Wasserleuchten, auf dem Dunkel. Dann zog es Fäden, erst feine, doch immer deutlicher werdende Fäden, die nach und nach Maschen bildeten, in denen es wie von geschliffenen Perlen strahlte. Und in gewisser Höhe darüber erzitterte es von märchenzarten, orangebunten Wölkchen, in denen es von Liliputelektrizitäten beständig wetterleuchtete, bis sich die Luft von aller Finsternis gereinigt hatte und eine Schicht entstanden war, in der man endlich, endlich das, was sich in ihr bewegte, sehen konnte.
Und diese Schicht war es, die uns nach einiger Zeit erlaubte, zu bemerken, daß draußen im vorderen Bassin Wellenkreise geworfen wurden, welche unter der schwebenden Mauer hereinkamen und bis zu unserm Postamente fluteten, an dem sie sich leicht kräuselnd brachen.
„Es beginnt!“ flüsterte der „Zauberer“.
Das klang so ängstlich, und ich hörte, daß er sich wie nach innen schüttelte. War das nur die Folge seines [332] Sturzes? Oder gab es außerdem noch andere, wohl innerliche Ursachen?
Die erwähnten Wellenlinien wurden enger und bewegter. Es kam Etwas geschwommen. Wer oder was? Menschen auf keinen Fall! Gab es Tiere hier, größere Tiere? Denn nach dem Radius der geworfenen Kreise konnte es kein kleines sein! Da kam es - - unter der Mauer hindurch - - ein Totenkopf - zwei Schlüsselbeine - zwei halb im Wasser verschwindende Schulterblätter - zwei Knochenarme, welche nach beiden Seiten ausgriffen, um zu schwimmen - - - Ich kannte das: Es war das Gerippe von dem Säulensteine am zweiten Seitenkanale. Es kam bis fast an das Postament herangeschwommen, hielt da an, schaute zu uns herauf und sagte:
„Nicht bloß Einer - - - sondern Zwei?! Ihr armen, armen Menschen! Den Leib gerettet, wie ich einst den meinen - - - auf einen Stein, der kein Erbarmen kennt - - -! Doch nur für kurze Zeit, bis Ihr verschmachtet, verfluchend niedersinkt und zum Skelette werdet, so wie ich!“
„Wer bist du?“ fragte ich ihn.
„Ich bin der erste Fluch, der hier erschallte. Und du?“
„Ich bin vielleicht, vielleicht der erste Segen.“
Da tat das Gerippe mit den entfleischten Armen einen Schlag auf das Wasser, daß es bis an die Lendenwirbel emportauchte, und rief aus:
„Verstehe ich dich recht? Du willst nicht fluchen, sondern segnen, segnen?“
Seine Stimme drang in das vordere Bassin hinaus. „Segnen - - - segnen - - - - segnen - - - - - segnen!“ ertönte es dort von Säule zu Säule, wie ein Befehl für die Toten, zu erwachen.
[333] „Das wird sie wecken,“ sagte er, „sie alle, alle, alle. Denn solches Wort ist hier noch nicht erklungen!“
Und sie kamen, Viele, Viele, Viele! Unhörbar, vollständig unhörbar! Kopf an Kopf versammelten sie sich hinter ihm! Kopf an Kopf zog ihre Menge sich unter der Hängemauer in die Unsichtbarkeit hinaus. Wie mich das packte, so ungefähr muß es den letzten Menschen sein, wenn der Hammer aushebt, um die Stunde des Gerichtes zu schlagen. Segen oder Fluch? Seligkeit oder Verdammnis! Still war es, still. Keiner der Köpfe regte sich und keines der Wasser bewegte sich mehr. Nur der „Zauberer“ hier oben bei mir bebte; denn alle, all die leeren Augenhöhlen waren starr herauf nach uns gerichtet. Und das Gerippe sprach:
„Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem wir stets aus unserm Schlaf erwachen, um zu vollenden, was wir einst beschlossen. Der Tag der Arbeit an dem Werk der Rache!“
Er gab dem letzten Worte einen solchen Nachdruck, daß der Schall desselben im vorderen Becken wie eine Brandung wirkte. „Rache - - Rache - - - Rache - - - - Rache!“ wiederholte dort das Echo brüllend. Es folgte ihm ein lautes Knarren, Knattern, Knirschen, als ob der Fels vor dem Zerbersten stehe, und dann klang jener langgezogne, fauchend scharfe Ton, der warnend übers Eis erklingt, wenn Risse sich erzeugen.
„Habt Ihr's gehört, wie mächtig schon das Wort an Säulen rüttelt?“ fragte er zu uns empor. „Wie müssen sie dann erst vor unsrer Kraft erzittern! Wir wuschen seit Jahrtausenden sie aus, zernagten ihre Stärke und kratzten an dem alten Gleichgewicht, bis von ihm nur so viel noch übrig war, daß es verschwinden wird, [334] sobald wir wollen! Das ist die Hälfte unsers Werkes, die Zerstörung!“
„Zerstörung - - Zerstörung - - - Zerstörung - - - - Zerstörung!“ donnerte draußen der Widerhall, und das gefährliche Fauchen ging von Neuem durch das zerbröckelnde Gestein der Decke. Denn daß sie bröckelte, hörten wir am Klange des Wassers, in welches die Bruchstücke fielen. Das Gerippe lauschte auf diese Geräusche, bis nichts mehr zu hören war, und sprach dann weiter:
„Doch wir zerstören nur, um zu erzeugen. Vernichten wir da draußen allen Trug, so fordern wir in diesem Raum die Wahrheit. Sinkt dort der Fels zertrümmert in den Tod, so geben wir ihm hier Gestalt und Leben. Und an demselben Tag, da drüben Alles stürzt, wird hier das Wunder neu geboren werden, daß Steine schreien, wenn man Gott nicht hört! Ihr wißt es nicht, bei wem Ihr Rettung suchtet. Es ist der Fluch, an dessen Fuß ihr hockt! Der Fluch, der Fluch, der hier so oft erklungen, daß er des Steines Seele werden mußte! Wir wuschen diesen Stein mit unsern Tränen aus. Wir meißelten mit unsern Fingernägeln. Und von dem Blute Derer, die bei dem Sturz zerschmetterten, bekam der Hintergrund die dunkle Farbe. Nun ist es bald vollbracht. Nur noch zwei Mondestage, den heut und dann noch einen, so sinkt der falsche Segen in die Nacht, und unser Fluch, die Wahrheit, tritt zu Tage! Doch fehlt uns noch das Wort für seinen Sockel, die Zeilen, welche droben sagen sollen, was wir dann nicht mehr selber sagen können, weil wir da draußen mit zerschmettert werden. Und diese Zeilen fordre ich von Euch.“
„Von uns?“ fragte ich. „Warum?“
„Es wurde so beschlossen. Der Letzte, der vor der [335] Vollendung kommt, hat auch das Letzte für das Werk zu geben. Das ist die Schrift. Wer ist es von Euch Beiden?“
„Hier mein Gefährte ging voran; ich folgte hinterher.“
„So, also du! Was du bestimmst, wird auf den Sockel kommen. Doch höchstens nur vier Zeilen, keine mehr!“
„Und wenn Euch nicht gefällt, was ich bestimme?“
„Es hat uns zu gefallen und muß genommen werden.“
„Muß?“
„Ja, muß! Jedoch bedenke Eins: Die Seele dieses Bildes ist der Fluch; die Unterschrift wird ihm den Geist verleihen. Gibst du ihm einen Geist, der ihm die Seele stört, so wird das Werk ein Bild des Wahnsinns sein und du zwingst uns, von Neuem zu beginnen. Hast du gehört? Und hast du auch verstanden?“
„Beides.“
„So sprich nun du!“
Ich folgte dieser Aufforderung sehr gern, stand auf, lehnte mich, um nicht hinabzuschlüpfen, an die Figur des Beters und begann:
„Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoffe ich, soll auch für Euch das wiederbringen, was Euch der Schatten dieser Erde nahm - - der Sonne goldnes Licht!“
Ich hatte so laut gesprochen wie er, und darum wurde das letzte meiner Worte auch hinausgetragen zu den morschen Säulen, an denen es auch ganz dieselbe Wirkung hervorbrachte, nur daß die glucksenden und klatschenden Geräusche der fallenden Steine dieses Mal viel, viel länger anhielten als vorher. Und hierauf ging [336] statt jenes fauchenden Geklinges ein tiefes Rollen am Gewölbe hin, wie wenn am Horizont ein fernes Donnergrollen das Nahen schwerer Wetter uns verkündet.
„Habt Ihr's gehört?“ so fragte ich hinunter. „Wenn schon mein Wort um so viel stärker wirkt, um wieviel mehr wird erst die Kraft Euch überlegen sein! Ihr selbst gestandet ein, daß Euer Wort Euch mit zerschmettern werde. Glaubt an das meinige, so werdet Ihr von ihm hinaus zur Sonne und an das goldne Tageslicht geführt!“
„An die Sonne? An das Tageslicht?“ fragte das Gerippe! „Niemals, niemals werden wir sie beide wiedersehen! Auch du nicht! In keiner Ewigkeit!“
Er hauchte das verzweifelt vor sich hin.
„In keiner Ewigkeit - - - in keiner Ewigkeit!“ so seufzte es ihm nach von Kopf zu Kopf.
„Was höre ich? Ihr gebt ja mir schon Licht!“ fuhr ich fort. „Um wieviel mehr kann ich nun Euch es bringen! Nur die Verzweiflung war's, die Euch zur Rache trieb. Das liegt in Sonnenklarheit hier vor meinen Augen! Die Hoffnungslosigkeit ließ Euch den Fluch ersinnen! Du nanntest uns: „Ihr armen, armen Menschen"; ich aber sag: Ihr armen, armen Geister! Ihr kamt zu diesem Berg, mit Schatten Euch zu streiten. Ihr nanntet Wahn, was Ihr vernichten wolltet. Und doch war es ein noch viel größrer Wahn, der es für möglich hielt, daß es auf Erden Strahlung ohne Schatten und Wahrheit ohne Täuschung geben könnte! Ihr hättet alle Wesen töten und jedes Licht im All verlöschen müssen, und damit nur erreicht, daß dieses All in Finsternis versank. Dann freilich gab es keine Schatten mehr; an ihre Stelle war der eine, einzige, der ewige getreten! Und nicht bloß Wahn, nein, Wahnsinn ist's gewesen, und Wahnsinn ist es noch in diesem Augenblick, daß Ihr den Schemen [337] flucht, anstatt der eignen Torheit! Wer zwang Euch denn, hinauszutreten in den Schlund, wo jeder Menschengeist den festen Halt verliert?“
„Gab es denn einen andern Weg ins Freie?“ fragte er. „Der Eingang war verschwunden!“
„Auch ich sah ihn nicht mehr. Doch wußte ich, daß er sich dem Gebete zeigen werde, auf welches mich der Warnende verwies. Hat er nicht auch zu Euch davon gesprochen?“
„Er sagte es, doch beteten wir nicht!“
„Warum nicht?“
„Ist das Gebet für so erhabne Geister, die wir waren?“
„Für so erhabne Geister! Ach so! Entschuldigt mich! Verzeiht, daß ich, der arme, kleine Mensch, es wage, zu Euch zu sprechen, die Ihr so erhaben seid, daß Ihr nicht einmal mehr mit Gott, dem Höchsten, redet! Wie sehe ich Euch doch so groß und herrlich hier in den Fluten Eures Irrsinns liegen! Ihr kamt mit Ueberhebung zu dem Berge, gingt stolz erhobnen Hauptes durch die Schatten und hobt in selbstbewundernder Vermessenheit den Fuß, auch noch die letzte Türe zu durchschreiten. Und nach dem Sturz in dieses Geistesdunkel, was tatet Ihr? Was habt Ihr unternommen? Ihr wurdet von dem Warnenden auf das Gebet verwiesen. Es hätte Euch sofort das Licht gebracht. Habt Ihr gebetet? Nein, geflucht, geflucht! Und wem habt Ihr geflucht? Etwa dem eignen Wahnsinn, der Euch stürzte? Nein, sondern denen, die sich wehren mußten, weil Ihr es ihnen nicht einmal erlaubtet, zu bleiben, was sie waren - - - arme Schatten! Ist Einer unter Euch, der etwa glaubt, sich gegen mich verteidigen zu können?“
Es blieb eine Weile still; dann sagte das Gerippe:
[338] „Du wirfst uns vor, daß wir nicht beteten, damit der Eingang sich uns wieder öffne. Sag, betetest denn du?“
„Nein.“
„Hast also ganz dasselbe unterlassen und darum nicht das Recht, uns anzuklagen!“
„Ich unterließ es nicht; ich kam nur nicht dazu. Mich führten überhaupt ganz andre Gründe als Euch in dieses drohende Gemäuer. Ich kam nicht, zu verderben, nein, sondern zu erretten! Auch hatte ich das Ende wohl bedacht und war nicht so verrückt, die Bodenlosigkeit für festen Grund zu halten. Ich habe Alles, was ich sah, studiert, kalt und gemessen, wohlbedacht und ruhig. Und eben als ich damit fertig war, erschien der Zauberer und - - -“
„Du erschrakst und sprangst herab zu uns!“ fiel das Gerippe schnell ein.
„Nein. Ich blieb stehen, ließ ihn herankommen und sprach mit ihm.“
„Du bliebst - - - stehen? Du sprachst - - - sprachst mit ihm? Das hat Keiner, Keiner, kein Einziger von uns gewagt! Hast du denn nicht gewußt, daß dieser Zauberer der Wahnsinn ist? Auf wen sein fürchterliches Auge fällt, der wird verrückt, verrückt - - - sofort verrückt! Wir alle, alle flohen, als er von fern erschien, und das Entsetzen trieb uns hier herunter. Und du bliebst stehn! Hast gar mit ihm gesprochen! Mensch, solche Kühnheit ward noch nicht gesehen!“
„Da wiederhole ich: Ihr armen, armen Geister! Wo bleibt da die Erhabenheit, wenn jeder Unsinn sie in Wahnsinn stürzt!“
„Du kamst doch auch herab!“
„Jawohl, ich kam. Doch aber nicht vor Schreck! Ich sprang aus freiem Willen, ganz ohne Zwang herunter, [339] damit er sehen möge, daß ich nicht ihn und auch den Tod nicht fürchte.“
„Selbst - - selbst - - - selbst heruntergesprungen!“ stieß das Gerippe hervor, und das Wasser, in dem es lag zitterte, als ob an und in dem Skelette alles in Erschütterung sei.
„Selbst - - selbst - - - selbst heruntergesprungen!“, so klang es von Kopf zu Kopf bis weit hinaus ins vordere Gewölbe.
„Er fürchtet nicht den Tod!“ sagte das Gerippe.
„Nicht den Tod - - nicht den Tod - - - nicht den Tod!“ ertönte es hinter ihm weiter und weiter.
„Warte, warte, warte! Wir kehren bald zurück!“
Diese Worte galten mir. Dann setzte sich die ganze Schar in unerwartet schnelle Bewegung, um aus dem hintern Wasserbecken zu verschwinden. Durch das vordere aber ging ein Flüstern, Raunen, Murmeln und Summen wie von vielen Tausenden, die nicht auf dem Wasser, sondern unten auf dem tiefen Grunde miteinander sprächen. Nach einiger Zeit kehrten sie wieder, genau so, wie sie zuerst gekommen waren. Das Gerippe nahm seine alte Stellung dem Sockel gegenüber ein und sprach:
„Heut ist der erste Tag des neuen Mondes, der Tag, an dem er aus dem dunkeln Schatten der Erde tritt, um wieder ihr zu leuchten. Und dieser Tag, so hoff ich, soll auch uns das wiederbringen, was uns die Erde nahm, der Sonne goldnes Licht! Du hörst, ich spreche schon mit deinen Worten. Vielleicht geschieht es noch, daß wir nach diesen Worten handeln. Kennst du die Sage vom verzauberten Gebete?“
„Nein,“ antwortete ich.
„Nicht! So dürfen wir dir um so mehr vertrauen! Der Letzten einer, welche zu uns kamen, herabgestürzt wie [340] wir, durch eigne Schuld, war vorher drüben in dem Land gewesen, wo seit fast ungezählten, vielen Jahren ein wunderbarer Geist in tiefer Höhle wohnt. Man nennt ihn darum Ruh-y-Kulian, doch, steigt er einmal zu den Menschen nieder, so naht er sich in weiblicher Gestalt, trägt weißes Haar, fast bis zur Erde nieder, und führt den Namen Marah Durimeh. Er traf auf sie in ärmlich kleiner Hütte und sprach mit ihr vom großen Menschheitsweh. Doch war ihm ihre Rede nicht begreiflich, denn was sie sagte, klang so wirr, so falsch, daß er sehr bald sich ärgerlich entfernte, vollständig überzeugt, daß er mit einem alten, verrückten Weib gesprochen habe. Als aber er am nächsten Tag erfuhr, daß ihm das seltne Glück beschieden sei, den Ruh-y-Kulian gesehn zu haben, erschien ihm jedes Wort in andrem Lichte. Er dachte nach, und wie er weiterdachte und das, was sie gesagt, sich wiederholte, stieg in ihm mehr und mehr die Ahnung auf, daß er im Irrtum sei, nicht aber sie. Sie gab ihm, als er ging, die Sage vom verzauberten Gebete auf den Weg. Doch er, der sich für klug und weise hielt, warf sie von sich, als lächerliches Märchen. Erst hier, im allertiefsten Erdenweh, stieg diese Sage wieder in ihm auf, und als wir einst hier an dem Bilde schafften, erzählte er von jenem andern Bilde und von der Greisin Marah Durimeh. Das war für uns der erste Mondestag, nach welchem wir, still hoffend, schlafen gingen. Was wir bisher für ganz undenkbar hielten, das war nach dieser Sage Möglichkeit! Doch schwer, unendlich schwer, weil nicht an eine, nein, an soviel Bedingungen geknüpft, daß sie ein Mensch fast nicht erfüllen konnte. Denn merke wohl, ein Mensch war vorgeschrieben, ein Einziger, der aber Alles tat! Und ohne Ahnung hatte er zu handeln, genau wie du, der nichts von Allem weiß!“
[341] Wie sonderbar! Das klang ja wie ein Märchen!
„Hab ich denn schon bereits Etwas getan, was in der Sage vorgeschrieben ist?“ fragte ich.
„Du kamst nicht, um die Schatten zu vernichten. Du hieltest jenem Zauberer fest Stand. Du schenktest dem Gebete vollen Glauben. Du hattest vor dem Tode keine Angst. Du sprangst aus freier Absicht in die Tiefe. Das Uebrige muß noch verschwiegen bleiben, weil du ja ohne Wissen handeln mußt. Doch sag uns jetzt das Eine, furchtbar Eine, vor dem wir beben, sei es ‚ja‘, seis ‚nein‘! Wer stürzte diesen Andern zu uns nieder, der noch kein Wort bisher gesprochen hat?“
„Ich. Er wollte mich hinaus ins Dunkle stoßen. Ich wich ihm aus und gab ihm einen Hieb, daß er es war, der zu Euch niederflog.“
„Und dann?“
„Dann warf ich ihm den Stumpf der Fackel nach und folgte hinterher.“
„Warum, warum, warum sodann auch du?“ fragte er schnell und dringend.
„Um ihn vielleicht zu retten.“
„Zu retten! Ihn - - ihn - - - ihn!“
Er warf den Knochenarm als Zeichen der Verwunderung empor und fragte dann fast schreiend:
„Wer ist er aber denn? Sag, wer, wer, wer!“
„Wer, wer, wer!“ rief jeder Kopf, und „Wer - - wer - - - wer - - - wer!“ scholl es hinaus, daß alle Säulen dröhnten.
„Der Zauberer!“ antwortete ich.
„Der Zauberer!“ wiederholte das Skelett, und mit versinkender Stimme fügte er hinzu: „Also doch er, er, er!“
„Er - - - er - - - er - - - er - - -“ [342] verklang es hier im Bassin. Draußen aber war es still, unheimlich still!
Jetzt drehte sich das Skelett den Köpfen zu. Es ging ein hier oben bei mir unverstehbares Wispeln und Lispeln herüber und hinüber. Dann wendete es sich mir wieder zu und sagte:
„Ich weiß, du hattest uns noch viel zu sagen, um uns zu überzeugen, was wir waren, und daß wir durch Jahrtausende hindurch nur unserm Wahn und Hirngespinste dienten. Du hättest uns wohl niemals überführt; da kam die Sage Marah Durimehs und zeigte uns, was wir vorher nicht sahen. Nun muß ich dir gestehn: Du hast gesiegt, gesiegt, noch ehe du zu Ende bist! Soll ich es dir beweisen?“
„Nein. Ich kenne den Beweis.“
„Mensch! Du bist unheimlich!“
„Das glaube ich! ‚Erhabenen Geistern‘ wird es stets beklommen, wenn auch der Mensch einmal zu denken wagt, und können sie nicht auf Gedanken kommen, so wird dann gütigst er um Rat gefragt! Euer Beweis ist der Zauberer. Wenn er in andrer Weise unter Euch geraten wäre, so würdet Ihr statt Geister Teufel sein. So aber steht er unter Menschenschutz und ist darum selbst hier am Bild des Fluches der Menschlichkeit, der früheren, empfohlen!“
„Du sprichst so spitz, wie seine Augen blickten. Du triffst so tief, wie wir ihn treffen wollten. Wir haben es verdient. Vergib uns unsre Schuld!“
„Vergib uns unsre Schuld - - - vergib uns unsre Schuld!“ klang es von Kopf zu Kopf und auch hinaus ins vordere Bassin.
Da bog ich mich in großer, großer Freude so weit wie möglich vor und sprach:
[343] „Was habe ich gehört? Das war ja ein Gebet! Die Seele naht, die Seele Eures Bildes. Der Fluch kann niemals, niemals Seele sein. Und soll der Stein an Gottes Stelle reden, der nichts und nichts und nichts als segnen kann, so gebt ihm Hände, welche benedeien!“
„Und du, gib ihm die Worte für den Sockel!“
„Wann?“
„Jetzt, sogleich!“
„So hört!“
Sie drängten sich zusammen und kamen näher herbei. Dadurch wurde Platz für noch viele von denen, welche draußen waren. Sie kamen herein. Ich sagte, nicht überlaut, doch langsam und vernehmlich:
„Gesegnet sei, wer nach der Wahrheit suchte
Und ihr zu Füßen auch den Irrtum fand.
Drum leg ich ihn, den ich bisher verfluchte,
Mein Gott und Herr, in deine Gnadenhand!“
Nach diesen Worten gab es da unten im Wasser eine so tiefe Stille, daß ich den befreiten, seligen Atemzug hörte, der mir von drüben, wo der „Zauberer“ saß, zugeweht wurde, und hierauf die leise, leise Wiederholung:
„Mein Gott und Herr - - - in deine Gnadenhand - - -! Den Irrtum - - - also mich - - mich - - mich! Nun nur noch Eins, noch Eins!“
Da regte sich das Gerippe, und es klang wie schluchzend zu mir herauf:
„Er flucht dem Irrtum und der Täuschung nicht! Aber er segnet sie auch nicht, sondern er gibt sie in Gottes Hand! So, genau so will es auch die Sage! Diese Worte müssen unbedingt, unbedingt eingegraben werden! Noch haben wir zwei Mondestage Zeit, des Bildes Rachefaust verzeihend zu gestalten. Es soll die Seele haben, die du ihm geben willst!“
[344] Da stand der Zauberer von seinem Platze auf, hielt sich am Alabaster fest und machte eine Bewegung, als ob er sprechen wolle. Ich aber kam ihm zuvor und fragte hinab:
„So ist also der Rache nun entsagt, und Ihr verzichtet auf den Fluchgedanken?“
„Ja,“ antwortete das Gerippe, und „ja, ja - - ja!“ ertönte es im ganzen Chore nach.
„So habe ich mein letztes Wort zu sagen.“
Ich bog mich hinüber, griff nach des Zauberers Hand und sprach:
„Hier halt ich ihn, den unbedacht Verfluchten. Was er an Andern tat, ist nicht von mir zu richten. Daß er auch mich bedrohte, verzeihe ich ihm gern. Denn ich will ihn aus seiner Finsternis hinaus zum Lichte leiten! Er sei von dieser Schuld erlöst, sei von ihr - - - frei!“
„Das, das, das war es, das Eine, Eine noch!“ hörte ich ihn leise sagen. „Aber was werden nun diese, diese tun da unten?!“
Da schob sich das Gerippe noch einmal weiter vor und richtete seine Worte nicht an uns, sondern an seine Wahngefährten:
„Auch was er uns getan, verzeihen wir ihm gern. Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr - - - frei!“
„Er sei erlöst von seiner Schuld, sei von ihr - - - frei!“ riefen alle, alle Köpfe. Kein einziger war, der schwieg.
„Frei - - frei - - - frei - - - - frei!“ erschallte das Echo draußen von Wand zu Wand, von Säule zu Säule.
Und nun erhob auch der Zauberer seine Stimme. Sie klang nicht etwa gedrückt, beklemmt oder gar unter- [345] würfig, sondern hell, rein, klar und selbstbewußt, als ob er es sei, der zu verzeihen habe:
„Ihr gebt mich frei, sagt Ihr? Laßt das die letzte Torheit sein, die hier von Euch geschieht! Wer stürzte Euch? Nicht ich! Es war die Angst vor mir, die Furcht vor dem Gespenste! Dazu der Stolz, der sich zu beten schämte! Ihr dünktet Euch so groß und so erhaben und wagtet es doch nicht, mir Stand zu halten, daß ich euch sagen konnte, wer ich sei! Und wenn ich es nun jetzt Euch sagen wollte, so könntet Ihr es doch unmöglich fassen, weil Geisterwahn nicht schnell, nicht plötzlich heilt. Doch merkt Euch das erlösend wahre Wort: Wer keinen Schatten wirft, der kann kein Wesen sein und wird vom Menschheitskörper nicht empfunden. Wenn eine Schuld, ein Frevel auf mir ruht, so seid Ihr wohl die Letzten, Allerletzten, an die ich mich um Gnade wenden würde. Denn daß Ihr's wißt: Wer mir verzeiht, hat nur sich selbst verziehen. Und weil Ihr dies getan, so will ich Euern Wahn und Euern Selbstbetrug nicht länger strafen. Ihr habt gesühnt; so geb ich Euch denn Eure Schatten wieder: Es werde also Licht!“
„Licht!“ rief ich. „Licht!“ rief das Gerippe. „Licht, Licht, Licht!“ wiederholten alle die Geister, und „Licht - - Licht - - - Licht - - - - Licht!“ klang es hinaus bis in den tiefsten Winkel, und alle Säulen zitterten und bebten.
Da plötzlich war die lichte Schicht verschwunden, die auf der dunkeln Flut gelegen hatte, und Finsternis lag wieder um uns her. Doch es erklang ein Ton, so weich und doch so hell, so lind und mild und doch so siegreich klar. Wo kam er her, und wo ließ er sich nieder? Aus einer andern Welt - - - im Bilde neben mir. Erst war er nur zu hören, doch bald dann auch zu sehen, [346] ein wunderbarer, heilger Farbenton! Wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau! Wo seine Quelle lag? Im Alabaster! Das Bild ward nicht von außen her beschienen. Es trug das Licht in sich und warf darum auch keine Spur von Schatten. Erst leise, wie ein Morgenhauch beginnend, entwickelte die reine, keusche Klarheit sich nach und nach zum tageshellen Glanze, so daß es war, als leuchte uns die Sonne. In dieser Helligkeit erschien mir das Gerippe und Alle, die in tiefem Staunen lagen, so fratzenhaft, so schrecklich widerwärtig, daß ich mit meinem Blick von ihnen floh und ihn an der Figur nach oben sandte.
Was ich da sah, das ward noch nie gesehen, weil keine Kunst noch je so Schönes schuf! Doch leider stand ich ja so dicht am Bilde, daß jetzt nur seine Größe auf mich wirkte. Wie klein, wie klein kam ich, der Mensch, mir vor!
Da sprach der Zauberer:
„Es wurde Licht! Soll es nun wachsen, bis es Euch verzehrt? Flieht schnell hinaus, der Schatten wird Euch retten!“
„Es gibt ja keinen Weg; wir sind für ewig, ewig eingeschlossen,“ antwortete das Skelett. „Wird dieses Licht zur Schattenlosigkeit, so sind wir alle, alle hier verloren! Die Sage zwar erzählt von diesem Einen, daß er den Schlüssel Hephata besitze, und bis zu diesem Augenblick ist Alles, was sie sagte, eingetroffen, doch diese Felsen und Gigantenmauern sind für das Hephata ja wohl zu stark!“
Da rief ich aus:
„Ich habe ihn, den Schlüssel, und keine Stärke kann ihm widerstehen! Ich war schon einmal hier; da wurde er erprobt. Gebt Raum für uns da unten! Wir kommen [347] jetzt hinab und führen Euch hinaus!“ - „Hinaus, hinaus!“, jauchzte das Gerippe.
„Hinaus, hinaus, hinaus!“ jubelten die Andern.
„Hinaus - - hinaus - - - hinaus - - - - hinaus!“, frohlockte es im vorderen Bassin, daß alle Säulen dröhnten und Stein um Stein sich vom Gewölbe löste.
Ich sprang in das Wasser, der Zauberer mir nach. Indem die Köpfe sich bemühten, eine Gasse für uns zu bilden, schaute ich zurück und aus dieser weiteren Entfernung an dem Bilde hinauf. Es strahlte schon so stark, daß mich sofort die Augen schmerzten. Da wendete ich mich schnell wieder zurück und griff mit beiden Armen aus, um durch die Wasserflut der Lichtflut zu entgehen. Der Zauberer hielt sich an meiner Seite. Die Andern folgten; Keiner blieb zurück!
Der Glanz drang unter der hängenden Mauer auch in das vordere Becken und verbreitete dort eine Art von Dämmerung, welche mir den Weg genügend deutlich zeigte. Ich schwamm nicht an den Seitenkanälen vorüber, sondern quer zwischen den Säulen hindurch gleich nach dem Hauptkanale, wo der letzte Lichtreflex verloren ging und wir uns infolgedessen in dieser tiefsten Finsternis befanden. Das konnte aber nicht stören, weil der Weg uns durch die engen Seitenmauern vorgeschrieben war. Wir konnten weder rechts noch links abweichen, sondern nur immer vorwärts, vorwärts, vorwärts, und daß die Andern folgten, das hörten wir an ihrem Schwimmgeräusch, welches in dieser steinernen Röhre wie dumpfes Meeresbrausen rauschte.
Viel leichter als früher mit dem Boote kam ich durch das Gestrüpp hinaus ins Freie, in den See. Um Platz zu machen, schwamm ich da erst eine Strecke gerade aus [348] und drehte mich dann um. Der Zauberer war bei mir. Vor mir hielt das Gerippe. Hinter ihm sah ich seine Scharen, die so zahlreich waren, als ob der Kanal sich gar nicht entleeren könne. Es kamen immer mehr, immer mehr aus ihm hervor. Ich sah sie deutlich, denn die Sterne leuchteten, und die schmale Sichel des ersten Viertels stand grad über uns am Himmel. War es möglich, daß alle, alle diese Vielen, die ich erblickte und die noch immer nachdrängten, sich da drin im Berg befunden hatten? Kann es wirklich eine solche Menge von Geistern gegeben haben, die von ihrer Gedankenhöhe stürzten, weil ihnen plötzlich dort der feste Boden schwand?
Endlich, als die Letzten erschienen waren, erhob das Skelett seine Stimme und sprach:
„Heut ist der erste Tag des neuen Lebens, der Tag, an dem das Licht uns wiederkehrte. Wir sind voll Dank und sagen Lob und Preis. Schaut dort hinauf, zur halben Bergeshöhe! Der Mondesstrahl zeigt uns die Rosensäulen; ein Tempel ragt, geweiht dem Dienste Dessen, den unser Hochmut einst nicht anerkannte. Wir haben es gebüßt, jedoch nicht bis zum Ende. Noch ist das Werk des Fluches nicht vollbracht, den wir in Segen umzuwandeln haben. Es soll und muß geschehen, uns zur Buße. Wir haben nun den Schlüssel Hephata. Und was uns tödlich war, des Bildes Eigenlicht, wird sich im Bergesdunkel schnell verlieren. Dann kehren wir zurück und lassen jene Faust, die sich im Grimm des Fluches ballen sollte, zur offnen Hand des Fürgebetes werden. Jetzt aber kommt mit mir hinauf zum Tempel! Adan, der Stern der Erdenmitternacht, erglüht grad über uns am Firmamente. Wir haben also heilge Geisterstunde und müssen dort hinauf, dem einzig Einen zu sagen, daß wir wieder beten werden!“
[349] Er wendete sich schwimmend der Stelle des Ufers zu, von welcher aus man nach dem Weg zum Beit-y-Chodeh kam. Die Andern folgten ihm. Ich aber blieb zurück. Wenn Geister beten, sei der Mensch bescheiden; er kann ihr Kyrie doch nicht verstehn!
Auch der „Zauberer“ blieb halten. Wir sahen ihnen eine kleine Weile nach; dann fragte ich:
„Kommst du mit mir ans Ufer?“
„Nicht nur ans Ufer,“ antwortete er. „Ich gehe mit dir heim, hinauf in deine stille Denkerklause. Da setzen wir uns an das Sternenlicht, und ich erkläre dir, warum es Schatten gibt und Fehler bei den Menschen. Komm!“
Wir schwammen nach der Landestelle und - sonderbar! als ich da aus dem Wasser stieg, war ich nicht naß; auch mein Gewand war trocken. So auch bei ihm. Er nahm mich bei der Hand. Wir wandelten durch den Duar, den Weg zum Haus empor. Das Tor war zu. Es öffnete sich selbst, sobald wir es berührten. Die andern Türen auch, bis wir in meinem Mittelzimmer standen. Da hörte ich von rechts her ein Geräusch, als ob ein Schlafender sich anders wende. Ich wollte schnell hinaus; er aber hielt mich fest und flüsterte mir zu:
„Du darfst dich noch nicht wecken! Ich habe dir so viel, so Wichtiges zu sagen, daß du erstaunen wirst, wie sicherlich noch nie im ganzen Leben.“
Wir traten auf das platte Dach hinaus und schauten nach dem Beit-y-Chodeh hinüber. Der Sterne Glanz lag auf dem ganzen Tal; der Tempel aber stand in jenem Lichte, das aus dem Alabaster hell ertönte - - - im Sonnengold, mit Himmelsblau vermählt. Die Geister lagen alle auf den Knieen. Ein süßer Rosenduft umwehte uns. Kam er von drüben? Sollte er es sein, der uns die leise, leise Strophe brachte:
[350] „In allen Himmeln leuchten heut die Sonnen;
Auf allen Erden wird zum Tag die Nacht,
Denn was der Wahn im blinden Haß begonnen,
Wird von der Wahrheit segensreich vollbracht!“
„Hörst du?“ fragte der „Zauberer“. „Du wirst es nicht begreifen; ich aber will dir sagen, was sie meinen. Doch sollst du es nicht nur hören, sondern auch sehen. Schau mich an!“
Ich tat es. Was ging da mit ihm vor? Seine Gestalt begann, zu verschwinden, sich wie in Nebel zu verwandeln. Doch nahm dieser Nebel sehr rasch wieder Formen an, und wer, wer stand da vor mir? Nicht mehr er, der „Zauberer“, sondern der „Warnende“, mit dem ich gesprochen hatte, ehe ich in den Berg gestiegen war. Ich sah nicht mehr den weißbehaarten Kopf mit stechend scharfen, kalten Feindesaugen, nein, sondern jene freundlich ernsten Züge und jenen weichen, väterlichen Blick, der bei der Frage, ob ich beten könne, besorgt und doch voll Hoffnung auf mir ruhte.
„Du wunderst dich,“ sagte er. „Und doch ist nichts geschehen, was zum Verwundern wäre! Wer geistig Mündel ist, den mag der Vormund warnen. Doch den Erwachsenen, den reifen Denker, den warnt des Irrtums eigne, andre Stimme, die stets die volle, reine Wahrheit spricht. Und dieser ist kein Vormund überlegen! Du hast dein Wort gehalten. Bist weder meinem andern Ich noch jenem Wahn verfallen, der aller Welt den Schatten rauben will, weil er sich selbst für ohne Schatten hält. Du hast mich nicht besiegt und aber doch besiegt. Ich fühle mich verschuldet und werde quitt mit dir, indem ich dich in das Geheimnis führe, daß Beide, Licht und Finsternis, den Tod bedeuten würden, wenn sie sich nicht versöhnt die Hände reichten, grad ihn in ewges Leben [351] zu verwandeln. Darum die Wahl, die keine Lüge war, obgleich es Tod nicht gibt und doch kein Schatten lebt: Tod oder Schatten![“]
Er setzte sich; so tat ich's also auch. Und nun begann er zu erzählen: Ein Menschenleben, ein Geistesleben, und aber doch das ganze Menschheitsleben. Die Sterne wanderten am Himmel weiter; ich sah es nicht; die Zeit war wie für mich nicht mehr vorhanden. Die Sterne schwanden; auch dieses sah ich nicht. Ich achtete allein auf seine Worte. Im Osten stieg der Morgen bleich empor, doch schaute ich nicht hin. Mir war ein andrer Morgen aufgegangen. Nun aber kam der erste Sonnenstrahl und fiel verklärend auf sein Angesicht. Da sprang er auf, zog mich zu sich empor, berührte mit den Lippen meinen Mund und sprach:
„Hier diesen Kuß für den, der drinnen schläft! Komm mit hinein, daß er dich wiederhabe! Du wirst gebraucht. Und ich - - - - - -? Wohl noch viel mehr!“
Er nahm mich bei der Hand. Schon unter der Tür blieb er nocheinmal stehen und sagte leise:
„Er liegt so still und schläft; ich höre seinen Atem. Sobald du dich ihm nahst, wird er zu träumen haben, was du bei mir erlebtest. Geh langsam, langsam hin, und gib ihm meinen Kuß! Nicht übereilt sei deine Wiederkehr, weil er des Traumes sich nach dem Erwachen genau erinnern soll. Kein Wort sei ihm verloren!“
Ich folgte dieser Weisung und ging nur Schritt um Schritt quer durch das Mittelzimmer, dann durch die offne Tür ins Schlafgemach, in welches grad mit mir der Sonne Licht auch trat. Sein Angesicht begann, sich geistig zu beleben, und dieses Leben ward um so bewegter, je [352] näher ich ihm kam. Nun war ich dort und bog mich zu ihm nieder, gab ihm den Gruß des „Zauberers“, der an der Tür noch stand, und - - - - -
- - - - - und erwachte aus dem Schlafe, riß beide Augen auf, sah mich aber schon nicht mehr stehen, sprang eiligst aus dem Bett und dann schnell durch die Tür hinaus ins Mittelzimmer. Der Zauberer war fort, das Zimmer leer und auch das platte Dach!
„Geträumt, geträumt!“ rief ich. „Und aber wie geträumt! So deutlich ist noch nie ein Traum gewesen? War das vielleicht ein sogenannter Wahrheitstraum? Es ist ganz so, als hätte ich's erlebt, als hätte ich es wirklich durchgemacht. Ich sehe Alles noch. Ich höre jede Silbe. Ich werde es mir rekapitulieren. Dann setze ich mich her, es zu Papier zu bringen. Man kann nicht wissen, ob - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - - [“]
Infolge dieser Arbeit war es ziemlich spät, als ich mein Frühstück nahm. Dann ging ich hinab, um zunächst mit Schakara zu sprechen. Sie saß in der Halle, ganz allein, sich einen Schleier säumend.
„Hat dir Marah Durimeh vielleicht einmal die Sage von dem ‚verzauberten Gebet‘ erzählt?“ fragte ich sie.
Sie sann nach und antwortete dann:
„Nicht mir, sondern einem Fremden. Das war im Dorfe Ohtian des Stammes Bulanuh.“
„Wer war der Fremde?“
„Das weiß ich nicht mehr, habe es vielleicht auch gar nicht gewußt. Er gefiel mir nicht. Es war eine alte Frau gestorben, die weit draußen vor dem Dorfe in einer elenden Hütte lebte. Niemand bekümmerte sich um die Leiche, weil sie eine Tumasa1) [1) Thomaschristin.] gewesen war. Da [353] nahm Marah Durimeh mich mit; wir hielten Totenwache. Ich war noch klein und erst seit Kurzem ihre Schülerin. Der Fremde reiste durch das Dorf und hielt da draußen vor der Hütte an, denn Marah Durimeh saß vor der Tür und fiel ihm auf. Als er auf einige Fragen Antwort bekommen hatte, stieg er vom Pferde, um noch weiter mit ihr zu sprechen. Er kam auch einmal herein, spuckte aber vor der Leiche aus. Warum, das weiß ich nicht. Das, was er sagte, war so gelehrt, daß ich es nicht verstehen konnte, und so hochmütig, daß ich die Tote leise bat, ja nicht auf ihn zu hören, weil es die Sammlung störe, die ihr jetzt nötig sei. Das war der Mann, dem Marah Durimeh die Sage, bevor er weiterritt, mit auf die Reise gab.“
„Also ist es noch gar nicht so lange her, daß jene ‚Letzten‘ in die Tiefe stürzten!“
„Ich verstehe dich nicht. Was meinst du da?“
„Das erzähle ich dir nachher. Kannst du mir die Sage wohl berichten?“
„Leider nein. Ich merkte sie mir nicht. Ich war so jung, sie aber tief und mir ganz unverständlich.“
„Wie schade, jammerschade!“
„Warum.“
„Leg deine Arbeit weg, und komm mit mir hinaus zur Pferdeweide! Da sind wir ungestört. Ich träumte heut, und wenn der Geist in solcher Weise träumt, kann er es seiner Seele nicht verschweigen.“
Wir gingen durch den Garten nach dem Steine, an dem wir schon einmal gesessen hatten. Dort setzten wir uns nieder. Ich erzählte. Sie hörte zu, ganz still, ganz still, doch zeigte sich in ihren dunkeln Augen, den wunderbaren und geheimnisvollen, von Zeit zu Zeit ein Glanz, der mich an jenes Eigenlicht des Alabasters mahnte - [354] - - wie Sonnengold, vermählt mit Himmelsblau. Und auch als ich geendet hatte, blieb sie noch immer still. Sie hatte ihren Kopf zur Seite an den Stein gelehnt und hielt die Augenlider fest geschlossen. Ich störte sie in ihrem Sinnen nicht und wartete geduldig, bis sie sprach. Sie tat es, ohne ihren Blick zu öffnen:
„Ich sehe eine Linie, von rechts nach links gezogen. Am Ende rechts gibt's eine Sonnenglut, die Alles, was da lebt, verbrennen würde, wenn es so unbesonnen wäre, sich ihr zu weit zu nähern. Das linke Ende taucht in eine Finsternis, die jeder Kreatur mit augenblicklicher Vernichtung droht. Die Linie ist unser Menschenleben. Zu weit nach rechts, zu weit nach links bringt sicheres Verderben. Grad in der Mitte liegt die Unverletzlichkeit und auch die Durchschnittslänge der geworfnen Schatten. Wer diesen Durchschnitt haßt, der wendet sich nach einer von den Seiten. Nun denke nach, Effendi, denke nach! Stehst du vielleicht grad in der Mitte?“
„Ich hoffe es nicht,“ antwortete ich.
„So bist du also kühn, vielleicht sogar verwegen! Betrachte deinen Schatten! Wird er zu klein? Wird er zu groß! In beiden Fällen ist's um dich geschehen! Weißt du es nun, wozu die Schatten sind? So sag ich nur als Mensch, als ungelehrtes Weib. Die Allmacht aber wird wohl noch ganz andre Gründe haben, warum sie Finsternis und Licht vermählte und beiden die Erlaubnis gab, im Zwielicht unfaßbare Schemen zu erzeugen und an der Sonne jene äffenden Gebilde, die uns als Schatten sagen, daß wir sind.“
Nun schlug sie die Augen auf, sah mir so lieb, so herzlich in die meinen, hielt mir das kleine, aber feste Händchen her und sagte:
„Gib mir jetzt einmal deine Hand!“
[355] Ich tat es. Da fuhr sie fort:
„Erlaube mir, daß ich für diese Schatten bitte! Verfahre nicht so streng, wie du wahrscheinlich wolltest. Du weißt ja wohl, daß Schatten keinen Willen haben!“
Da mußte ich doch lächeln!
„So ist es also wahr, daß sich die Seele immerdar erbarmt, selbst wenn der Geist auch nicht den kleinsten Grund zur Milde findet! Wer keinen Willen hat, den darf man billig schonen, doch aber den, der ihm den Willen nahm, den trete man zu Boden!“
„Trotz deines Traumes heut - - -? Und trotz des Zauberers - - -?“ fragte sie.
„Trotz alledem! Ich glaube, daß ich diesen Traum verstehe. Er kam zwar aus dem Schattenreich zu mir, doch war er keinesweges selbst ein Schatten. Ich träumte ihn beim ersten Sonnenstrahl und fühlte ihn verschmolzen mit mir selbst, von gleicher Wesenheit mit meinem eignen Wesen. Er hat mich viel gelehrt und handelt in mir weiter. Der Schatten, der mich vor sich selber warnt, ist Menschenfreund, ist ohne Falsch, ist ehrlich. Er rettet mich vor fremden Gaukeleien und auch vor meinen eignen Truggebilden, und Wahnsinn wäre es, wenn ich ihn hassen wollte. Für ihn hast du gebeten, Schakara. Du siehst, es war nicht nötig! Gebeten aber hast du nicht für Andre, für welche ich dein Auge schärfen möchte. Ich meine jene pfiffigen Gesellen, die sich als Schatten stellen, doch aber keine sind. Die stets verführten - Verführer! Die in Demut zerfließenden - Tyrannen! Die tugendreinen - Sünder! Die opferbereiten - Feinde! Die aufrichtigen - Heuchler! Die arglos treuherzigen - Schlangen! Und noch viele, viele tausend Aehnliche, die sich sofort als Schatten des nächsten Gegenstandes in Sicherheit bringen, wenn du zur Fackel greifst, sie anzu- [356] leuchten. Sie flüchten sich vollständig waffen-, wehr- und willenlos in irgend eines Starken Schutz und Schirm. Er sinkt und sinkt und sinkt; sie aber steigen. Und dann, wenn er am Abgrund steht, von aller Welt verlassen, nur nicht von Dem, der liebevoll den Fuß erhebt, um dankbar ihn vollends hinabzutreten, erkennt er endlich, aber viel zu spät, daß sie nichts weniger als arme Schatten waren. Die Willenlosigkeit war höchste Energie, die Schwäche nur die Maske der Gewalt, und jede Bitte, welche er gewährte, in Wahrheit ein Befehl, dem er gehorchen mußte. Das Allerschlimmste aber ist, o Schakara, daß diese Büberei nie eignen Schatten wirft, weil sie ja stets im Schatten Andrer schwelgt. Darum erscheinen diese Fleckenlosen der heiligen Einfalt drei- und zehnmal heilig, und wenn sie noch dazu so glücklich sind, vor ihrem Tode nicht entlarvt zu werden, so glaubt die liebe, liebe Unvernunft, daß sie an ihnen viel, sehr viel verloren habe, der Himmel aber viel, sehr viel gewonnen! Wenn die Ruinen da erzählen könnten! Ich sah im Traume, wie man sich verkroch! Da ging ich ruhig weiter. Doch, sollte das Geträumte sich erfüllen, so wird statt nur gefackelt, dann geleuchtet! Du weißt, wie gut wir hier versehen sind: an Fackeln fehlt es nicht!“
Hier wurde unser Gespräch unterbrochen. Drüben in den Ruinen, im obern Teile derselben, erschien nämlich Kara Ben Halef. Er sah uns sitzen und winkte uns zu, daß er zu uns kommen werde. Er ging nicht grad auf dem Glockenpfade, sondern er stieg über das Gestein gleich quer herab und kletterte an einer verwitterten Mauerstelle zu uns herauf.
„Effendi, ich habe einen Gefangenen!“ sagte er.
„Wie? Einen Gefangenen?“ fragte ich. [„]Hat man hier im tiefsten Frieden Gefangene zu machen?“
[357] „Ist das Friede, wenn Jemand sich nicht friedlich zu mir verhält?“
„Wer ist es?“
„Kein Dschamiki, sondern ein Fremder. Ich kenne ihn nicht, und er weigerte sich, Auskunft zu geben.“
„Wo?“
„Da drüben, in einer der alten Kirchen. Ich ging heut schon sehr früh wieder einmal durch die Ruinen. Man spricht im Duar davon, daß es dort wohl noch versteckte Plätze und verborgene Dinge gebe, die man noch nicht entdeckt habe. Ich bin derselben Meinung. Die vertriebenen Massaban, die in dem Gemäuer hausten, kennen es wahrscheinlich besser als wir, da sie dort ihre Schlupfwinkel hatten. Und wer zu dieser Sorte von Menschen gehört, weiß besser Bescheid, als jeder Dschamiki. Darum muß uns jeder Fremde, der die Ruinen ohne unser Wissen betritt, verdächtig erscheinen. Folglich war ich sofort argwöhnisch, als ich in so früher Morgenzeit Schritte hörte, die sich der Stelle näherten, in der ich mich befand. Das war in dem runden Quaderturme, der trotz seiner starken Mauern schon fast in sich zusammengestürzt ist. Es führt nur eine Tür hinein, keine andere hinaus. Ich stand in der Nähe derselben und drückte mich fest an die Wand, um nicht sogleich gesehen zu werden. Der, welcher kam, trat ein. Ein hagerer Mann, nicht groß, aber stark; das habe ich dann gespürt. Er fühlte sich so sicher, daß er sich gar nicht umschaute, und ging zum nächsten, großen Brocken der eingefallenen Mauer, um sich da niederzusetzen. Dabei drehte er sich um und mußte mich nun sehen. Ich war schnell an den Eingang getreten, um ihm die etwaige Flucht zu versperren. Er erschrak, nahm sich aber zusammen und fragte mich, wer ich sei und was ich hier wolle. Das [358] klang so gebieterisch, als ob er der Herr an diesem Orte sei. Und als nun aber ich Auskunft forderte, wurde er grob und warf sich plötzlich auf mich, um zu entkommen. Dabei hatte er ein langes Messer gezogen und schrie mich an, daß er mich sofort erstechen werde, wenn ich nicht darauf verzichte, ihn festzuhalten. Er stach auch wirklich zu. Schau hier, den Schlitz im Aermel! Das war auf das Herz abgesehen! Ich entging der Gefahr aber durch eine schnelle Wendung, entriß ihm die Waffe, warf sie fort und rang ihn auf den Boden nieder. Das war aber nicht leicht. Dieser Mensch besaß viel Kraft und Gewandtheit. Er rang meisterhaft, ruhig, still, den Atem berechnend und jeden Griff genau überlegend, ohne dabei ein einziges Wort zu sagen. Es scheint mir, als habe er schon oft in dieser Weise um seine Freiheit oder gar um sein Leben ringen müssen. Er hatte Uebung! Aber er kam trotz aller Mühe nicht auf; ich hielt ihn unter mir, bis seine Kräfte schwanden und ich dadurch eine Hand frei bekam, ihm die Halsader zusammenzudrücken. Da stockte ihm das Blut im Kopfe; er wurde ohnmächtig. Zwar nur für ganz kurze Zeit, aber das genügte mir, ihn zu binden.“
„Womit?“
„Die Arme, nach hinten gezogen, mit den Flügeln seiner eigenen Perserjacke. Die Beine schnallte ich ihm mit seinem Gürtel zusammen. Er kann sich nicht befreien.“
„Untersuchtest du seine Taschen?“
„Ja. Sie waren leer. Er hatte nichts bei sich gehabt, als nur das Messer. Dann eilte ich fort, um dir diesen Vorgang zu melden. Als ich in das Freie kam, sah ich dich hier sitzen. Nun bestimme, was geschehen soll, Sihdi!“
[359] „Zunächst das Eine: Kein Mensch darf davon wissen, am allerwenigsten Pekala. Ich ahne, wer dieser Fremde ist, nämlich ein entflohener Verbrecher, welcher uns im Auftrage des Scheik ul Islam ausspionieren soll. Ich muß ihn selbst sehen. Du führst mich also zu ihm, holst aber vorher einige feste Riemen oder Stricke aus dem Hause, doch heimlich. Für so einen Menschen genügen die jetzigen Fesseln nicht.“
Kara ging nach dem Hause. Ich fand es sehr erklärlich, daß Schakara mich bat, uns nach dem Turme begleiten zu dürfen, und erlaubte es sehr gern. Mein Plan war schon fertig. Dieser Spion verriet uns freiwillig sicher nichts. Er mußte gezwungen werden. Und da gab es ein Mittel, welches vielleicht sogar dem Teufel den Mund geöffnet hätte! Aber das konnte nur im Geheimen angewendet werden, und darum war es mir lieb, daß Schakara mitging. Ihre Anwesenheit gab der Sache den Anschein eines bloßen Spazierganges, der keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen hatte.
Als Kara wiederkehrte, schlenderten wir also nach dem Glockenwege und dann auf schmalem, aber bequemem Wege bis grad zum Quaderturm, um den es sich handelte. Sein eigentliches Tor war längst schon zugemauert. Wir konnten nur durch das Nebengebäude zu der Tür gelangen, von welcher Kara gesprochen hatte. Als wir durch sie getreten waren, sahen wir den Gefangenen liegen. Der Blick, den er auf uns richtete, war nicht etwa verlegen, sondern trotzig, und geradezu unverschämt klang es, als er uns sofort entgegenrief:
„Ihr habt mich augenblicklich freizugeben! Ich bin ein hochgestellter Mann, kein Lump, den man in dieser Weise behandeln darf! Gib mich frei, Effendi!“
Ah, der kannte mich ja schon! Also scharfe Augen [360] und feine Ohren! Aber pfiffig war es keinesweges, es mir zu verraten! Ich blieb vor ihm stehen und fragte ruhig:
„Wer bist du?“
„Das sage ich nur dir allein!“
„Woher?“
„Auch das nur dir!“
„Was willst du hier?“
„Auch das darf Niemand wissen, als nur du!“
„So? Dann mag ich es überhaupt nicht wissen! Kara, binde ihn fester, aber so, daß ihm die Schwarte knackt! Wer uns mit solcher Frechheit kommt, der sehe zu, was für ihn daraus entsteht!“
Der Haddedihn kniete zu ihm nieder, zog das Zeug aus der Tasche und begann, ihn fester zu schnüren. Da rief der Fremde aus:
„Ich bin ein Abgesandter des Schah-in-Schah!“
„An wen?“
„An den Ustad, also an dich!“
„Und kommst nicht offen und direkt zu mir, sondern versteckst dich hier wie ein Verbrecher?“
„Ich habe meine Gründe!“
„Das glaube ich. Aber auch ich habe welche, und diese gelten, nicht die deinigen!“
„Ich kam zu Eurem Glück zu Euch!“
„Und stichst mit dem Messer auf meine Leute? Wir danken für solches Glück!“
„Du bist ein Christ. Darum sage ich dir: Ich komme als Missionar!“
„Willst uns wohl Frieden predigen? Heil verkündigen?“
„Ja!“
„Das kennen wir! Sorg für dein eignes Heil; das unsere liegt in den besten Händen!“
[361] Das brachte ihn zum Schweigen. Er schien zu überlegen. Kara vollzog seine Arbeit so gut, daß dem „Missionar“ alle Glieder zu schmerzen begannen.
„Er hat das Messer gegen dich gezogen, um dich zu erstechen,“ sagte ich. „Das bestrafe ich mit dem Tode. Wirf ihn dort hinter die Steine! Da mag er liegen, bis er in den Duar geschafft wird, um gehenkt zu werden.“
Hierauf wendete ich mich nach der Tür, scheinbar um zu gehen. Das wirkte.
„Bleib hier, Effendi!“ bat er. „Ich werde antworten!“
Ich ging weiter. Da schrie er auf:
„Effendi, Effendi, geh nicht fort! Ich gebe dir Auskunft, und du wirst dich freuen!“
Da drehte ich mich um, langsam, wie widerwillig, und befahl:
„So antworte kurz auf das, was ich dich frage! Anderes mag ich nicht wissen. Seit wann bist du jetzt hier?“
„Seit dieser Nacht. Ich kam, als in dem Duar schon alle Leute schliefen.“
„Warst du schon öfters hier?“
„Vor einem Jahre zum ersten Male. Seitdem in jedem Monat nur einmal.“
„Sonst nicht?“
„Nein.“
„Du warst also vor einem Monate zum letzten Male da?“
„Ja.“
„Kamst heut in dieser Nacht und weißt doch so genau schon, wer ich bin? Wer täuschen will, muß besser lügen können!“
[362] „Ich wußte nicht, wer du bist; ich vermutete es nur. Effendi, glaube mir!“
„Gibt es bei uns Jemand, auf den du dich berufen kannst?“
„Pekala und Tifl.“
„Wer noch?“
„Niemand.“
„So ist es schlecht um dich bestellt. Tifl ist ein Abtrünniger und Pekala eine Plaudertasche, die Alles verraten wird, was sie von dir weiß!“
„Das mag sie immerhin! Sie weiß von mir nur Gutes. Ich habe eine Mission vom Schah und bin sein Diener, bin sein Auserwählter. Als Bote seiner Liebe und auch zugleich der wahren Menschenliebe, bin ich gekommen - -“
„Um deine eigentliche Absicht zu verstecken,“ fiel ich ein, „hier Jahre lang von unsrer dummen Pekala zu leben und dann den Frieden deines falschen Schah uns mit dem Messer vorzuschreiben!“
„Meines falschen Schah?“ fragte er. „Ich verstehe dich nicht!“
„Wenn du mich nicht verständest, wärest du sogar noch dümmer als Pekala, die es gewiß und wahrhaftig glaubt, daß ihr Aschyk imstande sei, ihr bei dem Schah die Wonnen aller Paradiese zu vermitteln. Doch mich betrügst du nicht mit dieser deiner Seligkeit! Uns ist der Schah in Wirklichkeit bekannt, doch in den Löchern Teherans, in denen du und deinesgleichen steckt, lernt man ihn niemals kennen. Dich schickt der Scheik ul Islam, doch nicht der Schah-in-Schah!“
Da reichte seine ganze Frechheit nicht aus, den Schreck zu verbergen, der über sein Gesicht zuckte.
„Der - - Scheik - - ul - - Islam - -!“ wiederholte er. „Wie kommst du auf diesen Gedanken?“
[363] „Ich habe es aus seinem eignen Munde, und wenn ich dir das sage, so ist es wahr! Willst du es eingestehen?“
„Nein, denn es ist Lüge!“ schrie er zornig auf.
„Es ist wahr! Und ich sage dir: Nur kurze Zeit, so wirst du mich auf deinen Knieen bitten, die Beichte anzuhören, welche du mir jetzt verweigerst. Für hier und jetzt bin ich mit dir fertig!“
Kara hatte ihn derart gefesselt, daß an einen Fluchtversuch gar nicht zu denken war. Dieser Verführer unserer strahlenden „Festjungfrau“ versuchte zwar noch immer, uns zu einem andern Verhalten gegen ihn zu bereden, doch vergeblich. Er wurde zwischen die hier liegenden, hohen Steinhaufen gesteckt, und dann gingen wir. Als wir dann draußen im Freien standen, sagte Schakara, indem sie mich fast ängstlich anschaute:
„Wie streng du sein kannst, Effendi, wie unerbittlich kalt und streng! Das wußte ich noch nicht.“
„Meine Freundin, es handelt sich hier nicht um mich, sondern um das Wohl und Wehe vieler, vieler Menschenkinder,“ antwortete ich. „Da hat etwas ganz Anderes zu sprechen, als das, was man ‚das Herz‘ zu nennen pflegt. Auch ist das Schicksal dieses Mannes ja noch nicht fest bestimmt. Es steht in seiner Hand. Er kann sich retten, wenn er Reue zeigt. Und grad das, was ich mit ihm vorhabe, ist geeignet, ihn am schnellsten zu dieser Reue zu führen.“
„Was wird das sein?“
„Ich gebe ihm ein Gefängnis, wo er sich zu entscheiden hat: Wahnsinn oder Reue. Weiter gibt es dort nichts.“
„Wo?“
„Unten im Bassin, im finstern Bergesinnern, ein [364] kalter, nasser Sitz auf jenem Stein, auf dem wir das Skelett gefunden haben. In solcher Art Gesellschaft wird man mürbe!“
„Entsetzlich, entsetzlich! Effendi, bist du ein Mensch?“
„Schakara, Schakara! Ich will ihn retten. Und wer den Ausweg aus der innern Hölle nur durch die äußre Hölle finden kann, dem muß man diese öffnen. Mit Baklawa1) [1) Zuckerbrot.] das Raubtier zähmen wollen, ist Unsinn und bringt doppelte Gefahr. Wir lassen ihn bis nachts im Turme liegen und schaffen ihn sodann an Ort und Stelle. Ich wette, daß es gar nicht lange dauert, so tut er das, was ich ihm voraussagte: Er bittet mich um die Genehmigung, mir seine ganze Schuld gestehn zu dürfen. - - - Was sehe ich da unten im Duar? Ist etwa Pferdemarkt?“
„Nicht Markt, doch aber Schau, und zwar für unser Rennen. Der Chodj-y-Dschuna hat sie anbefohlen. Ein jeder Dschamiki, der sich beteiligen will, muß sich mit seinem Pferde bei ihm melden. Hierauf wird dann die Rennbahn abgesteckt, und Jeder kann sich üben nach Gefallen.“
„So gehen wir hinab! Ich möchte sehn, was sich für Kräfte stellen.“
„Wird dich das nicht zu sehr anstrengen?“ fragte Schakara.
„Keinesfalls. Ich fühle, daß ich neues Blut besitze, und neues Blut bringt immer neue Kraft, im Körper wie im Geiste. Ich fand noch nie bei einem andern Kranken, daß die Genesung sich so wunderbar beeilte, wie sie bei mir es tut. Was ich noch vor drei Tagen für ganz unmöglich hielt, das kommt mir jetzt, wo ich [365] die Fläche überblicke, die vielen Pferde unten stehen sehe und rechts da drüben meinen Assil schaue, in meiner Stimmung recht gut möglich vor - - - ihn gegen unsre Feinde selbst zu reiten.“
„Effendi, welch ein Gedanke!“ rief Kara aus, indem seine Augen leuchteten. „Wenn das mein Vater hört, läßt es ihn schnell genesen!“
„Nur nicht sogleich entzückt! Ich bin noch viel zu schwach, kann höchstens daran denken, jedoch bestimmen nichts. Trotzdem, trotzdem, trotzdem! Nimm die Begeisterung, die Euch beseelen wird; denk auch ans Andere: daß wir geschlagen werden, von Ritt zu Ritt besiegt von solchen Gegnern, und stelle dich dann vor die letzte Tour, die das Verlorne wiederbringen kann, so werfe ich mich auf den schlimmsten Gaul und reite mit, daß alle Knochen fliegen, die seinen und die meinen, bis miteinander wir zusammenbrechen, wir beide tot, jedoch am Ziel - - - als Sieger!“
Wir kehrten nicht erst nach dem hohen Hause zurück, sondern gingen in entgegengesetzter Richtung hinüber nach den Steinbrüchen und den dortigen, breiten Weg hinunter in den Duar. Das war ein Jubel, als man uns bemerkte! Die Begeisterung, von welcher ich gesprochen hatte, schien sich schon heute eingestellt zu haben. Es gab so viele, fernwohnende Dschamikun, die mich noch nicht gesehen hatten. Die drängten sich alle, alle herbei, und jeder von ihnen hatte es ganz besonders darauf abgesehen, uns zu versichern, daß wir das Rennen unbedingt gewinnen würden.
Wir gingen mit dem Chodj von Pferd zu Pferd. Ein jeder Besitzer war bemüht, uns von den Vorzügen des seinigen zu überzeugen. Darum freute es mich, daß der Chodj sich als vortrefflicher Kenner zeigte. Er ließ [366] sich nicht durch Worte enthusiasmieren, blieb kalt, bedächtig, überlegen und wies Alles zurück, was keinen Erfolg versprach. Aber grad dadurch erreichte er, daß unser Vertrauen stetig wuchs, und als wir zu Ende waren und er uns nach unserm Urteile fragte, konnte ich ihm zu seiner wie auch meiner Freude sagen:
„Das Material ist gut. Nicht nur im gewöhnlichen Sinne, sondern sogar in Beziehung auf den ungewöhnlichen Zweck. Nachdem ich diese Pferde gesehen habe, bin ich unbesorgt. Ich habe nicht gewußt, daß die Dschamikun so viel des edelsten Blutes besitzen, und kann die Gegner nicht begreifen, daß sie gewagt haben, mit uns anzubinden.“
„Der Grund ist leicht einzusehen,“ antwortete er. „Sie prahlen mit ihren Pferden, geben ihnen hochtrabende Namen, wie zu Beispiel „das beste Pferd von Luristan", bringen die Stammbäume derselben unter das Publikum und verbreiten über ihren unschätzbaren Wert so viele und so vollmäulige Geschichten, daß es schließlich Niemand mehr wagt, daran zu zweifeln. Jeder, der doch vielleicht noch den Mut besitzt, eine Wette einzugehen, tut dies aber unter dem Drucke der Angst, höchst wahrscheinlich besiegt zu werden, und da die Angst niemals zum Guten führt, so stellt sich stets auch hier die Niederlage ein. Man verliert; aber nicht das Pferd ist schuld, sondern die Furcht, welche die Energie und Geistesgegenwart des Reiters lähmte. Bei uns aber ist das anders. Wir sprechen nicht von unserer Zucht; ja, wir halten sie sogar und ganz geflissentlich geheim. Und besondere Stammbäume? Wozu diese, wenn überhaupt alles edel ist? Und das ist es ja, was wir erreichen wollen und erreichen werden! Auch wissen wir nur allzu gut, wie oft solche Stammbäume täuschen, zumal bei fortgesetzter [367] Binnenzucht. Darum greifen wir fleißig nach außen hin, um zu verbessern, zu veredeln. Sodann hüten wir uns vor prunkenden Namen. Sie sind doch bloß nur Sand, den man schließlich sich selbst in die Augen streut. Kein vernünftiger Mensch glaubt mehr an Namen. Darum wählen wir zur Benennung grad unserer allerbesten Pferde nur Worte, welche möglichst schüchtern, ja oft sogar herabsetzend klingen, dabei aber eine bessere, tiefere Bedeutung haben, die nur von uns selbst, aber von keinem Fremden verstanden wird. Das wirst du noch sehen. Denn unsere Hauptrenner sind heut noch gar nicht hier, weil eine Prüfung bei ihnen nicht nötig ist. Aus allen diesen Gründen ist man über das, was wir besitzen, fast gar nicht orientiert. Frag draußen im ganzen Lande herum, ob wir imstande sind, ein großes Rennen gegen auswärtige Pferde zu gewinnen. Man wird lächeln, sogar über Sahm, deren Name übrigens der einzige ist, der nicht verschwiegen klingt, und dir sagen, daß man uns Ritt auf Ritt besiegen würde. Doch mögen sie nur kommen. Wir wissen, was wir haben, und verstehen, es zu reiten. Und was die Angst betrifft, nun, lähmen wird uns nichts. Weißt du, wer unser bester Reiter ist?“
„Wohl du?“
„O nein, o nein, sondern der Ustad selbst. In dem Augenblicke, an welchem er den Sattel berührt, ist er nicht mehr der Ustad der Dschamikun, sondern etwas ganz, ganz Anderes. Er gleicht dann einem plötzlich jung gewordenen Djinni1) [1) Geist.], dem jede Faser des Pferdes untertänig ist, und wer es mit ihm aufnehmen will, der wagt mehr, als er denkt! Hierbei fällt mir ein, dir zu sagen, daß der Scheik ul Islam einen Eilboten heim nach [368] Chorremabad geschickt hat, natürlich nicht von hier, sondern von unterwegs aus, denn wir sollten höchst wahrscheinlich nichts davon erfahren. Aber dieser Bote traf auf einen unserer Pferdehirten, begann aus Rache für unser Verhalten hier ein Wortgefecht mit ihm und war dabei so unvorsichtig, sich zu verraten. Er rief dem Hirten höhnisch zu, daß wir verloren seinen, weil Ghulam el Multasim zum Ustad der Takikurden erhoben werde. Hältst du das für möglich oder nur für eine Lüge, um uns zu ärgern, Effendi?“
„Ghulam el Multasim, der Bluträcher, der Ertappte und Ueberführte, der vollständig Ehr- und Gewissenlose - - - Ustad der frommen, kurangerechten Takikurden? Warum soll das nicht möglich sein? Ich halte es sogar für sehr wahrscheinlich, nachdem ich den Scheik ul Islam kennen gelernt habe. Dergleichen Leute sind zu Allem fähig. Warten wir es ruhig ab! Geschieht es wirklich, so kann es uns nur nützlich sein.“
„Nützlich? Uns? Dieser Mensch an der Spitze unserer neidischesten Feinde?“
„Ja. Denn wird man einmal zum Kampf gezwungen, so ist es besser, man hat den ganzen Pöbel hübsch beisammen, weil man die Hiebe dann umso dichter fallen lassen kann. Es sollte mich freuen, wenn es würde!“
Da begann es in den buschigen Brauen des Chodj-y-Dschuna zu spielen; seine Augen leuchteten auf, und er sagte in frohem Tone:
„Dank sei Chodeh! Ich sehe immer mehr, daß wir uns keinesfalls zu sorgen brauchen. Ich habe dir bereits gesagt, daß ich hier verschiedene Stellen bekleide. In gewissem Sinne bin ich auch so etwas Aehnliches wie Sypahsalar1) [1) Kriegsminister.] und weiß also genau, was es bedeutet, [369] wenn wir das ‚Dschamikun in Waffen!‘ rufen. Ich wittre Krieg. Hast du vielleicht den Wunsch, einmal Heerschau zu halten?“
„Allerdings; aber ich versage mir seine Erfüllung. Es würde Aufsehen erregen, und ich wünsche aber sehr, daß man uns für unvorbereitet halte. Man soll unbedingt der Meinung sein, uns vollständig zu überrumpeln. Sei noch verschwiegen! Wir werden uns zur rechten Zeit besprechen, sobald ich meine, daß sie gekommen sei. Die Fäden sind bereits in meinen Händen.“
Da kam der Pedehr, zur Schau leider zu spät, doch versicherte er, sich der Sache umso eifriger anzunehmen. Er war oben im Walde in seiner Jagdhütte gewesen und versprach mir in liebenswürdigster Weise, gleich neben der seinigen auch für mich eine bauen zu lassen und sie mir zu schenken.
Hierauf trennten wir uns, und ich ging mit Schakara und Kara Ben Halef heim. Der Letztere hatte seinen täglichen Uebungsritt zu machen, und die Erstere bat ich, von jetzt an ein Auge auf Pekala zu haben und sie zu verhindern, etwa nach den Ruinen zu gehen. Oben angekommen, besuchte ich meinen Halef und seine Hanneh.
Sie hatten sich da oben auf dem ebenen Dache der Halle vortrefflich eingerichtet und freuten sich über diese meine erste Visite hier in ihrem „Duar“, wie sie es nannten. Ich sage „sie“, denn Halef schlief nicht, sondern war wach. Als ich mich zu ihm gesetzt hatte und ihm zärtlich über die abgemagerten Hände strich, sagte er:
„Mein lieber, lieber Sihdi! Ich habe gehört, daß jetzt du der Herr des hohen Hauses bist. Wie kannst du das Alles nur versorgen, ohne daß ich imstande bin, dir mit zu helfen!“
[370] Seine Stimme klang verhältnismäßig kräftig; sein Atem versagte nicht mehr, und seine Augen hatten wieder Leben.
„Sorge dich nicht!“ antwortete ich. „Ich brauche keine Hilfe.“
„Aber du bist ja selbst noch krank und schwach!“
„Krank nicht mehr, sondern gesund, vollständig gesund. Und was die Schwäche betrifft, so fühle ich, daß sie mit jeder Stunde geringer wird. Ich erhole mich mit einer Schnelligkeit, die zum Erstaunen ist, und hoffe, daß dies nun auch bei dir der Fall sein werde.“
Als ich hierauf von der Pferdeschau erzählte, war es, als ob das zugleich heilende Medizin und stärkende Nahrung sei. Und das wirkte augenblicklich. Seine Wangen bekamen Farbe und seine Züge fast lebhafte Beweglichkeit. Das Wettrennen war der Punkt, an welchem für ihn die Spannkraft neu geboren zu werden schien. Darum blieb ich mit ihm bei diesem Gegenstande, bis er ermüdete und schließlich die Augen schloß, um mitten im Gespräche einzuschlafen. Inzwischen war es Mittag geworden, und ich aß mit Hanneh und Schakara in der Halle.
Dann, als ich hinauf in meine Wohnung kam und das Tal überschaute, sah ich zahlreiche Reiter ihre Pferde auf der Rennbahn tummeln, was von jetzt an jeden Tag und zwar von früh bis abends geschah. Ich blieb den ganzen Nachmittag oben, auch zum Abendessen, welches ich mir heraufbringen ließ. Kara wußte Bescheid. Ich hatte ihm denselben während unserer Heimkehr von der Pferdeschau erteilt. Er stand, als alle Andern, Schakara ausgenommen, schliefen, mit neuen Fackeln unten im Hofe bereit.
Wir gingen erst hinab nach dem Landeplatze, um [371] die Fackeln in das Boot zu legen. Es war der zweite Tag des neuen Mondes, die Sichel am Himmel schon breiter und heller als gestern. Sie leuchtete uns. Nun benutzten wir den schon früh erwähnten, breiten Steinbruchweg, von welchem aus die hier ebene Fläche bis zu dem Quaderturm hinüberführte. Da dieser eingestürzt war und also oben offenstand, war es auch in ihm mondeshell. Für den Nebenbau, durch welchen wir mußten, hatte Kara ein Talglicht mitgenommen, welches angebrannt wurde.
Der „Aschyk“ lag noch genau so, wie wir ihn verlassen hatte. Es war ihm unmöglich gewesen, sich zu bewegen. Man sollte denken, daß diese Qual, verzehnfacht durch den Schmerz, den die scharfen Fesseln verursachten, ihn veranlaßt hätte, sich gefügig zu zeigen. Das war aber keinesweges der Fall. Am Morgen hatte er seine Zuflucht schließlich doch zur Bitte genommen; nun aber schien er sich das wieder anders überlegt zu haben. Er empfing uns mit Vorwürfen, sprach von seiner „Botschaft des Friedens“, nannte sich wiederholt den „Auserwählten“, den „Missionar“, ohne dessen Hilfe wir verloren seien, und erdreistete sich endlich gar, zu sagen, daß er uns verzeihen und bei dem Schah-in-Schah für uns bitten wolle, wenn wir unsere Fehler einsehen und sofort verbessern würden. Ich machte durch dieses blöde, prahlerische Geschwätz einen Strich, indem ich ihn summarisch fragte:
„Kennst du den Scheik ul Islam persönlich?“
„Nein, nein, nein!“ behauptete er zornig.
„Hast nichts, gar nichts mit ihm zu tun?“
„Nichts, nichts und dreimal nichts!“
„Bist nicht in seinem Auftrag hier bei uns?“
„Nein, nein und tausendmal nein!“
[372] „Gut! Jetzt bin ich überzeugt; aber wovon, das wirst du sehen. Wir geben dir jetzt die Füße frei, doch weiter nichts. Du hast mit uns zu gehen, gehorsam, still, wenn du den Tod vermeiden willst. Wir wissen mit entsprungenen Verbrechern umzugehen und kehren uns nicht daran, daß sie im Schutz des Scheik ul Islam stehen! Merkst du etwas?!“
Da sagte er nichts mehr! Kara nahm ihm die Riemen von den Beinen und ließ ihn aufstehen. Er wankte infolge der Blutstockung so, daß er gehalten werden mußte. Doch als wir ihn erst einmal draußen im Freien hatten, bekam er nach und nach immer festern Schritt. So kamen wir den Berg hinab und an die Landestelle. Als er aufgefordert wurde, in den Kahn zu steigen, weigerte er sich und begann, wieder laut zu werden. Da warf ihn Kara einfach nieder, zwang ihm ein Stück mitgebrachtes Zeug als Knebel in den Mund, fesselte ihm die Beine wieder und schob ihn dann hinüber in das Boot, um ihm dort die Augen zu verbinden. Dann stiegen wir ein und ruderten nach dem Kanale.
Als wir das Gestrüpp am Eingang desselben hinter uns hatten, wurde die Fackel angebrannt und in das erwähnte Loch gesteckt. Erst schoben und dann ruderten wir uns weiter, bis wir das vordere Bassin erreichten. Der Aschyk sollte nicht wissen, wo der Weg zur Freiheit zu suchen sei, denn es war meine Absicht, ihn von den Fesseln zu befreien, und er konnte vielleicht ein guter Schwimmer sein, obgleich dies von einem binnenländischen Perser, dessen Mutter Erde ihn so trocken behandelt, nicht zu vermuten war. Darum trieben wir das Boot in das Becken hinein, bis der Kanal nicht mehr zu sehen war, und nahmen ihm dann die Binde von den Augen. Der Knebel verhinderte ihn am Sprechen und sein Gesicht [373] lag so im Schatten, daß wir weder die Augen noch das Spiel der Mienen beobachten konnten, doch nahm ich an, daß der Anblick dieses schauerlichen Ortes von nicht geringem Eindruck auf ihn sein werde. Um diesen zu verstärken, nahmen wir uns die Zeit zu einer vielfach verschlungenen Rundfahrt. Da er auf dem Boden des Fahrzeuges lag, sah er nur, was oben war, und mußte also die Größe des Beckens in hohem Grade überschätzen. Das wollte ich!
Als ich meinte, daß es genug sei, hielten wir bei dem Steine an, auf welchem das Gerippe lag, dasselbe Gerippe, welches in meinem Traume so vorzüglich schwimmen konnte und so viel gesprochen hatte. Nun aber war es still. Die Beine eng und fast bis zu den Rippen emporgezogen, grinste es uns an, als ob es sich trotz seines Schweigens freue, einen Gesellschafter zu bekommen, der diese entsetzliche Einsamkeit mit ihm zu teilen habe. Er aber sah es nicht und ahnte es auch nicht.
Wir schoben, damit er das Skelett nicht sofort bemerken möge, das Boot nach der andern Seite des Steines. Kara legte den obern Teil seines Anzuges ab, um ihn nicht zu beschmutzen, und kletterte hinauf. Ich packte den Gefangenen am Genick und richtete ihn empor. Er war fast so starr wie eine Mumie und hatte die Augen zu. War das Ohnmacht, Schreck oder nur Verstellung? Kara faßte ihn von oben; ich schob nach; so brachten wir den Aschyk mit größerer Leichtigkeit hinauf, als zu vermuten gewesen war. Ich hatte angenommen, daß er sich möglichst widersetzen werde. Nun wurden ihm die Fesseln ab- und der Knebel aus dem Munde genommen. Dann stieg Kara wieder zu mir herunter und wickelte ein Paket auf, welches mit den Fackeln zusammengebunden gewesen war. Es enthielt für mehrere Tage Brot. Er warf es hinauf.
[374] Bis jetzt hatte der Gefangene ruhig gelegen; nun aber regte er sich. Er tastete zunächst wie blind umher. Dann richtete er, auf die Hände gestützt, den Oberkörper auf, starrte erst rundum in die gähnende Finsternis hinein und dann zu uns herunter und stieß dann einen Schrei aus, dessen Echo wie aus Wahnsinnstiefen von allen Säulen widerklang.
„Was ist das hier, was, was, was, was?“ heulte er. „Die Hölle, in die wir unsere Opfer stürzten! Die Finsternis, über welche wir lachten, wenn wir von oben herablauschten und die Körper auf das Wasser schlagen hörten! Und da liegt Brot, Brot, Brot! Gibt es denn hier noch gute Geister, die sich sogar des Teufels noch erbarmen, wenn er in der Verdammnis zu sich kommt?“
Er betrachtete uns. Sein Gesicht war vor Angst verzerrt, doch nahm es allmählich einen andern Ausdruck am. Die Wirkung des Schreckes begann zu weichen. Er besann sich.
„Du bist es, Effendi, du!“ rief er in fast frohem Tone aus. „Also doch anders, anders als ich dachte! Was soll ich hier? Warum habt Ihr mich an diesen Ort gebracht?“
„Du gehörst hierher,“ antwortete ich. „Der Mörder zu den Ermordeten!“
„Ich, ich - - mordete nicht! Das waren Andere! Diese meine Hand ist frei davon. Ich habe sie nie, nie, nie zum Sturze hergegeben! Sie ist vom Morde rein, rein, rein!“
Er hob die Hand wie zum Schwure empor.
„Aber geliefert hast du die Opfer und schadenfroh auf ihren Fall gelauscht. Was ist wohl teuflischer als das! Nun hast du Zeit zum stillen Weiterlauschen! Sie kommen, sie kommen, diese Opfer; darauf verlasse dich! [375] Du wirst sie hören, du Friedensbote unseres Schah-in-Schah! Es ist dir hier der ganze Raum und alle Zeit gegeben für das, was sie mit dir zu reden haben. Wir lassen dich allein; wir werden dich nicht stören!“
Ich griff zum Ruder, Kara auch.
„Halt, halt! Bleibt!“, schrie er auf.
Das Boot begann, sich zu bewegen.
„Nicht fort, nicht fort - - - nicht fort ohne mich! Ich muß mit, mit, mit!“ bat er.
Ganz so, wie wir unten um die Säule bogen, kroch er oben in gleicher Richtung weiter. Da sah er das Skelett und brüllte förmlich auf:
„Der Tod, der Tod - - - leibhaftig, als Gerippe! Hinweg, hinweg, hinweg! Das halte ich nicht aus!“
Er erhob sich auf die Kniee, streckte uns die Hände nach und flehte:
„Erbarmen, Effendi, Erbarmen! Hier gehe ich zu Grunde!“
Da hielt ich an und antwortete:
„Was habe ich dir heut früh vorausgesagt? Du werdest auf den Knieen liegen und mich um was für eine Erlaubnis bitten?“
„Dir mein Geständnis machen zu dürfen!“ jammerte er.
„Nun gut! Ich habe mein Wort erfüllt. Was tust du nun, um dich zu retten?“
„Die Wahrheit sagen. Weiter kann ich nichts!“
„So sprich!“
Ich tat einen Ruderschlag, um ihm wieder näher zu kommen. Sobald er dieses Zeichen der Geneigtheit sah, kehrte ihm der verlorene Mut zurück. Noch vor dem Gerippe schaudernd, von dem er sich ab- und zu uns wendete, wagte er doch, von Neuem zu lügen und zu leugnen:
[376] „Ich weiß, du prüfst mich nur, Effendi. Du willst sehen, ob ich ein Mensch bin, der sich Unwahres ersinnt, um sich zu retten, und wirst mich dann, wenn ich es nicht tue, nur um so höher schätzen. Ich habe mit dem Scheik ul Islam wirklich nichts zu tun. Nimm mich jetzt wieder mit, und führe mich in dein Haus, so werde ich dir die Beweise geben, daß ich nur zu Euerm Glück zu Euch gekommen bin. Ich teile dir alle Geheimnisse dieser Ruinen und die sämtlichen Absichten Eurer Feinde mit. Ihr wandelt schnurgerad in das Verderben. Ich aber zeige Euch den Rettungsweg! Die Faust ist hoch erhoben, die Euch treffen soll. Wenn nicht schon heut, so fällt sie doch ganz sicher morgen auf Euch nieder. Ich aber, der ich Alles weiß, werde als Euer Beschützer bei Euch wohnen und - - -“
„Und dann mit deiner Pekala beim neuen Schah in Isphahan erscheinen!“ fiel ich da ein. „Du Narr! Das war die letzte deiner falschen Karten. Zu denken, daß wir diesem Trumpfe glauben, nachdem wir alle andern schon als falsch erkannten, ist nicht mehr Wahnsinn, ist Vermessenheit! Fort, Kara, nur fort!“
Uns von ihm abwendend, senkten wir die Ruder. Einige kräftige Schläge und der Stein lag schon im tiefsten Dunkel.
„Halt, halt! Ich will gestehn, gestehn - - - gestehn!“ schrie es hinter uns, und alle Säulen hallten es wider.
Wir kehrten uns nicht daran und überließen ihn der Finsternis, die nicht nur um ihn, nein, auch in ihm gähnte. - - - - - -
[377]