[105] Da klatschte der Pedehr seine Hände laut zusammen und rief aus:

„Effendi, ich war zwar still bisher, aber ich bin auch mit spazieren gegangen. Es ist ja ganz erstaunlich, was du alles siehst und zusammenholst, wenn man so mit dir geht! Doch sobald man es dann in die Hände nimmt und ganz genau betrachtet, möchte man sich fast vorwerfen, blind gewesen zu sein. Jetzt aber sind auch mir einige Gedanken gekommen, welche ich dir mitteilen möchte. Erlaubst du es?“

„Von Erlaubnis kann keine Rede sein. Ich bitte dich darum,“ antwortete ich.

„Ihr habt vorhin noch einige Sillan vergessen. Nämlich die zwei Männer im Khan Iskenderijeh, wo ihr eure Pferde tränktet und von den beiden hörtet, daß die Karawane des Kammerherrn kommen werde. Sie waren keine Perser und hatten nur silberne Ringe. Auch das deutet darauf hin, daß die hohen Sillan sich nur hier in Persien befinden. Ich habe aber einen noch viel besseren Beweis hierfür. Nämlich der Pädär-i-Baharat erwähnte eine Synagoge, in welcher diese Hohen am Montage des Soldes zusammenkommen. Läge diese Synagoge da, wo man arabisch oder türkisch spricht, so hätte er sie ganz gewiß Sinawon, Chawra oder Jähudi Chawrasy genannt. Da er sie aber als Mäjmä-i-Yähud bezeichnete, so ist anzunehmen, daß sie hier in Persien liegt. Ebenso vermute ich, daß die Pädärahn ihren Wohnsitz nicht in großer Ferne von ihr haben können, weil es ihnen sonst nicht möglich sein würde, sich an dem Versammlungstage regelmäßig einzufinden. Giebst du mir da recht?“

„Ja. Grad hierauf wollte ich euch später aus ganz besondern Gründen aufmerksam machen.“

„Und nun die Gewürze,“ fuhr der Pedehr fort. [106] „Die sind mir aufgefallen. Es wurde von einem ‚Vater der Gewürze‘ gesprochen, von einem ‚Schatten des Safrans‘. Auch der Saflor wurde genannt. Der Pädär-i-Baharat sagte: ‚Warum bin ich für alle Gewürze bestimmt und habe doch nur den Safran bekommen. Muß ich das alles dulden?‘ Es scheint, daß die Pflichten und Obliegenheiten eines jeden Pädär mit dem Geruche eines bestimmten Gewürzes bezeichnet werden, und daß der Pädär-i-Baharat die Erfüllung dieser Pflichten zu überwachen habe und dafür besser bezahlt werde als die anderen. Wenn du mir doch erlaubtest, auf diesen ‚Wohlgerüchen‘ bis zum ‚Rosenduft‘ emporzusteigen, Effendi!“

„Thue es!“ antwortete ich rasch. „Ich höre, daß du auf dem richtigen Wege bist.“

Er fuhr fort:

„Was die Sillan thun, ist Sünde, ist Verbrechen. Sie beginnen mit dem Schmuggel, den man kaum für ein Vergehen hält, und steigen bis zum Mord hinauf, der schwersten aller strafbaren Thaten. Zwischen diesen beiden liegt gewiß die ganze Reihe der Verbrechen, deren jedes mit einem besondern Geruche bezeichnet wird. Nicht?“

„Jawohl,“ nickte ich. „Es giebt wohl keinen Sill, von dem man sagen könnte, daß er ‚in einem guten Geruche‘ stehe! Sprich weiter!“

„Der Duft der Rose bedeutet den Mord. Das wissen wir, seit heute die deine aufgebrochen werden sollte. Der des Safran scheint die Schmuggelei zu sein. Habe ich recht, wenn ich annehme, daß der Brief an den Multasim den Befehl zur Ermordung eines Menschen enthält?“

„Ja.“

„So ist es doch auffällig, daß nicht von der Rose im allgemeinen, sondern von der köstlichen Gul-i-Schiras die Rede ist!“

[107] „Mir fällt das gar nicht auf. Es ist das einfach eine Steigerung.“

„Eine Steigerung des Mordes? Kann ich, wenn ich jemand totschlage, dies noch steigern?“

„Ich meinte es anders. Der Duft der gewöhnlichen Rose bedeutet die Ermordung einer gewöhnlichen Person. Was für eine Person wird da wohl gemeint sein, wenn man nach der herrlichsten aller Rosen greift?“

„Ah, das ist die Lösung? Es handelt sich nicht um einen gewöhnlichen, sondern um einen wahrscheinlich sehr hochstehenden Menschen!“

„So ist es; ich wenigstens denke es mir so. Du hast unsern Gedankengang mit deiner Erwähnung der Gewürze unterbrochen. Wir waren bei der Ueberzeugung angekommen, daß der Aemir-i-Sillan in der Nähe des Multasim zu suchen sei. Er traut ihm nicht. Er will ihm nicht wissen lassen, daß er nur seine Hand auszustrecken brauche, um ihn zu vernichten. Er will ganz im Gegenteile die Meinung in ihm erwecken, daß er sich persönlich sehr weit von ihm befinde, womöglich gar jenseits der persischen Grenze. Darum hat er diesen Brief durch den Säfir hinunter nach dem Irak Arabi bringen lassen, von wo er dann zurück nach Persien und zu dem Multasim zu kommen hatte.“

Da fiel der Ustad ein:

„Das klingt zwar sehr richtig, doch stößt mir dabei ein Bedenken auf!“

„Welches?“ fragte ich.

„Errätst du es nicht?“

„Doch! Wenn meine Ansicht die richtige ist, so muß der Multasim jedenfalls zu erfahren haben, von welchem Orte der Brief kommt?“

[108] „Ja, so dachte ich. Es steht aber nichts davon im Briefe!“

„Sehen wir genau nach. Vielleicht finden wir etwas. Und wenn es auch weiter nichts als nur irgend ein Zeichen wäre. Ein Personenname wird freilich nicht angegeben sein, weil dies zum Verrate führen könnte.“

Wir untersuchten hierauf beide Seiten des Briefes, konnten aber nichts entdecken, selbst gegen das Licht gehalten nicht. Darum nahmen wir hierauf den Umschlag her. Wir hatten bisher nur seiner äußern Seite Beachtung geschenkt. Als wir nun auch die innere betrachteten, da sahen wir allerdings, mit einer feinen Feder ganz an den äußersten Rand geschrieben, in kleinsten Buchstaben einige Worte gekritzelt, die jedem andern als dem Eingeweihten unbedingt entgehen mußten. Sie lauteten: „Durch den Dartschin in Korna von dem Aemir.“ Dartschin ist das persische Wort für Zimmet.

„Nun?“ fragte ich, über diese Entdeckung erfreut.

„Ja; es scheint sich alles, was du schließest, bestätigen zu sollen,“ antwortete der Ustad. „Ich habe nicht geahnt, daß man bei einem Spaziergange auf solchem Wege, an welchem fast nichts zu stehen scheint, so schöne und so wichtige Blumen sammeln könne. Es giebt jedenfalls bei den Sillan eine Vorschrift darüber, wo und wie solche Auskünfte beizufügen sind. Aber nun kommt die Hauptsache: Wer ist der, welcher ermordet werden soll?“

„Ich hoffe, daß wir auch das finden werden.“

„Mir scheint es unmöglich!“

„Mir nicht. Es handelt sich jedenfalls um einen hochstehenden Herrn. Du bist am Hofe bekannt. Du wirst die Namen aller hervorragenden Männer Persiens wissen.“

„Die weiß ich allerdings. Aber einen Rafadsch [109] Azrim kenne ich nicht. Dieser Name klingt so arabisch und so persisch, aber einen mir bekannten Mann, der ihn trägt, giebt es nicht.“

„Vielleicht heißt er gar nicht so, sondern anders,“ fiel da der Pedehr ein. „Auf dem Umschlage wurde doch auch Dartschin anstatt Esara el Awar gesagt!“

„Aber Rafadsch Azrim ist kein Gewürz!“ erwiderte der Ustad.

„Sollte da das Alphabet nicht helfen können?“

Wir versuchten es; aber auch das war vergeblich. Da aber schien den Ustad ein plötzlicher Gedanke zu überkommen. Er nahm den Brief in beide Hände, las und rief dann aus:

„Ich habe es! Wie leicht, und wie aber auch so gräßlich!“

„Nun, wer ist's?“ fragte ich gespannt.

„Lies selbst! Lies den Namen rückwärts! So leicht! Wie konnten wir nicht hierauf kommen!“

Er wollte mir das Schreiben geben; ich nahm es aber gar nicht, denn man brauchte die geschriebenen Worte nicht zu sehen, um zu wissen, daß der Name Rafadsch Azrim, wenn man ihn von rückwärts liest, Dschafar Mirza lautet.

Da sahen wir uns alle drei nicht nur erstaunt, sondern höchst betroffen an.

„Das ist doch nicht etwa Mirza Dschafar, mein Bekannter?“ fragte ich.

„Doch!“ versicherte der Ustad.

„Aber dieser war ja nicht Prinz!“

„Er war es. Aber er setzte während seiner großen, mehrjährigen Studienreise den Mirza nicht hinter, sondern vor seinen Namen. Er glaubte Grund zu haben, [110] jedes Aufsehen zu vermeiden. Er reiste im Namen des Schah-in-Schah, und das sollte niemand wissen.“

„Was ist er jetzt?“

„Er hat kein besonderes Amt. Er verzichtet auf alle Ehren und Würden. Er will sich nicht unter Die reihen lassen, welche angeben, die Diener des Beherrschers zu sein, und in Wirklichkeit nur seine Gegner sind. Aber er hat ihm sein ganzes Leben und seine ganze Kraft geweiht, und wo es gilt, das Volk von der Güte und von der Gerechtigkeit seines Herrn zu überzeugen, da ist er stets vorhanden.

„So muß ihn Ahriman Mirza hassen, wenn er ihn kennt!“

„Ob er ihn kennt! Sie stehen einander gegenüber wie Feuer und Eis, wie Licht und Finsternis, wie Liebe und Haß, wie Tugend und Verbrechen.“

„Wo ist Dschafar Mirza jetzt?“

„Ich weiß es nicht. Kürzlich war er in Teheran beim Schah, der sich jetzt in Isphahan befindet. Vielleicht ist er auch dort. Ich will dir nur sagen: Er ist mein Freund! Das ist genug! Ich muß ihn warnen! Sofort warnen!“

Da legte ich ihm die Hand auf den Arm und sagte:

„Nein! Du wirst ihn nicht warnen!“

„Höre ich recht? Verlange von mir alles, nur das nicht!“

„Ich verlange es!“

Da trat er von mir zurück, sah mir mit ungewissen, fast zornigen Augen in das Gesicht und fragte:

„Soll ich irr werden an dir, Effendi?“

„Werde irr! Doch sei nicht unbedachtsam!“

„Unbedachtsam? Es giebt hier nur eine einzige [111] Bedachtsamkeit, einen einzigen Gedanken, einen einzigen Entschluß und eine einzige Pflicht für mich: meinen Freund zu retten!“

„Das sollst du auch!“

„Ohne ihn zu warnen?“

„Ja. Denn wenn du ihn warnst, so ist er zwar für jetzt zu retten, für später aber wahrscheinlich verloren!“

„Beweise es!“

Da schüttelte ich bedauernd den Kopf und sagte:

„Ich hörte aus deinem eigenen Munde, daß du mich liebest, daß du dich Eins mit mir fühlest. Das war, als ich mich in Todesgefahr befand. Da sagte ich dir, daß, wenn Geister sich küssen, es für sie fortan nur noch einen vereinten Pulsschlag gebe. Und nun? Jetzt? Ist es wirklich Liebe gewesen? Ein Kuß der Geister? Kaum eine Stunde später tritt schon eine andere Gestalt zwischen dich und mich! Die Einheit schwindet, und des Lebens Zwiespalt schiebt uns auseinander! Du willst Beweise! Kannst du nicht vertrauen? Soeben noch gingst du an meiner Hand ‚spazieren‘. Ich zeigte dir, daß ich viel besser und viel weiter sah als du. Da kommt ein Bild aus vergangenen Tagen. Es steigt aus deiner ‚Gruft‘ zu uns empor. Es ist der Schatten, der dich einst regierte. Kannst du ihn bannen? Ja? Versuche es!“

Er stand gesenkten Hauptes vor mir und sagte nichts. Da ließ der Pedehr seine begütigende Stimme hören:

„Zürne nicht, Effendi! Wir vertrauen dir! Wenn du willst, daß Dschafar Mirza nicht gewarnt werden solle, so wird er nicht gewarnt. Du hast deine Gründe!“

„Ja; ich habe sie und will sie euch nun sagen. Wann ist der Tag des Wettrennens, Pedehr?“

[112] „Es ist der fünfte des Schaban,“ antwortete er.

„Wann soll Dschafar Mirza ermordet werden?“

„Am fünften des Monats Scha - - -“

Er kam nur bis zu dieser Silbe, denn da fiel der Ustad schnell und verwundert ein:

„Maschallah! An - - an ganz demselben Tage!“

„Merkst du etwas, Ustad?“ fragte ich ihn.

„Nein!“ gestand er.

„Noch nichts? Sein Blut wird hier bei euch vergossen werden sollen!“

„Effendi!“ fuhr er auf.

„Effendi!“ rief vor Schreck auch der Pedehr.

„Ich bitte euch, nicht zu erschrecken!“ fuhr ich fort. „Es war das anders wohl vorherbestimmt. Als der Aemir-i-Sillan befahl, daß Dschafar Mirza am fünften Tage des Monates Schaban sterben solle, wußte er noch nicht, daß er diesen Tag hier bei euch verbringen werde.“

„Hier bei uns - - hier bei uns? fragten beide wie mit einer Stimme.

„Ja, hier im Duar der Dschamikun!“

„Der Aemir-i-Sillan?“ rief der Ustad.

„Er selbst?“ stimmte der Pedehr ein.

„Er selbst!“ bestätigte ich. „Er kommt mit seinem Henker.“

„Der ist doch hier! Den haben wir ja schon!“ warf der Ustad ein. „Hast du vergessen, daß der Multasim der Henker ist? Unser Gefangener, oder vielmehr dein Gefangener, dem du es wohl verleiden wirst, jemals wieder hierher zu kommen!“

„Verleiden? Das würde der größte Fehler sein, den ich als euer Freund begehen könnte! Wenn ich mich heut oder morgen an ihm vergreifen wollte, so käme vielleicht schon übermorgen ein ganzes Heer von ‚Schatten‘ über [113] euch, die ich mit dieser meiner That geschaffen hätte! Wir wollen Feinde vernichten, aber keine neuen hervorrufen!“

„Willst du ihn etwa laufen lassen?“ fragte der Pedehr.

„Ja,“ gestand ich ein.

„Unmöglich!“

„Doch!“

„Den Henker freigeben, welcher Dschafar Mirza ermorden soll! Bedenke, Effendi!“ rief er warnend aus.

„Ich habe es bedacht!“

Da sagte der Ustad in beruhigendem Tone zum Pedehr:

„Du vergissest eins: Der Multasim hat den Brief ja nicht erhalten. Er weiß also gar nicht, was der Aemir-i-Sillan von ihm verlangt, und kann es folglich auch nicht thun.“

„Du irrst!“ warf ich ein. „Er wird den Brief bekommen.“

„Von wem?“

„Von uns. Wenn auch nicht direkt.“

Da waren sie beide still. Darum hob ich freundlich mahnend den Finger und sagte:

„Pedehr, Pedehr! Noch soeben hast du dich verständig meiner angenommen, und jetzt schaust du mich an, als ob du ganz und gar vergessen hättest, daß ‚ich wohl meine Gründe haben werde‘! Ihr seid mit mir fast durch den ganzen Brief gegangen und habt die Augen immer noch nicht offen. Ich sah euch bei dem Gedanken, daß der Aemir-i-Sillan hierherkommen könne, förmlich erschrecken. Warum doch nur? Er ist ja schon hier gewesen!“

„Wann?“ fragte der Ustad im Tone des Unglaubens.

„Vielleicht schon oft, nämlich heimlich. Ganz offen aber heut.“

[114] „Heut - -? Wann? Wo? Wie?“

„Mit den Persern. Er ist ja Perser!“

„Effendi, ich weiß nicht, was ich sagen soll!“

„Sage nichts, sondern suche!“

„Wo?“

„Hier in diesem Briefe und in den Reden, welche uns gehalten worden sind. Man soll nicht nur körperlich, sondern auch geistig sehen und hören lernen!“

„Ich sehe nichts, und ich höre nichts!“

„Und doch meine ich grad den Ton, in welchem dieser Brief verfaßt und jene Rede gehalten worden ist. Du sollst ihn jetzt noch einmal hören. Ich bin überzeugt, daß du mir dann sofort den Namen des Aemir-i-Sillan sagen wirst.“

Ich nahm das Schreiben mit der linken Hand hoch, las es in der beabsichtigten Weise vor und ahmte mit der Rechten die heut beobachteten, unendlich selbstbewußten Gesten nach. Kaum war das letzte Wort von meinen Lippen, so rief der Pedehr:

„Der Mirza, der Mirza, wie er leibt und wie er lebt!“

Der Ustad aber holte tief Atem. Seine Augen schienen größer zu werden. Sie schauten durch die offene Thür in die Nacht hinaus, genau mit jenem Blicke, den er in die unsichtbare Ferne gerichtet hatte, als er heut vor der Dschemma unter dem Baume stand.

„Ah - - ri - - man - - - - - - Mir - - za - -!“ seufzte er dann. „Wer ist von uns beiden der Hellsehende, Effendi? Als ich heut vor euch stand und diese Stimme hörte, deren Nachahmung dir jetzt so täuschend gelungen ist, da stiegen alte, ferne, ferne Bilder in mir auf. Es ging ein Schatten von mir aus, weit über diese meine geliebten Berge hinüber. Im Westen ange- [115] kommen, richtete er sich auf, um Gestalt, um Farbe und um Leben anzunehmen. Ich erkannte diese Gestalt und dieses Gesicht: ich war es selbst; es war das meine! Da aber begann es, sich zu verwandeln. Es nahm andere Konturen und andere Züge an, und als sich das vollzogen hatte, als wer stand ich dann da? Als Ahriman, als Ahriman Mirza, der jetzt, in diesem Augenblick, zu meiner Dschemma sprach. Hatte dieser aus meiner Vergangenheit auftauchende Schatten hier in der Gegenwart menschliches Wesen angenommen, damit mir endlich, endlich die Erleuchtung komme, wem ich den raschen Absturz meines Lebensweges zu verdanken habe? Wer warf mich damals nieder? Wer gab mir den Gedanken ein, zu fliehen? Du sagtest, Effendi, daß es nicht das Leben, sondern mein eigener Schatten gewesen sei. Ich hatte ihn so oft, so oft gesehen, doch aber nie erkannt. Heut zeigte er mir endlich sein Gesicht. Heut war er Ahriman, der geistige ‚Weltzerstörer‘, der mit dem niedern Sinn der blinden Masse kost, um alles ihm Verhaßte zu vernichten.“

„Wohl dir,“ sagte ich. „Du hast den Richtigen gesehen!“

„Meinst du es auch? Den Mirza mit dem falschen Prunkgeschmeide? Den Geist der nachgemachten Edelsteine, mit deren Flimmern er der Menge imponiert? Den wohlgesinnten Schmeicheldemokraten, in Wahrheit aber grasser Demagog? Den treuen Förderer des öffentlichen Wohles, der aber nur sein eigenes erstrebt? Den immer hilfsbereiten Volkserbarmer, der aber dieses seines Volkes Seele mit egoistischer Berechnung niedertritt? Den anerkannten Feind und Richter jeder Lüge, der aber doch, sobald sie ihm nur paßt, grad vorzugsweise sie in seinem Stalle züchtet? Ich hätte ihn schon längst erkennen sollen, und bitte dich, Effendi, merk ihn dir!“

[116] Ich machte, ohne zu antworten, ganz unwillkürlich eine Handbewegung, welche ihn zu der Frage veranlaßte:

„Wie meinst du das? Was wolltest du mit dieser Geste sagen? Ich glaubte zwar, du habest ihn bei mir zum erstenmal gesehen, doch da du schon so oft im Morgenlande warst, so ist es möglich, daß du ihm auch früher schon begegnet bist.“

„Im Morgenlande?“ lachte ich. „Nein, nein! Doch kenne ich ihn auch; mehr habe ich nicht zu sagen. Du hast ihn gut gezeichnet. Wenn man dich sprechen hört, kann man sich gar nicht irren. Nun aber muß ich dich nach einem fragen: Du hast ihm heut verziehen. Aus welchem Grunde wohl?“

„Verziehen? Ich? Wieso?“

„Du gabst ihm jenes Märchen aus ‚Tausend und ein Tag‘, in welchem selbst der Teufel selig wird. Woher nahmst du die Dichtung, daß die Hölle schon vor der Menschheit auf zum Himmel steige?“

„Verzeihung ist edler als Rache. Weißt du das nicht, Effendi?“

„Ich weiß es. Aber der Verzeihung muß die Reue vorangehen. Das ist Gottes Ordnung! Auch ich habe gefehlt, viel gefehlt. Als ich das erkannte, habe ich bereut und habe gebüßt. Ich war nur ein Mensch, also zu entschuldigen. Ich verzeihe gern, unendlich gern, weil auch mir verziehen wurde. Aber ich bin nicht Gott, der seine Ordnung ändern kann. Soll ich allein bereuen, mein Schatten aber nicht? Ich sage dir, ich hätte ihm ein ganz anderes Märchen erzählt, nicht aus ‚Tausend und einer Nacht‘ und nicht aus ‚Tausend und einem Tag‘, sondern jenen wunderbaren Schluß aus ‚Tausend und ein Narr‘, in welchem der Sultan sie alle zu den heulenden und tanzenden Derwischen sperren läßt!“

[117] Da sah er vor sich nieder, sinnend, längere Zeit. Dann sagte er, wie um sich zu entschuldigen:

„Und die Liebe, Effendi, deine christliche Liebe?!“

„Sei still, Ustad! Wende dich nicht an die meinige; du meinst ja doch die deinige! Die wahre christliche Liebe weiß nichts von Charakterlosigkeit und zweckloser Gefühlsduselei! Sie wirft sich nicht wie ein feiles Weib jedem unwürdigen Leichtsinn in die Arme. Sie lacht und lächelt nicht den ganzen Tag. Sie ist ein ernstes Himmelskind. Sie hat den Ratschluß Gottes auszuführen. Sie weiß gar wohl das, was sie soll und will. Sie trägt das Buch der Gnade in der einen, das Buch der Strafe in der andern Hand. Nun hat der Mensch zu wählen. Die Reue jubelt; die Teufel zittern. Für Narren aber hat sie weder Lohn noch Strafe. Sie läßt sie ohne jede Antwort schwatzen und giebt dem Sultan recht, der sie ermächtigte, in ihren ‚Tausend und ein Märchen‘ vor aller Welt zu heulen und zu tanzen!“

„So, so sieht deine Liebe aus?“ fragte er. „Ich denke, Gott läßt seine Sonne aufgehen über Gerechte und Ungerechte!“

„Die Sonne da oben, den Himmelskörper, ja. Er giebt sogar dem Ungerechten alles, was er zum irdischen Leben braucht. Aber wenn er das in seiner Güte thut, so hütet er sich in seiner Gerechtigkeit, dies auch auf das andere Leben anzuwenden. Er weiß, daß dann alle Ungerechten den Himmel füllen würden, um die Gerechten nicht hereinzulassen! Nach dieser deiner Liebestheorie würde der Himmel schnell zur Hölle werden, nicht aber die Hölle zum Himmel. Ihre letzte logische Folge ist, daß alles Gute verschwinden und Gott zum Teufel werden müßte. Unsere Bibel spricht nicht ohne Grund von dem Wurme, der nie stirbt, von dem Feuer, welches nie ver- [118] lischt, und von dem Orte, an welchem Heulen und Zähneklappern ist. Indem du in deinem Märchen die Hölle selig werden ließest, hast du alle diese Qualen für die armen Geschöpfe aufgehoben, die von ihr verführt worden sind. - - - War das etwa der Inhalt deiner Bücher, die du schriebst? Hast du jene angebliche Gottes- oder Christusliebe gelehrt, welche jedem Schuldigen die Strafe erläßt, nur damit Gott seinen Himmel nicht leer stehen zu lassen brauche? Bist du ein Verkünder jener unüberlegten Barmherzigkeit gewesen, welche die Bösen schont, damit sie gegen die Guten um so unbarmherziger verfahren können? Hast du jene pseudogöttliche Langmut gepredigt, welche das Unkraut ungehindert emporschießen läßt, bis der Weizen erstickt worden ist? Wenn du mir diese Fragen mit ja beantworten mußt, so hast du die Sünde und das Laster, die Selbstgerechtigkeit und die Heuchelei großgezogen und darfst dich nicht darüber wundern, daß diese deine Schatten schließlich dich auch selbst noch überwältigt haben! Du bist für die christliche Schwäche eingetreten, aber nicht für die christliche Liebe! Du hast diese Schwäche durch dein eigenes Leben in das Praktische übertragen und bist durch sie zum Rohre geworden, welches brechen mußte, als es sich nicht mehr tiefer beugen konnte! Du glaubtest, berufen zu sein, dich -“

„Halt ein, Effendi, halt ein!“ rief er aus, indem er die Hände abwehrend gegen mich bewegte. „Du hast recht, recht, o wie so recht! Du hast vorhin von Liebesduselei gesprochen. Es war richtig! Ich dusele noch, jetzt noch, heute noch! Als du den Multasim vorhin laufen lassen wolltest, wohl um dann später seinen ganzen Anhang in die Hände zu bekommen, war ich dagegen. Ich wollte seine sofortige Bestrafung, aber mild, schonend. Ich gab ihn scheinbar ganz in [119] deine Hände, aber wenn es deine Absicht gewesen wäre, ihn vollständig unschädlich zu machen, ihn zu vernichten, so hätte ich mich dagegen gewehrt mit allen Mitteln, die mir zur Verfügung stehen!“

„Wirklich? Das ahnte ich freilich nicht!“

„Es ist so, ganz gewiß! Du siehst, daß ich ehrlich bekenne. Du hast mich in diesen letzten fünf Minuten kuriert. Gefühlsduselei! Wie wahr, wie wahr, wie wahr! In dieser Duselei habe ich mir mein eigenes Mark aus Leib und Geist gesogen. Nun aber soll es anders, anders, anders werden! Ich bin zwar alt, sehr alt, aber noch habe ich Knochen, und noch habe ich Muskeln, nicht nur am Körper, sondern auch am Geiste. Erlaube mir, daß ich mich an dir stähle! Ich richte mich auf. Jawohl! Ich weiß, daß ich es werde! An dir will ich mich heben. Sei du die Hand, an der ich Kraft erlange! Sei du es jetzt, von dieser Stunde an! Ich gehe morgen fort, für eine ganze Woche. Ich bitte dich, an meine Statt zu treten! Du sollst der Herr im ‚hohen Hause‘ sein. In deiner Hand weiß ich mein kleines Reich am besten aufgehoben. Hier mein Pedehr hört, was ich dir jetzt sage. Er wird, was du befiehlst, so auszuführen wissen, als ob ich selbst es ihm befohlen hätte.“

„Du willst verreisen?“ fragte ich erstaunt.

„Ja,“ antwortete er.

„Darf ich wissen, wohin?“

„Natürlich! Du bist ja nun der Herr, von dieser Stunde an! Ich gehe nach Isphahan, zum Schah-in-Schah. Infolge dessen, was ich heut von meinen Feinden hörte.“

„Vortrefflicher Gedanke!“ stimmte ich ihm bei.

„Es freut mich sehr, daß du derselben Ansicht bist. Ich hab es ihnen ehrlich mitgeteilt, daß ich mir an der [120] rechten Stelle Hilfe suchen werde. Sie höhnten wohl darüber. Wer sich allein auf seinen Schah verläßt und dieses ohne Furcht und offen sagt, den wird man zwar verspotten und zum Gelächter machen; doch wenn die Zeit des Schah gekommen ist, dann regt die Schar der Amdschaspands1) [1) Heerscharen, Engel.] die Schwingen, und Geist um Geist fährt mit dem Schwert darein, dem Kindesglauben Himmelssieg zu bringen!“

Er hatte meine Hand ergriffen und schaute mit einem Blicke aufwärts, in welchem allerdings ein Vertrauen glänzte, dem keines Spötters Worte je imponieren konnte.

„Du willst den Herrscher selbst sprechen?“ fragte ich.

„Nur ihn! Zwischen ihm und mir giebt es keine Mittelsperson. Ich sage ihm alles, alles, so wie ein Kind zu seinem Vater spricht. Es ist wie ein Gebet, bei dem ein Dritter doch nur stören würde.“

„Um was willst du ihn bitten?“

„Um nichts. Ich sage ihm, was ich zu sagen habe. Dann thut er selbst, was er für richtig hält. Ich stehe vor ihm aufrecht wie vor Gott. Ich meide jene kriecherische Weise, die auf gebeugten Knieen sich bis zum Throne schiebt, um dort den eignen Vorteil zu erschleichen und dann, wenn sie den Schah verlassen hat, die um ihr Recht Gebrachten zu verachten. Es ist mir also völlig unbekannt, was er für mich und uns bestimmen wird. Doch bin ich überzeugt, daß es weit über alle Wünsche geht, die du für mich im Herzen tragen könntest.“

„Aber der weite Weg! Fürchtest du ihn nicht?“

„Fürchten? Den Weg zu meinem Schah? Wie weit ist doch der Himmel von der Erde! Und täglich steig ich auf, um mit Chodeh zu sprechen! Dem Glauben, [121] dem Vertrauen ist nie ein Weg zu weit und nie ein Herrscher fern! Auch mache ich diese Reise nicht allein. Ich habe Dschamikun an meiner Seite, die mich begleiten werden. Auch geht der Kaufmann mit, der heute bei uns schläft.“

„Agha Sibil?“

„Ja.“

„Sibil heißt Schnurrbart. Ist dieses Wort sein richtiger Name, oder nennt man ihn vielleicht nur seines Bartes wegen so?“

„Wahrscheinlich ist dies letztere der Fall, denn einen Bart, wie er ihn trägt, hab ich noch nie gesehen. Ich halte mich von Kaufgeschäften fern. Ich lasse das gern dem Pedehr hier über. Er kann dir Auskunft geben, wenn du willst.“

Es verstand sich ganz von selbst, daß mir erwünscht war, wo möglich Bestimmtes über den Handelsmann zu erfahren; darum fragte ich den Scheik:

„Kennst du die Verhältnisse dieses Agha Sibil?“

„Ich pflege nicht mit Leuten Geschäfte zu machen, die ich nicht kenne. Er ist reich, sehr reich, aber ehrlich und bescheiden.“

„Hat er Kinder?“

„Eine Tochter und zwei Enkel.“

„Sind die Enkel die Kinder dieser Tochter?“

„Sie sind es.“

„Wenn du die Namen wüßtest!“

„Ich kenne sie, denn wenn ich nach Isphahan komme, pflege ich sein Gast zu sein. Die Tochter heißt Aelmas. Ihr Mann war ein türkischer Offizier, der in Damaskus erschossen worden ist. Ihr Sohn, welcher heut mit seinem Großvater hier bei uns ist, heißt Ikbal, ihre Tochter Sefa.“

[122] „Ist die Tochter verheiratet?“

„Nein. Sie will im Hause Agha Sibils bleiben.“

„Wie kommt es, daß die Tochter eines persischen Kaufmannes in Isphahan die Frau eines türkischen Offiziers in Damaskus geworden ist. Dieser letztere ist doch wahrscheinlich Sunnit gewesen, während sie Schiitin war!“

„Ich glaube, im Kreise der Familie sogar gehört zu haben, daß er vordem Christ gewesen ist. Wenn ich mich nicht irre, stammte er aus dem Lande, welches man Lehistan1) [1) Polen.] nennt. Er lernte den Kaufmann in Palästina kennen, wo dieser damals wohnte. Als die Tochter desselben seine Frau geworden war, kam er nach Damaskus. Agha Sibil zog mit. Bei der großen Christenverfolgung dort ereignete sich das schwere Unglück, welches die Familie traf. Der Offizier wurde wegen Ungehorsam erschossen. Agha Sibil wurde vollständig ausgeplündert und mußte als Schiit fliehen. Es gelang ihm, mit der Tochter und deren Kindern nach Persien zu entkommen, wo er ein neues Geschäft begann und es durch Fleiß und Ehrlichkeit zu seinem jetzigen Vermögen brachte. Deine Augen leuchten, Effendi. Warum? War dir von dem, was ich erzähle, vielleicht schon etwas bekannt?“

„Ja,“ antwortete ich, indem ich vor freudiger Erregung im Zimmer hin und her zu gehen begann.

„Was? Oder wer?“

„Wer? Der Offizier.“

„Kanntest du ihn, ehe er erschossen worden ist?“

„Nein, sondern als er erschossen worden war.“

„So hast du seine Leiche gesehen.“

„Leiche? Hm! Ja! Denn er war eigentlich eine Leiche. Aber ich habe mit dem Erschossenen gesprochen.“

[123] „Maschallah! Tote reden doch nicht mehr!“

„Zuweilen doch! Besonders Erschossene, welche keine Kugel bekommen haben!“

„Keine - - Kugel - - -? Effendi, du scherzest wohl!“

„Ich spreche im größten Ernste. Ich habe mit dem Toten gesprochen, und ihr beide kennt ihn auch.“

„Wir - - -? Daß ich nicht wüßte!“

„Ich habe euch doch von jenem alten Bimbaschi in Bagdad erzählt, welcher dann Mir Alai geworden ist!“

„Allerdings. Bei dem du wohntest, und der von dem Säfir gefangen genommen wurde?“

„Derselbe! Er ist nun ein doppelter Bekannter von euch, denn ihr kennt ihn erstens durch mich und zweitens durch den Kaufmann Agha Sibil. Ich bin sogar nun überzeugt, daß ihr ihn auch noch persönlich kennen lernen werdet. Er ist nämlich der Offizier, welcher damals in Damaskus erschossen wurde.“

Da fuhr der Pedehr von seinem Sitze auf, als ob er von einer gewaltigen, unsichtbaren Spannfeder emporgeschnellt worden sei.

„Der Christ, um den so viel geweint worden ist?“ rief er aus. „Der Sunnit, dem die Schiiten treu geblieben sind, obgleich er starb? Der Mann, der von seinem Weibe angebetet wurde? Der Vater, den seine Kinder heut noch lieben, obwohl sie sich seiner Person nicht erinnern können? Der ist nicht tot? Der lebt noch? Der ist ihnen allen, allen auch ehrlich treu geblieben, trotzdem er in ein anderes Land gegangen war? Effendi, ist das wohl zu glauben! Ich weiß, daß du nicht lügst, doch bitte ich, erzähle uns, wie das gekommen ist!“

„Ja. Ich will und muß es euch erzählen. Ich [124] will euch nicht warten lassen, bis er selbst erscheint, um euch zu beweisen, daß, wenn Gott will, der Tod nur eine leere Sage ist. Setzt euch hier vor mir nieder, und hört, was ich berichte!“

Da sie über den alten Zoll-Bimbaschi schon alles Uebrige von mir erfahren hatten, so brauchte ich jetzt nur über das zu sprechen, was mir von ihm über seine Familienverhältnisse mitgeteilt worden war. Ich schilderte hierauf seine Trauer über die scheinbar Verlorenen und erwähnte schließlich meine Bemühung, die Hoffnung in ihm zu erwecken, daß sie doch vielleicht noch leben könnten. Da stand der Ustad von seinem Sitze auf, legte die Hände langsam ineinander und sagte, indem ein tiefer Atemzug seine Brust schwellte:

„Du hast zu diesem deinem Freunde von einer Auferstehung der ‚Totgesagten‘ gesprochen, und wir sind berufen, diese Auferstehung in das Werk zu setzen. Auch ich kenne einen Totgesagten. Er wird von Vielen, Vielen für tot gehalten. Sie glauben jetzt, daß er in ein anderes Land gegangen sei. Wie denkst du über ihn, Effendi? Du weißt ja, wen ich meine!“

Da fühlte ich, daß ein ganz seltenes Licht in meine Augen kam. Es wallte mir heiß vom Herzen nach dem Kopfe. Ich ging zu ihm hin, schlang meinen Arm um seine Schulter, legte meine Wange an die seine und fragte ihn:

„Wünschest du, daß er von diesem aufgezwungenen Tode auferstehe?“

Er nickte nur, sagte aber nichts. Doch legte er seine Hand an meinen Kopf, um ihn fest an den seinigen zu drücken.

„Wohlan!“ fuhr ich fort. „Da wir einmal im Begriffe stehen, die ‚Auferweckung der Totgesagten‘ in das [125] Werk zu setzen, so wollen wir bei dieser Gelegenheit auch ihn mit auferstehen lassen! Ist dir das recht?“

Seine mir jetzt so nahen Augen schauten mit unendlicher Liebe in die meinen.

„Kannst du es? Willst du es?“ fragte er.

„Für dich so gern!“ antwortete ich.

„Denkst du, daß es geschehen kann?“

„Da wir uns lieben, ist es leicht, so leicht!“

„Wie aber wird es wohl zu machen sein?“

„Ich bitte dich, das mir zu überlassen! Leg deine Hand getrost hier in die meine! Und nun höre, was ich sage: Fühlst du den Mut, den Heldenmut in dir, mir deine Seele, deinen Geist zu schenken, so feiern wir die Auferstehung hier, indem wir ineinander uns versenken!“

Da schlug er beide Arme um mich, zog mich so fest, so fest an sich, als ob unsere Körper nur einen einzigen Leib zu bilden hätten, und antwortete:

„Ich habe den Mut; ich bin dein; nimm mich hin!“

Da verlöschte plötzlich das Licht. Es war vollständig herabgebrannt gewesen. Der Pedehr ging fort, dem abzuhelfen. Als er wiederkam, standen wir mit einander draußen auf dem Söller. Der Ustad hatte soeben mit der Hand auf die vor uns liegende, vom Himmel bestrahlte, kleine Welt gedeutet und gesagt:

„Es ist, als hätte ich das alles für dich vorbereitet, damit den Seelen meiner Dschamikun nun auch der rechte Geist gegeben werde, jener Geist der liebenden Unerbittlichkeit, der mir die Augen öffnete und uns in diesem ‚Schattenland‘ so nötig ist! Du hast mich heut verdoppelt, und dadurch auch die Hoffnung auf den Erfolg. Zwei Ustawat1) [1) Plural von Usta oder Ustad.], und doch ein einziger nur! Stelle zwei Kerzen neben- [126] einander. Geben sie zwei Scheine? Nein. Es ist nun Doppelkerzenlicht!“

Da trat der Pedehr an die Thür und forderte uns auf:

„Ihr könnt wieder hereinkommen. Es ist nun heller als vorher.“

Wir folgten diesen Worten. Er zeigte nach dem Tische. Da standen jetzt zwei Kerzen statt der einen. Sonderbar! Der Ustad lächelte.

„Siehst du?“ scherzte er mir zu. „Seien wir Autoren oder nur Autor, wir liefern die Gedanken, und er als praktischer Pedehr der Dschamikun ist schnell bereit, sie in Gestalt zu fassen. So soll es immer sein. Dann wird es im Duar bald ein bewegtes, frohes Leben geben!“

Er liebte es, in Bildern zu sprechen. Wer ihn verstehen wollte, hatte nachzudenken. So auch hier. Wen oder was meinte er mit den Dschamikun, denen sein ganzes Herz gehörte? Wo lag oder liegt wohl der Duar, über den die ‚Glocken des Gebetes‘ für jeden Wunsch erklangen? In Persien? Ich will es nicht verraten. Die Folge wird es zeigen!

Wir waren mit unserer Besprechung noch nicht fertig, und doch mahnte der Scheik:

„Es ist jetzt wohl schon Mitternacht. Willst du nicht vor der Reise schlafen, Ustad? Und der Effendi steht noch im Genesen. Durchwachte Nächte sind ihm untersagt.“

Da antwortete der erstere: „Ich habe weder Zeit noch Lust zum Ruhen. Was in mir lebt, kennt keine Mitternacht.“

Und ich fügte hinzu:

„Mein Körper ist gewöhnt, dem Willen zu gehorchen. Ich fühle jetzt noch keine Müdigkeit. Die Seele hat die Macht, ihm, dem Geschwächten, ihre Kraft zu leihen. Ich halte aus, bis wir zu Ende sind.“

[127] Da griff der Ustad nach meiner Hand, fühlte den Puls und sagte verwundert:

„Wie ruhig und kräftig! Genau so, wie der meine! Jawohl, ich glaube, daß wir weitersprechen können. Wo waren wir stehengeblieben? Doch wohl bei Ahriman. Der wieder erstandene Offizier brachte uns auf ihn. Willst du hier fortfahren, Effendi?“

„Ja,“ antwortete ich. „Ich werde dem alten Mir Alai einen Brief nach Bagdad schreiben. Er bekommt ihn durch einige Dschamikun, welche zu ihm reiten, um ihn mit samt seinem dicken Kepek zu holen. Er hat schon vor dem Tag des Wettrennens einzutreffen. Du erlaubst seinem Schwiegervater, an diesem Tage sein Verkaufszelt hier aufzuschlagen. Ich spreche mit ihm, noch ehe du mit ihm abreisest. Er wird seine Tochter und deren Kinder mitbringen. Das giebt ein Wiedersehen, auf welches ich mich unendlich freue. Ist dir diese Anordnung recht?“

„Was du bestimmst, das ist mir immer recht! Soll Agha Sibil am Tage des Wettrennens überrascht werden, oder willst du ihm schon jetzt alles sagen?“

„Schon jetzt, alles! Es ist Grausamkeit, einem Menschen eine Freude vorzuenthalten, die man ihm sofort bereiten kann. Und so große seelische Erregungen, wie man hier zu erwarten hat, sollen möglichst vorbereitet sein.“

„Ich gebe dir recht. Ist das erledigt?“

„Ja. Nehmen wir also nun Ahriman Mirza wieder vor! Ich habe zu versuchen, den Beweis zu führen, daß er der Aemir-y-Sillan ist.“

„Den hast du schon geführt. Wenigstens für mich ist es so gut wie bewiesen.“

„Wodurch?“

[128] „Durch den Ton, in welchem du uns seinen Brief vorlasest. Dieser Ton ist nur der seine. So spricht und schreibt kein anderer. Auch hat er das höchste Sillan-Zeichen, welches wir kennen.“

„Wissen wir denn genau, daß es das höchste ist?“

„Freilich nicht. Es ist ja möglich, daß es ein noch höheres giebt.“

„Nicht nur möglich, sondern ganz gewiß!“

„Effendi! Da widersprichst du dir doch selbst!“

„Nein!“

„Gewiß! Wenn es ein höheres Zeichen giebt, so ist auch ein höherer Sill da. Der es trägt, steht also über dem Mirza!“

„Das ist ein logisch richtiger, aber ein praktisch falscher Schluß. Er trägt sie nämlich beide!“

„Beide? Das sagst du mit solcher Sicherheit? Woher weißt du es?“

„Ich bitte dich, nachzudenken. Als Oberster ist er im Besitze sämtlicher Zeichen, die es giebt. Er hat ja auch den Tuman an der Kette. Ich bin überzeugt, daß er, falls er es für nötig hält, auch den silbernen Ring ansteckt, um sich für einen gewöhnlichen Sill auszugeben. Wenn er dagegen als Aemir in der Versammlung seiner Pädärahn erscheint, wird er das höchste Zeichen tragen. Du hast aber gehört, daß er sich zu fürchten hat. Er wird in dieser Versammlung ganz gewiß sein Gesicht maskieren. Außerhalb derselben, im gewöhnlichen Leben, kann er es nicht verbergen. Wird er sich da durch das Tragen des höchsten Zeichens verraten?“

„Nein, gewiß nicht. Ein Zeichen muß er aber auch da tragen. Warum nimmt er da nicht einen gewöhnlichen Ring?“

„Alter Psycholog!“ scherzte ich da. „Weißt du denn [129] noch nicht, daß das Laster selbstgefälliger als die Tugend, die Häßlichkeit eitler als die Schönheit ist? Und grad dieser Mann besitzt eine Gefallsucht, die ihresgleichen wohl kaum wiederfindet. Du hast ja seinen Anzug und sein Pferdegeschirr gesehen. Alles an ihm ist Prunk, Flitter, Prahlerei und Flunkerei! Einen gewöhnlichen Ring wird er nur aus Hinterlist anstecken. Wenn sich solche Leute einmal herablassen, haben sie stets die Bosheit im Nacken sitzen. Für einen seiner Pädärahn gehalten zu werden, das giebt sein Hochmut, sein Eigendünkel nicht zu. Dieser Dünkel läßt sogar die Vorsicht außer Acht. Er steigt bis an die letzte Grenze der Gefahr hinauf. Wenn er sich nicht als "Fürst der Schatten" zu erkennen geben darf, so soll man ihn aber doch für eine hervorragende Charge halten. Hast du noch nicht gehört, daß sich das Verbrechen unter seinesgleichen größer zu machen strebt, als es in Wahrheit ist? Die Sorge um sein Leben und seine Sicherheit gebietet ihm, sich kleiner zu machen; aber mehrere Schritte tiefer zu steigen, das fällt ihm gar nicht ein. Er thut wahrscheinlich nur einen einzigen. Er ersinnt ein Zeichen, welches scheinbar tiefer weist, aber auch nur scheinbar, denn ich bin überzeugt, daß nur er allein, aber kein anderer ein solches Gürtelschloß besitzt. Wer es sieht, wird ihn für einen hohen Sill halten, wenn auch nicht für den höchsten. Auf diese Weise wird er beiden gerecht, seiner Vorsicht und auch seiner Eitelkeit. Nun aber habe ich eins zu fragen: Er sagte heut vor der Dschemma: ‚Ihr seht mich jetzt zum ersten Male. Auch mein Name war euch bisher unbekannt. Ihr wißt also nicht, wer und was ich bin.‘ Wie konnte er in dieser Weise sprechen? Waren seine Person und sein Name euch wirklich so unbekannt, wie er glaubte?“

[130] „Nein,“ antwortete der Ustad. „Er glaubte es auch nicht. Er weiß vielmehr sehr genau, daß besonders ich ihn kenne, weil ich ihn schon öfters getroffen und auch mit ihm gesprochen habe.“

„Das ist es, was ich wissen wollte! Sein Hochmut hat ihn verleitet, mehr zu sagen, als er beabsichtigte. Ihr kennt seine Person und seinen Namen. Das weiß er. Er behauptete trotzdem, ihr wisset nicht, wer und was er sei. Er muß also Jemand und Etwas sein, was außerhalb des Namens Ahriman Mirza liegt. Was ist das nun? Etwas Gewöhnliches oder etwas Bedeutendes. Ich meine das Letztere, denn er sagte in Beziehung hierauf: ‚Meine Freundschaft kann selig machen, und meine Feindschaft kann verdammen.‘ Wer das sagen kann, muß sich für den Höchsten im ganzen Reiche halten! In welcher Beziehung aber ist er dies? In gutem oder in bösem Sinne? Im guten, in gesetzlichem Sinne ist es der Schah. Es bleibt also nur die Kehrseite des Guten, also das Böse. Wer da sagt: ‚Meine Feindschaft kann verdammen‘, ist unmöglich ein guter Mensch. Hierzu kommt die Erwägung, daß er das, was ihm seine Macht verleiht, heimlich halten muß. Es ist also etwas Verbotenes, etwas Ungesetzliches. Das sind die einzelnen Posten. Ziehen wir nun die Summe!“

„Laß mich es thun!“ bat der Pedehr. „Ich will doch auch mitsprechen!“

„Gut! Thue es!“ antwortete ich, weil ich mich über sein Bemühen freute, mir mit Aufmerksamkeit zu folgen.

„Das Ergebnis ist überraschend,“ sagte er. „Es giebt zwei Gewalten im Reiche, eine gute und eine böse. Die gute ruht in den Händen des Schah-in-Schah; die böse übt Ahriman Mirza aus. Da aber, wie wir wissen, der Aemir-i-Sillan diese Macht in den Händen [131] hat, so muß Ahriman Mirza der ‚Fürst der Schatten‘ sein. Ist es so richtig Effendi?“

„So ungefähr. Sag, Ustad, bist auch du mit dieser Summe einverstanden?“

„Vollständig! Sie ist richtig!“ erklärte er.

„So will ich darauf verzichten, euch weitere Beweisesgründe zu bringen, obgleich ich noch mehrere habe. Für mich sind Ahriman Mirza und der Aemir-i-Sillan eine und dieselbe Person! Auch das stimmt, daß er und sein Henker nahe beisammen sind. Er läßt ihn nicht aus den Augen. Nachdem wir uns hierüber klar geworden sind, kommt ein anderes. Nämlich die Frage: Was will der Mirza hier bei den Dschamikun? Welche heimlichen Gründe und Absichten haben ihn hierher geführt? Diese Frage giebt mir zu denken; ja, sie könnte mir sogar, wie ich fühle, Kopfschmerzen machen!“

„Warum?“ fragte der Ustad. „Du siehst etwas zu schwarz!“

„Sag lieber: Ich sehe in das Schwarze! Es ist nicht zu leugnen, daß er direkt hat hierherkommen wollen. Daß er auf diesem seinem Wege auch die Kalhuran aufsuchte, geschah seinem Henker zuliebe. Was wollte er hier?“

„Die Blutrache!“ warf der Pedehr ein.

„Die berührte ihn nicht, sondern nur den Multasim. Auch war er schon unterwegs nach hier, ehe es eine Veranlassung zur Blutrache gab.“

„So war es, um die Rede zu halten, die wir von ihm gehört haben!“

„Damit schießest du zwar nicht daneben, aber auch nicht in den Mittelpunkt! Er wollte euch einen andern Scheik geben. Wißt ihr, was das heißt? Er kam zu den Dschamikun, um den segensreichen, geistigen Einfluß [132] ihres Ustad zu vernichten. Und wie glaubte er, dies am besten anfangen zu müssen? Indem er vor allen Dingen den Pedehr beseitigte, dessen Beruf es ist, den Dschamikun die geistigen Erzeugnisse ihres Ustad auf materiellem Wege zu übermitteln. Er sollte durch irgend einen Tifl ersetzt werden, der sich zwar nur einer Kerbelsuppen-Erziehung rühmen kann und einiger Pflaumen wegen die ganze Welt in Aufruhr schreit, aber doch die hochwillkommene Eigenschaft besitzt, für jeden bockbeinigen Gaul und für jede abgetriebene Mähre, die man ihm bringt, ein sattelfester Reiter zu sein! Der Mirza war überzeugt, er brauche den Dschamikun nur solche alte, hartmäulige Gäule und spatkranke Mähren vorreiten zu lassen, um aus ihnen gefügige Massaban1) [1) Siehe Band III S. 229.] zu machen!“

„Du weißt, wie er mit diesem seinem Vorschlage von uns abgewiesen worden ist,“ versetzte der Pedehr. „Kopfschmerzen würden also überflüssig sein!“

„Denkst du? Er hat sich aber nicht abweisen lassen, sondern er will ihn am Tage des Wettrennens wiederholen und wird da wohl versuchen, seinen Worten in irgend einer Weise Nachdruck zu geben.“

„Es wird aber denselben Mißerfolg haben. In dieser Beziehung braucht es dir nicht bange zu sein!“

„Gewiß nicht! Als ich von dem Mittelpunkte sprach, den du nicht getroffen hast, schwebte mir etwas anderes vor. Ich erwähnte es schon einmal, als ich meine Vermutung aussprach, daß der Aemir-i-Sillan wahrscheinlich schon hier gewesen sei, wenn auch nur heimlich.“

„Solltest du dich nicht wenigstens diesmal irren?“

„Möglich! Denn ich habe keinen Beweis. Es ist nur Vermutung. Aber es giebt Vermutungen, die schon [133] durch den Umstand, daß sie einem überhaupt kommen können, bestätigt werden! Ich habe euch auf den Umstand aufmerksam zu machen, daß euer Duar den Sillan nicht so ganz unbekannt ist, wie ihr zu glauben scheint.“

„Das wäre uns allerdings neu!“

„Mir nicht! Wie hat es der Multasim heut gemacht? Er hat die Pferde nicht weit draußen vom Duar gelassen, wie man doch thut, wenn man die Verhältnisse nicht kennt, sondern er ist erst ganz in der Nähe desselben abgestiegen.“

„Er kannte die Oertlichkeit, weil er heut am Tage zweimal dort vorübergeritten ist!“

„Das macht mich um so bedenklicher! Er traf grad dort auf den Wächter, welcher dann schnell kam, uns zu warnen. Warum hat er nicht angenommen, daß am Abende erst recht ein Wächter da sein werde? Hätte der Sohn desselben nicht zufälligerweise an seine Schafe gedacht, so wäre der Multasim nicht entdeckt worden! Dann schlich er sich quer nach der hinteren Seite des Duar. Er kannte also die Lage desselben genau. Die Häuser und Zelte liegen in zwei Reihen nach dem Aufgange zum ‚hohen Hause‘ hin. Es war kein Mondenschein. Kann da ein vollständig Fremder unbemerkt durchkommen? Sodann der vielgekrümmte Weg herauf zum Hause! Ich kenne ihn. Rechne ich die Länge des Duar hinzu, so hätte ein im Anschleichen geschulter Indianer gewiß wenigstens zwei volle Stunden gebraucht, um bis herauf an das Thor zu kommen. Vom Verlöschen unserer Lichter an bis zum Erscheinen des Multasim war aber nur die Hälfte dieser Zeit vergangen. Der Weg scheint ihm also nicht unbekannt zu sein.“

„Er hat aber bewiesen, daß er im Anschleichen außerordentlich geschickt ist!“

[134] „Das ändert nichts, denn ich habe einen wenigstens ebenso geschickten Indianer angenommen, und der Henker war ja nicht allein. Es befanden sich zwei Begleiter bei ihm, die durch ihre so prompt besorgte Gefangennahme bewiesen haben, daß sie es nicht einmal verstanden, sich genügend zu verstecken! Nein, nein! Dieser nächtliche Besuch kann unmöglich der erste sein! Ich werde den Multasim vornehmen, ehe ich ihn früh entlasse. Vielleicht gelingt es mir, etwas aus ihm herauszufragen.“

Die erwähnten Einwürfe waren mir von dem Pedehr gemacht worden. Jetzt schien der Ustad sich auf etwas zu besinnen. Er richtete die Frage an ihn:

„Wie war es doch mit jenem fremden Perser, den wir hier pflegten, bis sein verstauchter Fuß heil geworden war? Aus welchem Grunde hatte er das Mauerwerk erstiegen?“

„Um nach Altertümern zu suchen,“ antwortete der Gefragte. „Er war aus Teheran und hatte dort einen Laden, in welchem solche Sachen verkauft werden. Es war an einem Dienstag früh, als wir ihn fanden.“

„Und da denke ich auch noch an jenen Arzt aus Hamadan, der an einem Montage sich so lange weigerte, bei uns zu bleiben.“

„Der hatte sich verirrt. Man traf ihn, als es schon dunkel war, und führte ihn zu uns herauf. Er wollte sich gar nicht halten lassen, obwohl er keinen wirklich triftigen Grund dazu angeben konnte. Diese beiden Personen kommen hier gar nicht in Betracht. Sie waren ehrliche Leute, aber keine Sillan. Dagegen fiel mir soeben etwas anderes ein. Erinnerst du dich der Peitsche, welche Tifl fand, als er hinüber auf die Mauern stieg um nach wildem Kekik otu1) [1) Thymian.] für seine Küche zu suchen?“

[135] „Natürlich weiß ich das. Es ist noch gar nicht lange her, und die Peitsche liegt dort hinter meinen Büchern. Ich schrieb den Tag, an welchem sie gefunden wurde, auf einen Zettel dazu, um dadurch vielleicht auf den Verlierer zu kommen. Sie gehörte keinem Dschamiki. Das fiel mir damals nicht auf. Jetzt aber beginne ich, bedenklich zu werden. Fällt dir sonst noch etwas ein?“

„Nein.“

„Mir auch nicht.“

Da rief ich aus:

„Es ist auch genug vollständig genug! Was seid ihr doch für liebe, gute, unbefangene Menschen!“

„Siehst du auch hier einen Grund, Verdacht zu hegen?“ fragte der Ustad.

„Einen nur? Zehn, zwanzig Gründe habe ich! Bitte, zeige mir zunächst die Peitsche!“

Er holte sie. Es war eine Reitpeitsche. Am Griffe hing ein Zettel. Darauf stand: Dienstag den 9ten Ssäfär. Dieser Griff war schwarz lakiert. An einer Stelle, wo der Lack abgesprungen war, sah ich helles Blech. Er war also hohl. Der ebenso schwarze Knauf war dick und schwer, jedenfalls mit Blei ausgegossen. Ich versuchte, ihn zu drehen. Es gelang. Als ich ihn heruntergeschraubt hatte, war die Höhlung offen. Es steckte etwas Dunkles darin. Ich zog es heraus. Es war ein Stück schwarzer, dichter, zusammengerollter Seidenstoff, den ich auseinanderzog. Drei Löcher! Für Mund und Augen! Vier Schnuren, um über den Ohren und hinten am Halse zusammengebunden zu werden.

„Was ist das?“ fragte ich, indem ich mir die Seide vor das Gesicht hielt.

„Eine Larve!“ rief der Pedehr.

„Ja, eine Larve!“ bestätigte der Ustad.

[136] „Und von wem habe ich vermutet, daß er jedenfalls maskiert vor die Pädärahn trete?“

„Von dem Aemir-i-Sillan,“ antwortete der letztere.

„Am Dienstag gefunden! Wann aber ist der ‚Tag des Soldes‘, von welchem der Pädär-i-Baharat sprach?“

„Des Montags.“

„An was für einem Tage wollte sich der Arzt aus Hamadan nicht bei euch halten lassen?“

„Eines Montag abends.“

„An was für einem Tage wurde der Altertümerhändler mit verstauchtem Fuße angetroffen?“

„Dienstags früh.“

„Ustad! Pedehr! Seid ihr auch jetzt noch blind?“

Sie antworteten nicht. Sie sahen mir, vor Erstaunen starr, in das Gesicht.

„Glaubt ihr noch immer, daß kein Sill bei euch gewesen sei?“ fuhr ich fort. „O, es ist sogar noch schlimmer, als ich dachte!“

„Noch, noch schlimmer?!“ wiederholte der Ustad meine Worte.

„Ja! Leider! Drei Montage, drei Montage! Bedenkt es doch!“

„Sprich deutlicher!“ forderte er mich auf.

„Noch deutlicher? Der Montag ist doch der Versammlungstag der Pädärahn!“

„Chodeh! Chodeh!“ rief er da fast schreiend aus. „Auf was für einen Gedanken willst du mich bringen! Es ist unmöglich, ihn zu fassen, und es wäre Wahnsinn, ihn auszusprechen!“

„Und er muß, muß, und muß aber dennoch ausgesprochen werden! Wenn ihr es nicht wagt, so werde ich es thun: Es sind nicht nur Sillan bei euch gewesen, sondern sie verkehren ganz regelmäßig hier. Ja, die [137] Obersten der Sillan, die man Pädärahn nennt, halten an den ‚Montagen des Soldes‘ ihre Zusammenkünfte hier auf euerem Gebiete, wahrscheinlich in den Ruinen, in denen diese Peitsche gefunden worden ist!“

Der Eindruck dieser meiner Worte ist gar nicht zu beschreiben! Es war, als ob die beiden, zu denen ich sie gesagt hatte, vollständig sprachlos geworden seien.

„Und in diesen Versammlungen pflegt der ‚Fürst der Schatten‘ persönlich zu erscheinen!“ fuhr ich fort. „Er ist hier gewesen. Er läßt sein Gesicht niemals sehen. Er hat diese Larve getragen. Diese Reitpeitsche ist die seinige. Ob er sie verloren oder vergessen hat, das ist mir gleich. Er fand sie der Dunkelheit wegen nicht wieder, und bis zum hellen Tage konnte er nicht verweilen, weil er sonst von euch gesehen worden wäre. Kam denn der Arzt aus Hamadan zu euch geritten?“

„Nein. Als er getroffen wurde, war er zu Fuße,“ antwortete der Pedehr kleinlaut.

„Aber er kann doch nicht den weiten Weg von Hamadan hierher gelaufen sein!“

„Freilich nicht. Er hatte ein Pferd.“

„Wo?“

„Es war weit draußen vor dem Duar am Ufer des Sees angepflockt.“

„Ich vermute, daß der Altertümler auch eines gehabt hat?“

„Ja.“

„Wo?

„An derselben Stelle.“

„Habe es mir gedacht! Und das ist euch nicht aufgefallen?“

„Mußten wir es nicht für einen Zufall halten?“

„Zufall! Es giebt ja überhaupt keinen Zufall. [138] Alles, was sich ereignet, geschieht aus gewissen Gründen oder nach einem bestimmten Willen. Wille und Gründe aber schließen jeden Zufall aus. Das sollte man doch endlich einmal einsehen! Und selbst wenn du an das Vorhandensein des Zufalles im allgemeinen glaubtest, so konnte doch in diesen beiden besonderen Fällen von ihm keine Rede sein. Man hatte die Pferde doch nicht aus Zufall zurückgelassen, sondern jedenfalls in der ganz bestimmten Absicht, sie zu verstecken, damit sie nicht gesehen werden sollten. Wenn die Pädärahn kommen, so müssen sie nach einem solchen Ritte vor allen Dingen ihre Pferde tränken. Darum steigen sie am See ab, wahrscheinlich immer an derselben Stelle. Ich werde sie mir zeigen lassen.“

„Darf ich dich hinbegleiten?“ fragte er.

„Ja. Doch sage keinem Menschen etwas davon!“

„Nicht? - Warum?“

„Die Sillan, welche hier im Duar wohnen, könnten es erfahren.“

„Effendi, du bist - - - toll, hätte ich beinahe gesagt! Du glaubst an das geradezu Unmögliche!“

Er sagte das in größter Aufregung. Doch um so ruhiger sprach ich weiter:

„Ich bin überzeugt, daß das, was ich vermute, nicht stattfinden könnte, wenn die Feinde hier keine Helfershelfer hätten.“

„Wenn das wahr wäre, so hätten diese sich doch des am Fuße verletzten und auch des in der Nacht verirrten Sill angenommen!“

„Hatte sich der Letztere wirklich verirrt? Als er ertappt wurde, sagte er dies als Ausrede. Wer so nahe am Duar vom Pferde steigt und es an den See zur Tränke führt, der will erstens den Duar überhaupt ver- [139] meiden und könnte sich zweitens auf keinen Fall verirren, weil er die Zelte und Häuser grad vor der Nase liegen hat. Und wer in den Ruinen herumkriechen will, um nach Altertümern zu suchen, der thut dies doch wohl nicht des Nachts, nachdem er sein Pferd so sorgfältig versteckt hat. Er kommt des Tages, um sich als Fremder Auskunft, Erlaubnis und einen Führer zu erbitten! Ihr seid von einer Arglosigkeit gewesen, die geradezu kindlich ist. Du meinst, die hiesigen Sillan würden sich des Altertümerhändlers angenommen haben. Ich aber denke mir, daß sie von seinem Unfalle nichts wußten.“

„Ich kann dennoch deinen Verdacht nicht zu dem meinigen machen. Es giebt bei uns keinen Menschen, der den Ring der Sillan trägt.“

„Weißt du das so genau?“

„Beschwören freilich könnte ich es nicht. Ich weiß nur, daß ich nie einen Ring mit diesem Zeichen gesehen habe.“

„Das halte ich ja gar nicht für erforderlich. Es trägt ganz bestimmt nicht jeder Sill einen Ring. Wer einen hat, ist gewiß ein Sill. Ebenso gewiß aber ist es, daß nicht jeder Soldat, dem die Tapferkeitsmedaille fehlt, nicht als Soldat zu gelten habe.“

„Das ist ja ein neuer Gedanke! Du hältst den Ring also nicht für ein Erkennungs-, sondern für ein Anerkennungszeichen?“

„Ja. Der Fürst der Schatten wird sich hüten, jedem seiner Sillan, also auch denen, die sich noch gar nicht bewährt haben, einen Ring zu geben! Wenn du bei einem Menschen das Kainszeichen gewahrst, so darfst du getrost annehmen, daß er kein Anfänger im Bösen ist! Hat bei euch noch niemand es zu diesem Zeichen gebracht, so ist das noch kein Beweis, daß es unter euch [140] gar keine Sillan gebe! Bei der Arglist, mit welcher der Aemir verfährt, ist es sogar möglich, daß man Sill sein kann, ohne es bestimmt zu wissen. Ja, du darfst nicht einmal von dir selbst behaupten, daß du noch nie in irgend einer Weise in seinem Dienst gestanden habest! Du hörst, daß ich keinen deiner Dschamikun direkt verdächtigen will; aber ich frage dich, ob du vielleicht behaupten willst, daß in eurem kleinen Reiche nichts als nur Licht vorhanden sei!“

„Leider ist dies nicht der Fall. Diese ganze Gegend war früher von den Massaban besetzt, jenen „Unglücklichen", welche verführt worden waren, auf allen möglichen Irrwegen für ihre „Unterhaltung" zu sorgen. Sie stürzten sich vollständig skrupellos über alles her, was ihnen in die Hände kam, und selbst der edle Lumpenhändler, der hier des Weges fürbaß zog, war ihnen noch willkommen und konnte dann mit leeren Händen weitergehen.“

Als der Pedehr bis hierher gekommen war, ergriff der Ustad, der zuletzt geschwiegen hatte, mit neu erwachter Lebendigkeit das Wort:

„Es war die schlimmste Wegelagerei, die man sich unter Menschen denken kann, und niemand war hier seines Eigentums sicher. Es gab bei dem Gesindel kein Bedenken und keinen Unterschied. Heute fiel man über einen Reichen her, und morgen wurde dann in ganz derselben Weise ein armer Schelm bis auf das Letzte ausgeplündert. Ich glaube fast, man hätte nicht einmal das geistige Eigentum geachtet und selbst die Manen eines Schiller, Goethe um ihre ‚Jungfrau‘, ihren ‚Faust‘ beraubt! Am liebsten hielten sich die Massaban da drüben in den alten Mauern auf, in denen einst die Frömmigkeit verschwundener Völker wohnte. In diesem Schutze [141] wußten sie sich sicher. Und wie sie dort gehaust, das kannst du sehen, wenn du hinüber gehst, um Heiliges zu suchen. Du findest nichts, als nur die Ueberbleibsel der Zerstörung, die alles einst Erhabene vernichtet hat!“

Jetzt warf er einen forschenden Blick auf mich und fragte:

„Hast du verstanden, was ich sprach, Effendi?“

„Ja,“ antwortete ich. „Ich habe ja nach diesen Massaban nicht weit zu suchen, grad ich! Sie haben ja auch mich bis auf die Stiefel ausgezogen, obgleich ich doch kein Schiller und kein Goethe bin. Ich traute ihrem scheinbar ehrenhaften Dinarun-Gebaren. Dann aber sah ich freilich ein, daß es ihnen nur daran lag, sich meine Person und meine Waffen gegen brave Menschen dienstbar zu machen. Da begleitete ich sie denn in ihre eigene Falle, den Todessprung nicht scheuend, der über ihren Abgrund mich zu bringen hatte. Jetzt hörst du wohl, daß ich begriffen habe, wen du meintest? Sie hatten noch die Blödigkeit, mich vor diesem Sprung zu warnen, ich aber that ihn doch und ließ sie in dem ‚Tal des Sackes‘ stecken.“

„Und rettetest dich grad in jene Gegend, von welcher aus sie einst ihr lichtscheues Rittertum betrieben hatten!“ fügte der Ustad hinzu. „Könntest du den Haß ermessen, den sie auf mich warfen, als sie sich von mir aus dieser Gegend verdrängt sahen! Sie, die sich unter einander selbst nie etwas gönnten, sich unaufhörlich mit einander herumbissen und gegenseitig stets die Zähne fletschten, sie fühlten sich sofort als liebe Herzensfreunde, sobald es galt, sich gegen mich zu wenden. Du kennst ja ihren allerletzten Zug, den sie, mich zu verderben, unternahmen! Da waren alle schnell bereit, und keiner wollte fehlen! Sogar die Weiber schlossen sich mit an! Und alles, was [142] man sonst ‚Bagage‘ heißt, das wurde mit den Ochsen und mit den Eseln hintendrein geschleppt, um an dem leicht erhofften Siege teilzunehmen! Das ist so ganz, so recht die Weise dieser Leute, die ich zwar nur als Massaban, als ‚Unglückselige‘ bezeichnen lasse, weil ich auch noch im Feind den Menschen sehe, doch dürften auf sie wohl auch noch ganz andre Namen passen, die weniger als dieser den Klang der milden Nachsicht haben! - - - Es war kein leichtes Werk, ihr einstiges Gebiet von ihnen ganz zu säubern. Sie gaben es ja nicht freiwillig auf. Wir hatten schwere Kämpfe zu bestehen. Und als sie mit Gewalt nichts mehr erreichen konnten, da griffen sie zur List. Ich bin nie den Gedanken los geworden, daß hier in den Ruinen noch etwas steckt, wovon sie angezogen werden. Vielleicht so etwas Aehnliches wie unten im Birs Nimrud, was dort von euch gefunden und an das Tageslicht gezogen wurde. Wir haben noch nach langer Zeit die Spuren fremder Füße im alten Bau gesehen, und noch bis in die Gegenwart kam es zuweilen vor, daß sich hier Leute niederlassen wollten, die ich nach stiller Prüfung wieder gehen hieß. Es waren auch Verwandte von einigen der Dschamikun dabei, die mir es, wie es scheint, nicht ganz vergessen können, daß ich den fremden Anhang nicht geduldet habe. Und das wird es wohl sein, was der Pedehr mit der Bemerkung meinte, daß auch bei uns nicht lauter Licht vorhanden sei.“

Als er dieses sein Geständnis ausgesprochen hatte, knüpfte ich schnell an dasselbe an:

„Was du jetzt gesagt hast, führt mich auf die Frage zurück: Was will der Mirza eigentlich hier? Warum ist ihm grad diese Gegend so wichtig, daß er alle seine sonstige Vorsicht vernachlässigt, nur um den früheren Einfluß wieder zu gewinnen?“

[143] „Ich weiß es nicht. Kannst du es dir wohl denken? Vermuten kann ich auch, doch klar zu sehen ist mir noch nicht möglich.“

„Vergegenwärtige dir seine Reden! Er hat uns ja in Dreistigkeit sein bisher stets verschwiegenes Programm entwickelt. Daß er, der Schlaue, heut zu dieser Dummheit förmlich hingerissen wurde, das muß uns doch verraten, wieviel für ihn hier auf dem Spiele steht! Ihm widerstrebt die geistige und sittliche Kultur. Wo sie erblüht, hat er die Macht verloren. Er muß den Stumpfsinn pflegen, der weder sieht noch hört, und mit ihm jene Unzufriedenheit, die stets nach Hilfe schreit, weil sie zu faul und unerfahren ist, sich selbst zu helfen. Er muß den wahren, unverfälschten Gottesglauben töten, der Kraft und Mut zum Lebenskampf verleiht, dagegen aber jene Schwachkopf-Frömmigkeit beschützen, die jeden, der sie an den Wangen streichelt, sofort für einen Engel ihres Himmels hält. Da darf es auf der Erde keinen Frühling geben, der alles, was veraltet, von den Fluren fegt. Der Staub hat meterdick auf Stadt und Land zu liegen, und wo ein Wasser fließt, da muß es trüb und schleichend sein! Dann kommen jene nächtlichen Gespenster, die alles, doch nur keine Geister sind. Sie flattern überall, mit leisem Vampyrflügelschlage. Und wo sie sich aufs Volk herniederlassen, da saugen sie ihm bald die vollen Adern leer. Dann sieht man nicht mehr frohe Menschenkinder, die sich in Gottes reinem Lichte sonnen. Der Blick fällt nur auf geistge Mummelgreise, und alles ringsum wird zum - - - Schattenland!“

„So war es hier; so war es, wie du sagst!“ stimmte der Ustad bei. „Es war die Geisteswüste, genau wie jenes Paradies, von dem ich dir erzählte, ein flaches, ödes, wüstes Schemenland! Der Stumpfsinn kroch im tiefen [144] Bodenstaube. Der Groll schlich zähneknirschend nachts umher. Der arbeitsscheue Müßiggang schlug frömmelnd sich die Brust und schnappte gierig nach der Dummheit Brocken. Stumm lag der ausgenutzte Fleiß in dürrem Sande. Und über diesen und noch tausend andern Schatten gab es ein unhörbares Flattern dunkler Flederhäuter, für welche du den rechten Namen, Vampyr, hattest. - - So, so war es um die Bewohner dieses traurigen Gebietes und also auch um meine jetzigen Dschamikun beschaffen, als ich zu ihnen kam. Ich hatte zwar schon oft von ‚Menschheitsjammer‘ sprechen gehört und manches ‚Erdenleid‘ an andern und auch an mir selbst erfahren, doch daß dies Elend nicht von dem Geschick bestimmt, sondern nur der Sauggier dieser Flügelhäuter zuzuschreiben sei, das war mir völlig unbekannt gewesen. Ich fragte mich, ob wohl noch Hilfe möglich sei. Wenn ich die unzählbaren Scharen sah, die es von ihnen gab, da hörte ich zu meinen eigenen Füßen die Verzagtheit stöhnen. Ich schob sie fort von mir und dachte nach. Ein Mensch, ein einzelner, war nicht zu helfen fähig, auch viele Tausend nicht. Dies nächtliche Getier stand unter einem Schutze, der mächtiger als Menschenschwachheit ist, dem Schutz der Dunkelheit. Jedoch noch mächtiger als diese ist das Licht. Gelang es mir, es dort hinüber in den Bau zu tragen, der ihm seit langer Zeit fast ganz verschlossen war, so mußten diese Sauger an die Helligkeit des Tages fliehen, wo sie von jedermann erkannt und dann gemieden werden konnten.“

Als der Ustad hier eine Pause machte, nahm der Pedehr das Wort.

„Was du jetzt sagtest, führtest du auch aus. Wir kannten dich noch nicht; du hattest keine Hilfe und wagtest dich allein in die Ruinen. Jedoch grad diese Kühnheit hat uns für dich gewonnen!“

[145] „Es war viel leichter, als man denken sollte!“ lächelte der Ustad. „Ich habe mich nicht etwa eingeschlichen. Ich kam im vollen, hellen Licht des Tages und sagte ehrlich, wer und was ich sei. Da hielt man mich erst recht für einen Schatten, der aus der Welt des Lichtes hierher in ihre Dunkelheit geworfen worden sei. Auch dies vermochte nicht, zum Trug mich zu bewegen. Ich nahm mein Licht heraus und zündete es an. Sie hatten nichts dagegen. Das kleine Flämmchen schien sogar hier Freude zu bereiten. Es konnte diese große Finsternis ja doch nur tiefer machen, und für die Menschen draußen brauchte man es als Beweis, daß man in den Ruinen das Licht zu schätzen wisse.“

Da fiel der Pedehr ein:

„Wir sahen dieses Licht. Es zog uns an. Wir kamen nach dem Bau. Erst einzeln nur, doch bald in größern Scharen. Wir drangen in den Bau. Es wurde hell in ihm, weil wir nicht ohne unsere Lichter kamen. Da ging ein schrillendes Gekreisch durch alle seine Gänge. Es flatterte und huschte überall. Wir leuchteten in alle Ecken und stöberten die Flederwesen auf. Sie flohen vor uns her auf jede Oeffnung zu. Und wer da draußen stand, der sah sie wie verscheuchte Irrgedanken aus dem Gemäuer kommen und, um die Ecken biegend, schnell verschwinden. Ob vielleicht welche, tief versteckt, sich noch im Bau befanden, das kümmerte uns nicht, weil wir doch nicht die Absicht haben konnten, ihn für uns zu benutzen. Wir bauten uns im Sonnenlichte an und haben bis zum heutigen Tag noch keinen Grund gehabt, es zu bereuen.“

„Ihr werdet auch fernerhin keinen solchen Grund finden,“ sagte ich. „Für jetzt scheint es mir beachtenswert, daß du nicht genau weißt, ob damals vielleicht [146] welche von den Massaban unentdeckt geblieben sind. Habt ihr denn die Ruinen nicht genau untersucht?“

„Doch! So weit sie nämlich zugängig waren. Es giebt auch alte, ganz oder halbverschüttete Gänge, in welche wir nicht vorgedrungen sind, weil wir keine zwingenden Gründe dazu hatten. Der Bau des Duar nahm uns so in Anspruch, daß wir keine Zeit fanden, alte Löcher neu auszugraben.“

„Wohl! Lassen wir das einstweilen ruhen! Wir haben es mit dem Aemir-i-Sillan zu thun. Er brüstete sich schamlos damit, daß die Massaban seine Beschützten seien. Er hat gesagt, daß es in seiner Macht stehe, euch das frühere Gebiet dieser Leute mit der Hilfe von Soldaten wieder abzunehmen. Er will dies aber nicht thun, falls ihr euch bewegen lasset, ihm einen bestimmenden Einfluß über euch einzuräumen. Warum das? Er muß doch Gründe haben! Sollten diese auf den Umstand deuten, daß ihr gewisse Teile der Ruinen noch nicht kennt? Wir werden diese Frage weiter verfolgen, sobald wir Zeit dazu finden. Es giebt für ihn noch eine andere, allgemeinere und noch wichtigere Ursache, euch zu stören. Ich habe sie bereits angedeutet. Er haßt die Kultur, weil sie ihn seiner Macht beraubt. Es liegt in seinem Interesse, sie zu vernichten und nicht wieder aufkommen zu lassen. Das ist ganz derselbe Geist, welcher Etage um Etage eurer Steinpyramide ihrem ursprünglichen Zwecke entzog, um sie schließlich mit gesindelhaften Menschen zu bevölkern. Grad eben, als er dies erreicht hatte und nun damit beginnen konnte, das, was ich vermute, in das Werk zu setzen, kam der Ustad, um mit Hilfe seiner Dschamikun dieses Gesindel wieder zu vertreiben - - -.“

„Was vermutest du?“ fragte mich der Ustad.

[147] „Davon später!“ antwortete ich. „Für meinen jetzigen Gedankengang genügt die Bemerkung daß der Aemir-i-Sillan euer Gebiet als Stützpunkt seiner Pläne nicht nur betrachtet hat, sondern selbst auch heute noch betrachtet. Es ist sogar möglich, daß eure Ruinen für ihn von noch größerer Bedeutung als diejenigen des Birs Nimrud sind. Seine Pläne scheinen ihrer Ausführung entgegen zu treiben. Wäre dies nicht der Fall, so wäre er nicht in eigener Person und öffentlich gekommen und hätte es noch viel weniger gewagt, mit seinen Reden und Forderungen so aus sich herauszutreten.“

„Vielleicht giebst du dem allem eine größere Bedeutung, als es verdient,“ warf der Ustad ein.

„Das glaube ich nicht. Ich überlege kalt und objektiv. Der Mirza hat heut Dinge gesagt, von denen man nur dann so deutlich redet, wenn man sie als letzte und höchste Trümpfe ausspielen will. Warum zum Beispiele dieses auffällige Eingehen auf das Wettrennen? Welchen Zweck hat dieses Rennen für ihn? Etwa euch einige Pferde oder Kamele abzugewinnen? Wirst du ihm das glauben? Ist es vielleicht deshalb, weil er dadurch eine unauffällige Gelegenheit findet, sich für einige Zeit hier aufzuhalten und herumzutreiben? Wir werden aufpassen, und ich hoffe, daß es uns gelingt, seinen Absichten auf die Spur zu kommen! Du glaubtest, Ustad, daß ich übertreibe. Bedenke doch, um was für einen Mann es sich handelt! Es ist ein großer Unterschied, ob ein gewöhnlicher Soldat oder ein hoher General geheime Pläne hegt. Wenn ein Prinz von der Bedeutung Ahriman Mirza's euch hinter dem Rücken des Schah-in-Schah mit Vernichtung droht, mit seinen geheimen Gewalten prahlt und es unternimmt, euch [148] verrückt klingende Anschläge zu machen, die kein vernünftiger Mensch begreifen kann, so kann es sich nicht um die bedeutungslose Subordination eines Soldaten gegen sein Korporälchen handeln, sondern die Angelegenheit muß eine höchst wichtige sein, und zwar nicht nur für dich und deine Dschamikun!“

„Willst du mich bange machen, Effendi?“ fragte er besorgt.

„Nein! Ich will nur beweisen, daß wir vorsichtig zu sein haben. Wenn der Mirza fortfährt, so schwatzhaft zu sein, wie er heut gewesen ist, so denke wenigstens ich an keine Bangigkeit. Nur darf er nicht vermuten, daß wir ihn zu durchschauen beginnen. Darum dürfen wir ihn in seinem Anschlage gegen Dschafar Mirza nicht eher stören, als bis die rechte Zeit dazu gekommen ist. Wir machen also seinen Brief an den ‚Henker‘ wieder zu. Der Multasim muß ihn auf jeden Fall bekommen.“

„Aber wie?“

„Auf irgend eine Weise, die ihn im Zweifel darüber läßt, wer der Bote gewesen ist.“

„Das kann ich jetzt in Isphahan sehr leicht besorgen. Er wohnt ja da!“

„Ja; thue das! Ich aber werde mir den Brief sofort abschreiben, und auch das Alphabet. Es kann später von großem Vorteile sein, eine Kopie zu besitzen.“

Ich machte die beiden Abschriften in mein Taschenbuch. Als ich damit fertig war, erkundigte sich der Ustad:

„Es ist möglich, daß ich Dschafar Mirza in Isphahan treffe. Ich soll ihm also nichts sagen?“

„Nein. Ich wünsche, daß er vollständig unbefangen sei, damit Ahriman Mirza gar nichts merke. Dieser wird ihn auf irgend eine Weise veranlassen, mit hierher zu reiten. Das giebt eine vortreffliche Gelegenheit, den [149] Mord dann auf uns zu schieben, welche Ahriman sich ganz gewiß nicht wird entgehen lassen wollen. Du sagst Dschafar nur das eine, daß ich hier bin. Wenn er das hört, wird er sicher kommen. Dann sind wir wahrscheinlich genauer unterrichtet als jetzt und können ihm gleich Bestimmtes mitteilen, während er jetzt fast nur Vermutungen hören würde.“

„Durch die Erwähnung, daß man versuchen wird, Dschafar zum Wettrennen herbeizulocken, erinnerst du mich daran, daß er das edelste und beste Pferd in ganz Persien besitzt.“

„Das ist viel gesagt, sehr viel!“ bemerkte ich.

„Es ist aber wahr!“

„Jedenfalls hat er es nicht selbst gezüchtet?“

„Nein. Es ist ein Geschenk des Schah-in-Schah.“

„So wird es bei Dschafar verdorben. Er ist kein Reiter und wird es auch nie werden. Das habe ich gesehen, als ich ihn kennen lernte.“

„Du bist Kenner, und doch hast du Unrecht. Dieses Pferd ist bisher weder von Dschafar selbst, noch von irgend einem andern verdorben worden. Niemand hat es noch je geritten.“

„Warum?“

„Der Grund ist eben so einfach wie unglaublich. Dieses herrlichste aller Vollblute läßt sich nämlich nicht reiten, absolut nicht!“

„Das wäre!“ rief ich ungläubig aus. „Persien hat doch Reiter!“

„Allerdings! Aber die besten, die kühnsten und auch die geduldigsten haben es vergeblich versucht.“

„Läßt es niemand aufsteigen, oder wirft es jeden ab?“

„Keines von beiden. Es läßt jeden hinauf und wirft keinen herunter. Es steht wie ein Lamm; aber es bleibt [150] eben stehen. Es thut keinen Schritt, keinen einzigen! Es ist durch keine Lockung und aber auch durch keine Peitsche zu bewegen, sich von der Stelle zu rühren.“

„Aber wenn man es führt, während jemand daraufsitzt?“

„So thut es grad soviel Schritte, wie es geführt wird, doch keinen einzigen weiter. Ich habe mich schon gefragt, ob das Natur oder Dressur ist.“

„Natur - - Dressur? Es kann durch keine Dressur erzwungen werden, was die Natur überhaupt verbietet. Es ist dem, was man Dressur nennt, möglich, die Grenzen des Wollens und Könnens um ein weniges zu verrücken; weiter kann sie nichts. Wenn das Tier aus Liebe zu seinem Herrn etwas thut, was gegen seine sogenannte Natur verstößt, oder wenn es sogar nach und nach selbst Freude an einem ihm angewöhnten Vorgang findet, der keine Folge seiner ursprünglichen Instinkte ist, so kann man doch wohl nicht mehr von Dressur sprechen. Es ist ein Unterschied, ob der Dresseur mit der Peitsche dasteht, oder ob das Tier etwas früher Gelerntes später ganz aus freiem Willen thut. Bei Dschafars Pferd steht niemand, der es durch heimliche Winke oder offene Drohungen zwingt, etwas zu leisten, was ihm eigentlich widerstrebt. Es denkt; es will; es folgt einem eigenen Entschlusse und führt ihn sogar mit einer so ausdauernden Energie aus, daß sich mancher Mensch ein Beispiel an ihm nehmen könnte. Es läßt sich weder durch freundliche Verführung noch durch Drohung oder gar Roheit irre machen. Das ist höchster Pferdeadel! Ein gewöhnlicher Gaul würde nur aus Angst gehorchen, so lange er die Peitsche sieht. Was der Schah-in-Schah in dieses Pferd gelegt hat, ist keine tote Angewöhnung, keine stumpfsinnige Zwangesgehorsamkeit. Es ist eine sehr liebe und sehr gütige Hand [151] gewesen, von welcher das edle Tier dieses ‚Syrr‘ empfangen hat, und es wird auch nur derselben Gesinnung gelingen, es zu lösen.“

„Syrr, hast du gesagt? - Sonderbar!“ rief er aus.

„Warum?“ fragte ich.

„Das ist der Name des Pferdes. Es heißt Syrr. Hast du vielleicht schon von ihm gehört, oder war es Zufall, daß du dieses Wort brauchtest?“

„Zufall? Du weißt doch, daß es für mich keinen Zufall giebt! Ich wußte übrigens nichts von diesem Pferde.“

„Aber du wirst doch nicht etwa behaupten wollen, diesen Namen infolge einer Fügung oder Schickung gefunden zu haben! Das wäre doch wohl lächerlich! Verzeihe mir dieses Wort!“

„Ich behaupte nichts, und ich vermute und ich folgere nichts. Ich wiederhole nur, daß es für mich diesen Freund der Oberflächlichkeit, den Zufall, nicht mehr giebt. Man nennt ihn auch das ‚blinde Ungefähr‘. Es scheint nur ‚ungefähr‘ zu sein, und ist auch keineswegs blind. Wer ruhig wartet und die Augen offen hält, der lernt dann ganz gewiß die verborgenen Fäden kennen.“

„Verborgene Fäden zwischen dir und diesem Syrr?“ lachte er. „Effendi, Effendi, welcher Wunderglaube!“

„Wer hat sie angeknüpft? Du selbst?“ antwortete ich ebenso heiter. „Du hast ein Wort betont, bei dem ich mir gar nichts dachte. Ob dieser Ton nur von dir stammt und also bedeutungslos ist, das wird sich finden. Hat denn Dschafar nicht irgend einmal wegen dieses Geheimnisses mit dem Schah-in-Schah gesprochen?“

„Doch! Er erzählte es mir. Der Beherrscher erkundigte sich einst bei ihm, wie sich das Pferd befinde. Da klagte er ihm seine Not und erzählte von den vielen [152] vergeblichen Versuchen, welche angestellt worden waren. Hierauf lächelte der Schah wie in stiller Freude vor sich hin und sagte: ‚Sobald der Rechte kommt, wird es sofort und stets gehorchen, aber nur ihm allein. Es ist mein Syrr. Kein Mensch wird es ergründen!‘ Dschafar verstand diese Worte nicht. Auch mir sind sie dunkel. Was denkst du dir wohl dabei, Effendi?“

„Nichts! Syrr heißt ‚Geheimnis‘, sogar ‚Mysterium‘. Achten wir es, indem wir nicht versuchen, an ihm herumzutasten. Das ist der Wille des Beherrschers!“

„So wollen wir für jetzt schließen. Ich bitte um die Erlaubnis, dich hinauf in deine Wohnung führen zu dürfen.“

Und indem er sich an den Pedehr wendete, fügte er für ihn hinzu:

„Bereite es vor, daß, sobald der Brief an den Offizier fertig ist, einige Boten sofort nach Bagdad reiten, um ihn und seinen Diener zu holen. Er wird sich nicht entschließen können, ohne diesen zu reisen. Für Kepek, den Gewichtigen, werden sie eine Kamelsänfte mitnehmen müssen, weil ein anderes Transportmittel für ihn gewiß zur Marter werden würde.“

Nun trennten wir uns vom Scheik. Dieser stieg in das Erdgeschoß hinab. Der Ustad aber nahm eines der beiden Lichter, um mit mir nach oben zu gehen.

Als wir aus seiner Stube traten und die Thür der Rumpelkammer vor uns hatten, machte er sie zu meiner Verwunderung auf und ging hinein.

„Komm, Effendi!“ sagte er. „Tritt näher!“

„Warum?“ fragte ich.

„Du hast diese Sachen mir geschenkt; aber du weißt gar wohl: Was mein ist, ist auch dein! Ich hatte vielleicht kein Recht dazu, doch folgte ich der Regung, dich [153] zu prüfen. Du hast bestanden! Besser, viel besser, als ich erwarten konnte! Indem du mir diese Dinge alle schenktest, hast du etwas abgelegt. Was es ist, das überlege dir! Und indem ich, so bald und so oft du willst, sie dir alle wieder zur Verfügung stelle, thue ich etwas, was dich unendlich freuen muß. Was es ist, überlege dir auch das! Kamst du zu mir aus einem Land, auf dem es keine festen Wege giebt? Willst du dein Ziel von hier nur noch im Flug erreichen? Ich weiß, dir ist die Angst vollständig unbekannt. Du fühlst dich an der Hand, die keinen je verläßt, der sich ihr anvertraut. Doch, hebe deinen Fuß nicht von dem sichern Boden! Noch bist du nicht daheim! Kannst Waffen nicht entbehren! Nimm diese Warnung an! Nachdem ich dich geprüft, hab ich das Recht erworben und auch die Pflicht dazu, in diesem ernsten Ton mit dir zu reden!“

Er hob die Hand und drohte mir in liebevoller Weise mit dem Finger. Da kam es wie ein plötzliches Glück über mich, aber nicht wie ein unverstandenes, sondern wie eins, welches klar und deutlich vor einem steht und voll begriffen wird. Ich nahm ihn bei der erhobenen Hand, zog ihn heraus, machte die Thür zu und sagte:

„Komm hervor aus dieser unserer Kammer und schnell herauf zu mir! Ich muß dir etwas sagen!“

„Was?“ fragte er.

„Ein Geständnis. Komm nur, komm! Ich freue mich so sehr!“

„Ein Geständnis? Und doch Freude?“

„Ja! Es ist ein Sieg, ein innerlicher Sieg, den du soeben über dich und mich, über uns beide also, errungen hast!“

Er folgte mir so schnell, wie ich ihm voranstieg. Oben bei mir angekommen, nahm ich ihm das Licht aus [154] der Hand und brannte zunächst die Lampe wieder an, welche er der Perser wegen hatte auslöschen müssen. Als dies geschehen war, bat ich ihn, sich aufrecht vor mich hinzustellen. Ich nahm ihn mit frohem Blicke von oben bis unten in die Augen und sagte dann:

„Es ist mir mit dir grad so ergangen, wie es so manchem Menschenkind mit seinem Geist ergeht. Es kennt ihn nicht, bis ihn der Feind ihm zeigt. Ich wußte nichts von dir, bis mich die Massaban auf jene Spuren führten, an denen ich zum erstenmal den Namen Ustad hörte. Man sprach von dir als dem ‚Geheimnisvollen‘, von dem man ja ‚nichts Schlechtes sagen dürfe‘. Sie schienen dich nicht bloß zu achten, sondern auch zu fürchten, und dennoch hegten sie nur Feindschaft gegen dich, weil sie als ‚Unglückselige‘ dich ja doch hassen mußten. Dann traf ich den Pedehr, der mir nicht trauen wollte. Er nahm die Flucht vor mir, doch holte ich auf meinem Pferd das deinige schnell ein. Es war fast wie bei jenem Morgenritt im Märchen Danyseh, wo das schnellste Pferd des Menschengeistes von dem silberweißen Roß der Menschenseele überholt wird. Als ich hierauf mit ihm sprach, hörte ich zum zweitenmal von dir. Ich begann, in meiner Phantasie nach einem Bild von dir zu suchen. Dann warf mich jene schwere Krankheit nieder, von der ich hier bei dir erstanden bin. Ich lag bewußtlos, ohne Thätigkeit des Geistes. Da begann ich, zu erwachen. Es legte sich eine Hand auf meine Stirn, und dabei war es mir, als ob von ihr eine gütig reine, immaterielle Kraft ausströme und dann durch mein ganzes Wesen gehe. Und eine tiefe Stimme sprach die Worte: ‚Der Herr behüte deinen Eingang und deinen Ausgang von nun an bis in Ewigkeit. Amen!‘"

„Das war ich,“ sagte der Ustad.

[155] „Ja, du warst es. Du kamst noch oft, wenn ich nicht wachte. Dann hatte ich einen Traum. Oder war es ein Gesicht? Ich befand mich im Haine Mamre, bei der Eiche Abrahams. Da trat die hohe Gestalt des Erzvaters leuchtenden Auges vor mich hin und grüßte mich: ‚Friede sei mit dir!‘ Und als ich das meinige öffnete, standest du vor mir, breitetest deine Hand wie segnend über mich aus und sprachst ganz dieselben Worte. Darum wuchsest du in meinen Fieber- und dann auch in den Genesungsträumen dich in mir zum Ebenbilde jenes ausgewanderten Chaldäers aus, welchem der Herr einst die Verheißung gab: ‚Ich werde dich zum großen Volke machen!‘ Als ich mich dann so weit erholt hatte, daß ich mich erheben und draußen vor der Halle sitzen konnte, da kamst du zu mir, und was und wie du da sprachst, das war im Geist des ersten Testaments gesprochen, der sich im zweiten die Verklärung holte. Nun kam das Heut, der Dankestag. Hättest du in mir noch höher wachsen können, so wäre das da drüben bei eurem ‚Gotteshaus‘ gewiß geschehen. Du zeigtest dich dort Ahriman nicht nur gewachsen, sondern überlegen. Ich schaute zu dir auf, fast staunend, möcht ich sagen! Es stieg der Wunsch in meinem Herzen auf, so groß zu sein und auch so rein wie du. Das war wohl auch der mir nicht klar bewußte Grund, daß ich dann jene Beichte sprach, die mich befreien sollte. Ich wollte deiner würdig sein, ganz still, in meinem Innern!“

„Mein Freund, mein lieber, lieber Freund!“ rief er gerührt aus.

„Warte,“ bat ich, „und höre weiter! Es wurde Abend. Da stellten sich die finstern Schatten ein. Du zogst sie aus der früheren Zeit herbei und warfst sie leider über deine Gegenwart. Das Licht verschwand. [156] Du wurdest mir fast dunkel. Du ließest diese deine Schatten wachsen. Sie nahmen jene Riesengröße an, von welcher du bei deinem ‚Sonnentage‘ sprachst! Du aber wurdest kleiner, in meinen Augen immer, immer kleiner! Ich sträubte mich dagegen, doch vergeblich. Ich wollte dich, die Hochgestalt, nicht lassen. Und dennoch thatst und sprachst du alles, was dich gering und winzig machen mußte. Du warst für mich nicht mehr der ‚Abraham von Erz‘, an dem kein Schatten fressen, kein Schemen rütteln kann. Du hattest dich in jenen schnellen Hasenfuß verwandelt, der, wenn das dunkle Abbild eines Baumes, die Sonne fliehend, auf sein Lager fällt, rasch auch die Flucht ergreift und, blind vor Angst, im allerschnellsten Lauf von dannen jagt, um seine Feigheit in den Busch zu retten.“

„Maschallah!“ verwunderte er sich jetzt. „Diesen Eindruck habe ich auf dich gemacht, nur diesen?“

„Ja!“ antwortete ich.

„Wie war das möglich?!“

„Möglich? Sag unvermeidlich! Du sprachst soeben davon, daß ich die Angst nicht kenne. Sie ist mir fast verächtlich. Ich kann sie nicht begreifen. Da plötzlich seh ich die Gestalt, die ehern mir erscheint, als sei sie von des Schicksals eigener Hand gegossen und auf den rechten Platz auf festestem Granit gestellt, von diesem sichern Felsen niederspringen und wie besinnungslos die Flucht ergreifen! Vor wem? Vor nichts als nur vor ihrem eigenen Schatten! Fühlst du mir denn nicht nach, was ich empfinden mußte? Ahnst du denn nicht, daß du dich da in mir zerstören mußtest? Der Ritt durch dein Gedankenparadies, wie war er doch so traurig! Nicht dieser Thoren wegen, die es verfallen ließen, nein, deiner heiligen Einfalt wegen, in welcher du aus der [157] Erhabenheit der Berge niederstiegst, um dich in Wüsteneien durchzuhungern und dann sogar den ‚Baum des Schwatzes‘ zu beachten! Du warst mir fast so ideal geworden wie jenes Bild von ‚Akhal, den Durchschauenden‘, den nie ein Mensch bethört. Was aber war aus diesem Geiste der Untrüglichkeit geworden, als ich ihn, ‚blind vor Angst‘, die Flucht ergreifen sah, gehetzt von den Phantomen, die ihn auch heut noch nicht verlassen haben!“

Da ließ er den Kopf sinken und war eine kleine Weile still. Dann warf er ihn mit einer energischen Bewegung wieder empor und sagte:

„Das war eine böse, böse Sonde, Effendi! Aber du weißt nicht, wie ich dir dafür danke! Ich fühle, daß es in mir licht werden will. Siehst du die Schatten, welche von mir weichen und da, zur Thür hinaus, die Flucht ergreifen? Nicht? Ich auch nicht. Aber ich fühle, daß sie es thun, daß sie von dir aufgestöbert worden sind und mich verlassen müssen. Du hast mir nichts gesagt als nur die Wahrheit. Nun sage mir noch eins: Glaubst du, daß ich die innere Kraft besitze, dir wieder das zu werden, was ich dir vor dem heutigen Abend war?“

„Ja! Fast bist du es schon wieder! Ich sprach von dem Geständnis und auch zugleich von meiner Freude, bevor wir hier heraufgegangen sind. Das erstere hab ich dir nun gemacht. Die letztere sollst du jetzt mit mir teilen.“

„Freude? Worüber?“

„Ueber dich! Erinnere dich der Strenge, mit welcher du da unten in der Kammer zu mir sprachst! Das war der Mann von Erz! Nicht mehr der Schattenflüchtling! Du wuchsest plötzlich wieder empor. Du setztest deinen [158] Fuß zurück auf den Granit. Ich bitte dich: Steig wieder auf die alte, gute Stelle! Ich gebe dir mein Wort: Kein Schatten ist es wert, und wenn es selbst der allergrößte wäre, daß man um seinetwillen auch nur ein einzig Mal den Kopf nach hinten wendet!“

„Nach hinten wendet!“ wiederholte er. „Nach hinten! In die Vergangenheiten! Und grad dir, dir, der du es nicht einmal der Mühe für wert hältst, auch nur den Kopf zu wenden, dir wollte ich jetzt alle, alle meine Schatten bringen! Komm heraus! Ich will dir zeigen, wo sie stecken! Ich sehe es dir an: du ahnest, was ich will. Du bist glücklich darüber. Dein Auge leuchtet! Du hast von einem Sieg gesprochen, den ich über dich und mich errungen habe. Jetzt aber ist dir ein noch viel, viel größerer gelungen: Der Sieg über die, denen ich einst unterlag, über sie alle, alle, alle! Ich bitte dich noch einmal: Komm heraus!“

Er nahm die Lampe und führte mich hinaus in seine Bücherei. Dort stellte er sie auf den Tisch.

„Hier wollte ich dir erzählen, wohl stunden-, stundenlang“, sagte er. „Vielleicht wäre ich am Morgen noch nicht zu Ende damit gewesen. Nun aber wird es kurz gemacht, so kurz, wie diese Schatten es verdienen!“

Er deutete auf eine Reihe von Büchern, welche ganz gleich eingebunden waren, und sprach weiter:

„Hier steht mein Geist, in Bände wohlzerspalten und richtig numeriert, wie das so Sitte bei den Menschen ist. Schau du hinein, und sage mir sodann, ob diese Bücher wohl auch eine Seele haben!“

Ich griff hin, um eines vom Gestell zu nehmen. Da bat er:

„Nicht jetzt! Du hast ja dazu Zeit, wenn ich verreist bin und dich niemand stört. Ich habe dir noch [159] weiteres zu zeigen. Ich wollte dir erzählen und erklären, zu welchem Zweck ich diese Werke schrieb. Ich unterlasse es, weil ich jetzt anders denke als noch vor einer Stunde. Du wirst sie lesen. Das heißt bei dir genau so viel, als ob ich sagte: du wirst sie und auch mich verstehen und begreifen. Sie sind Skizzen, Vorarbeiten, fließende Etuden, um mich und meine Leser einzuüben. Auf was sie vorbereiten sollten, darüber schweige ich. Man sagt das durch die That! Glaubst du, daß es Menschen giebt, welche so unerfahren sind, daß sie die flüchtigen Uebungsskizzen eines Malers für vollbeendete, fertige Werke halten können? Nein? Nicht? Unmöglich? So scheine ich ein Künstler allerersten Ranges zu sein, denn es hat keinen einzigen Kritiker gegeben, welcher die meinigen als leicht bewegliche Schwalben erkannte, die ‚meinem Freund, dem Frühling‘ voranzufliegen hatten, wie ein bekannter Dichter sagt.“

„Ein Künstler allerersten Ranges!“ lächelte ich. „Wozu denn hier die Ironie, die gänzlich überflüssig ist? Man hat das Zwitschern deiner Schwalben nicht verstanden, weil man noch in dem Eis des Winters steckte und weil sie nicht nach jenen Noten sangen, die auf fünf parallelen Linien stehn! Das konnte dich verbittern?“

Er sah mich an. Erst erstaunt, dann nachdenklich; endlich lächelte er auch.

„Wenn ich doch auch das heitere Gold besäße, das jetzt im Lichte deines Auges liegt!“ rief er aus. Dann fügte er, nach den Wänden deutend, hinzu: „Schau hier die Briefe! Große Kisten voll! So schrieb man mir! Es war nur Liebe drin! Doch hier die Kästen mit den Zeitungsblättern, sie sind des Hasses voll, der mich vernichten sollte. Ich bin ihm gewichen, diesem Hasse. Er wurde mir zum Ekel! Aber ich habe ihn gekennzeichnet! [160] Ich habe seine Gründe nachgewiesen! Ich habe mich gewehrt, gewehrt, gewehrt!“

„Mit welchem Erfolge?“ fragte ich.

„Ich mußte gehen, doch, doch und doch! Mein letztes Wort an die, denen ich weichen mußte, war folgendes.“

Er trat zu einem der Kästen, nahm die obenauf liegende Zeitung heraus, faltete sie auseinander und las:

„Ich bin ein Mensch. Ihr wollt das nicht begreifen,

    Weil ihr wohl schon ganz übermenschlich seid.

Wenn solche Götter mich zum Richtplatz schleifen,

    So trag ich stumm mein Armesünderkleid.

Ich steig getrost auf meinen Scheiterhaufen,

    Den ihr mir bautet mit selbsteigner Hand,

Und laß mich von dem Flammengeiste taufen,

    Für den ihr schon so manchen Leib verbrannt.

Doch wenn ihr mir nicht folgt, wohin ich gehe,

    Hab ich mit eurer Gottheit nichts zu thun,

Denn während ich im Fegefeuer stehe,

    Seh ich euch stolz auf meinem Lorbeer ruhn.

Ich lasse gern die Flammen um mich schlagen,

    Denn mein Metall wird nur im Feuer rein,

Doch meinen Henkern habe ich zu sagen:

    Ich möchte nicht an eurer Stelle sein!“

Hierauf legte er die Zeitung wieder zusammen und an ihre Stelle zurück. Dann fragte er mich:

„Weißt du, an wen ich bei diesen letzten Zeilen jetzt unwillkürlich denken muß? An Ghulam el Multasim, den ‚Henker‘ des Mirza! So nackt wie er liegen jetzt auch die meinigen vor meinem geistigen Auge. Auch sie waren mit der glatten Salbe eingerieben, die jeden Leib zum Aal, zur Schlange macht. Du wirst sie kennen [161] lernen, alle, alle! Da liegen sie. Du hast ja Zeit zum Lesen!“

„Ich? Lesen? Was soll ich lesen?“ fragte ich.

„Diese Zeitungsartikel über mich!“

Da mußte ich denn aber doch so laut und so herzlich lachen, daß er sichtlich in Verlegenheit geriet.

„Woher so plötzlich diese Heiterkeit?“ erkundigte er sich.

„Woher? Das fragst du noch?! Wenn ich mir das sonderbare Bild ausmale, welches dir soeben vorschwebte, so muß ich unwillkürlich an gewisse ‚lustige Blätter‘ denken, welche geistige Gebrechen persiflieren! Und es wäre eine Persiflage meiner selbst, falls ich in jenen Sumpf zurückkehren wollte, über den ich mich schon längst, schon längst hinübergerettet habe. Einst brachte eines jener lustigen Journale eine heitere Abbildung dieses Sumpfes. Er war voller Amphibien, deren Mäuler weit offenstanden. Ein Mensch schritt durch den aufspritzenden Tümpel. Darunter war zu lesen:

„Wir müssen durch den Sumpf des Lebens waten,

    Und wenn dabei die trüben Wasser spritzen,

So jammern über unsre Missethaten

    Die Frösche alle, die im Schlamme sitzen!“

Nun sage mir ehrlich, mein Freund! Verlangst du im Ernst von mir, diese Musik, welche ich gar wohl kennen gelernt habe, noch einmal anzuhören? Als ich damals aus dem Sumpfe stieg, drehte ich mich um und lachte herzlich über die Batrachier, die sich zum Platzen quälten, mir zu zeigen, wer und was sie seien. Dieses komische Bild schwebte mir vor, als du vom Lesen dieser deiner Makulaturen sprachst. Begreifst du mich jetzt nun?“

„Ja,“ antwortete er. „Ich begreife sogar noch mehr, als du ahnst!“

[162] „So laß sehen, ob das wahr ist. Ich habe eine Bitte.“

„Welche?“

„Schenke mir diese Zeitungen!“

„Was willst du mit ihnen thun?“

„Verbrennen! Ich pflege solche Dinge niemals aufzuheben, noch weniger zu lesen. Sie fliegen stets, sobald ich sie erhalte, in das Feuer. So kommt kein Schatten bei mir auf. Ich will dich von den deinigen befreien. Erfüllst du meinen Wunsch?“

Da ging er von Kasten zu Kasten, stieß mit dem Fuß an sie und sagte:

„Das sind die Furien, die Erinnyen, die ich dir ja beschrieben habe. Sie lügen, wie gedruckt! - - - Hier die schadenfrohen oder gedankenlosen Nachbeter und Nachtreter, welche bei Gott schwören, daß sie schuldlos seien, weil sie doch bloß nachgedruckt und nichts erfunden hätten! - - - Und da die sogenannten guten Freunde, die stets behaupten, daß sie retten wollen, und doch so ungeschickt dabei verfahren, daß sie mehr schaden, als die andern alle. - - - Ich schenke sie dir. Nimm sie hin! Verbrenne sie! Du hast so recht: Ich will hier reine Arbeit machen!“

„Aber ich verbrenne sie wirklich!“ versicherte ich. „Ich gebe sie dir nicht zurück!“

„Das weiß ich. Es ist dir ernst! Aber auch mir! Ich will nun endlich, endlich einmal freien Geistes sein.“

„Ich danke dir! ‚Endlich einmal freien Geistes sein‘ willst du. Weißt du, was du mit diesen Worten gesagt hast? Unfreie Geister gibt es nicht. Wer in Fesseln liegt, ist vielleicht eine Intelligenz, doch niemals Geist! Du willst also nicht mehr bloß ein denkendes, ein nach Regeln, welche von Menschen vorgeschrieben [163] sind, denkendes Wesen sein, sondern ein Geist, für den diese Regeln nur in so weit vorhanden sind, als sie mit seinen eigenen Wegen zusammenfallen. Du willst eine jener über sich selbst bestimmenden Personen werden, welche, wie ich unten ausführte, dem ‚dritten Leben‘ angehören. Das ist ein großer Entschluß, den du nur dann auszuführen vermagst, wenn du den Körper, deinen bisherigen Gebieter, zum gehorsamsten aller deiner Diener zu machen weißt, und wenn du deine bisherige Sklavin, die krank in dir darniederliegende Seele, zu deiner Freundin, deiner allereinzigen Freundin erhebst. Denn wisse: der Geist wird ohne Seele nie den Weg empor zum Geiste aller Geister finden! Nun also: Sei fortan nur Geist, und - - - such' dir deine Seele!“

Wir standen einander gegenüber, ich ihm erwartungsvoll in das Gesicht schauend, ob er mich begreifen werde, er aber sinnend nach seinen Büchern hinüberblickend, als ob nur dort das zu finden sei, was ich jetzt bei ihm suchte.

„Meine Seele!“ sagte er. „Ich habe dich gebeten, in meinen Werken nachzuschauen, ob sie darin vorhanden sei. Seele ist darin; das weiß ich ganz genau!“

„Seele? Nur Seele? Das ist so viel wie nichts! Oder vielmehr, es ist so wenig wie ‚nur Geist‘! Du sollst nicht Geist und sollst nicht Seele haben! Sondern du sollst Geist sein und sollst auch Seele sein! Die Person ‚Geist‘ sollst du sein, und die Person ‚Seele‘ sollst du sein! Eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Geister und eine vollständige Persönlichkeit im Reiche der Seelen, beides zu Einem vereint in dir, wie Licht und Wärme in der brennenden Flamme, das sollst du sein. Der Körper sei - - - der Docht!“

„Der Docht!“ wiederholte er nachdenklich. „Licht [164] und Wärme wie in der Flamme. Das ist Seele und Geist! Der Körper des Menschen ist nichts, nichts, nichts, als nur der Docht! Und das Oel, Effendi? Vielleicht erfahre ich auch dieses noch! Was alles hast du mir doch schon gesagt! Es ist so viel dabei, was ich noch nicht ganz oder noch nicht recht begreife. Vielleicht grad deshalb, weil es gar so einfach klingt. Warum? Wer hat es dem Menschengeiste vorgelogen, daß nur das seines Strebens und seines Fleißes wert sei, was ihm durch die konvuse Ausdrucksweise des Pseudo-Gelehrtentums unverständlich gemacht worden ist? Auch in mir lebt noch ein Rest jenes alten Stolzes, der sich einer eigenen Kaste und auch einer eigenen Sprache rühmt. Aber gleich daneben habe ich das heilige Buch der Bücher liegen, in dem der Geist durch Welten und durch Himmel forschen geht und doch dabei in einer Sprache redet, die jedes Kind versteht. Ist diese kindliche Einfachheit, diese Klarheit jetzt plötzlich aus mir herausgetreten, um deine Gestalt anzunehmen? Ich sehe dich vor mir stehen, als seist du jener Teil von mir, welcher durch keine dialektischen Kunstsprünge irr zu machen ist, weil er die reine, wahrheitskeusche Sprache redet, die jeden Dialekt vermeidet. Wenn ich dich in dieser Weise sprechen höre, so bist du ich selbst, nur jünger, weicher, tiefer, nur scheinbar hart und doch von einem Willen, den selbst das andere Ich von mir wohl nicht erschüttern könnte. Mir ist, als hättest du nur immer jung zu bleiben, als könnte von uns beiden nur ich zu altern haben. Ich mochte schwören, daß ich durch dich schaue, als wärest du Kristall. Und dennoch kenne ich dich noch lange, lange nicht. Du bist mir ein Geheimnis und wirst's vielleicht auch bleiben. Kannst du mir das erklären?“

„Werde dir klar, dann kann ich es; eher nicht!“ [165] antwortete ich. „Indem du dir klar wirst, erkläre ich mich dir. Du lobtest mich jetzt; aber dieses Lob ist ein Tadel, sowohl für dich als auch für mich!“

„Klingt das nicht auch schon wieder so geheimnisvoll?!“

Da griff ich nach seinen beiden Händen und forderte ihn auf:

„Schau mir in das Gesicht!“

Er that es.

„Wer bin ich?“ fragte ich.

„Mein Freund,“ antwortete er.

„Nein, denn ich bin mehr, viel mehr! Ich will anders fragen: Was bin ich? Was bin ich dir?“

Er sann, doch vergeblich. Dann sagte er:

„Ich weiß es nicht. Es kommen mir zwar Worte, doch keines trifft das Richtige, und keines sagt genug!“

„Und doch giebt es eins! Ein kleines, kleines Wörtchen. Und das ist richtig! Und das sagt genug, mehr als genug!“

„Welches?“

„Du hörst es nicht von mir. Du hast es selbst zu finden. Denn sagte ich es dir, so würdest du es nicht begreifen. Aber indem du es findest, hast du es verstanden.“

„Denkst du, daß ich es finde?“

„Ja, gewiß. Ich führe dich darauf.“

„Wann?“

„Bald. Vielleicht noch heut, noch jetzt, noch ehe wir uns trennen. Ich sprach vom Licht und von der Wärme in der Flamme. Ich gab dir auch das Gleichnis von dem Docht. Du fragtest mich sogar dann nach dem Oele. Wir redeten vom Geist und von der Seele. Bist du der Geist, für welchen ich dich halte, so mußt du ganz bestimmt das kleine Wörtchen finden!“

[166] Jetzt war ich noch deutlicher gewesen als vorher, doch schien er sich nicht von dem einmal gefaßten Gedanken losreißen zu können. Er ging hinüber nach dem Fache, in welchem seine Werke standen, nahm ein Buch heraus, brachte es mir und sagte:

„Wenn sich mein Geist und meine Seele irgendwo so zusammengefunden haben, wie du sagtest, so ist es hier in diesen Blättern geschehen. Sie sind Flamme, vollständig Flamme! Schau es dir an!“

Ich öffnete es. Der Band war nicht gedruckt, sondern geschrieben, also Manuskript. Auf dem Titelblatte las ich: „Mein Leidensweg“. Ich war enttäuscht, ja sogar sehr enttäuscht!

„Deine Biographie?“ fragte ich.

„Ja,“ antwortete er.

„Vielleicht gar deine Rechtfertigung?“

„Gewiß! Das war ich mir doch schuldig!“

„Wehe dir, Ustad, wenn du dir noch etwas schuldig bist!“

„Wie streng das klingt! Und wie ernst du mich dabei anschaust, Effendi! So will ich mich anders ausdrücken: das war ich meinen Feinden schuldig, der Welt, die mich von sich gestoßen hat!“

Da hob ich warnend die Hand und sprach:

„Wenn dich die Welt aus ihren Thoren stößt,

    So gehe ruhig fort, und laß das Klagen,

Sie hat durch die Verstoßung dich erlöst

    Und darum deine ganze Schuld zu tragen!

Wenn du Geist bist, wirklich Geist, so wirst du diese Worte verstehen und ihre Wahrheit so in dich atmen, daß sie dir zur Auferstehung werden muß und werden wird. Lazare, ich sage dir, komm heraus!“

[167] Da wurden seine Augen groß und immer größer. Er hob seine beiden Hände empor, bis in die Nähe der Stirn, als ob er dort einen Gedanken fassen und festhalten wolle, und sagte:

„Was tritt jetzt an mich heran? Wer ist das? Wen giebst du mir? Ich sehe nichts. Ich höre nichts. Und doch sehe, höre und fühle ich etwas Wunderbares, etwas unendlich Beglückendes! Ich empfinde es deutlich, daß ich frei werde! Ist es etwas Geistiges? Etwas Seelisches?“

Da antwortete ich:

„Gieb mir dein Herz! Ich will's zum Himmel tragen.

    Von Gott gesegnet, bring ich dir's zurück.

Dann soll's nur noch im Himmelspulse schlagen,

    Zu deinem und wohl auch zu meinem Glück!

Ustad, halte diese Worte fest! Laß sie dir nicht entweichen!“

Er schloß die Augen, als ob das, was in ihm vorging von außen nicht gestört werden solle, trat langsamen Schrittes, ohne etwas zu sagen, zum offenen Fenster und lehnte sich hinaus. Ich hatte das Buch „Mein Leidensweg“ noch in der Hand und begann, darin zu blättern, doch ohne eigentlich zu lesen. Verschiedene Sätze, welche unterstrichen waren, fielen mir auf. Bei diesen verweilte ich. Ja, sie waren „Flamme“. Es glühte und flackerte in ihnen ein Zorn, welcher versengend war. Das Buch schloß auf der vorletzten Seite mit einem Gedichte. Dieses lautete:

„Ich kam zu dir am Hosiannatag

    Und sah dich im Triumph durch Salem reiten,

Doch auch schon alles, was noch vor dir lag,

    Sah hinter dir ich im Gefolge schreiten.

[168] Da wendete ich mich zur Klagemauer

    Und stand mit heißer Stirn am kalten Stein.

In deinen Jubel warf ich meine Trauer,

    Denn mit dir zog ja auch dein Judas ein.

Ich kam zu dir am Eli-lama-Tag

    Und sah dein Haupt im Todesschmerz sich senken.

Doch als dein Mund das Asabthani sprach,

    Mußt schon ich an das nahe Ostern denken.

Du warst ja einst auf jenen Berg gestiegen,

    Den man als Stätte der Verklärung preist,

Und mußtest beide, Grab und Tod, besiegen

    In deiner Kraft als erdenfreier Geist.

Nun komme ich zum Auferstehungstag

    Und sage dir: die Steine sind verschwunden.

Die Jünger sahen früh im Grabe nach

    Und haben deinen Leichnam nicht gefunden.

Soll wohl der Geist hier in der Gruft verbleiben,

    Wo doch der Körper längst schon auferstand?

Steh auf, steh auf! Es giebt noch viel zu schreiben,

    Jedoch von jetzt nur mit - - - der Geisterhand!“

Ich las es noch einmal und dann zum dritten Male. Welch ein Gedicht! Ich meine nicht etwa den künstlerischen Wert desselben. Der ging und geht mich gar nichts an. Es war nicht die Form, sondern es war der Geist, der vor mir stand. Ich sah ihn deutlich, mit allem, was ich loben konnte, und auch mit allem, was ich an ihm tadeln mußte. Der Mann, der diese Zeilen geschrieben hatte, war aber unbedingt auch körperlich in Jersualem gewesen. Ich sah ihn durch das Jaffator kommen und geradeaus auf jenem Stufenwege schreiten, welcher hinab nach dem „Heiligtume“ führt. Aber dorthin wollte er gar nicht, sondern er bog nach [169] links, in die engen Bazare, die auf das Thor von Damaskus münden. Dort wendete er sich rechts, dem „Leidenswege“ zu, hinauf nach Golgatha, dessen Stätte ein Gegenstand der Phantasie geworden ist, weil man die rechte Stelle nicht mehr kennt. Im tiefen Winkel liegt die „Klagemauer“. Hier hörte man die wahre Sehnsucht einst nach der Erlösung rufen. Jetzt aber kratzt man sich dort am Gestein die Finger blutig wund, nur um ein karges Bakschisch1) [1) Geschenk, Bettlergabe.] zu erhalten. So geht überall, nicht bloß im heiligen Jerusalem, die Menschheitsseele betteln, wenn sie den Geist verlor, der hier ihr Führer ist, damit dann sie ihn fort, nach oben, leite! Er aber, dieser Geist, schleicht forschend durch den Sukh2) [2) Bazar.] des niederen Lebens, an Kesselflickern, Krämern und Wechsel-Habichten vorbei, nach dieser Seele suchend, die er verlieren mußte, weil er sein Herz an eitle Dinge hing! Und wenn er sie nicht findet, geht er hinaus vor Salems alte Mauern, steigt hin und her in jenen öden Thälern, wohin die Stadt das Aas gefallener Tiere sendet, am Oelberg dann hinauf, wo an dem Weg nach Jericho das Volk der Hammel abgeschlachtet wird. Und wenn er oben angekommen ist und von der höchsten Stelle des einstigen Jebus sein Morijah liegen sieht, so wallt es tief entrüstet in ihm auf. Er schüttelt seine Hände, in denen doch nichts ist, streng über Salem aus und klagt im Tone schmerzlicher Enttäuschung: „Ich kam zu dir - - - was habe ich gefunden?!“

Jetzt stand er dort am Fenster, den Rücken mir zugekehrt. Er achtete nicht auf mich, war nur in sich versunken. Die letzte Seite seines „Leidensweges“ war noch leer. Tinte und Feder gab es hier auf dem Tische. [170] Wer war's, der in mir sprach? Der mir befahl, zu schreiben, was ich hörte ? Ich that es! Ich hielt mich ganz an seine eigene Weise. Dasselbe Metrum und dieselbe Zahl der Verse. Drei Strophen, so wie er, genau auch so beginnend: „Ich kam - - -“; „Ich kam - - -“, und dann: „Nun komme ich - - -“! Er sah nicht, daß ich schrieb. Ich wurde fertig, schloß das Buch und ging vom Tische weg. Da drehte er sich um, verließ das Fenster und ging dorthin, wo ich geschrieben hatte. Dort blieb er stehen. Es war ein tiefer Ton, in dem er langsam sprach:

„Wo habe ich's gelesen? Vielleicht auch las ich's nicht. Erzählte man es mir? Hat mirs ein Traum gebracht? Ich weiß es nicht, doch ist es in mir da. Ich will es dir jetzt sagen.“

Nun hob er den Blick und sah mich an. Da glitt es wie etwas Helles über sein Gesicht, und er rief aus:

„Es hatte deine Augen! Ganz dieselben Augen, die jetzt im Schatten liegen und doch so hell erscheinen! Sonderbar!“

Er sann ein kleines Weilchen. Dann fuhr er fort:

„Es war an einem Tag, an dem der Himmel offen stand. Da sprach der Herr: ‚Geht hin, um zu erlösen!‘ Sie folgten dem Befehl, sie alle, alle, viele Tausende. Bei ihnen die für mich bestimmte auch. Es war Dschanneh, der Gottessonnenstrahl!“

Welch ein Wort! Dschanneh! Sein Geist begann, klar, bestimmt und rein zu denken. Ich hörte, und ich sah, daß er den richtigen Weg gefunden hatte. Er sprach weiter:

„Sie suchte mich. Wie schwer war ich zu finden! Ich lag im tiefsten, fernsten Erdenwinkel, bei meiner bleichen Ahne, der Entbehrung, von den zerrissenen [171] Fetzen ihres Mantels vollständig zugedeckt. Mich hungerte. Es war so dumpf, so dunkel unter meiner armen Decke. Da griff ein kleines, kleines Händchen unter sie herein, hob sie ein wenig auf. Ein Sonnenstrahlchen kroch zu mir heran, und da, wo innerlich die Nerven des Gehöres enden, erklangen mir die leisen, lieben Worte: „Jetzt hab ich dich! Ich bin ein Gruß aus Gottes Himmelreich und soll als Seele immer bei dir bleiben. Doch, halt mich fest! Und komm aus diesem Winkel zu uns hinaus ans Licht! Willst du mich nicht verlieren, so richte deinen Geist nach oben, nicht nach unten! Ich brauche Gottesodem; den kranken Hauch der Tiefe aber muß ich meiden!" Da warf ich meine Fetzen von mir ab und ging ans Licht des Tages, an die Wärme. Nun sah ich erst, wieviel die Huld des Herrn dem Menschen spendet, und griff mit fester Hand in diese Fülle, der Ahne denkend, der dies nötig war. Da eilten sie herbei, die Lebensprasser, die sich so wenig um die bleiche Armut kümmern, daß sie ihr selbst die Fetzen kaum noch gönnen. Da packten fette, goldgeschmückte Fäuste die hagre Armutshand, ihr zu entreißen, was sie in schwerer Arbeit sich errungen. Es kam der Kampf! In seinen kurzen Pausen sah ich in mir zwei klare, milde Augen, die aber trüber, immer trüber wurden, und jene Seelenstimme flüsterte mir zu: ‚Ich warne deinen Geist! Er konnte es nicht sehen: die Fetzen waren Flügel!‘ Doch dieser Geist stieg zornig vor mir auf und machte seine ‚heilgen Rechte‘ geltend. Ich folgte ihm, und in des Kampfes Tagen, die nimmer enden wollten, verklang die Seelenbitte in weite, weite Ferne, bis ich sie nicht mehr hörte. Auch jene Augen sah ich niemals mehr. Ihr trüber Blick war für mich ausgelöscht!“

Hier hielt er inne. Sein Gesicht hatte den Aus- [172] druck einer Wehmut angenommen, die gewiß schon oft in stillen Stunden bei ihm Gast gewesen war. Aber es erheiterte sich wieder, als er fortfuhr:

„Da kamst du! Besinnungslos - krank - schwach - genesend! Ich sah dich in allen diesen Stadien. Dein Auge hatte sie mit dir durchzumachen. Je mehr du dich erholtest, desto bekannter wurde mir dein Blick. Ich sann und sann - - und endlich fand ich es: Dschanneh, mein Sonnenstrahl! Kann ein Mensch Seelenaugen haben? Ich frage nicht! Denn ich habe schon gefragt, vorhin, als ich wissen wollte, wer das sei, den du mir gabst! Als ich nun dort am Fenster stand, wurde es heller und immer heller in mir. Noch ist es nicht ganz licht; aber es wird, es wird, es wird! Effendi, ich liege auch heut im fernsten, tiefsten Erdenwinkel. Es ist so kalt, so dumpf unter meinem Mantel. Ich fühle die Nähe meiner Ahne wieder. Wird jemand kommen, wie damals, um die geistigen Fetzen aufzuheben und mir meinen Gottessonnenschein, meine Dschanneh, zurückzubringen, die mir im Kampfe des Lebens verloren gegangen ist, weil ich nicht mehr auf sie achtete?“

„Ja,“ antwortete ich. „Es kommt jemand. Er ist schon da!“

„Wer?“ fragte er.

„Ich! Ich bin es! Wünschest du wirklich, daß ich deinen Mantel aufhebe?“

„Ja!“ nickte er, indem seine Augen leuchteten.

„Und wirst du ihn, wie damals, von dir werfen und an das Licht des Tages gehen?“

„Gewiß, gewiß! - Wie gern!“

Da schob ich ihn vom Tische hinweg, griff nach seinem Manuskripte und sagte:

„Hier liegt er! Das ist er! Dein ‚Leidensweg‘, [173] deine Biographie, deine Rechtfertigung, das sind die alten Fetzen, welche ebenso in das Feuer müssen wie dort die Kästen mit den Makulaturen! Ich bitte dich, auch sie mir zu schenken!“

„Das Manuskript, das ganze, ganze Manuskript?“ fragte er erstaunt.

„Ja, das ganze!“

„Du kennst es ja nicht! Du hast es ja noch gar nicht gelesen! Lies wenigstens hinten das Gedicht!“

„Ustad, Ustad! Du glaubst, durch dieses Gedicht das Manuskript retten zu können! Ja, es ist wahr: deine Ahne sitzt bei dir, die geistige Armut, die ausgehungerte Denkschwachheit, das kraftlose Unvermögen, sich unter den Lumpen hervorzufinden, die man mit warmer Liebe um sich schlägt, weil man sie doch, und doch, und doch für ungeheuer kostbar hält, obgleich man es nicht wagt, dies einzugestehen! Du glaubst, das Gedicht sei mir unbekannt. Ich kenne es besser als du. Höre zu! Du sollst die Fetzen fliegen sehen!“

Ich schlug die vorletzte Seite auf und las. Freilich keinesweges in dem Tone, den er dabei jedenfalls angeschlagen hätte. Der meinige war ironisch frömmelnd, möglichst salbungsvoll, bei den letzten vier Zeilen sogar sarkastisch. Als ich geendet hatte, sah ich ihn an.

„Effendi, du vernichtest mich!“ rief er aus.

„Nein! Nicht dich, sondern deine Ahne! Meinst du, auf solche geistige Vorschatten stolz sein zu können? Ich weiß, was ich thue; aber ich kenne kein Erbarmen für jene feigen Geister, welche den römischen Kriegsknechten die Mantelfetzen des Erlösers entreißen und sich hineinwickeln, weil sie weder die Kraft noch den Mut besitzen, das zu thun, was er von ihnen fordert: ‚Ein jeder nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach!‘ Du trugst [174] diese Fetzen zu deiner ‚Hosiannazeit‘; das war lächerlich! Du trugst sie an deinem ‚Eli-lama-Tage‘; das war anmaßend! Und nun willst du sie sogar an deinem ‚Auferstehungstage‘ tragen! Wie würde das wohl sein?! Diese vermeintliche Auferstehung würde sich in eine Leichenschändung verwandeln! Ich sah hier in deinem Manuskripte angestrichene Stellen. Du sprichst da von dem Himmelreiche, sprichst von der Seligkeit! Wußtest du denn, ob grad dein Himmelreich auch jedem andern wohlgefallen werde? War es dir unbekannt, wer die sind, die von Christus in seiner Bergpredigt seliggepriesen werden? Du aber wolltest Thoren selig machen, die grad das Gegenteil von dem thun, was der Meister fordert! Wie erhaben groß war jener Geist, um den sich nach zweitausend Jahren noch alle hohen, edlen Geister sammeln, um an ihm emporzuschauen. Wo steckt der deinige? Zu Christi Füßen wohl? Ich suche ihn zwar da, finde ihn aber nicht. Steckt er vielleicht in des Erlösers Schatten? Ich warne dich! Er mag zum Lichte kommen! Und nun höre das letzte: Wie hoch, wie hoch denkst du von diesem deinem Geiste! Er, der vor bloßen Schemen voller Angst die Flucht ergriff, er soll jetzt auferstehen, seinen Zufluchtsort verlassen, sich hier aus seiner ‚Gruft‘ hervorwagen, und zwar zum Schrecken und Entsetzen derer, vor denen er so ganz besinnungslos entfloh? Du sprichst von deiner ‚Geisterhand‘. Du sollst von mir erfahren, was du von dieser Hand zu hoffen hast! Da, schau!“

Ich schlug das letzte Blatt des Buches um und gab es ihm. Er sah die neuen Zeilen.

„Ein Gedicht!“ sagte er.

„Meine Antwort auf das deinige,“ erklärte ich.

„Wann schriebst du es?“

[175] „Als du am Fenster standest. Laß es mich hören, laut!“ Er las:

„Ich kam zu dir mit meinem Sonnenschein;

    Du aber wolltest mich und ihn nicht haben,

Du glaubtest ja, ein großer Geist zu sein,

    Und warfst um dich mit dieses Geistes Gaben.

Du hieltest für die Ewigkeit geschrieben,

    Was Menschenhand für Menschenaugen schreibt,

Und bist doch selbst ein Manuskript geblieben,

    Das ungedruckt im Kasten liegen bleibt!

Ich kam zu dir mit meinem Sonnenlicht;

    Du aber glaubtest, eignes Licht zu strahlen.

Es glimmte wohl, doch leuchtete es nicht,

    Und teuer war die Lampe zu bezahlen.

Du wolltest alle Welt im Nu entflammen

    Für dich und deine Thorenseligkeit;

Da aber fiel der Docht in sich zusammen,

    Und nun umfängt dich selbst die Dunkelheit!

Nun komme ich mit all dem Sonnenglanz,

    In dem vor ihrem Herrn die Geister beten.

Ich will zum allerletztenmal, doch ganz,

    In meiner Klarheit Fülle, zu dir treten,

Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder,

    Das doch so einfach ist, noch immer nicht,

So gehst du wie der Docht im Lämpchen unter,

    Denn deinem Geist fehlt jede Spur von Licht!“

Er hatte die Vorlesung in jenem hohen Tone begonnen, den, wie er glaubte, das Metrum mit sich brachte. Dieser Ton war laut und vorwurfsvoll. Aber schon nach den ersten Zeilen begann er zu sinken. Die Sätze folgten sich langsamer, weil der Gedanke sich sträubte, so schnell mitzukommen. Es traten sogar kurze Pausen ein. Das Gesicht des Ustad wurde ernster und immer ernster. [176] Als er zu Ende war, las er das Gedicht noch einmal leise durch.

Nun war ich hochgespannt auf das, was er jetzt thun werde. Er sah mich gar nicht an. Er sagte nichts, kein Wort. Er drehte sich langsam um und ging wieder nach dem Fenster. Ich blieb stehen, still, erwartungsvoll. Still war es auch in meinem Innern. Kein Gedanke kam; kein Gefühl bewegte sich. Mein Herz klopfte. Ich hörte es. Gab es jemand in mir, der stumm betete?

Da verließ der Ustad das Fenster. Ist es möglich, daß sich ein Gesicht in so kurzer Zeit so sehr verändern kann? Das seinige war wie verklärt. Seine Augen strahlten. Er blieb vor mir stehen und riß das letzte Blatt langsam und sorgfältig um es nicht zu verletzen, aus dem Manuskripte. Dann warf er das letztere weit hinter sich, so daß es an die Wand zu den alten Zeitungen zu liegen kam, und rief im frohesten Tone aus:

„Hier hast du es, Effendi, alles, alles! Den ‚Leidensweg‘, die ‚Biographie‘ und vor allen Dingen auch die ‚Rechtfertigung‘, die ich keinem einzigen Menschen hier auf Erden schuldig bin! Verbrenne es, sobald du kannst, dort mit den Zeitungs-Makulaturen! Ich habe dich endlich, endlich nun begriffen:

„Wenn mich die Menschheit aus den Thoren stößt,

    Um mich, den Menschen, an das Kreuz zu schlagen,

So wurde ich von meiner Schuld erlöst;

    Sie aber hat die ihre noch zu tragen!“

Nun richtete er seine Gestalt hoch auf. Auf seiner Stirn drohte plötzlich der heiligste, unerbittlichste Ernst. Aus seinen Augen flammten Zornesstrahlen, und seine Stimme klang in ihrer tiefsten Tiefe, als er fortfuhr:

„Hatte ich ‚meinen Leidensweg‘ zu gehen, oder hatte [177] ich meine Feinde aufzufordern, sich um ihre eigenen Balken, nicht aber um meine Splitter zu bekümmern? Von welchem Monarchen oder von welchem Herrgott waren sie beauftragt, über mich zu Gericht zu sitzen? Standen sie etwa als erhabene Geister in unermeßlicher Ferne über mir? Nein! Denn dann hätten sie gar nicht auf mich geachtet! Sie waren Dochte, grad wie ich, weiter nichts; ja, sie hatten nicht einmal eigenes Oel, sondern sie zehrten von dem meinigen! Und grad das ist es, was sie kennzeichnet! Wenn sich niemand findet, von dessen Fehlern sie leben können, wird es in ihren Laternen dunkle Nacht. Aber haben sie einmal Einen gefunden, den lassen sie jahrelang nicht los, um ihn so vollständig zu verschlingen, wie einst die sieben magern die sieben fetten Kühe im Traume Pharaos! Wenn dann der Geist im Lande teuer wird, so sind doch wenigstens sie vom Hungertod gerettet - - - zum ewigen Heil der ganzen Nation! Mußte ich mich von ihnen auf die Hörner nehmen lassen? War ich gezwungen, mich meiner Fehler wegen von den Sünden Anderer aus einer Welt treiben zu lassen, auf welche ich wenigstens ein ebenso großes Anrecht besaß wie sie? Welches innere oder äußere Gesetz kann mich wohl verurteilen, unter Millionen der Einzige zu sein, der seine Fehler willig auf sich nimmt, während die Uebrigen, bis an den Hals tief in den ihrigen steckend, ihre schadenfrohe Augenweide an mir haben? Und nun sie mich für gestorben und begraben halten, ist es da nicht eine beinahe unfaßbare Schande für mich, hier in meinem „Grabe“ herumzuwimmern, anstatt mich kräftig zu regen, um die Steine desselben auseinander zu sprengen?“

Er ging einige Male im Zimmer hin und her, blieb dann vor mir stehen und sprach weiter:

[178] „Man sagt, daß Gräber sehr oft die Geburtsstätten von Irrlichtern seien. Also nicht einmal Docht, sondern nur Verwesungsgas! Es irrlichteriert auch auf dem meinigen herum. Effendi, ich stehe auf; ich muß hinaus! Du hast mich gefragt, ob ich wirklich entschlossen sei, wieder an das Licht des Tages zu gehen. Ich gab dir mein Wort, und ich werde es halten. Dort liegt der Mantelfetzen, den du mir weggenommen hast, meine Rechtfertigung, die ich keinem Menschen schuldig war. Noch ehe du ihn ins Feuer wirfst, habe ich meinen Lebensanteil wieder in den Händen. Ich fühle es, die alte Kraft ist wieder da. Ich habe bloß nur Zeit versäumt und werde da beginnen, wo ich einst aufhörte.“

„Bloß nur Zeit!“ antwortete ich. „Ustad, Ustad, du kannst nichts Köstlicheres verlieren als die Zeit! Sie kommt nie zurück!“

„Sei versichert, daß ich einholen werde, was einzuholen ist!“

„Aber auch hierzu brauchst du wieder Zeit, die du abermals einzuholen hättest! Und wo willst du wieder anfangen? Wo du aufgehört hast? An der Stelle deiner Arbeit, wo du sie unterbrachst, oder an dem Orte, wo du früher wohntest?“

„Beides. Ich muß; ich muß! Denke an dein Gedicht, mit welchem du das meinige beantwortetest? Alles Andere habe ich weggeworfen; das Blatt mit diesem Gedichte aber hebe ich mir auf. Ich trage es auf meinem Herzen. Wie recht hast du mit dem Vorwurfe der ‚Torenseligkeit‘! Ist Gott wirklich nur Liebe, nichts als Liebe? Ist er nicht auch gerecht? So lange ich glaubte, nur geliebt zu werden, gab es in dem Himmel, den ich lehrte, eben auch nichts, als nur Liebe. Aber als ich mich unter der Faust des Hasses zu krümmen hatte und der giftige Neid [179] an mir emporgekrochen kam, da erkannte ich, daß ich mich geirrt haben mußte. Ist der Himmel so arm, daß er für die Liebe und für den Haß nichts als dieselbe Münze hat? Und soll nur Gott allein das Böse bestrafen dürfen, nicht auch der Mensch, nicht ich? Wenn Tausende mich unter ihre Füße treten, indem sie behaupten, auf dem alleinigen Weg zur Seligkeit zu sein, muß ich da diesen ihren Irrtum als Wahrheit anerkennen, indem ich mich vollends von ihnen zermalmen lasse? Diese Fragen stiegen oftmals zornig in mir auf, ohne daß ich sie zu beantworten wagte. ‚Liebet eure Feinde!‘ klang es tief in mir. Da kamst du vorhin mit deiner ‚Torenseligkeit‘, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ja, es ist Christi Gebot ‚Liebet eure Feinde!‘, und ich werde es halten, so lange ich lebe und bin. Aber ich weiß nun, daß ich die wahre Liebe zum Feinde ebenso wenig begriffen habe wie die Liebe überhaupt. Wenn der Feind gegen mich auftritt, um mich zu vernichten, so habe ich ebenso streng gegen ihn zu verfahren, doch nur, um ihn zu retten! Das ist die wahre Feindesliebe und nicht mehr kranke Herzensduselei! Die offene Hand für jede offene Hand, doch auch die Faust gegen Jeden, der mir die seine ballt! Die Feinde zu schonen, ging ich aus dem Lande und wurde für sie tot. Was habe ich für mich und was habe ich für sie dadurch erreicht? Nichts! Darum bin ich entschlossen, zu ihnen zurückzukehren und nachzuholen, was ich versäumte. Ich will unter sie treten als ganz derselbe, der ich war, und doch als ein ganz anderer. Ich werde ihnen - - -“

„- - - die Faust zeigen!“ unterbrach ich ihn. „Nicht wahr, Ustad?“

„Ja,“ nickte er.

„Und deine Dschamikun - - -? Was wird aus [180] ihnen - - -?“ Ich sah ihm ernst fragend in die Augen. Er senkte sie zu Boden. Es entstand eine Pause, doch nur eine sehr kurze. Dann hob er den Blick wieder empor, reichte mir die Hand und antwortete, heiter lächelnd:

„Welch eine jugendliche Uebereilung bei solchem Alter! Verzeihe mir im Namen dieser meiner Treuen! Wie könnte ich die verlassen, die mich niemals, niemals verlassen würden! Du siehst, der Zorn führt leicht auf falsche Wege, sogar auch mich, den sonst so gern Bedächtigen!“

„Das warst nicht du; es war der alte Schatten. Nur immer groß scheinen, ohne wirklich und wahrhaft groß zu sein! Du wolltest in jenes dir fremd gewordene Land zurück und auch an jene Stelle, wo du zu schreiben aufhörtest. Auf das eine hast du verzichtet. Und das Andere?“

„Fremd geworden, sagst du, und das ist richtig! Das Land - - - wohl auch die Arbeit!“

„Jawohl! Die Feder ruhte, doch nicht dein Geist, und wahrer Geist kennt nicht das Rückwärtsgehen. Ich will dir zeigen, was du schreiben mußt. Komm mit hinaus, und höre, was ich sage!“

Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn durch das Mittelzimmer auf das platte Dach. Indem ich mit der Hand einen Bogen über die Einfassung desselben hinaus beschrieb, fuhr ich fort:

„Da liegt dein Reich, das Reich der scheinbar Unmündigen, zu denen du von den scheinbar Mündigen getrieben worden bist. Ihre Augen sahen besser und schärfer als die Augen derer, die sich für weise hielten. Bei diesen letzteren liegt deine Vergangenheit, mit der du abgeschlossen hast. Laß sie mit ihr machen, was ihnen [181] beliebt! Sie sind ja auch weiter nichts als nur die dunkeln, immer mehr verschwindenden Schatten einer Zeit, die hinter jedem von uns liegt, der in die Sonne schaut. Und diese Sonne kommt. Schau gegen Osten hin! Noch liegen die Ruinen hier in tiefer Dunkelheit, doch ballt sich schon der Nebel auf dem See. Er sagt uns, daß zu steigen jetzt beginne, was nicht mehr in der Tiefe bleiben will. Der Erde Sehnsucht ist also vorhanden. Es fehlt nur noch die lichte Kraft von oben, die liebend niederstrahlt, dies Sehnen zu erfüllen. Ein leiser Hauch verkündet schon den Morgen. Glaubst du, daß er uns täusche, daß er nicht kommen werde?“

„Er kommt bestimmt, mit Gottessicherheit!“ antwortete er.

„So sag: Ist diese Sicherheit nur in der Zeit vorhanden, die Tag für Tag die gleichen Stunden bringt? Gibt es nicht auch noch andre Morgen, die ebenso gewiß nach andern Nächten folgen? Und andre Nebel, die grad jetzt sich ballen, wie diese hier, am See der Dschamikun? Du brachtest in dies Land den Trieb nach oben. Ich sah es ja, wie kräftig er sich zeigt. Es war hier Nacht, doch spürte ich den Hauch, der stets mit Sicherheit den jungen Tag verkündet. Glaubst du, daß es vermessne Menschen gebe, die ihre Nacht dem Licht entgegenstellen, damit der Tag von ihr vernichtet werde? Und wenn der Wahnsinn wirklich möglich wäre, der sich mit solcher Macht gewappnet denkt, so blase er mit seinem Hauch die Sonne, mit seinem Odem alle Sterne aus und füge zu der so entstandnen Finsternis das grasse Dunkel seines Hirns dazu, so wird es eben nur ein Wahnsinn sein und bleiben! Hetz tausend solche dunkle Aberwitzige auf einen einz'gen lichten, klaren Menschengeist, es wird geschehn, was unausbleiblich ist: Nicht werden diese [182] Irren ihn verdunkeln, nein, sondern er wird ihren Wahn beleuchten und alles das, was hinter diesem liegt. Und schreitet er auf ihre Nebel zu, wird er zum Tag, vor dem die Schatten fallen. Das ist die andere Gottessicherheit, die unerbittlich naht, nach jeder Larve greift und jeden Vorhang hebt und alles an das Licht der Sonne zieht, was sich aus Angst vor diesem Licht versteckte.“

„Wie richtig!“ nickte er. „Wir wissen ja, daß jene Schatten kommen, die heute sich hier angemeldet haben. Es gilt den großen Kampf, der zwischen Licht und Finsternis entscheidet. Wer Sieger bleiben wird, sagt das Naturgesetz. Ich ahne, daß sie nicht nur offen kommen werden. Des Dunkels Schwester ist die Heimlichkeit. Und wenn sie meinen, uns zu überwinden, so denken sie auch ganz gewiß daran, den Sieg sofort und schleunigst auszunützen. Drum fürchte ich, man kommt nicht nur zum See; man wird auch draußen unser Land besetzen. So habe ich also dafür zu sorgen, daß wir auch hierauf vorbereitet sind. Du siehst, ich denke schon nicht mehr an meine frühere Welt, zu der ich schleunigst wiederkehren wollte. Ich bleibe hier bei meinen Dschamikun, um zu beenden, was ich einst begann. Ich baute nur für sie das Alabasterzelt und muß sie heben, bis sie oben sind. Was ich von meiner ‚Geisterhand‘ gedichtet, das hat Gedicht zu bleiben allezeit. Ich war ja doch kein Abgeschiedener und schaute über jene Grenze nicht, die keiner überschreitet, der noch lebt.“

„So hast du also doch noch nicht begriffen!“ sagte ich.

„Was?“ fragte er.

„Die Stelle meiner letzten Strophe: ‚Begreifst du nun auch jetzt das große Wunder, das doch so einfach ist, noch immer nicht‘ - - -! Du hältst dich für einen [183] Dichter, denn du dichtest. Und doch weißt du nicht, was ein Gedicht ist und wie es entsteht. Denk noch so tief und schön, und sage es in Reimen, das, was du schreibst, ist dennoch kein Gedicht. Der wahre Dichter denkt und schreibt zwar auch, doch was er schreibt ist Wirklichkeit und Leben, ist niemals nur Erdachtes. Dem Einen fehlt das Selbsterleben des Andern. Der eine ‚hat‘ Geist, der Andere aber ‚ist‘ Geist. Und dieser Geist kennt jene Grenze nicht, von der du sprachst. Ihm sind die Tore anderer Welten offen. Er geht da aus und ein. Ist er zurückgekehrt, um zu berichten, so kann er das nur in der Sprache tun, die man hier in der Körperwelt versteht. Und dieses Uebersetzen ist nicht leicht; man lernt es nur durch Mühe und Entsagung. Ich kenne keinen einzigen, der hierin Meister wurde; sie alle blieben bei dem Lehrling stehen. Auch ist dies Uebersetzen undankbar; ich meine undankbar im engsten Erdensinne. Wer Geistesleben übertragen will, der findet hier bei uns nicht eine einz'ge Form und keinerlei Begriff für das, was er uns gibt. Er hat sich mit der irdischen Gestalt und mit dem Menschenworte zu begnügen, die aber völlig unzureichend sind für seinen Zweck. Er kann nicht deutlich sagen, was er zu sagen hat, und uns nicht offen zeigen, was wir doch sehen sollen. Und wir, wir stehn dabei, mit vollen Körpersinnen und doch fast blind und taub für seine ganze Mühe. Der Ernste zwar, der logisch denkt und groß und rein empfindet, wird sehr bald ahnen, daß es um Unbeschreibliches, um Heiliges sich handelt, und darum sich befleißigen, sein Auge und sein Ohr dafür zu schärfen. An diesem Fleiße wächst sodann sein eigner Geist empor und lernt den andern nach und nach begreifen.“

„So ungefähr, wie ich zu wachsen habe,“ fiel da der Ustad ein.

[184] „Wer aber nicht so lauteren Herzens ist,“ fuhr ich fort, „und trift'ge Gründe hat, den reinen Geist zu hassen, der stürzt sich wütend auf das arme Wort und auf die unwillkommene Gestalt und gibt sich Mühe, beide zu vernichten. Gelingt ihm dies, so prahlt er laut, den Geist besiegt zu haben, und wird von seinesgleichen hoch auf den Schild gehoben. Gelingt es aber nicht, so wirft er um die Blöße, die er sich gab, den Mantel frechen Spottes und greift anstatt des Geistes nun auch den Menschen an, um nichts an ihm zu lassen, was ihn zum Menschen machte. Welch ein Jubel nun für alle, die ebenso niedrig denken wie er! Sie fallen mit derselben Gier über den Verhaßten her. Er wird verhöhnt, geächtet, ausgestoßen, und wehe ihm, wenn er nichts Andres wäre als eben nur der Mensch, der an dem Pranger steht! Weißt du nun, Ustad, wie undankbar, ja wie gewagt es ist, mit der ‚Geisterhand‘ schreiben zu wollen? Der Spott würde sich sofort deiner bemächtigen. Die raffinierte, rücksichtslose Lüge würde an dich herantreten, um den erhabenen Begriff, welcher dir bei dem Worte ‚Geist‘ vorschwebt, zu fälschen und in ‚Gespenst‘ zu verwandeln. Man würde höhnisch behaupten, du meinest nicht das Reich der Geister, welche große, edle Menschen sind, sondern das Geisterreich, von dessen Vorhandensein nur der Aberglaube faselt. Und selbst wenn du nicht mit Menschen-, sondern mit Engelzungen sprächest, die Unvernunft würde dich nicht verstehen ‚können‘ und die Feindschaft dich nicht begreifen ‚wollen‘, sondern dir alle möglichen Eigenschaften und Absichten unterschieben, aber ja nur keine guten!“

„Aber die Vernünftigen, Effendi?“

„Sie können dir keine Hilfe gewähren, denn sie sind machtlos, dem Heere der Andern gegenüber. Du kannst dich nur auf dich selbst verlassen. Du hast alleinzustehen, [185] ganz, ganz allein, in allertiefster Seeleneinsamkeit, fest, stark, unerschütterlich - - - vollständig gleichgültig gegen jeden Schmutz, mit dem man nach dir wirft, gegen jede Niedertracht und Tücke, die aus vollen Nüstern dir entgegenschnaubt. Selbst die, welche an dir hangen, verstehen dich meist falsch, denn es erfordert Gedankenewigkeiten, bevor sie lernen, durch das Wort und die Gestalt hindurch den Sinn, den Geist, die Seele zu erfassen. Also auch sie stehen nicht bei dir, an deiner Seite. Aber grad diese Einsamkeit, diese Verlassenheit ist es, die dir den allerbesten, den einzigen Schutz gewährt. Bist du stark genug, dich zu dieser Entsagung zu bekennen, so gewinnst du sie lieb, unendlich lieb. Dein Ohr hört weder Lob noch Tadel mehr, und alles, was sich gegen dich aufbäumt, muß ohnmächtig in sich selbst zusammenfallen.“

„Ich begreife dich und begreife dich doch nicht,“ gestand er ein. „Auch ich habe entsagt, dann aber doch wenigstens meine Dschamikun gefunden. Die Einsamkeit, von der du sprichst, ist mir beinahe undenklich.“

„So schreibe, wie du ja wolltest, mit deiner Geisterhand; dann wirst du sie sofort kennen lernen! Versuche es, deinen Lesern ins Körperliche zu übersetzen, was Geist, was Seele ist, du wirst die Folgen so schnell an dir verspüren, daß es dir grauen möchte! Zeige ihnen einmal ein volles Menschen-Ich, von dessen Wesen sie trotz aller Psychologie noch keine Ahnung haben. Zerlege es vor ihren Augen in deutliche Gestalten, von denen du glaubst, daß sie sofort verstanden werden müssen - - was wird die Folge sein? Man sieht das nicht, was du beschreibst, und denkt darum, du redest nur von körperlichen Dingen. Das preßt den Blinden jenes Lachen aus, worüber Sehende am liebsten weinen möchten. Man nennt dich einen Lügner, einen Prahler. Man spricht von Eigenlob, von widerlicher [186] Selbstreklame. Und doch kann nirgendwo die Arroganz so ungeheuer sein wie grad bei diesen Toren, die ihren blinden Willen dem Schöpfer und den Menschen, sogar der sämtlichen Natur als oberstes Gesetz ins Antlitz schleudern. Was thust du dann, wenn diese - - -“

Ich konnte nicht weitersprechen, denn es fiel unter uns ein Schuß und wieder einer. Gleich hierauf hörte ich Kara Ben Halef, welcher seine Lagerstätte bekanntlich auf dem platten Dache über der Halle hatte, ausrufen:

„Was war das? Warum hat man geschossen?“

„Die Gefangenen brechen aus!“ erwiderte eine weibliche Stimme.

„Wallahi! Laß sie nicht in das Haus! Ich packe sie hier von oben!“

Kaum gesagt, tat er es auch: Er schoß vom Dach herunter in den Hof.

„Das war die Stimme meiner wachsamen Schakara!“ rief der Ustad. „Eile du hinab zu ihr, Effendi! Ich gebe meinen Dschamikun das Zeichen mit der Glocke; dann folge ich dir nach. Nimm deine Waffen; sie sind aber nicht geladen!“

Um die Lampe stehen lassen zu können, steckte ich eine Talgkerze an und ging schnellen Schrittes hinunter in die „Rumpelkammer“. So lange die Menschheit nicht Frieden hält, darf auch der Friedliche nicht auf die Wehr verzichten. Das wurde uns beiden jetzt bewiesen. Ich nahm den Stutzen nebst Patronen und sprang dann, mehr als ich stieg, die untern Treppen hinab. Da stand Schakara vor der Tür, welche in die Halle führte; sie hatte den Eisenriegel vorgeschoben und eine Pistole in der Hand. Am Boden stand eine brennende Lampe, daneben lagen die Kleider des Bluträchers. Auf dem Hofe brüll- [187] ten viele Stimmen drohend durcheinander. Kara's Schüsse krachten. Er beschützte von oben herab die Stufen zu der Halle. Ich warf das Licht weg, weil es mich hinderte, lud das Gewehr und erkundigte mich während dieser höchst eiligen Beschäftigung bei der Kurdin:

„Wie kamst du dazu, bewaffnet zu sein und die Flucht der Gefangenen zu entdecken?“

„Frage das später!“ antwortete sie. „Horch! Die Glocken klingen! Nun erwachen alle unsere Krieger. Da ist die Gefahr für das hohe Haus vorüber. Die Feinde können jetzt weiter nichts mehr tun, als schleunigst fliehen. Lehre sie die Stimme deines Gewehres kennen!“

Sie schob den Riegel zurück und öffnete die Thür. Grad als ich hinaus in die dunkle Halle trat, kam Hanneh von oben herab.

„Mein Halef, mein Halef!“ rief sie aus. „Wenn er die Schüsse hört, so wacht er auf und wird sich tief erregen!“

Sie eilte zu ihm hin. Ich aber bemerkte zu meiner Beruhigung, daß kein Fremder hier eingedrungen war. Sie waren schon fast alle zum Tore hinaus, und ich schickte ihnen mehrere Schüsse nach, doch nur in der Absicht, sie zu beängstigen, nicht aber, sie zu treffen.

„Verteilt euch schnell, schnell!“ hörte ich die Stimme des Bluträchers brüllen. „Nur euch nicht wieder ergreifen lassen! Nur rasch zum Dorfe hinaus! Wir kommen ja doch wieder. Dann aber Rache, Rache!“

Die Glocken klangen weiter, in einzelnen, warnenden Schlägen. Im Küchengarten krachten jetzt auch Schüsse. Das war, wie ich später erfuhr, Tifl, der dort hinter den Sträuchern stand. Die übrigen männlichen Bewohner des Hauses erschienen, und unten im Dorfe begannen die Gewehre laute Antwort zu geben. Wo aber war [188] der Pedehr? Und wo waren die Wachen, die drüben am Gefängnistore gestanden hatten? Ich sah sie nicht.

Da hörten die Glocken auf, zu stürmen, und der Ustad kam zu uns herab. Er traf mit dem Händler aus Isphahan und dessen Sohn [Enkel] zusammen, die sich nun auch einfanden. Ich bat, Fackeln anbrennen und vor allen Dingen das Tor wieder verschließen zu lassen. Als das geschehen war, ließ ich die Leute zusammenrufen. Man tat dies mit einer Hast, als ob es nun erst gelte, das zu verhüten, was doch bereits vorüber war. Die Aufregung hatte alle ergriffen, sogar den Ustad auch. Ich aber war gewohnt, mir in jeder Lage meine innere Ruhe zu bewahren, und konnte mich höchstens darüber wundern, daß der Pedehr sich noch immer nicht sehen ließ. Als ich nach ihm fragte, war es Schakara, welche antwortete:

„Ich sah ihn zu den Gefangenen hinübergehen, und er kam nicht wieder,“ sagte sie.

„Wo warst du, als du das bemerktest?“ erkundigte ich mich.

„Hier in der Halle. Ich wünschte, daß Hanneh und Kara schlafen möchten, und bat darum, bei Hadschi Halef wachen zu dürfen. Das gewährten sie mir.“

„Du immer Gute und stets Opferfertige!“ unterbrach ich sie. „Was wollte denn der Pedehr so mitten in der Nacht bei diesen Fremden?“

„Das weiß ich nicht. Er sprach gar nicht mit mir, wohl weil er mich nicht sah. Als er so gar nicht wiederkehrte, wurde ich besorgt um ihn und ging hinaus auf die Stufen. Da sah ich das Tor des Gefängnisses offen, und die Soldaten kamen leise heraus. Ich erschrak so, daß ich kein Wort hervorbrachte, und doch war Hilfe nötig. Darum eilte ich in das Innere des Hauses und holte die Pistole des Pedehr, die stets geladen ist. Die [189] schoß ich ab, alle beide Läufe, und dann verriegelte ich die Tür, damit es keinem Feinde gelingen möge, zu euch hinaufzukommen. Was dann geschah, das weißt du ja, Effendi.“

Wie kam es doch, daß es meine Hand hinüber zu der ihrigen zog, um sie zu drücken? Ich tat es und sprach dabei:

„Wenn der Geist des Hauses von unnützen Dingen träumt oder gar im vollen Wachen sich unvorsichtig erweist, so hat dann freilich die Seele die Augen offen zu halten. Und die bist du für uns gewesen, o Schakara! Ich vermute, der Pedehr steckt drüben im Gewölbe und ist Gefangener an Stelle derer, die er festzuhalten hatte. Schauen wir nach ihm!“

„Wird er nicht tot sein?“ fragte höchst besorgt sein Tifl. „Sie können ihn ermordet haben!“

„O nein! Wer zum Wettrennen wiederkommen will wie dieser Multasim, der begeht zwar heimlichen, nicht aber offenbaren Mord. Der Pedehr wird ihm wie in einer Da'wa'l Ihana1) [1) Beleidigungsprozeß.] in die Hände gegangen sein und nicht den richtigen Vergleich zwischen sich und ihm getroffen haben. Da bleibt nun uns nichts Anderes übrig, als daß wir jetzt ganz ruhig sind und später anders als wie er verfahren. Nun kommt!“

Wir gingen mit zwei Fackeln über den Hof hinüber. Die Flüchtigen hatten infolge der Alarmschüsse gar nicht Zeit gefunden, die Tür fest zuzumachen; sie war nur angelehnt. Im Innern herrschte tiefe Dunkelheit! Durch unsere Fackeln aber wurde es hell. Da sahen wir sie am Boden liegen, den Pedehr und auch die Wächter, mit den eigenen Stricken gebunden und durch Knebel sprachlos [190] gemacht. Alle, die mit hereingekommen waren, stießen Rufe des Erstaunens, der Verwunderung, ja des Schreckens aus. Der Ustad schlug die Hände zusammen und wollte sich wahrscheinlich in geharnischten Fragen ergehen; ich aber nahm ihm durch eine schnelle Handbewegung die Zeit dazu und sagte:

„Keiner von euch spreche! Es handelt sich hier um Anderes, als ihr denkt! Der Pedehr hat gethan, was er nicht lassen konnte. Schmälern wir ihm also nicht seinen Ruhm! Macht die Andern los; sie mögen gehen!“

Während man dies tat, bückte ich mich zu dem Scheik nieder, um ihn zu befreien, von denselben Fesseln, welche für seine und unsere Feinde bestimmt gewesen waren. Auch zog ich ihm den Knebel aus dem Munde. Da stand er langsam auf. Er sah uns an und lächelte. Sonderbar! Er wollte sprechen und brachte doch nichts hervor. Da sagte ich:

„Gib dir keine Mühe, o Pedehr! Wer sich von den Gegnern die Stimme rauben läßt, der braucht sich vor den Freunden auch nicht anzustrengen!“

Dann drehte ich mich um und ging hinaus. Die Andern folgten. Als wir wieder in den Hof kamen, wurde an dem großen Tore Einlaß begehrt. Es waren Dschamikun. Sie hatten einige der entflohenen Soldaten eingefangen und brachten sie wieder; ein Offizier oder gar der Bluträcher war aber nicht dabei. Darum bedeutete ich sie, diese ganz gewöhnlichen Menschen einfach aus dem Dorf zu schaffen und dann laufen zu lassen, dafür aber um so mehr acht auf ihre Pferde und andern Tiere zu geben, auf welche man es sehr leicht abgesehen haben könne. Beim Anbruche des hellen Tages sei dann die Gegend nach den Flüchtlingen abzusuchen und jeder Zurückgebliebene mit der Peitsche zu belehren, daß er hier [191] bei den Dschamikun nichts mehr zu suchen habe. Hierauf entfernten sie sich, und das Tor wurde nun wieder verriegelt. Darauf fragte mich der Ustad, was jetzt zunächst und vor allen Dingen noch zu tun sei.

„Zunächst und vor allen Dingen?“ antwortete ich lächelnd. „Vor allen Dingen schlafen wir.“

„Ich auch?“

„Jawohl! Es wird uns kein Fremder wieder stören.“

„Möglich; aber wir haben noch so viel zu besprechen und noch so viel zu bestimmen!“

„Mein Freund, wir haben schon viel zu viel besprochen, weit mehr, als nötig war und nötig ist. Und zu bestimmen? Dazu ist Zeit, wenn wir geschlafen haben, bevor du reisest. Laß mich dir offen sagen: Das Wort hat dann nur Wert, wenn es sich zur Tat gestaltet. Laß uns also von nun an mehr in Taten als in Worten sprechen! Daß der heutige Abend und ein Teil der Nacht so reich an Worten war, ist zu begreifen. Der vorangehende Tag gab uns den Stoff dazu, und dann war es ja Nacht; die Nebel wallten. Komm noch einmal mit mir herauf! Wir wollen sehen, ob sie noch da, ob sie vorhanden sind.“

Wir stiegen in meine Wohnung, wo die Lampe noch brannte; ich löschte sie aber aus. Unten in der Halle und unter den Bäumen des Hofes war es noch ganz dunkel gewesen. Hier oben aber führte die offenstehende Tür hinaus ins Freie und Schattenlose.

Als wir hinaustraten, standen die Bergeskuppen des Ostens bereits in wasseropales, bläuliches Hell getaucht. Hoch über uns lüfteten sich die Maschen des nächtlichen Schleiers, um vom Schein des Tages aufgelöst zu werden. In der Tiefe lag der See auch jetzt noch wie im Traume, aber dieser Traum war klar, von trüben Schatten rein. [192] Und die Nebel, die wir vorhin noch gesehen hatten? Verschwunden! Wohin? Wer kann es sagen!

„Nun?“ fragte ich, hinunter nach dem Wasser deutend.

„Fort!“ antwortete der Ustad.

„Und hier?“

Ich zeigte hinein nach der Bibliothek. Da holte er tief Atem und sagte:

„Ja, auch das waren Nebel, waren Dünste, und doch etwas ganz Anderes! Wie soll ich es nur nennen?“

„Du hast es bereits genannt und trafst den rechten Namen, als du behauptetest, daß es auf deinem Grabe irrlichteriere. Die Dünste hatten Flackerschein zu geben, um von ihm vollends weggezehrt zu werden. Verstehst du nun, was ich meinte, als ich von allzuvielen Worten sprach? Es ist geflackert worden. Wo? Ueber alten Sümpfen! Das schadet nichts; es reinigt sich die Luft. Dann sinken die Schwärme der stechenden Insekten nieder, und freundliche Gedanken kommen, den hellen Tagesfaltern gleich, herbei, um Häßliches und Scharfes abzulösen. Du sprachst von deinem Grabe, deiner Gruft, die hier in diesen deinen Räumen liege. Glaubst du, daß dies richtig gewesen sei?“

Er sah einige Zeit nachdenklich vor sich nieder und antwortete dann:

„Du weißt, daß man sich von alten, angewohnten Namen und Bildern nicht leicht zu trennen vermag.“

„Jawohl. Aber was wäre dann dein Alabasterzelt? Etwa das Mausoleum über der geliebten Gruft?“

Da fuhr er zusammen, schaute mich wie froh erschrocken an und rief aus:

„Effendi, Effendi! Was sagst du mir da für ein Wort! Was du mit keiner Rede des gestrigen Tages und der ganzen Nacht erreichtest, das sagst und beweisest [193] du mir durch dies einzige Wort! Wer sein Zelt für so hoch oben baut, den kann vielleicht die Narrheit für gestorben halten, doch ist für diese Narrheit wohl jeder Kluge tot, und weil sie mich für tot hält, bin ich lebend! Effendi, du hast recht: Wir haben lange, lange Stunden mit einander geflackert und irrlichteriert: es mag auch heilsam gewesen sein, der stechenden Insekten und des Nachtgewürmes wegen; aber jetzt, jetzt erst, nachdem es Tag zu werden beginnt, hast du mir endlich das klare Wort und richtige Licht gegeben, in welchem ich erkenne, daß es nur an mir liegt, ob ich der Narrheit den Gefallen tun will, tot zu sein!“

„So schau hin gegen Osten! Dort bildet sich der erste Purpursaum, und leise Strahlen küssen ihn von fern. Reich an Erkenntnis nähert sich der Morgen, und wenn du willst, so teilt er sie dir mit.“

„Ja, ich heiße ihn willkommen, und er soll mein Lehrer sein,“ rief er aus. „Du aber mußt ruhen und schlafen, den ganzen heutigen Tag. Ich verlangte zu viel von deinem noch nicht genesenen Körper. Darf ich dich für kurze Zeit wecken, ehe ich aufbreche, Effendi?“

„Ja, unbedingt! Ich habe vorher mit Agha Sibil zu sprechen und dann den Brief nach Bagdad zu schreiben.“

„So nimm jetzt meinen Dank, und schlaf am Herzen der Liebe ein, die dich und mich bewacht, indem sie uns wie eine einzige Seele umschließt!“

Er zog mich innig an sich, um mich auf Stirn und Mund zu küssen. Dann ging er hinab. Kaum war er fort, so trat die lange zurückgehaltene Schwäche ein. Es überkam mich eine so große Müdigkeit, daß ich schnell [194] mein Lager aufsuchte und mich niederlegte, gleich so, wie ich war. Das Fenster stand offen. Ich richtete den letzten Blick hinaus. Am Himmel begannen die Strahlen in goldenen Funken zu blitzen. Dann war es wie ein Meer des Lichtes, welches mich plötzlich über und über umflutete. Nun schloß ich die Augen und schlief ein, doch ohne daß es um mich dunkel wurde. Wie war das sonderbar! - - -

[195]