Viertes Kapitel. Zusammenbruch.

 

Der Scheik ul Islam hatte seine letzten Worte so laut und mit solchem Nachdrucke gesprochen, daß sie von der Decke dumpfgrollend wiederhallten. Seine Gestalt schien gewachsen zu sein. Er hielt den Kopf herausfordernd zurückgeworfen und strich sich mit beiden Händen den langen, dünnen Bart, als ob in diesen Haaren die Kraft gelegen habe, endlich einmal den Mut der Aufrichtigkeit zu zeigen. Seine Leute verhielten sich zuwartend. Der Aemir - - - ja, was war denn das? Der setzte sich ganz ruhig auf den nächsten Stein, putzte die Schuppen von den Kerzen und sagte in einem Tone, als ob er ein höchst gleichgültiges Gespräch fortzusetzen habe:

„Es ist also nicht nötig, daß ich dir hier noch Etwas zeige?“

„Nein, keineswegs!“ antwortete der Andere, noch immer scharf.

„Dann könnte ich ja gehen!“

„Allerdings!“

[491] „So möchte ich vorher wissen, wie diese deine Leute hier hereingekommen sind! Wir ließen sie am Bach zurück, wo unsere Pferde jetzt noch stehen!“

„Ich liebe die Geheimniskrämerei ebenso wie du. Darum sage ich dir: Ich verwandelte sie in Geister und rief sie durch die Mauern,“ antworte der Scheik ul Islam höhnisch.

„Das klingt sehr leicht begreiflich. Du treibst also als Scheik ul Islam Hokuspokus! Eine neue, sehr interessante Seite von dir! Jedenfalls bist du ein außerordentlich begabter Mensch! Wahrscheinlich lässest du sie ganz in derselben Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder gehen?“

„Ja.“

„Und was geschieht mit dir selbst?“

„Nichts Anderes. Ich werde Geist und lasse mich verschwinden.“

„Darf man das sehen?“

„Nein, denn du bist noch nicht so unsterblich wie wir. Für Euch Irdische ist so Etwas nicht!“

„Wirklich nicht? Solltest du dich da nicht irren? Auch wir Irdische verstehen Etwas von Eurer Magie, wenn auch nicht Alles. Ich habe es zwar nicht so weit gebracht, mich selbst verschwinden zu lassen, aber mit Andern bringe ich es doch schon fertig. Und ich verfahre dabei nicht so geheimnisvoll wie du. Wenn ich nächstens einmal meinen Zauberstab schwingen werde, so lade ich dich dazu ein. Ja, ich bin sogar sehr gern bereit, dich selbst verschwinden zu lassen. Zunächst aber haben wir uns morgen bei den Taki drüben zu treffen?“

„So wurde ausgemacht, und so hat es zu bleiben!“

„Und Freitag auf den Dschebel Adawa?“

„Auch da. Du natürlich als Aemir!“

[492] „Den du aber nicht kennst?“

„Sei unbesorgt! Es liegt in meinem eigenen Interesse, keinen Menschen erfahren zu lassen, daß ich dich entlarvte.“

„Und diese Leute hier?“

„Sind verschwiegen!“

„So gehe ich jetzt!“

Er stand vom Steine auf.

„Meine Pistole!“ gebot er, die Hand ausstreckend.

Der, welcher sie noch in der Hand hielt, gab sie ihm.

„Hier liegt meine Maske und dort meine Peitsche. Soll ein Kaiser sich bücken?“

Das klang so zwingend, daß man beide aufhob und ihm gab. Er steckte Larve und Waffe zu sich, hieb mit der Peitsche verächtlich hinter sich und sagte:

„Also nun los mit dem Hokuspokus! Hier und überall! Ich aber liebe den festen Weg zum Pferde. Wollen sehen, wer eher in den Sattel kommt, Ihr oder ich! Vergeßt aber nicht, die Lichter zu entfernen! Ihr seid ja Dunkelmänner. Und wenn auch nur der geringste Schimmer zurückbleibt, entdeckt man Euer Tun und Treiben und klopft Euch auf die Finger. Also macht es finster - - finster - - - finster!“

Er schwippte noch einmal mit der Peitsche und ging.

„Nun schnell diese Tür wieder auf!“ gebot der Scheik ul Islam. „Wir wollen ihm doch zeigen, daß wir noch eher bei den Pferden sind als er; ich sehe nach, ob er sich auch wirklich entfernt.“

Bei diesen Worten eilte er hinter dem Aemir her. Wir hörten unter uns dasselbe Steinschlürfen und sahen die drei Männer nicht mehr. Sie standen unter der [493] Empore bei der Bundeslade. Da kam er wieder herein und berichtete:

„Er ist wirklich fort; ich sehe ihn schon nicht mehr. Merkt Euch hier Folgendes! Die Dschamikun werden natürlich glauben, daß wir von außen kommen. Demzufolge besetzen sie die Zugänge zu dem Tale. Wir aber dringen durch diesen Gang heimlich in die Ruinen, verbreiten uns da leise, bis alle beisammen sind, und fallen dann über sie her. Nun weg mit den Kerzen, und rasch fort durch den heiligen Stein! Wer weiß, wie Vielen er schon als letzte Ausflucht diente, wenn sich die Menschen hier von Zeit zu Zeit die Auserwählten Allahs nicht mehr gefallen lassen wollten!“

Es wurde dunkel; die Steine schliffen wieder, und dann war nichts mehr zu hören. Die Vorsicht gebot mir, noch zu warten.

„Effendi, es ist vorbei. Wollen wir nicht gehen?“ fragte der Aschyk halblaut herüber.

„Nein,“ antwortete ich. „Der Aemir verhielt sich zuletzt derart, daß ich seine Rückkehr vermute. Also still!“

Es verging nach meiner Schätzung wohl über eine halbe Stunde, und schon griff ich in meine Tasche, um die Kerze herauszunehmen und anzubrennen. Da gab es draußen ein Geräusch. Man blieb dort stehen, um Licht zu machen, und kam dann herein. Es waren zwei Männer, beide mit unverhüllten Gesichtern. Der Eine war der Aemir. Der Andere trug das Licht. Wahrscheinlich war er der von dem Aemir ausgestellte Wächter, von dem gesprochen worden war. Er mußte das Vertrauen Ahrimans in hohem Grade besitzen und in Alles eingeweiht sein, weil der Letztere die Larve nicht wieder vorgenommen hatte, um sich unkenntlich zu machen.

„Zu denken, daß ich zurückkehren und nachforschen [494] werde, dazu war der Kerl trotz seiner sonstigen Geriebenheit zu dumm!“ fuhr der Aemir in dem jedenfalls draußen und unterwegs geführten Gespräch fort. „Ich entfernte mich gar nicht, sondern stellte mich einfach draußen hinter die Wasserbeckensäule, um welche ich nur langsam zu kreisen brauchte, als er nach vorn ging, um hinauszuschauen. Es genügte ihm, daß er mich nicht mehr sah. Da ging er wieder hinein. Ich folgte ihm bis an die Tür, wo ich alles sah und jedes Wort verstand.“

„So kennen wir also die Geheimnisse dieses alten Gemäuers doch noch nicht ganz genau!“ meinte der Andere.

„Nein. Aber ich habe es mir auch nicht eingebildet, daß wir sie alle kennen. Diese Taki sind so voller Ränke und Schliche, daß man allwissend sein möchte, um hinter Alles zu kommen. Es ist nicht Zeit, ihr bisheriges Verhältnis zu diesen Ruinen zu erörtern. Heut gilt es nur, zu erfahren, was sie jetzt mit ihnen bezwecken. Da habe ich denn gehört, daß sie heimlich hereinbrechen wollen durch den Gang, welcher hier mündet. Das ist aber ganz gegen meine Verabredung mit dem Scheik ul Islam. Er will mich betrügen, mich, uns, Euch! Nach unserm Plane werden die Dschamikun mit einem Schlage und von allen Seiten überfallen, ohne daß sie vorher Etwas ahnen. Ich komme mit meinen Schatten von Osten. Sollte unsere Absicht durch irgend einen Zufall verraten werden, so besetzen sie die Pässe des Hasen und des Kuriers. Von dort drängen wir sie in den Duar zurück. Die Taki kommen von Nordwest und die Dinarun über die neue Zugbrücke am Tale des Sackes. So nehmen wir die Dschamikun von allen Seiten. So drängen wir sie rund um den See zusammen und treiben sie in das Wasser. Sie können der gänzlichen Vernichtung unmöglich entgehen. In Betreff der Ruinen aber habe ich extra [495] die strenge Bedingung gestellt, daß sie von Niemand berührt werden dürfen, weil ich sie als unser Eigentum betrachte. Die Massaban, welche von den Dschamikun von hier vertrieben wurden, gehörten zu uns; sie sind mir untertan. Ich habe sie in ihr Eigentum zurückzuführen. Der Scheik ul Islam ist auf diese Bedingung eingegangen. Er hat mir zugesagt, daß keiner seiner Takikurden die Ruinen betreten werde. Vorhin nun stellte er aber, als ich ihn zur Offenheit zwang, plötzlich die Behauptung auf, daß der Taki-Orden diese Bauten errichtet habe und noch heut der Eigentümer ist. Er bezeichnete die Taki als die wirklichen Personen, uns aber als ihre Schatten, ihre Insekten, die für sie zu arbeiten und zu sammeln haben. Und als er glaubte, daß ich fort sei, sagte er zu seinen Begleitern, daß die Taki durch den Gang hier kommen würden, um die Ruinen zu besetzen. Wozu dieser heimliche Plan gegen meine Bedingung? Der Besitz der Ruinen ist ihm wichtiger als sein gegebenes Wort und der Sieg über alle Dschamikun. Sie, sie will er vor allen Dingen haben. Und zwar aus Angst, daß wir doch noch entdecken möchten, was wir bisher noch nicht gefunden haben. Das laß ich mir um keinen Preis gefallen! Besetzt er sie, besetze ich sie auch! Und tut er es geheim, so greife ich zu derselben Heimlichkeit und komme ihm dabei sogar zuvor. Verläßt er sich auf den geheimen Gang, so werden wohl auch wir die Mittel finden, noch eher da zu sein, als er mit seinen Leuten!“

„Stellt das nicht unser ganzes Werk in Frage, Aemir?“

„Wieso?“

„Muß es nicht infolge dieser gegenseitigen Eigenmächtigkeiten hier in den Ruinen zwischen dir und ihm zum blutigen Kampfe kommen? Wenn die Verbündeten [496] in dieser Weise beginnen, sind die Dschamikun gerettet, und das ganze Land wartet vergeblich auf den Schlag, welcher den Schah entthronen soll!“

„Wie irrig! Du behauptest, mich zu kennen und traust mir doch noch Knabenstreiche zu! Ich sehe weiter als du. Ich habe das Naheliegende festzuhalten, um das Fernerliegende zu erreichen. In den Ruinen hier spielt nur die erste Episode. Die eigentliche Frage ist: Wer soll der Herrscher sein? Der Scheik ul Islam oder ich? Der Taki-Orden oder meine Schatten? Der Scheik hat mir frech in das Angesicht gesagt, daß ich nichts, als nur sein Geschöpf bedeuten werde. Ich schwieg dazu, doch stand es augenblicklich fest in mir, daß er mit diesem Wort sich selbst gerichtet habe. Er glaubt, mich fest in seiner Hand zu haben, und krümmt sich doch schon unter meiner Faust! Wie schnell gehorchte er doch meinen Zähnen, die ich ihm zeigte, um sein Inneres aus ihm herauszulocken! Die Krallen waren augenblicklich da! So läßt sich nur der Schwächling übertölpeln! Ich war dann um so ruhiger, je drohender er sprach!“

„Aber wenn du dich gleich anfangs mit ihm verfeindest, geht dir die Hilfe seines ganzen Ordens und Aller, die zu ihm halten, verloren!“

„Das glaube nicht! Nur darf die Feindschaft keine halbe sein. Sie darf nicht zögern, keine Ausflucht lassen. Sie muß sofort die Faust zusammendrücken, daß Alles kracht, was sich in ihr befindet! Wenn er mit seinen Taki hier erscheint, so fasse ich ihn stracks bei dem Genick und schüttle ihn wie eine tote Katze da unten über unserm Wasserloch. Ich sage dir, er wird um Gnade heulen und alles tun, was ich von ihm verlange!“

„Es aber dann nicht halten!“

„Nicht? Du denkst, ich lasse ihn so auf Versprechen [497] frei? Daß ich ein solcher Tor, ein solcher Stümper wäre! Ich hänge ihn am glatten Felle auf, bis ich die lieben Seinen nicht mehr brauche, und werfe ihn dann immer noch ins Wasser! Doch sprechen wir hierüber späterhin. Ich halte dir hier eine lange Rede und sehe doch, daß unser Licht dabei nur kleiner wird!“

„Ich habe noch einige.“

„Dann gut! Schau dir diesen Stein an! Er scheint massiv zu sein, ist es aber nicht. Ich sah ihn offenstehen, und zwar nach innen. Leuchte nieder, daß wir ihn betrachten!“

Weder ich noch der Aschyk konnten sehen, was sie jetzt taten. Aber wir hörten ihre Worte, und das war genug.

„Hier diese Vorderseite hat ringsum an den Kanten ein Relief, fast wie ein Bilderrahmen,“ sagte der Aemir. „Die eingefaßte Platte aber ist vollständig glatt. Es fehlt Alles, was auf Bewegbarkeit schließen läßt. Folglich ist es nur der einfache Druck, dem sie gehorchen wird. Versuchen wir es!“

Wir hörten ein lautes Atmen, wie wenn sich Jemand anstrengt, und dann das schon bekannte Schleifen der Steine.

„Sie weicht!“ rief der Aemir. „So, jetzt ist sie völlig offen! Der Gang kann nicht unbequem sein, denn als ich jenseits an den Bach kam, wo mein Pferd bei den ihrigen stand, waren alle vier schon da, und der Scheik ul Islam höhnte mich damit, daß ich ihn immerhin verschwinden lassen möge; er werde sicher ebenso schnell wieder erscheinen wie jetzt. Krieche hinein, und untersuche die Innenseite!“

Der Andere tat es. Wir hörten seine dumpfe Stimme:

„Hier hat die Platte eine Handhabe.“

[498] „Das konnte man sich denken. Und der Gang? Ist er niedrig?“

„Warte!“

Er hatte, wie wir am Schatten sahen, das Licht mit hineingenommen und untersuchte. Dann kam er wieder an die Oeffnung und berichtete:

„Nur drei Schritte niedrig, dann aber gleich ziemlich hoch, höher als ein Mann. Das scheint ein natürlicher Innenriß des Berges zu sein, dessen Mündung man vermauerte, um ihn zu diesen Heimlichkeiten auszunützen.“

„Und die Luft?“

„Wie es scheint, besser als drin bei dir.“

„So geh zurück; ich komme!“

Ein leises Rascheln, hierauf das Schlürfen der Platte, welche zugeschoben wurde, dann war es wieder finster und still im Allerheiligsten. Ich wartete diesmal nur kurze Zeit; dann machte ich Licht.

„Jetzt fort?“ fragte der Aschyk.

„Ja.“

„Nicht warten, bis sie fertig sind, und dann den Gang auch untersuchen?“

„Nein. Wer weiß, was sie alles noch tun und wann sie wiederkommen. Ich halte diese Luft hier nicht mehr aus. Ich muß hinaus!“

Wir stiegen hinab und löschten das Licht aus. Er nahm seine Leiterstange; wir gingen. Draußen blieb ich stehen und holte mit Wonne Atem. Die Luft da drin im einstigen Heiligtum war nichts als Gift gewesen! Noch war der Mond nicht hinter dem Berge verschwunden. Die Ruinen lagen in seinem gelblich silbernen Glanze. Ein Lauscher war nicht zu sehen. Wir gingen nach dem Steinbruche, wo wir uns zu trennen hatten, [499] blieben aber noch einige Minuten im Schatten beieinander stehen.

„Ehe ich den Scheik ul Islam durchschaute, mußte ich Dich für einen Sill halten,“ sagte ich. „Was aber bist du nun?“

„Weder Sill noch Taki. Mein Wunsch aber ist, ein Dschamiki werden zu dürfen.“

„Fürchtest du nicht den Leumund, wenn man erfährt, was du gewesen bist?“

„Was man verachtet, kann man doch nicht fürchten! Gute Menschen verzeihen; was die Andern tun, kommt nicht in Betracht. Sobald Ihr mich hier nicht mehr braucht, werde ich mich bei der Behörde zur Strafe melden, der ich mich durch die Flucht entzogen habe. Ist sie verbüßt, so kehre ich als neuer Mensch zurück. Vielleicht nimmt mich dann der Ustad auf!“

„Ist das dein Ernst, dein wirklicher Ernst?“ fragte ich.

„Ja, Effendi. Ich habe es mir reiflich überlegt. Ich bin dazu entschlossen und tue es unbedingt.“

„Aber bedenke! Es stehen dir mehrere Jahre Gefängnis bevor, schweres, bitteres Gefängnis! Du kannst das sehr leicht vermeiden, indem du dich einfach nicht meldest. Es sucht ja kein Richter und keine Polizei mehr nach dir. Das Gesetz hat dich also aufgegeben. Und hier, wo du dich befindest, ist dein Name unbekannt. So laß ihn doch gestorben sein, und nimm einen andern an! Dann bist du auch ein anderer Mensch, und deine Vergangenheit ist vollständig vergessen!“

Es versteht sich ganz von selbst, daß ich das nur sagte, um ihn zu prüfen. Er schüttelte den Kopf und antwortete:

„Ich kann nicht glauben, daß deine Worte wirklich [500] so gemeint sind, wie sie klingen. Ich muß mich ausliefern; ich muß, ich muß, ich muß! Noch bis vor wenigen Tagen hätte ich diesen Gedanken freilich für Wahnsinn gehalten, für die blödeste Albernheit, die es nur geben kann. Aber da unten, neben dem Gerippe, in der schrecklichsten aller Finsternisse, in der innerlich laut heulenden tiefen Stille, die äußerlich um mich lag, an der zwar nur leise, leise, aber umso entsetzlicher in sich knirschenden Säule, die von Augenblick zu Augenblick über mir einzustürzen und mich zu zerschmettern drohte, ist mir das rechte, wahre Licht hierüber aufgegangen. Ich will und will und will die Strafe haben, um mit mir selbst, mit meinem Gewissen quitt zu werden. Indem ich ihr entgehen wollte, habe ich mir eine noch viel fürchterlichere auferlegt. Ich flüchtete mich doch nur aus dem einen in das andere Gefängnis, in die Gefangenschaft des Bösen. Und was das heißt, und welche Qualen das bringt, davon hast du keine, keine, keine Ahnung, Effendi!“

Er bewegte den tief gesenkten Kopf schwer und langsam hin und her und fuhr dann fort:

„Der Scheik ul Islam versprach mir, sich für meine Begnadigung zu verwenden. Dieser Tor! Wie unverzeihlich dumm ist er doch in Beziehung auf die Menschenseele, er, der doch behauptet, daß ihm tausende von Seelen von Allah anvertraut worden seien! Oder war es nicht Dummheit, sondern gewissenslose Hinterlist? Neue Verbrechen zu den alten fügen, um Gnade zu erlangen! Dann wäre mir zwar die äußere Strafe erlassen worden, aber die zur Gigantin erwachsene Schuld in mir hätte nur um so lauter nach Rache, nach Vergeltung aufgebrüllt! Aeußerlich gerettet, innerlich aber für immer verloren, so hätte es mit mir gestanden! Ja, ich [501] weiß es, und ich fühle es: die Gnade ist der Sühne gleich, der vollständigen Sühne. Sie hat vielleicht sogar noch größere Macht als diese Sühne; aber es ist ganz unmöglich, daß sie auf bösem Wege zu uns niederkommen kann. Wenn mir der Scheik ul Islam heut, jetzt, die Erlassung meiner Sünden und meiner Strafe brächte, ich würde sie nicht annehmen!“

„Wirklich nicht?“

„Nein; denn eine Gnade aus solcher Hand wäre nichts als Spiegelfechterei, die mich um mich selbst betrügen würde!“

„So sag, was würdest du wohl tun, wenn ein Anderer sie dir brächte? Nicht auf bösem, sondern auf gutem Wege?“

„Ein Anderer? Wer könnte das wohl sein?“

„Das weißt du nicht?“

„Nein!“

„Weil man dir weisgemacht hat, daß die Gnade nur durch ein Vermittelungsgeschäft zwischen dir und dem Schah-in-Schah zu erlangen sei! Es kann sie dir nur Einer bringen, ein Einziger, und der bist du selbst! Bleib nur nicht stehen! Geh auf dem Wege weiter, den du jetzt beschritten hast! Er ist gut, und die Augen des Schah-in-Schah sind scharf. Es bedarf keines Menschen, der sich mit seinem erlogenen Einflusse auf den Schah vor dir und Andern brüstet. Ich sage dir vielmehr, und du kannst es mir glauben, denn ich bin wohlunterrichtet: Der Herrscher kennt den Scheik ul Islam ganz genau. Die Fürbitte grad dieses Mannes wäre nicht etwa zu deinem Heile, sondern zu deinem Verderben ausgefallen. Sie hätte dich als sein Geschöpf bezeichnet und damit nur bewiesen, daß du der Gnade gar nicht würdig seist.“

[502] Er senkte den Kopf noch tiefer als vorher. Dann hob er ihn mit einem schnellen, energischen Ruck empor und sagte:

„Also so steht es, so, so, so! Wohlan, Effendi, ich gehe diesen neuen, guten Weg! Ich gehe ihn selbst! Ich lasse mich nicht führen! Von keinem Menschen, auch nicht von dir! Allah will das Gute, nur das Gute, und er gibt jedem Menschen die nötige Kraft, es zu tun. Ich will doch sehen, ob er nicht auch mir diese Kraft verliehen hat, es zu vollbringen, ohne daß ich sie mir von Andern zu leihen und zu borgen brauche! Er sei mein Schutz und meine Hilfe, er allein, in Zeit und Ewigkeit!“

Er schluchzte. Da konnte ich mich nicht halten; ich legte ihm die Hände an beide Wangen und sprach:

„Das ist das einzig Richtige! Laß es dir nicht wieder nehmen; von keinem, keinem Menschen! Es wächst jetzt eine Säule in dir auf, in der es nie und nie so knirschen wird wie in der andern unten in dem Wasser. In ihr liegt Gottesstärke. Vertraue ihr und ihm!“

Ich ging.

„Gottesstärke - - -!“ erklang es hinter mir. „Das war sie - - - das ist sie - - - schon jetzt, schon jetzt - - - die Gnade!“

Auf dem Nachhauseweg war mir nicht wohl. Ich hatte das Gefühl des Schwindels, und meine Lunge war nicht mit mir einverstanden. Meine Beine schienen Kraft verloren zu haben, obgleich ich die ganze Zeit über doch nur gesessen hatte. Ich dachte darum an nichts, als nur daran, mich schnell niederzulegen, und freute mich, als dies geschehen war, über die gute, reine Luft, welche durch Türen und Fenster freien Zutritt hatte. Aber ich konnte nicht einschlafen. Der Grund lag wohl weniger [503] in dem, was ich gesehen und gehört hatte, denn das konnte mich nicht beunruhigen, sondern die Ursache war eine körperliche, keine geistige. Und als der Schlaf dann erst gegen Morgen kam, war er kein ruhiger und erquickender. Ich wachte von Zeit zu Zeit immer wieder auf, und weil das quälender als das Wachen war, so zog ich es vor, das Lager zu verlassen.

Als ich hierauf den Weg nach dem Brunnen hinunterstieg, fühlte ich ein wirkliches, ausgesprochenes Unwohlsein. Da traf ich Schakara. Ich sah, daß sie bei meinem Anblicke erschrak.

„Was ist mit dir, Effendi?“ fragte sie hastig. „Dein Gesicht ist ganz graugelb, und deine Augen liegen tief. Du bist krank!“

„Ich war heut Nacht mehrere Stunden lang drüben im Allerheiligsten,“ antwortete ich. „Das scheint mir nicht gut bekommen zu sein.“

„Mehrere Stunden lang? Im Allerheiligsten?“ rief sie aus. „Diese Luft hält kein Gesunder aus, viel weniger ein Genesender! Du kannst dir sehr leicht einen Rückfall in den Typhus geholt haben, und dann, dann ist es nicht möglich, dich zu retten! Komm, wir müssen sofort zum Ustad!“

Sie führte mich hinauf zu ihm. Er hatte mein spätes Heimkommen gehört und darum auch schon Sorge gehabt. Schakara brauchte ihm gar nicht zu sagen, weshalb wir zu ihm kamen; mein Aussehen schien sprechend genug zu sein. Auch er zeigte sich, sobald wir eintraten, sofort über dasselbe bestürzt. Ich mußte mich hinsetzen und erzählen. Als ich mit meinem Berichte zu Ende war, sagte er sehr ernst:

„Effendi, was du gehört und gesehen hast, beunruhigt mich nicht im Geringsten, aber daß du gezwungen [504] gewesen bist, die krankheitsschwangere Atmosphäre des Sacrosanctum einzuatmen, das kann Folgen nach sich ziehen, denen wir sofort vorzubeugen haben. Dein Blut ist bereits wieder mit Stoffen geschwängert, welche unbedingt entfernt werden müssen. Zum Glück ist Alles vorhanden, was wir dazu brauchen. Ich bitte dich, mich wieder als deinen Arzt zu betrachten! Denke von jetzt an nur an dich selbst, an deine Genesung; alles Andere schlage dir aus dem Sinn! Das bist du dir, mir und uns Allen schuldig!“

„Aber der Aschyk? Mein Syrr? Der verborgene Gang, welcher untersucht werden muß?“ warf ich ein.

„Das ist es eben, woran du jetzt nicht denken sollst!“ antwortete er. „Ich gebe dir die Versicherung, daß du dich nicht zu sorgen brauchst. Habe ich während meiner Abwesenheit dir vertraut, so vertraue du nun auch mir!“

Er hatte Recht, und so ließ ich denn mit mir machen, was er für geboten hielt. Er verordnete zunächst ein Bad, so heiß wie möglich. Während desselben hatte man mein Lager heraus auf die Plattform geschafft, damit ich nur die beste Luft atmen möge. Ein Leinendach war angebracht worden, um Schatten zu geben. Der für seine Muttersprache begeisterte Germane nennt so ein Dach „Marquise“. Dort legte ich mich nieder und trank einen Tee, welcher alle Poren öffnete und mir aber dafür die Augen schloß. Ich schlief ein.

Als ich erwachte, war es Nacht. Veilchen dufteten, drüben an der Balustrade saß Schakara, vom Monde hell beleuchtet. Ich sah, daß sie die Augen auf mich gerichtet hielt.

„Dschanneh, wo sind die Veilchen her?“ fragte ich. „Im Garten und auf der Weide blühen sie nicht mehr.“

„Ich ließ sie von hoch oben holen,“ antwortete sie. [505] „Jenseits des Alabasterzeltes hören sie gar nicht auf, zu blühen und zu duften. Du hast sehr gut geschlafen und sehr regelmäßig geatmet. Nun sag, kannst du klar und deutlich denken? Oder macht es dir Mühe, Gedanken zu fassen und festzuhalten?“

„Gar keine Mühe! Es liegt Alles bestimmt und scharf vor meinem Geiste. Ich könnte dir ohne die geringste Anstrengung jedes einzelne Wort wiederholen, welches drüben im Allerheiligsten gesprochen worden ist.“

„Das ist gut, sehr gut! Deinem geistigen Körper sind die Ansteckungsstoffe also fern geblieben, und aus dem leiblichen werden wir sie schnell wieder herausbekommen.“

„So ist also wohl kein Rückfall zu befürchten?“

„Da es so steht, nicht. Der Ustad ist derselben Meinung wie ich. Er war öfters hier; erst wieder vor einigen Minuten.“

„Nun aber schläft er wohl?“

„Schlafen? Was nennst du Schlaf, Effendi? Ich schlafe wohl auch, indem ich hier bei dir wache; aber so oft du die Augen öffnest, wirst du die meinen auch offen sehen. Du nennst mich ja Dschanneh!“

Das waren so tiefe Worte! Sie sagten so viel über Leib und Geist und Seele. Ich dachte über sie nach und schloß dabei die Augen. Da rauschte Schakara's Gewand. Sie war aufgestanden, kam zu mir her, legte mir die Hand auf die Stirn und sagte:

„Ich fühle, daß mein Bruder denkt. Er will den Sinn ergründen, der in meinen Worten liegt. Das ist aber nicht möglich, weil er noch so viele Stufen zu steigen hat, bis er dahin kommt, wo er mich verstehen kann. Und, weißt du, vergebliches Bemühen des Geistes bereitet der Seele Schmerzen. Darum zog es mich von dort auf [506] und zu dir her. Bitte, denke nicht mehr darüber nach! Wir gehen ja, sobald hier Alles vollendet ist, hinauf zu unserer Marah Durimeh! Das sind die Stufen, die du zu steigen hast. Sind wir oben, so wirst du sie und mich und dann wohl auch dich selbst begreifen. Jetzt schlaf - - - schlaf wieder ein! Dschanneh will es; du wirst es also tun!“

Ich verstand jedes ihrer Worte, war also vollständig wach. Ich fühlte, daß von ihrer Hand ein süßer Friede, eine selige Ruhe auf meine Stirn herüberfloß und sich von da aus über mein ganzes Wesen breitete, und wenn man das so deutlich, so scharf beobachtend empfindet, so kann man doch wohl nicht schon eingeschlafen sein! Und aber doch und doch - - - denn ich führte meine Hand zur Stirn, um sie auf die ihrige zu legen und ihr zu danken, da sagte sie:

„Effendi, ich berührte dich, um dich zu wecken. Es nahen uns Gäste, die du vielleicht gern kommen sehen möchtest.“

Die Augen wieder aufschlagend, sah ich sie im hellsten Sonnenlichte vor mir stehen. Es war fast Mittagszeit!

„Du staunst?“ fragte sie, schalkhaft lächelnd. „Du wirst dich wohl noch öfters wundern, bis du weißt, was Dschanneh ist und was sie kann! Agha Sibil ist mit seiner Familie angekommen und hat schon begonnen, sein Zelt zu errichten. Und vor einigen Minuten berichtete ein Bote aus dem Grenzduar, daß deine Bagdader Freunde dort übernachtet haben und gegen Mittag hier sein werden. Wenn du sie sehen willst, darfst du aufstehen, doch nur für ein Stündchen, und ohne hinunter zu gehen oder sie heraufkommen zu lassen.“

„Kennt Agha Sibil die Zeit ihrer Ankunft?“

[507] „Nein, wir verschwiegen es ihm. Er wird zwar in seinem Zelte wohnen, ist aber für heute Mittag unser Gast. Wir richten es so ein, daß ihn sein Schwiegersohn hier in der Halle beim Essen überrascht.“

„So stehe ich freilich auf und mache es wie Hadschi Halef, der sich jedenfalls auch ganz vorn aufs Dach postieren wird, um unseren ‚früheren Bimbaschi und jetzigen Mir Alai‘ zu begrüßen.“

„Und ob er das tun wird!“ antwortete sie heiter. „Er sitzt wohl schon jetzt bereit, denn Hanneh war im Hofe, als der Bote kam, und hat es ihm sofort berichtet. Der Ustad ist mit Dschafar Mirza dem Mir Alai entgegengeritten. Errätst du, auf welchem Pferde?“

„Auf der Sahm?“

„Nein, sondern auf dem Assil Ben Rih.“

„Wirklich, wirklich?“ fragte ich, nicht verwundert und nicht erstaunt, aber außerordentlich erfreut.

„Ja; er hat den Rappen gleich schon gestern vorgenommen, als du hier oben eingeschlafen warst. Er muß sich doch für den Fall vorbereiten, daß du auf jede Teilnahme am Rennen zu verzichten hast, und grad auf Assil sind Hoffnungen gesetzt, die wir nicht täuschen dürfen. Jetzt gehe ich hinab, um dir dein Frühstück zu bereiten und Syrr für dich mit Aepfeln zu erfreuen.“

„Syrr! Daß ich nicht zu ihm hinunterdarf!“

„Sorge dich nicht um ihn. Er steht in meiner ganz besonderen Pflege und - - - er denkt an dich.“

Ich lächelte. Da fuhr sie fort:

„Er war während des gestrigen Tages unruhig, weil er dich nicht zu sehen bekam. Am Abend wollte er sich nicht niederlegen. Da holte ich deine Kamelhaardecke, unter welcher du so oft geschlafen hast. Ich hielt [508] sie ihm zusammengefaltet vor die Nüstern. Da schnaubte er froh und leckte mir dankbar die Hand; hierauf tat ich sie auf den Boden, doch ohne sie auszubreiten. Da ließ er sich sogleich nieder und legte den Kopf auf sie. Als ich heute früh wiederkam, lag er noch ebenso und hatte aber den Kopf bis an die Augen in die Decke hineingewühlt. Und schau hierher!“

Sie ging dorthin, wo meine arabische Jacke lag, und zog drei Aepfel aus jedem Aermel.

„Die bringe ich ihm jetzt hinab,“ sagte sie. „Das habe ich gestern zweimal und heut auch schon einmal getan. Diese frißt er; aber andere mag er nicht, auch wenn sie von demselben Baume sind. Nun wirst du glauben, daß er dich nicht vergessen hat.“

Sie ging. Als sie fort war, stand ich auf. Da sah ich denn, daß man unten am See sehr fleißig gewesen war. Man hatte am Fuße des nördlichen Berges die für uns bestimmte Tribüne vollständig fertiggestellt. In ihrer Nähe wurde jetzt das große Verkaufszelt Agha Sibils errichtet. Auf den höchsten Punkten der umliegenden Gebirgszüge waren Leute beschäftigt, mächtige Holzstöße für die geplante Höhenbeleuchtung aufzuhäufen. Auch an tiefer liegenden, aber hervorragenden Punkten wurde das Gleiche getan. Um den See kreisten die verschiedensten Reittiere in lebhaftester Uebung. Kamele trugen Holzscheite zum Beit-y-Chodeh hinauf, denn auch der Tempelplatz sollte erleuchtet werden. Was ich von meinem Dache aus nicht sehen konnte, schloß ich aus dem Umstande, daß ich viele auch mit Brennstoff beladene Maultiere und Esel auf dem steilen Pfade nach dem Alabasterzelte erblickte: Dort sollten ebenfalls die Festesflammen lodern.

Ein Teil der Tribüne war jetzt von der Dschemma [509] besetzt, welche sich unter dem Vorsitze des Pedehr in einer, wie es schien, sehr wichtigen Beratung befand. Vor ihr hielten wohl über zwanzig mir unbekannte, sehr wohlbewaffnete Männer, welche von ihren Pferden gestiegen waren und dem Chodj-y-Dschuna zuhörten, der eifrig zu ihnen sprach. Das waren die Anführer der verschiedenen, nicht seßhaften Abteilungen des Dschamikun, die von unserm „Kriegsminister“ ihre Instruktion entgegennahmen. Zu meiner Genugtuung bemerkte ich dort auch den Scheik der Kalhuran, der also nun genesen war und sich wieder an die Spitze seiner mit uns verbündeten Krieger stellen konnte.

Grad unter mir erschien jetzt Schakara, welche nach dem Weideplatze ging, um Syrr die Aepfel zu bringen. Er nahm einen nach dem andern, langsam und prüfend, nachdem er jeden vorher erst berochen hatte. Sie schaute zu mir herauf und nickte mir zu. Als der letzte verzehrt worden war, faßte sie den Kopf des Glanzrappen und richtete ihn so, daß er nach oben, herauf zu mir sehen mußte. Ich hatte die Jacke angezogen und den Fez aufgesetzt. Um den Blick des Pferdes auf mich zu lenken, bewegte ich die Arme. Syrr sah es; er stutzte. Seine Ohren begannen zu spielen; der prächtige Schweif wurde gehoben. So stand er eine kleine Weile prüfend still; dann schob er die Vorderbeine breit auseinander und schmetterte mir ein so frohes Wiehern herauf, daß gar nicht daran zu zweifeln war: er hatte mich erkannt. Aber hiermit war es noch nicht genug; er jubelte wieder und wieder, so daß ich mich gezwungen fühlte, zurückzutreten und mich seinem Auge zu entziehen, damit seine weithin schallende Stimme nicht die Aufmerksamkeit Unberufener auf ihn lenken möge.

Während ich dann frühstückte, richtete Schakara mir [510] einen so hohen Sitz her, daß ich über die Brüstung hinunter in den Hof sehen konnte, ohne stehen zu müssen. Hierauf ließ sie mich allein, weil ich es so wünschte. Der Mittag war nahe. Da kam Agha Sibil mit den Seinen. Sie wurden in die Halle gewiesen.

Nur kurze Zeit später bemerkte ich, daß im Duar eine Bewegung entstand, die sich südwärts richtete. Sie galt den Bagdader Gästen, welche nun eingetroffen waren. Der kleine Zug kam den Berg herauf und dann durch das Tor geritten. Voran der Ustad und der Mirza, in ihrer Mitte mein alter Freund, der Mir Alai. Hinter ihnen einige Packpferde mit den Effekten des Offiziers. Hierauf ein Kamel mit der größten Sänfte, welche man hatte auftreiben können. Sie war rundum verhangen. Wer nicht wußte, wer drin saß, mußte also denken, daß es sich um etwas „ewig Weibliches“ handle. Hintendrein die Dschamikun, welche den Besuch geholt hatten.

Weil die Aufmerksamkeit des Agha Sibil nicht sofort auf die Ankömmlinge gelenkt werden sollte, war befohlen worden, ihr Eintreffen hier oben in aller Stille und möglichst unbeachtet geschehen zu lassen; aber die liebe Neugierde hatte trotzdem zwei Personen herbeigezogen, die sich den ersten Anblick der Erwarteten auf keinen Fall versagen wollten - - - Tifl und Pekala.

Als die ersten drei Reiter zum Tore hineinkamen, flog der scharfe Blick des Ustad zu mir herauf. Er sah mich. Ich winkte ihm schnell, den Polen nicht auf mich aufmerksam zu machen. Er nickte mir zu, daß er mich verstanden habe. Dann legte er beide Schenkel an, stemmte die Hände in die Seiten und ließ Assil in der prächtigsten Natnata el mutarid1) [1) Sehr hoher, kurztrabender Querschritt echt arabischer Schule.], die ich jemals gesehen habe, über [511] den Hof hinüber und nach der Weide gehen, wo er abstieg. Er tat dies meinetwegen. Ich sollte sehen; daß Assil bei ihm gut aufgehoben sei. Wer eine so schwere Natnata in so meisterhafter Weise zu reiten vermag, dem kann man auch das kostbarste Pferd gern anvertrauen.

Dschafar Mirza und der Mir Alai stiegen ab. Der Erstere war unterrichtet. Er nahm den Letzteren bei der Hand und führte ihn nach der Halle, in welcher es gleich darauf sehr laut zu werden begann. Auch die begleitenden Dschamikun waren abgestiegen, um sich zunächst mit den Packpferden zu beschäftigen. Da rief ihnen Pekala zu:

„Und das Kamel laßt Ihr stehen? Man sieht doch, daß eine vornehme Harema drin sitzt! Soll diese Madama etwa warten, bis es Euch beliebt?“

Die Angeredeten lachten! Darum wendete sie sich an Tifl und sagte:

„Gib dem Kamele das Zeichen zum Niederknieen; du verstehst das besser als ich! Die Madama darf von keiner Männerhand berührt werden. Ich werde ihr also selbst heraushelfen.“

Tifl tat, wie ihm befohlen worden war; das Kamel gehorchte. Die hohe Sänfte bekam die drei bekannten, fürchterlichen Rucke; dann lag sie wieder still. In ihrem Inneren grunzte es. Pekala schob den Seitenvorhang auf, schaute hinein und meldete dann:

„Sie schläft. Aber ich muß sie wecken, sie mag es mir übelnehmen oder nicht.“

Sie griff hinein und zupfte am Gewande. Da bewegte es sich drin.

„Ich bitte dich, steig aus; du bist am Ziel!“ rief sie hinein. „Du brauchst nur langsam herabzurutschen; ich helfe dir dabei!“

[512] Indem sie das sagte, trat sie einen Schritt zurück und breitete die Arme weit aus, um ihr Versprechen wahr zu machen. Da ächzte es in der Sänfte; da stöhnte es; da murmelte es. Dann kamen zwei große, rote Pantoffel zum Vorscheine. Ein weites, faltenreiches Gewand wurde Falte um Falte herausgestopft. Man erkannte trotz dieser Falten die Umrisse von zwei Knieen. Hierauf wurde die Sache immer breiter und immer umfangreicher. Nun entwickelten sich mit Mühe und Not zwei Arme. Ueber ihnen erschien ein rotes, gelb befranstes Keffije1) [1) Arabisches Kopftuch.], welches vorn nur um eine Lücke geöffnet war. In dieser Lücke gab es einen Mund und eine Nase; sonst sah man weiter nichts.

Jetzt war die „Madama“2) [2) Madame.] auf dem „toten Punkte“ angekommen. Sie lag im vollsten Gleichgewicht mit dem Rücken auf der unteren Sänftenkante. Der nächste Augenblick hatte darüber zu entscheiden, ob sie herunterrutschen oder rücklings wieder hineinfallen werde. Da bat die Festjungfrau in ermunterndem Tone:

„Fasse Mut. Gieb dir nur noch den einen kleinen Ruck, dann sinkst du grad in meine Arme. Ich fange dich auf!“

Das half! Der „Ruck“ stellte sich ein. Was von der Gestalt noch in der Sänfte steckte, das quoll vollends heraus. Die Sache kam in Schuß. Zuerst die Pantoffel, doch allerdings separat. Dann tat es einen gewichtigen Plumps. Die Masse stand auf den nackten Füßen, genau zwischen den beiden Pantoffeln. Sie wankte hin und her, ungewiß, nach welcher Seite sie sich zu neigen habe. Die Arme streckten sich aus, um sich irgendwo festzuhalten. Da trat Pekala schnell wieder näher, und im [513] nächsten Augenblicke hielten sich Beide innig umschlungen, so fest und so lange, als ob sie nie, nie wieder von einander lassen dürften. Erst nach einer Weile klang es aus der Umarmung heraus:

„Wie glücklich bin ich, daß du gekommen bist! Niemand soll dich mir wieder nehmen! Komm mit mir, du Liebling meiner Seele! Ich führe dich in meine Küche!“

„Küche - Küche - Küche?!“ fragte es da schnell und dreimal hinter einander.

„Ja. Beeile dich, sonst nimmt man dich mir weg!“

„Mich? Dir? Niemals, niemals, niemals! Komm schnell; ich habe Hunger - - Hunger - - - Hunger!“

Die Umarmung ging nur halb auseinander. Die Hände hielten wie unzertrennlich zusammen. So schritten Beide, eng aneinander geschmiegt, die eine Gestalt strahlend vor Wonne und Glück, die andere unter dem Keffije hustend und pustend, in seliger Eintracht über den Hof hinüber, um in der Sphäre zu verschwinden, der sie mit Leib und Seele angehörten. Ich aber lächelte ihnen mit innigster Befriedigung nach. Wer seinen Lebenszweck im niedern Stoffe sucht, den läßt man gern in diesem Stoff verschwinden!

Tifl stand da und schaute die Pantoffel an. Sie lagen noch da, weil Kepek, der Dicke, vor Freude über das Wort „Küche“ gleich barfuß fortgelaufen war. Das „Kind“ machte ein höchst bedenkliches Gesicht und kratzte sich unter der Spinnenmütze. Er war mit irgend Etwas nicht einverstanden, aber womit, das sagte er den Pantoffeln nicht. Er hob sie schließlich auf, betrachtete sie hin und her, warf sie wieder hin, hob sie abermals auf, schüttelte den Sand heraus und trug sie dann langsamen [514] Schrittes nach der Küche, den einen in der rechten und den anderen in der linken Hand, beide aber nur mit den äußersten Fingerspitzen festhaltend.

Da kam der Ustad durch den Garten.

„Wie geht es dir?“ fragte er zu mir herauf.

„Gut, sagte Schakara,“ antwortete ich.

„So darf ich ruhig nach der Halle gehen?“

„Ganz unbesorgt. Widme dich deinen Pflichten und deinen Gästen. An mich soll man nicht denken, doch grüße den Mir Alai von mir!“

Hierauf sah ich Schakara nach der Weide gehen. Sie fütterte den Syrr und dann auch den Assil Ben Rih, nachdem sie ihm das Reitzeug abgenommen hatte.

Einige Zeit später erschienen vier fremde Reiter auf dem Hofe, welche nach dem Ustad fragten. Sie waren Dinarun, wie ich nachher erfuhr. Ihr Scheik Ben Hidr1) [1) Sohn der Behutsamkeit, des Abwartens.] befand sich selbst dabei. Sie waren unten im Duar von dem Pedehr als vermutliche Feinde sehr kurz behandelt und herauf an den Ustad gewiesen worden. Darum stiegen sie gar nicht ab, als dieser aus der Halle trat, und Ben Hidr rief ihm in beinahe verletzender Weise die Meldung zu, daß sie gekommen seien, ihre Teilnahme am Wettrennen anzusagen, weiter nichts! Jeder Andere als der Ustad hätte sie nun in ganz derselben Weise sofort entlassen. Dieser aber war menschenfreundlich und klug genug, sich zu beherrschen. Er ging auf sie zu, reichte ihnen die Hand und lud sie ein, mit hinauf in seine Wohnung zu kommen. Das überraschte sie. Sie sahen einander fragend an und sprangen dann doch von ihren Pferden, um ihm zu folgen.

Sie waren wohl zwei Stunden lang bei ihm in [515] seinem Zimmer. Auf den Balkon führte er sie nicht, weil sie Syrr nicht sehen sollten. Ich hatte mich inzwischen wieder niedergelegt und hörte ihre Stimmen unter mir, konnte aber nicht verstehen, was gesprochen wurde. Als sie sich entfernt hatten, kam er herauf zu mir und sagte mir, wer diese Leute gewesen seien und was er mit ihnen verhandelt habe.

„Das sind die sogenannten Klugen,“ fügte er hinzu. „Sie lächeln nach beiden Seiten und sagen einstweilen zu Allem „Ja", um abzuwarten, nach welcher Seite sich der Zeiger neigen werde. Dann aber sind sie die Schlimmsten, die Unerbittlichsten, die keine Schonung kennen. Ich bin überzeugt, daß sie unsern Feinden ihre Hilfe zugesagt haben, und daß sie aber dennoch heut zu uns kamen, um nachzuschauen, ob es nicht vielleicht doch geraten sei, sich den Weg zum Rückzuge offen zu halten. Ich habe sie bedient, wie man so unsichere Kantonisten zu bedienen hat: Kein Wort zu wenig, aber auch keins zu viel. Sie werden sich zum Rennen einstellen; ob sie sich aber dann auch beteiligen, steht noch in Frage. Erst waren sie zornig über den Empfang, den sie im Duar gefunden hatten; dann wurden sie immer freundlicher und zutraulicher, um von mir so viel wie möglich zu erfahren, was ihnen aber natürlich nicht gelang, und zuletzt bot mir Ben Hidr die Hilfe seines ganzen Stammes an, die ich aber sehr höflich ablehnte, weil ich an die Feinde, von denen er gesprochen habe, unmöglich glauben könne. Noch am Schlusse behauptete ich mit aller Bestimmtheit, daß es ganz gewiß keinen einzigen Menschen gebe, der die Absicht habe, uns hier zu belästigen oder gar zu überfallen. So sind sie also in der festen Ueberzeugung fortgeritten, daß wir von der Gefahr, die sich in diesen Tagen um uns zusammenziehen soll, nicht das Geringste [516] ahnen. Aber ich habe ihnen die goldene Karte des Schah-in-Schah gezeigt und sie dann noch viel Wichtigeres ahnen lassen. Nun haben sie Angst!“

Wir unterhielten uns noch einige Zeit, besonders über Assil Ben Rih, für den er ganz begeistert war. Dann kam Schakara, um mir die Grüße des Mir Alai zu bringen. Er ließ mir sagen, er sehe nun ein, daß es nichts Herrlicheres gebe als so einen Glauben und so ein unerschütterliches Gottvertrauen, dem nichts auf Erden widerstehen könne.

Sehr erfreulich war es mir, daß der Ustad sich über mein Befinden höchst befriedigend äußerte, doch behauptete er, mich erst Freitag, also übermorgen, aus seiner Behandlung entlassen zu können. Ich hatte mich zu fügen und tat es gern.

Als es dunkel werden wollte, nahm ich mein Abendessen ein und sank dann dem auch in Kurdistan und Persien sehr wohlbekannten Morpheus in die Arme. Er hielt mich möglichst fest, konnte es aber doch nicht verhindern, daß ich, grad wie gestern in der Nacht einmal für kurze Zeit erwachte. Das geschah auf eine ganz eigentümliche Weise. Ich träumte nämlich nicht, und doch war es, als flüstere mir Jemand leise in das Ohr, aber nicht in das äußere, sondern in das innere:

„Wache auf! Ich komme nur für einige Augenblicke wieder, um dir Etwas zu zeigen, worüber du dich herzlich freuen wirst!“

Das hörte ich ganz deutlich. Da schlug ich die Augen auf. Die Sterne leuchteten hell. Ich schaute hinüber, wo Schakara gesessen hatte. Da kniete Einer im Gebete. Er hatte die gefalteten Hände auf die Ballustrade gelegt und das Gesicht emporgehoben. Ich erkannte ihn. Ich sah sogar, daß er die Lippen bewegte. [517] Es war der Aschyk. Ich wußte genau, daß ich wach sei, und doch hörte ich die leise Stimme in meinem Ohre weitersprechen:

„Er betet für dich! Das ist der beste Dank, den wir in Euerm Erdenleben kennen. Schlaf wieder ein!“

Weiter vernahm ich nichts. Die Lider wurden mir plötzlich so schwer, daß sie niedersanken. Dann wußte ich nichts mehr, weder von mir noch von sonst Etwas. Man nennt das „Schlaf“. Das richtige Wort hierfür hat sich erst noch zu finden!

Dann war es, grad auch wie gestern, gegen Mittag, als ich wieder erwachte. Jetzt saß Schakara da. Sie sah mich an, nickte mir lächelnd zu und sagte:

„Noch eine solche Nacht, Effendi, dann ist die Gefahr vollständig überstanden.“

„Hast denn auch du dich ausgeruht?“ fragte ich.

„Ich wollte nicht. Dschanneh wacht gern für dich. Ich saß schon hier. Da kam der Aschyk vom Glockenwege herüber. Er hatte Einiges für dich aufgeschrieben und wollte es dir in das Zimmer legen. Er bat so nachhaltig und so rührend, meine Stelle hier einnehmen zu dürfen, daß ich es ihm erlaubte. Bist du mir bös darüber?“

„O nein! Ich wachte auf und sah ihn beten. Dann schlief ich sogleich wieder ein.“

„Und ich kam gegen Morgen wieder, als er fort mußte. Da sagte er mir, daß er für dich gebetet habe. Es sei dann ein Gefühl des Glückes über ihn gekommen, wie fast noch nie in seinem ganzen Leben.“

„Wo ist das, was er für mich aufgeschrieben hat?“

„Ich trug es dem Ustad hinunter, weil du mit solchen Dingen jetzt noch nicht behelligt werden sollst. Horch! [518] Was ist das für ein Rufen im Hofe? Es kommt Jemand, den man begrüßt.“

Sie stand auf und schaute hinab.

„Kara Ben Halef!“ fuhr sie fort. „Aber der Reitknecht des Mirza ist nicht bei ihm, sondern ein Anderer. Man sieht ihm an, daß er kein Diener, sondern ein Herr ist, und zwar ein vornehmer. Kara ist stehend abgesprungen; das andere Hedschin aber muß sich legen, damit der Fremde bequem herunter kann. Jetzt kommt der Ustad. Er staunt, doch ist sein Erstaunen ein freudiges. Sie kennen einander. Ihre Begrüßung ist eine herzliche. Jetzt schaut der Ustad herauf. Er sieht mich. Er winkt, daß ich kommen soll. Ich muß also fort, Effendi, werde dir aber bald berichten.“

Sie ging. Es dauerte über eine Stunde, ehe sie wiederkam. Sie hatte dem neuen Gaste die im Wartturme unter Dschafars Wohnung liegenden Gemächer herrichten müssen. Nun sagte sie:

„Es ist ein Hauptmann der kaiserlichen Leibwache. Er besitzt das Vertrauen des Schah-in-Schah und wurde von ihm gesandt, um sich unter den Befehl des Ustad zu stellen. Es kommen hundert Mann der Leibgarde nach, lauter auserlesene Krieger, die hoch im Range stehen. Der Reitknecht des Mirza wird ihr Führer sein, weil er den Weg nun kennt. Kara ist sehr gut aufgenommen und auch mit einem Ehrenkleide beschenkt worden. Er hat ein eigenhändiges Schreiben an den Ustad mitgebracht und der Hauptmann ein ebensolches an Dschafar Mirza. Den Inhalt wird dir der Ustad selbst mitteilen. Jetzt speisen sie. Dann wird ein weiter Außenritt rund um das Tal gemacht, denn der Hauptmann will hinter den Bergen rekognoszieren, weil dies jetzt noch unbemerkt geschehen kann. Die Gegner sollen nämlich erst im letzten Augen- [519] blick erfahren, wer er ist und wozu er sich bei uns befindet. Der Ustad wird jetzt nicht zu dir kommen. Ich habe ihm Bericht über dein Befinden erstattet und soll dir sagen, daß du dich als genesen betrachten darfst. Doch hat er Gründe, zu wünschen, daß du noch für krank gehalten wirst. Er läßt dich also bitten, dich den Leuten so wenig wie möglich zu zeigen, bis er dich hier aufsucht und dir Alles sagt. Er gab mir eine große, starke Papierrolle mit, die ich dir herein auf den Tisch gelegt habe. Es sei, um dich zu beschäftigen, meinte er.“

Jawohl, es war eine Beschäftigung, und zwar was für eine! Als Schakara wieder gegangen und ich aufgestanden war, öffnete ich die Rolle, welche aus mehreren größeren und kleineren Blättern bestand. Das erste große Blatt war eine Federzeichnung, welche die jetzige westliche Seite des Sees darstellte, von der Mitte desselben aus gesehen. Unten der Duar, links der Weg nach dem Tale des Sackes und rechts der Pfad nach den Gebieten der Takikurden und der nördlichen Dschamikun. In der Mitte, am Berge aufsteigend, die Ruinen, trotzig, düster, verschwiegen, ohne eine Spur innern oder äußern Lebens. Südlich von ihnen das Haus des Ustad, auf hoher Gigantenmauer, den Stürmen ausgesetzt. Von ihm ausgehend der Glockenpfad hinauf zum Alabasterzelt. Indem ich dieses Blatt betrachtete, kam mir der Gedanke, es zeige viel zu viel und dennoch fehle Alles! Ich griff also zum zweiten.

Was sah ich da? Nicht mehr die massige Materie, sondern an ihrer Stelle das Geistige, das Seelische. Die Veränderung erstreckte sich nur auf die Ruinen, und doch hatte sie alles Fehlende gebracht. Die Hand des Menschen hatte dem Gestein eine andere Gestalt und mit ihr ein neues Leben gegeben. Da, wo jetzt der Landeplatz [520] lag, führten hier sehr breite Stufen durch die geöffnete Mauer nach dem freien Platze, der durch den Wegfall der Etagen entstanden war. Rosen, viele Rosen, nichts als Rosen blühten hier, grad wie drüben vor dem Beit-y-Chodeh. Alle Wege, die es zwischen ihnen gab, führten nach einer gradezu imposanten, prächtigen Säulenhalle, zu deren Bau die sämtlichen Kolossalquader der Ruinen verwendet worden waren. Ich dachte an Baalbek, an den Kailafa von Ellora, an die aztekischen Teocalli; aber alle diese berühmten Bauten schienen von dieser einen Halle in den Schatten gestellt zu sein. Ihr Hintergrund bildete eine hohe, runde, dunkle Nische mit einem Riesenpostamente, welches jedenfalls bestimmt war, eine entsprechend große Figur zu tragen.

Die Halle trug kein eigentliches Dach, sondern, ähnlich wie die schwebenden Gärten der Semiramis, eine zweite, umfangreiche Blumenanlage, aus welcher zu meinen frohen Erstaunen ganz genau jenes kleine Dorfkirchlein emporstieg, dessen Bild in meiner Schlafstube hing, darunter die kindlich einfachen Worte:

„Kirchlein mein, Kirchlein klein,

Könnt so fromm wie du ich sein!

Deine Höhe zu erreichen,

Will ich dir an Demut gleichen.

Kirchlein mein, Kirchlein klein,

So wie du will stets ich sein!“

Man sollte denken, daß diese kirchliche Bescheidenheit sich auf so gigantischer Unterlage gradezu lächerlich habe ausnehmen müssen; das war aber keineswegs der Fall. Es schien mir vielmehr ganz im Gegenteile, als ob es gar nicht anders sein könne. Ein von Gottes Felsen getragenes Menschenwerk wird nur dann lächerlich, wenn [521] es sich mit dem Anscheine brüstet, auch aus Gottes Felsen zu bestehen!

Das war die Mitte des Berges, von dessen Höhe, genau über der Spitze des Kirchturmes, das Alabasterzelt herniederschaute. Auf den beiden Flanken lagen in fruchttragenden Gärten zwei villenähnliche, freundlich blickende Häuser. Unter dem einen war das Wort „Pfarrhaus“, unter dem andern aber „Schulhaus“ zu lesen.

Die übrigen Blätter enthielten die architektonischen Risse und Zeichnungen zu diesen drei Gebäuden. Sie interessierten mich dermaßen, daß ich mich sofort hinsetzte und sie zu studieren begann. Zu einer so klaren, liebevollen Beantwortung alter, düsterer Ruinenfragen kann man doch wohl keinen Augenblick lang gleichgültig sein! Ich ließ mich darum nur kurze Zeit durch das Essen stören und saß noch gegen Abend rechnend, messend und kalkulierend da, als der Pedehr kam, um, wie er sagte, mir etwas Wichtiges mitzuteilen.

Es war nämlich ein Bote dagewesen, welcher gemeldet hatte, daß der Scheik ul Islam und Ahriman Mirza gemeinschaftlich und in höchster Eintracht mit einander den hochverdienten Ghulam el Multasim zum Ustad der Taki-Kurden ernannt hätten. Man gebe uns das zu wissen, weil er beim Rennen auch erscheinen werde und dieser seiner Würde entsprechend von uns zu empfangen und zu behandeln sei. Unser Ustad war von seinem Ritte noch nicht heimgekehrt, und so hatte der Pedehr es für geboten erachtet, diese Neuigkeit herauf zu mir zu bringen. Ich sagte ihm:

„Das hat nicht die geringste Wichtigkeit für uns. Man mag diesen „Henker“ zum Kaiser von China oder gar zum Dalai Lama ernennen, so ist es uns doch im höchsten Grade gleichgültig. Er kann dem Schicksale, [522] welches er sich selbst bereitet hat, durch keine Spiegelfechterei entgehen. Er griff zum Messer, um mich zu vernichten. Womit man sündigt, damit wird man bestraft. Wir haben es noch hier, unten in der Rumpelkammer. Warten wir ruhig ab, was geschieht!“

Da ging er wieder. Hätte mich Jemand gefragt, warum ich ihn grad mit diesem Bescheide gehen ließ, so wäre es mir wohl nicht gelungen, eine zufriedenstellende Erklärung abzugeben. Es soll vorkommen, daß der Mensch grad dann am klarsten spricht, wenn er sich selbst ein Rätsel ist!

Bald darauf sah ich, daß der Ustad mit dem Hauptmann heimkehrte. Er ließ sich nach dem Abendessen für kurze Zeit bei mir sehen. Wir sprachen nur über den geplanten Kirchenbau; alles Andere wurde vermieden. Doch bevor er ging, sah er mir lächelnd in das Gesicht und sagte:

„Ich belästige dich nicht mit Dingen, die ich verpflichtet bin, auf mich selbst zu nehmen. Du sollst nicht Arbeiter sein bei mir, sondern mein lieber, hochwillkommener Gast, den ich nur dann mit der Bitte um Hilfe belästige, wenn ich sie nötig habe. Die geistige Gastfreundschaft hat genau dieselben Rücksichten zu nehmen wie die materielle. Ich weiß, daß du verstehst, was ich meine, und bin deiner Approbation gewiß!“

Da reichte ich ihm die Hand und antwortete:

„Du denkst da ebenso tief wie richtig. Du fragtest mich früher einmal, wer ich eigentlich sei; jetzt höre ich, daß du es weißt. Wollte man doch endlich einmal begreifen, daß der soi-disant Menschengeist kein Spezialblock ist, an dem die sogenannte Erziehung herummeißeln kann, wie es ihr beliebt! Wir sind mit einander verbunden und dennoch nicht nur Einer. Sobald du mich brauchst, bin ich du!“

[523] Er sah mich an, sann einige Augenblicke nach, nickte dann und sprach:

„Sehr richtig! Du treibst doch immer und immer Psychologie! Bisher war ich mir ein Rätsel. Kamst du, um mich zu lösen?“

„Ein Jeder löse sich selbst! Er hat ja Augen und Ohren und um sich herum eine ganze, ganze Welt, die ihn über sich selbst belehren soll und kann! Jetzt, gute Nacht, mein Freund. Du hast außer mir noch andere Gäste, deren Hände gestalten helfen, was zu gestalten ist. Hoffentlich sind es nur gute!“

„Sie sind es. Mit den bösen rechnen wir in den nächsten Tagen ab. Du hörst, ich psychologiere nun auch!“

Soll ich nun wieder erzählen, daß und wie ich geschlafen habe? Es ist eigentlich eine Schande, von Tag zu Tag sagen zu müssen, daß man erst gegen Mittag aufgewacht sei; aber ich muß dieses Geständnis schon wieder machen, wünsche aber, zum letzten Male. Jedenfalls war mir dieses ausgiebige Schlafen sehr nötig gewesen; der Erfolg bewies es mir. Nun aber war es genug! Ich ging hinab, ohne erst um Erlaubnis zu fragen.

Zu wem? Natürlich zunächst zu Syrr, nach welchem ich mich förmlich sehnte. Wer aber kam da eiligen Schrittes gelaufen? Der Ustad!

„Willst du gleich wieder hinauf!“ lachte er. „Schau dir die Welt von oben an! Unten darf man ja noch gar nicht wissen, wie gesund und energisch du bist!“

„Ja, richtig; daran hatte ich gar nicht gedacht! Aber arretiere mich nicht sofort, sondern erlaube mir, Syrr vorher einige Aepfel zu holen!“

„Das werde ich tun, und zwar bringe ich seine Lieblingssorte. Schakara hat sie mir verraten.“

[524] Während er nach dem Garten ging, war es gradezu rührend für mich, zu sehen, wie der Glanzrappe sich darüber freute, daß ich wieder einmal bei ihm war. Er gab mir das nicht etwa in drolliger Weise zu erkennen, sondern so still, so ruhig, fast möchte ich sagen, so innig oder so herzlich, als ob es eine menschliche Anmaßung sei, daß Tiere absolut keine Seele haben sollen. Man pflegt ihnen höchstens sogenannte „psychische Funktionen“ zu gestatten. Nun wohlan, die psychischen Funktionen meines Syrr waren ehrlich, aufrichtig und ohne eine Spur von Falschheit oder Verstellung. Hoffentlich ist das bei den Menschenseelen in entsprechend höherem Grade ebenso der Fall!

Als er wiederkam, reichte er Syrr einen der Aepfel hin. Das Pferd roch die Frucht gar nicht einmal an. Es legte die Ohren nach hinten und wich einige Schritte zurück. Der Ustad tat einen zweiten Apfel zu dem ersten und folgte nach. Syrr ging abermals rückwärts, und der Ustad avancierte wieder, ihm die Aepfel hinhaltend. Da drehte sich der Rappe um und hob den hintern Fuß, zum Zeichen, daß er sich nun wehren werde.

„Was? Schlagen will er mich!“ verwunderte sich der Ustad. „Er ist also wirklich edler als Assil, der keinen Unterschied macht zwischen mir und dir!“

„Ja. Der höchste Adel zeigt sich eben darin, daß er distinguiert, nicht aber in den Fransen und Quasten, mit denen der Herr ihm Zaum und Sattel behängt. Teilen wir die Früchte zwischen beide Pferde!“

Wir taten es. Der Ustad gab Assil die eine Hälfte; die andere bekam Syrr von mir. Er nahm sie jetzt ohne Weigern, und ich liebkoste ihn dafür. Indem wir dann fortgingen, sagte der Ustad:

„So; nun gehst du wieder hinauf, doch nicht, ohne [525] daß ich dich für deine Folgsamkeit belohnen werde. Du sollst dich am Tage so wenig wie möglich zeigen; aber heut Abend reiten wir im Dunkel mit Kara zusammen nach dem Dschebel Adawa, um zu versuchen, Etwas über die dortige Zusammenkunft zu erfahren. Ist dir das recht?“

„Sogar sehr, falls du glaubst, daß ich nicht zu schwach zu diesem Ritte bin.“

„Zu schwach?“ fragte er lächelnd. „Nach einer so ausgiebigen Schlafmützigkeit? Uebrigens wird es interessant, auch wenn wir nichts Neues sehen und hören. Du reitest den Syrr, ich den Assil und Kara den Barkh. Das gibt heimwärts ein Vorrennen, welches uns zeigen wird, wie weit wir in unsern Berechnungen gehen dürfen.“

Ich war mit dem geplanten, abendlichen Ritte natürlich sehr gern einverstanden. Man wird sich erinnern, daß der Fürst der Schatten seine Pädäran für heut um Mitternacht nach dem Dschebel Adawa, dem „Berge der Feindschaft“, bestellt hatte, um ihnen seine letzten Weisungen zu erteilen. Zwar kannten wir die Stelle nicht, an welcher diese Unterredung stattfinden sollte, doch bot uns der alte Hollunderbaum, in dem Kara die Agraffe gefunden hatte, einen Halt, den wir benutzen konnten. Als ich das dem Ustad jetzt sagte, antwortete er:

„Das ist ganz derselbe Gedanke, den auch ich verfolgen will. Ahriman Mirza wird kommen, um seine Agraffe abzuholen. Wenn wir uns vorher dort verstecken und ihm dann heimlich nachschleichen, wird er unser Führer sein, ohne es zu ahnen.“

„Aber die Gefahr, in welche wir uns begeben?“

„Gefahr? Wie drollig dieses Wort klingt, wenn man es aus deinem Munde hört! Wo du nicht ängstlich [526] bist, kann ich es doch ebensowenig sein. Uebrigens bewaffnen wir uns gut und legen andere Kleider an.“

„Welche?“

„Die Anzüge vom Schah. Ich habe ja auch einen. Du sagtest, Ahriman Mirza sei genau so gekleidet gewesen. Er wird es wahrscheinlich wieder sein. Ich glaube zwar nicht, daß man uns sehen wird. Aber sollte es doch geschehen, so wird man vermuten, daß wir zu der persischen Begleitung gehören, die mit ihm bei den Taki angekommen ist. Es ist dann sogar möglich, daß man glaubt, er selbst habe - - - Ah,“ unterbrach er sich da, „vielleicht ein guter Gedanke: Ich nehme seine Reitpeitsche mit, in welcher die schwarze Larve steckt! Kommt dann noch die Agraffe dazu, so kann man jede Gefahr in ihr gerades Gegenteil verwandeln, indem man sich für den Aemir-y-Sillan ausgibt. Meinst du nicht auch?“

„Welch eine Idee! Woher mag sie dir gekommen sein? Derartige Gedanken sind niemals Sondergeburten irgend eines menschlichen Gehirnes, sondern sie stammen aus einem verborgenen Zusammenhange, in welchem ihre Resultate vorherberechnet werden und dann einzufügen sind. Tue es, mein Freund, tue es! Ich bin überzeugt, daß du damit einer Absicht folgst, die weiter schaut als wir.“

Er ging, und ich stieg zu mir hinauf. Wie kam es doch nur, daß ich nun während des Tages so oft an diese unsere Verkleidung denken mußte? Ich legte sie an und wieder ab - - - um sie zu probieren, redete ich mir ein. Der Mensch sieht eben nicht weiter, als er kann! Als Schakara mir das Abendessen brachte, lächelte sie mich verständnisvoll an. Ich hatte mich nämlich schon umgezogen, und sie kannte den Grund, der ihr vom Ustad mitgeteilt worden war.

[527] „Sobald du gegessen hast, wird er kommen, um dich abzuholen,“ sagte sie. „Die Pferde werden von Kara heimlich gesattelt.“

„Mein Syrr aber nicht,“ fiel ich ein. „Sage ihm das! Ich tue es selbst. Bereithalten mag er das Zeug; angelegt wird es nur von mir.“

Ich hatte meine geladenen Revolver bereitgelegt. Als der Ustad kam, steckte ich sie zu mir. Er war der Verabredung nach gekleidet und hatte den langen Bart unter den Anzug geknöpft und das Haupthaar unter die Lammfellmütze emporgekämmt, so daß beides nicht zu sehen war. Die Reitpeitsche des Mirza steckte im Gürtel. Eben wollten wir gehen, da erschien der Aschyk unter der Tür. Er erschrak, als er uns stehen sah, denn er hielt uns im ersten Augenblicke für wirkliche Perser. Als er uns aber erkannte, rief er aus:

„Allah sei Dank! Fast glaubte ich, Ahriman Mirza sei mit hier! Warum tragt ihr diese Kleidung, Effendi?“

„Um nicht erkannt zu werden, falls man uns sehen sollte,“ antwortete ich. „Wir wollen nach dem Dschebel Adawa hinüber.“

„Und ich komme geraden Weges von dorther! Ich bringe zwei wichtige Neuigkeiten, eine schriftliche und eine mündliche. Der Scheik ul Islam glaubt, ich sei hier Euer Gast und komme nur zu ihm, um Euch zu verraten. Ich besitze darum sein Vertrauen und habe Euch aufgezeichnet, was ich heut von ihm erfuhr. Es sind die Orte, an denen losgeschlagen werden soll, sobald der Streich gegen Euch gelungen ist. Auch die Namen der Anführer stehen dabei, lauter fromme, hochangesehene Männer.“

Er reichte auf meinen Wink das Verzeichnis dem Ustad hin und fuhr dann fort:

„Die andere Nachricht wird Euch wahrscheinlich noch [528] mehr erfreuen. Ist Euch ein junger Taki-Kurde bekannt, welcher Ibn el Idrak1) [1) Sohn des Verstandes.] heißt?“

„Sehr gut sogar,[“] antwortete der Ustad. „Du nennst ihn jung, er sitzt aber schon seit Jahren in der Dschemma. Sein Vater, der reichste Mann des Stammes, ließ ihn in Teheran studieren und dann weite Reisen machen. Er ist unterrichtet, klug und ehrlich. Man sagt, daß er ein heimlicher Gegner des Scheik ul Islam sei und unter den Taki einen nicht unbedeutenden Anhang besitze. Er war schon einigemale hier, mein Gast, und ich meine, daß wir beide Wohlgefallen an einander gefunden haben.“

„Hältst du ihn einer Hinterlist für fähig?“

„Nein, auf keinen Fall.“

„So kann ich dir sagen, daß er eine Unterredung mit dir wünscht.“

„Wann?“

„Heut.“

„Wo? Hier bei mir?“

„Nein. Dazu hat er keine Zeit, wegen der wichtigen Sitzungen, welche die Dschemma jetzt fortwährend hat, sogar heut nach Mitternacht. Auch soll diese Unterredung eine heimliche sein. Er läßt dich bitten, zwei Stunden nach Mitternacht an den Bach des Dschebel Adawa zu kommen, du allein und er allein. Von der Quelle an zählst du die fünfte große Windung des Wassers. Dort steht ein einzelner hoher Baum, unter dem er dich erwarten wird.“

„Sonderbar! Wie kommst du zu diesem Manne? Wäre es ein Anderer, so würde ich einen Hinterhalt befürchten, obgleich ich nicht wüßte, wozu ihm das nützen sollte!“

[529] „Ich kann dir nicht zürnen, wenn du an mir zweifelst. Aber ich darf dir auch nicht antworten, denn ich habe Ibn el Idrak Verschwiegenheit geloben müssen, um Euch nützen zu können. Behalte mich hier, und gib Befehl, daß ich erschossen werde, wenn dir Etwas geschieht!“

„Daß ich ein Tor wäre! Ich glaube dir und ihm und werde also kommen.“

„Ich danke dir! Auch dein jetziger Anzug paßt. Es gibt jetzt am Dschebel Adawa mehr Leben und Verkehr als sonst. Man könnte dich sehen und erkennen. Darum sollte ich dich bitten, nicht deine gewöhnliche Kleidung anzulegen. Ich kam auf einem seiner Pferde herüber. Darf ich wieder zurück, um ihm Nachricht zu bringen?“

„Ja. Sag ihm, daß ich kommen werde, zwei Stunden nach Mitternacht, an die betreffende Stelle. Bin ich verhindert, pünktlich zu sein, so soll er dennoch warten. Ich bleibe nicht aus.“

Hierauf entfernte sich der Aschyk. Auf meinem Tische lag der Chandschar, den ich von Dschafar geschenkt bekommen hatte. Der Ustad sah ihn und fragte:

„Nimmst du den Dolch nicht mit?“

„Nein,“ antwortete ich. „Ich wollte, halte es aber nun doch nicht für nötig.“

„So erlaube ihn mir! Ich kann vielleicht in eine Lage kommen, in welcher eine still wirkende Klinge besser ist als ein laut krachender Schuß. Geh jetzt immer hinab. Ich will erst das Verzeichnis vom Aschyk zu mir tragen, um es einzuschließen. Dann komme ich nach.“

Er schob den Chandschar in den Gürtel und ging hinaus. Ich aber steckte fürsorglich einige Lichter zu mir, obgleich ich keinen Grund hatte, sie für nötig zu halten, und stieg dann den Glockenweg zum Weideplatze [530] hinunter, wo ich Kara, persisch gekleidet, bei den Pferden fand.

Assil und Barkh waren schon gesattelt, Syrr noch nicht. Ich tat es selbst. Sonderbar! Als ich ihm das Mundstück einschieben wollte, weigerte er sich, seine Zähne zu öffnen. Ich bat ihn; er tat es trotzdem nicht; ihn aber zu zwingen, fiel mir gar nicht ein. Der Ustad kam grad dazu, als ich Kara beauftragte, den einfachen Halfter zu holen.

„Bloß mit Halfter willst du ihn reiten?“ fragte er. „Des Nachts? Dort hinüber, wo vielleicht sehr viel davon abhängig ist, daß wir unserer Pferde vollständig sicher sind?“

„Laß Syrr seinen Willen!“ antwortete ich. „Ich habe nur nötig, ihn zu dem meinigen zu machen, dann kann uns nichts geschehen. Ein Reiter, der sich weniger auf das Pferd als vielmehr auf die Zäumung verläßt, bringt schließlich auch trotz dieser letzteren nichts fertig. Ein edles Pferd, welches Grund hat, den eisernen Zwang zu fürchten, kann seinen Herrn unmöglich liebgewonnen haben.“

„Fast hättest du gesagt - - kann ihn nicht achten!“ lächelte der Ustad. „Natürlich denkst du hierbei neben dem Pferde an noch etwas ganz Anderes. Ich kenne dich!“

Syrr bekam also nur den Halfter; dann ritten wir fort, über die Ruinen, an den Steinbrüchen hinunter und dann nach links, wo es hinauf zur jenseitigen Ebene ging, welche der Dschebel Adawa hoch überragte. Der Ustad war schon so oft dort gewesen, daß wir uns auf seine Terrainkenntnis vollständig verlassen konnten.

Er schlug klugerweise nicht die gerade Richtung ein. Wir ritten erst nach Norden und bogen dann in [531] einem rechten Winkel nach Westen. Falls wir nun ja gesehen wurden, hatte es nicht den Anschein, als ob wir von den Dschamikun herüberkämen. Und das war gut. Denn wir hatten noch kaum die Hälfte des Weges zurückgelegt, so bemerkten wir auf der mondbeschienenen Fläche vor uns einen Reiter, welcher zwar stutzte, als er uns erblickte, aber doch nicht aus seiner bisherigen Richtung wich. Er mußte uns begegnen. Wir taten natürlich, als ob auch wir ihn nicht zu scheuen hätten, und hielten still, als er uns erreichte und grüßte.

„Wo kommst du her?“ fragte der Ustad.

„Von daher, wo Ihr hinreitet,“ antwortete er. „Man sieht Euch doch gleich an, daß Ihr zu Ahriman Mirza gehört. Bringt Ihr gute Nachrichten aus Isphahan?“

„Vortreffliche. Man braucht dort nur noch die Zeit zu erfahren, so fährt der Säbel aus der Scheide.“

„Das klingt gut! Und die Zeit ist mir bekannt. Ich habe sie soeben von dem Mirza gehört und den Massaban von Feraghan entgegenzutragen, welche schon auf dem Wege sind. Wißt Ihr vom Rennen bei den Dschamikun?“

„Wir wissen Alles. Das Fest beginnt am Sonntag. Das Vorrennen findet am Montag statt, und das Hauptrennen wird am Dienstag sein.“

„Das stimmt. Nun aber komme ich mit meiner wichtigen Kunde: Nämlich die Umschließung der Dschamikun findet am nächsten Tage, also Mittwoch, statt. Sie muß am Donnerstag früh vollendet sein. Sobald der Tag graut, schlagen wir von allen Seiten auf sie los. Diese Nachricht habe ich den Massaban zu bringen, und zwar eilig. Darum verzeiht, daß ich nicht länger halten kann!“

[532] Er ritt weiter; wir ebenso. Keiner von uns bezweifelte, daß wir diese hochwichtige Nachricht nur unsern persischen Anzügen zu verdanken hatten.

Nun kam es darauf an, den Gefahren des Gesehenwerdens für uns vorzubeugen. Die Helligkeit erlaubte es nicht, uns etwaigen Beobachtungen vom Dschebel Adawa aus zu entziehen. Unser einziger Schutz bestand in der Vortäuschung, daß wir vom Lager der Takikurden nach dem Berge kämen. Daher umritten wir ihn in einem weiten Bogen, bis wir an seine westliche Seite gelangten, wo auch das Wasser floß, an dem sich Ibn el Idrak einstellen wollte. Dieser Bach war weit hinaus mit Buschwerk besetzt und bot uns also die beste Gelegenheit, uns unter guter Deckung anzunähern. Das glückte uns aufs Beste. Wir folgten den Windungen des Wassers und kamen also auch an diejenige, wo die Unterredung mit Ibn el Idrak stattfinden sollte. Es stimmte, daß ein einzelner, hoher Baum da stand. Nun brauchte der Ustad diesen Ort nicht später erst zu suchen.

Jetzt handelte es sich zunächst um eine verborgene Stelle für unsere Pferde, bei denen ich zu bleiben hatte, weil Kara mit hinauf mußte, um dem Ustad den hohlen Hollunderbaum zu zeigen. Sie sollte sich bald finden. Als wir eine Strecke längs der Südseite des Berges geritten waren, schnitt eine schmale Schlucht tief in die Felsenmassen ein. Sie war nicht offen, sondern durch eine hohe, starke, uralte Mauer abgesperrt, deren obere Kante höchst unregelmäßig verlief, weil die Werkstücke von dort herabgestürzt waren und nun unten wirr durcheinander lagen. Diese Mauer hatte zu ebener Erde eine schmale Toröffnung, auf welche der Ustad zuritt, indem er sagte:

[533] „Das ist die Diwar-y-Mugasa1) [1) Mauer der Vergeltung.]. Weshalb sie so genannt wird, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat sie einst als eine Art von Talsperre gedient. Jetzt ist dieser Ort so verrufen, daß man ihn am hellen Tage meidet, wie viel mehr also jetzt, des Nachts. Du wirst hier ungestörter sein als an jeder andern Stelle, Effendi. Man behauptet, wenn der Teufel eine Seele hole, so schaffe er sie des Nachts hierher, um sie zu zerreißen.“

„Angenehme Wartestation!“ lachte ich. „Bei der bekannten Leichtgläubigkeit der frommen Taki-Kurden bin ich da allerdings im höchsten Grade vor menschlichen Besuchen sicher. Andere aber können mich nicht stören.“

Wir stiegen ab, führten unsere Pferde zwischen den Steinen hindurch dem Tore zu und befanden uns, als wir dasselbe passiert hatten, zunächst in einem oben zugebauten Raume, in dem es vollständig dunkel war.

„Daran habe ich nicht gedacht,“ fuhr der Ustad fort. [„]Wir hätten Licht mitnehmen sollen.“

„Habe ich,“ sagte ich, indem ich eines aus der Tasche nahm und anbrannte.

Man hatte einen viereckigen, mit einem Dache versehenen Anbau an die Mauer gefügt. Hinten ging eine Oeffnung in die Schlucht; sie war von außen dicht verwachsen. In der Mitte der Dunkelkammer lag eine große Steinplatte. Weiter war nichts zu sehen. Da uns die Vorsicht verbot, die Pferde gleich hier unterzubringen, wo es im unerwünschten Falle weder ein Verbergen noch ein Entrinnen gab, versuchten wir, durch die Oeffnung hinaus in das Freie zu dringen, doch ohne die hindernden Büsche, welche diese Tür verstopften, in auffälliger Weise zu verletzen. Es gelang. Draußen war [534] es halbdunkel, denn die Sterne fehlten dieser schmalen Schlucht, deren Felsenwände ganz beträchtlich in die Höhe stiegen. Es war keineswegs ein einladender Ort, an dem wir uns befanden. Seine Düsterheit stimmte ganz zu der teuflischen Idee, von welcher der Ustad gesprochen hatte. Wir führten die Pferde ein beträchtliches Stück in die Enge hinein und ließen sie sich niederlegen. Dann wurde es für Kara und den Ustad Zeit, ihren Gang nach der Bergeshöhe anzutreten. Ich bat sie, das Gebüsch an der Tür zu schonen, damit wir nicht durch abgebrochene Zweige verraten würden; dann entfernten sie sich. Ich aber setzte mich zu Syrr, doch so, daß ich jeden Nahenden eher bemerken konnte, als er mich.

Es verging Viertelstunde um Viertelstunde. Die Mitternacht kam. Also befanden sich meine beiden Kameraden jetzt wahrscheinlich oben auf ihrem Lauscherposten. War es ihnen gelungen, den Ort der Zusammenkunft zu entdecken? Eben legte ich mir diese Frage vor, da sah ich zwei Gestalten, welche langsamen Schrittes von der Mauer her nach hinten kamen - - - persisch gekleidet; sie waren es. Da stand ich auf.

„Bleib ruhig sitzen!“ sagte der Ustad. „Wir haben über eine Stunde zu warten, ehe ich nach dem Bache gehen kann.“

„Eure Absicht ist nicht gelungen?“ fragte ich.

„Nein,“ antwortete er, indem wir uns niedersetzten. „Wir lagen gut versteckt beim Hollunderbaum. Da kam Ahriman Mirza mit noch Einem. Wahrscheinlich war dies der Vertraute, den du in unsern Ruinen bei ihm gesehen hast, denn der Mirza hatte sich nicht vor ihm verhüllt. Sie sprachen miteinander, nicht lange und auch nicht laut, doch so, daß wir jedes Wort verstanden. [535] Ahriman hatte die Reitpeitsche in der Hand. Er mußte erst kürzlich einmal hier gewesen sein, denn er nahm eine Larve aus dem hohlen Baume, die nicht drin gewesen ist, als Kara ihn untersuchte. Er band sie vor das Gesicht und zog dann eine Agraffe aus der Tasche seines Rockes, um sie an die Mütze zu stecken. Dabei sagte er:

‚Die habe ich noch von drüben, bei den Dschamikun. Ich fand keine Zeit, sie zu verstecken, weil ich wegen des Scheik ul Islam schnell um den Berg herum zu meinem Pferde mußte. Die hiesige kann also steckenbleiben, vielleicht für immer, denn ich glaube nicht, daß ich sie hier noch einmal brauchen werde. Heut mache ich es kurz. Die Befehle zur Umzingelung am Mittwoch Abend sind schnell gegeben. Dann gehe ich im „Utaq-y-Scheijtan“1) [1) Teufelsstube.] noch einmal die beiden Dokumente durch, ehe ich dem Scheik ul Islam das seinige in der Dschemma wiedergebe. Jetzt komm! Dieser Lieblingsesel Allahs ahnt gar nicht, daß er sich mit der Unterschrift der Kaiserurkunden vollständig in meine Hand geliefert hat!‘

„Sie gingen, und wir krochen aus unserm Versteck hervor, um ihnen zu folgen. Da dies aber höchst leise und vorsichtig geschehen mußte, taten wir es nicht schnell genug und suchten dann vergeblich, eine Spur von ihnen zu sehen oder zu hören. Um wenigstens nicht ganz ohne Resultat zu dir zu kommen, kehrten wir zum Hollunder zurück, aus dem wir die Agraffe genommen haben.“

„Warum? Wozu? Kann das nicht üble Folgen haben?“

„Möglich! Aber ich hatte das Gefühl, daß ich dieses glitzernde Ding nicht steckenlassen dürfe. Ich kenne [536] diese Empfindung; sie hat mich immer richtig geführt. Denke an unsere Anzüge, ohne welche wir von dem Boten jedenfalls nichts erfahren hätten!“

„So mag es sein. Auch ich folge derartigen Eingebungen stets gern. Ist dir der Name Utaq-y-Scheijtan bekannt?“

„Nein. Ich habe ihn noch nicht gehört. Aber ich habe jetzt unterwegs darüber nachgedacht und vermute, daß er hier mit dieser Mauer in Verbindung zu bringen sei. Der Name „Teufelsstube“ harmoniert mit dem Aberglauben, daß der Teufel hier die von ihm geholten Seelen zerreiße. Sollte Ahriman Mirza mit diesem Utaq-y-Scheijtan den finstern Raum dort gemeint haben, durch den wir mußten, um hierher zu kommen?“

„Mir kommt dies fast wahrscheinlich vor.“

„Mir ebenso! Er will da die beiden Kaiserdokumente noch einmal prüfen. ‚Kaiserurkunden‘! Also das Allerwichtigste, was man ihm entreißen könnte! Aber entreißen? Nein. Es müßte klüger angefangen werden. Bitte, sprecht jetzt nicht auf mich! Es kommt mir ein Gedanke. Könnte er richtig ausgeführt werden, so wäre er unvergleichlich!“

Er schwieg hierauf, um nachzudenken. Darum waren wir auch still. Nach einiger Zeit sprang er plötzlich auf und sagte:

„Was das nur ist? Es läßt mir keine Ruhe. Komm mit, Effendi! Ich muß vor an die Mauer. Es ist Etwas in mir, was mir sagt, daß Ahriman Mirza bald erscheinen wird.“

Wir gingen mit einander nach vorn, bis zu der mit Büschen besetzten Tür. Wir schoben das Gesträuch mit den Händen zurück, um in den Raum zu treten. Da flüsterte der Ustad:

[537] „Da - da - - da, schau! Wie recht die Stimme in mir hatte! Siehst du ihn?“

Allerdings sah ich ihn. Er war soeben gekommen und stand draußen vor dem Eingange, im Sternenschein, um sich umzusehen. Die Reitpeitsche in der Hand, die schwarze Maske vor dem Gesicht, die Agraffe an der Mütze. In seinem Gürtel flimmerte der Griff seines Chandschar, welcher dem meinigen glich. Das war Alles sehr deutlich zu sehen. Da fragte mich der Ustad leise:

„Kennst du die Sage vom Chodem des Menschen?“

„Ja,“ antwortete ich ebenso leise.

„Ich weiß, daß der Mirza an diese Sage glaubt, und werde ihn bei ihr fassen. Halte die Büsche zurück, wenn ich zu ihm hineinschlüpfe und auch dann, wenn ich wiederkomme!“

Er nahm die Maske aus dem Peitschengriffe und band sie sich vor das Gesicht. Dann holte er die Agraffe aus der Blechkapsel und steckte sie an die Mütze. Hierauf steckte er auch meinen Chandschar genau so, wie der Mirza den seinigen im Gürtel trug. Und nun wartete er.

Ich wußte nicht eigentlich, was er beabsichtigte, obwohl ich die Bedeutung des Chodem kannte. Chodem ist das persische Wort für „ich selbst“. Die dortigen Metaphysiker aber bezeichnen mit diesem Worte etwas noch Anderes, ungefähr so eine Art dessen, was wir „Doppelgänger“ nennen, aber in viel höherem, edlerem Sinne. Sie lehren, daß der Mensch zwar auch einen Geist besitze, den die Seele nach und nach aus den Stoffen des Körpers heraus- und emporzubilden habe, aber dieser rein menschliche Geist sei abhängig und werde geleitet von einem Geiste aus höheren Regionen, der Gott mit [538] seinem eigenen Schicksale dafür verantwortlich sei, daß der ihm anvertraute Mensch seine Bestimmung erreiche. Dieser hohe Geist eigne sich sämtliche Aggregatszustände seines Menschen an und sei also imstande, ihm und auch Anderen persönlich zu erscheinen, und zwar ganz genau in derselben Gestalt und Kleidung wie der Betreffende selbst. Erscheine er Andern, so habe das nichts Schlimmes zu bedeuten; lasse er sich aber vor seinem eigenen Menschen sehen, so sei das ein sicheres Zeichen, daß er ihn für immer verlassen werde, also entweder des nahenden Wahnsinns oder des zu erwartenden Todes. Denn ein Mensch, der von seinem höhern Geiste, von seinem Chodem aufgegeben wird, muß entweder sofort sterben oder in geistiger Nacht langsam versiechen.

Das ist die Sage oder die Lehre, auf welche der Ustad sein jetziges Verhalten stützen wollte.

Ahriman Mirza kam herein. Er brannte ein mitgebrachtes Licht an und ging an die Steinplatte, um es dort fest anzutropfen. Als dies geschehen war, zog er zwei zusammengefaltete, große Papierbogen aus der Tasche, schlug sie auseinander und beugte sich zum Lichte, um zu lesen. Da schob sich der Ustad leise, zwischen Gebüsch und Wand hinein, schlich unhörbaren Schrittes zu ihm hin, bis er hinter ihm stand, und berührte ihn mit der Reitpeitsche. Der Mirza zuckte zusammen, richtete sich schnell auf, drehte sich um und - - - stieß einen Schrei aus, wie ihn nur der größte Schreck oder gar das wirkliche Entsetzen aus der Lunge zu pressen vermag. Dann stand er starr wie Stein, vollständig bewegungslos.

Mir selbst, der ich doch wußte, woran ich war, erschien die Szene beinahe grauenhaft. An der gespenstigen „Mauer der Vergeltung“ - - in der „Teufelsstube“, [539] wo der Satan die von ihm geholten Seelen zerreißt - - ein kleines Licht, nur zwei, drei Schritte weit schimmernd - - ein Menschen- und ein höherer Geist - - sich schwarz aus der Schwärze des ringsum herrschenden Dunkels herausgestaltend - - nicht nur einander ähnlich, sondern von unbedingt ganz gleicher Wesenheit - - der Eine ganz genau das Augenbild des Andern - - vom Kopf bis zu dem Fuß herab ein einziges „Ich“ und doch in zwei Personen! Wenn es mich dabei wie kalt überlief, wie mochte es da erst dem Mirza zu Mute sein!

Sonderbarer, aber psychologisch doch ganz richtiger Weise gab er seinem Entsetzen nach dem ersten Schrei nicht etwa einen Totalausdruck, sondern er richtete es auf Einzelheiten, die ihn an sich selbst irr machten.

„Meine Agraffe!“ rief er aus, mit der Hand nach des Ustad Mütze deutend. „Meine Larve - - mein Chandschar - - meine Peitsche!“

Seine Finger öffneten sich. Die beiden Papierbogen flatterten zur Erde nieder. Ich sah ihn zittern. Seine Kniee wankten; sie brachen zusammen. Er sank zu Boden, hielt sich am Steine fest, hob die andere Hand abwehrend empor und schrie:

„Mein Chodem - - mein Chodem - - mein Chodem! Was hast du mir zu bringen?“

Der Ustad antwortete, und seine Stimme klang genau so dumpf wie diejenige des Mirza unter der Larve hervor:

„Keine Krone und kein Kaiserreich! Wähle: Tod oder Wahnsinn!“

„Den Tod? Nicht ihn, nicht ihn! Ich will nicht sterben, nicht sterben! Ich muß leben, leben - - leben!“

[540] „So hast du gewählt. Der Wahnsinn sei der Geist, der dich nun packt wie alle deine Schatten! Hinaus mit dir, hinaus! Such Schutz bei deinen Massaban! Knie vor den heiligen Scheik des Islam nieder! Verlaß dich auf die ganze Macht der Lüge! Er hat die Faust soeben ausgestreckt. Er faßt dich beim Genick wie eine tote Katze. Er schleppt dich hin, bis wo der Abgrund gähnt, und schüttelt dich hoch über - - -“

„Tote Katze, tote Katze!“ unterbrach ihn der Mirza, indem er schaudernd aufbrüllte, als er diese seine eigene Drohung hörte. „Du weißt Alles, Alles, Alles! Aber ich mag deinen Wahnsinn nicht; ich will ihn nicht! Behalte ihn hier bei dir; ich aber eile fort, fort - - - fort!“

Er schnellte sich auf und sprang zur Tür hinaus. Der Ustad hob die Dokumente auf, faltete sie zusammen und steckte sie zu sich. Dann trat er vorsichtig in das Freie hinaus, um dem Fliehenden nachzuschauen.

„Komm, mein Freund!“ forderte er mich dann auf. „Komm, wenn du einen Menschen sehen willst, der vor dem Wahnsinn flieht und ihm aber nun ganz unmöglich entgehen kann!“

Ich ging zu ihm hin. Der Mirza rannte, wie von Furien gejagt, geraden Weges in die Ebene hinaus, wo er doch nicht das Geringste zu suchen und zu finden hatte.

„Ist das nicht schon geistige Störung?“ fragte der Ustad. „Jeder Andere würde dahin gehen, wo er seine Leute trifft; dieser aber weiß schon nicht mehr, was er tut! Für uns aber ist es geraten, uns schleunigst zu entfernen. Holen wir die Pferde!“

Wir taten es. Dann ritten wir fort, ohne das Licht ausgelöscht zu haben. Der Ustad wollte es so. [541] Er führte uns um den Berg herum und dann weit gegen Norden, wo wir nicht gesehen werden konnten. Dort stiegen wir ab und setzten uns nieder, denn die Zeit der Unterredung mit Ibn el Idrak war noch nicht da.

Keiner von uns sprach. Ich hatte kaum Raum genug für die Gedanken, welche mir kamen und gingen. Ist es wirklich nur Sage, oder giebt es einen Chodem für Jeden, der ein geistiges Leben führt? Da legte der Ustad seine Hand auf meinen Arm und sagte:

„Du denkst, und ich weiß, worüber. Grüble nicht, sondern warte! Der Mensch ist ja gewöhnt, nur das zu glauben, was er mit seinen körperlichen Augen sieht. Weißt du noch, daß ich Hadschi Halefs Seele durch die besondere Betonung seines vollständigen, langen Namens zurückrief. Hätte ich das nicht getan, so wäre er gestorben, so aber zwang ich ihn, ‚sich auf sich selbst zu besinnen‘, wie man sich leider auszudrücken pflegt. Meinst du vielleicht, daß nur die Seele zu zwingen sei? Warte es ab! Die sogenannte ‚Erziehung‘ zwingt Millionen Geister in Schablonen. Sollte es denn gar so unmöglich sein, von diesen Millionen wenigstens einen einzigen aus dieser Schablone wieder herauszuzwingen?“

Wie das so eigenartig klang! Ich sollte nicht denken, sondern warten. Wer das wohl fertig brächte!

Als die Zeit gekommen war, ritten wir wieder näher an den Berg und dort in eine kleine Bodenvertiefung hinab, die uns vor unberufenen Augen schützte. Dort hatte ich mit Kara zu bleiben. Der Ustad aber ging zu Fuß hinüber nach dem Bach, wo Ibn el Idrak wahrscheinlich schon auf ihn wartete. Ich war nicht ganz ohne alle Besorgnis um den Freund, doch versicherte er, es mit einem ehrlichen Manne zu tun zu haben. Das [542] mußte ich gelten lassen. Natürlich hatte er Larve und Agraffe schon längst wieder abgelegt.

Es verging weit über eine Stunde; da kam er wieder, mit schnellen, kräftigen Schritten, wie Jemand, der eine gute Botschaft bringt.

„Dieser Aschyk ist ein Prachtmensch geworden!“ rief er uns zu, noch ehe er uns erreicht hatte. „Ich muß ihn dem Schah-in-Schah unbedingt zur Begnadigung empfehlen, und zwar sofort, wenn wir jetzt heimgekehrt sind. Denn es muß wieder ein Eilbote fort.“

„So hast du also Gutes gehört?“ fragte ich.

„Sehr Gutes! Wir müssen noch vor Tages Anbruch daheim sein, damit man deinen Syrr nicht sehe. Darum habe ich mich jetzt nur kurz zu fassen. Unsere Renngegner treffen heut schon ein, um ihre Pferde mit der Bahn vertraut zu machen. Was ich nur ahnte, ist mir jetzt gewiß: Ibn el Idrak hat einen so bedeutenden Anhang unter den Taki, daß er im Stande ist, die Pläne des Scheik ul Islam zu durchkreuzen, und dazu ist er unbedingt entschlossen. Von ihm ist der Gedanke ausgegangen, daß ich Ustad der Taki werden soll, und er hält ihn sogar jetzt noch fest. Der Scheik ul Islam hat ihm aber in schlauer Weise vorgegriffen, um entweder die Ausführung ganz unmöglich oder mich zu einem seiner willigen Geschöpfe zu machen. Seit er seinen Ghulam als Ustad eingeschmuggelt hat, haben mehrere stürmische Sitzungen stattgefunden. Zu ihm halten die denkschwachen Fanatiker, welche Fatima noch über Muhammed selbst setzen, und die jüngeren Babi, die den Kaiser tief unter sich wissen wollen. Das sind unsere Gegner, die sich zunächst am Rennen und dann auch am Kampfe beteiligen werden. Ich will sie einstweilen die Ultra-Taki nennen. Die Andern sind die Friedfertigen. Sie haben [543] uns beobachtet und nie eine Ueberhebung, eine Falschheit bei uns gefunden. Sie verlangen, uns als Menschen achten zu dürfen, nicht aber um des Glaubens willen uns hassen und befeinden zu müssen. Sie wollen Mohammed verehren, aber nicht den Scheik ul Islam anbeten. Sie wollen dem Schah-in-Schah gehorchen und keine willenlose Puppe an seiner Stelle sehen. Sie haben Ibn el Idrak beauftragt, diese ihre Wünsche in der Dschemma vorzutragen, sind aber mit einer so hochmütigen und beleidigenden Rücksichtslosigkeit abgewiesen worden, daß sie beschlossen haben, nun auch ihrerseits nicht die geringste Rücksicht mehr zu nehmen und ihre Wege ebenso heimlich zu gehen wie die Andern. Die erste Folge dieses Entschlusses ist die jetzige Unterredung mit mir. Ich bin mit Ibn el Idrak so aufrichtig gewesen, wie es mir geboten erschien. Er staunte über das, was er erfuhr. Als ich ihm schließlich aber auch noch mitteilte, daß ihr neuer Ustad der blutige, gewissenlose Henker der Sillan sei und daß der Oberste der Schatten Kaiser werden solle, war er ganz außer sich über dieses betrügerische Spiel und nahm sich vor, diese Hinterlist mit gleicher Münze zu bezahlen. Die Ultra-Taki werden also nicht das Geringste von dem erfahren, was die Friedfertigen und Regierungstreuen zu tun gesonnen sind. Der gegen sie gerichtete Schlag wird über sie kommen wie ein Blitz aus wolkenlosem Himmel.“

„Und worin wird dieser Schlag bestehen?“ fragte ich.

„Man wird kein Wort gegen den Kampf mit uns sprechen, sie aber im letzten Augenblick einfach sitzen lassen. Greifen sie uns dann trotzdem an, so geschieht ihnen, was sie verdienen. Das sind die allgemeinen Gesichtspunkte; über das Besondere sprechen wir später. Jetzt müssen wir fort, denn der Osten wird schon licht.“

[544] „Also nun der Proberitt! Ich denke, es wird noch Niemand so schnell hinübergekommen sein, wie gegenwärtig wir. Reitet ihr voran!“

„Voran? Warum?“

„Weil ihr mich sonst bald aus den Augen verlieren würdet!“ lachte ich.