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Drittes Kapitel. Ein Brudermord.

Es fiel uns natürlich gar nicht ein, nach dem Punkte am Canadian zurückzukehren, wo wir Jonathan Melton zuletzt gesehen hatten; wir hätten damit nur unnütz Zeit vergeudet; wir ritten vielmehr, soweit das Terrain uns das erlaubte, gerade unter der Luftlinie, die nach Albuquerque führte. Wir erlebten unterwegs nichts, was erwähnt werden müßte, und kamen gegen Abend des vierten Tages am Ziele an.

Die Stadt Albuquerque hat ihren Namen nach dem Herzoge gleichen Namens, welcher Vizekönig von Mexiko war, erhalten. Albuquerque bedeutet Weiß-Eiche (alba quercus). Sie zerfällt in zwei verschiedene Teile, die einander vollständig unähnlich sind, nämlich in die alte spanische und in die junge amerikanische Stadt. Ein breiter, unbebauter Raum trennt die beiden Stadtteile voneinander. Der alte spanische Typus hat sich hier in jeder Beziehung rein erhalten, und nirgends stellt sich diesem das Neuamerikanische ablehnender gegenüber als hier. Das neue Albuquerque hatte genau das Aussehen anderer amerikanischer Pilzstädte: sehr schlechte, ungepflasterte Gassen und Straßen mit Holzsteigen an den Seiten für die Fußgänger. Die Häuser waren meist


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Bretterbauten mit Läden aller Art und Trinklokalen jeden Genres. Die Stadt liegt am linken Ufer des Rio Grande del Norte; am rechten Ufer breitet sich das große Dorf Atrisco aus.

Selbst wenn wir nicht besser unterrichtet gewesen wären, hätten wir gewußt, daß die Gesuchten, falls sie noch anwesend waren, nicht in dem spanischen, sondern im amerikanischen Stadtteile zu finden seien. Wir wußten aber, daß das Zusammentreffen im Salon von Plener hatte stattfinden sollen. Freilich hüteten wir uns, das Etablissement sofort zu dreien aufzusuchen, vielmehr hielten wir vor einem andern sogenannten Hotel an, das aber diesen Namen nicht verdiente. Hier blieb ich mit Winnetou; dann ritt Emery zu Plener, um sich dort einzuquartieren. Er von uns dreien fiel dort am wenigsten auf, und hatte die Aufgabe, sich dort möglichst wenig sehen zu lassen und dafür aber desto genauere Erkundigungen einzuziehen.

Es war, wie gesagt, gegen Abend, als wir ankamen. Wir waren ziemlich ermüdet und wollten zeitig schlafen gehen. Als ich das dem Aufwärter beim Abendessen sagte, meinte er:

»Daran thut ihr sehr unrecht, Gentlemen. Ich sage Euch, Albuquerque ist ein trauriges Nest, und wenn einem einmal so etwas geboten wird, soll man es genießen, anstatt sich ins Bett zu legen.«

»Was giebt es denn? Ihr seid ja ganz begeistert, Master!«

»Es ist auch darnach! Ihr solltet die Spanierin nur sehen, Sir!«

»Habe schon manche Spanierin gesehen! Was ist sie denn?«

»Sängerin. Ich sage Euch, das ganze Albuquerque


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ist verrückt auf sie. Sie wollte nur einen Abend singen, hat aber, einen solchen Anklang gefunden, daß sie sich entschloß, noch zwei Abende zuzugeben. Heute singt sie zum letztenmal.«

»Wie ist denn der Name dieses außerordentlichen Wesens?«

»Pajaro.«

»Ein schönklingender Name!«

»Echt spanisch. Und eine echte Spanierin ist sie, obgleich sie am liebsten deutsche Lieder zu singen scheint.«

»Wie? Eine Spanierin, welche deutsche Lieder singt?«

»Ja. Wundert Euch das? Sie wird gewiß wissen, warum sie das thut. Man mag von diesen Deutschen denken und sagen, was man will; aber Lieder haben sie, Lieder und Melodien wie kein anderes Volk. Und Sennora Marta Pajaro weiß diese Lieder zu singen! Dann müßt Ihr ihren Bruder auf der Geige hören! Ich sage Euch, es giebt keinen zweiten Violinvirtuosen, wie er einer ist, dieser Francisco Pajaro!«

»Also Marta Pajaro und Francisco Pajaro? Ihr macht mich neugierig. Ich werde doch vielleicht gehen, um die beiden Leute zu hören. Wo ist das Konzert?«

»Im Salon hier gegenüber. Es sind keine Billets mehr zu haben. Alles verkauft und vergriffen. Nur ich habe noch einige. Der Platz kostet eigentlich einen Dollar; wenn Ihr zwei Dollars bezahlt, könnt Ihr ein Billet haben.«

»Ah, Ihr wollt hundert Prozent verdienen! Meinetwegen! Gebt zwei Billets her!«

Warum ich mir die Billets kaufte trotz des doppelten Preises? Sehr einfach: Pajaro heißt Vogel; die Geschwister hießen Martha und Franz. Mußte ich da nicht an meine alten Bekannten aus der Heimat denken, an


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die Leute, wegen deren Erbschaft ich mit Winnetou nach Aegypten und Tunis gegangen und jetzt wieder nach Amerika gekommen war? Eine Spanierin, die deutsche Lieder singt, war mir nicht recht einleuchtend. Es war weit eher denkbar, daß die Sängerin eine Deutsche war, die jetzt, hier in Neu-Mexiko, einen spanischen Namen trug. Ich sagte das Winnetou, und er war sofort bereit, mit in das Konzert zu gehen.

Es war nur noch eine halbe Stunde bis zum Beginn desselben; wir mußten uns also sputen und gingen hinüber. Der Aufwärter hatte nicht zu viel gesagt, wenigstens was das Publikum betraf. Auch der »Saloon« war ein Brettergebäude; er hatte einen solchen Umfang, daß wohl sechshundert Menschen sitzen konnten, und doch waren nur noch wenige Stühle frei, welche ganz hinten standen. Wir setzten uns auf zwei derselben.

Schon nach wenigen Minuten waren auch die übrigen besetzt, und die vielen Menschen, welche dann noch kamen, mußten in den Zwischenräumen und Gängen stehen. Es war keine Bühne vorhanden; man hatte ein Podium errichtet, auf welchem ein Flügel stand. Daneben war ein kleiner Raum durch Vorhänge für die Künstler abgesondert.

Als das Zeichen zum Beginn gegeben wurde, traten letztere auf das Podium. Ja, sie waren es, Franz Vogel mit seiner Schwester, der einstigen Punktiererin. Er hatte die Violine in der Hand, und sie setzte sich an das Instrument, ihn zu begleiten. Er spielte ein Bravourstück, und ich hörte, daß er gegen früher ganz bedeutende Fortschritte gemacht hatte. Martha saß so, daß ich sie im Profile sah. Sie hatte sich jetzt vollständig entwickelt und war noch schöner geworden. Der Kummer, die Leiden der letzten Jahre hatten ihr Gesicht durchgeistigt und


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ihren Zügen einen wehmütigen Ernst aufgeprägt, der mich mit Wehmut erfüllte. Beide zogen sich nach dem ersten Stücke zurück.

Die zweite Nummer war für Martha, und Franz begleitete. Sie sang eine spanische Romanze, und zwar so vortrefflich, daß sie dieselbe wiederholen mußte. Sie hatte keinerlei Toilettenkünste angewendet und trug ein langes, schwarzes Kleid, welches hoch und eng am Halse anschloß. Ihr ganzer Schmuck bestand aus einer einzigen Rose im Haare. Die Geschwister teilten sich in das Programm, wechselten einander nach jeder Nummer ab und begleiteten sich gegenseitig.

Martha sang hernach zwei Hochlandslieder, eine spanische Serenade, und dann folgte das prächtige deutsche Lied:

»Ich sah dich nur ein einzig Mal,

Da war's um mich geschehen; Ich fühlte deiner Augen Strahl Durch meine Seele gehen.«

Ja, das war deutsche Innigkeit und Gemütstiefe. Solche Lieder kann nur Deutschland haben. Der größte Teil des Publikums verstand kein Wort des Textes, und doch folgte ein Applaus, daß das Gebäude zu zittern schien. Die Sängerin mußte zwei Strophen wiederholen.

Winnetou hatte natürlich Franz Vogel erkannt. Er fragte mich jetzt:

»Will mein Bruder nicht einmal hingehen, um zu fragen, wo sie wohnen? Wir müssen doch mit ihnen reden.«

Er hatte recht. Die Künstler traten heute zum letztenmal auf; vielleicht reisten sie schon morgen ab; ich mußte mit ihnen sprechen. Ich stand also von meinem Stuhle auf, um zu ihnen zu gehen. Dabei mußte ich mich durch


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die auf dem Gange stehende Menge drängen, was die Augen auf mich zog. Da hörte ich den erschrockenen, halblauten, aber doch vernehmlichen Ausruf:

»All devils! Du, das ist ja Old Shatterhand!«

Ich blickte nach der Stelle, wo die Worte erklungen waren. Da saßen zwei Männer nebeneinander, welche breite Sombreros trugen. Unter den riesigen Krämpen waren nur die dunklen Vollbärte zu sehen, und als sie bemerkten, daß ich hinsah, drehten sie sich auf die Seite. Das fiel mir auf; aber die Nennung meines Namens hatte vieler Blicke auf mich gerichtet; das genierte mich, und darum ging ich weiter.

Die Geschwister befanden sich während der Pausen hinter dem Vorhange. Ich blieb vor demselben stehen und fragte deutsch:

»Ist es einem Bekannten erlaubt, Zutritt zu nehmen?«

Da wurde der Vorhang geöffnet; ich trat hinein und stand vor ihnen.

»Wer - wer - was - - Sie, Sie sind es?« fragte Franz, indem er vor Ueberraschung zwei Schritte zurückwich.

»Herr Doktor!« schrie Martha auf. Es war mir, als ob sie wankte; ich machte eine Bewegung, sie zu stützen; da faßte sie meine Hände und küßte sie, ehe ich es zu verhindern vermochte, und brach dabei in ein lautes Schluchzen aus. Ich führte sie zum Stuhle, drückte sie sanft auf denselben und sagte zu ihrem Bruder:

»Wie froh bin ich, zu sehen und zu hören, daß Sie sich hier befinden. Ich habe Ihnen Wichtiges zu sagen, darf Sie aber jetzt nicht stören, sondern will Sie nur fragen, wo Sie wohnen.«

»Im letzten Hause vor der Stadt am Flusse,« antwortete er.


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»Darf ich Sie nach dem Konzerte dorthin begleiten?«

»Ja, ja, wir bitten Sie sehr darum.«

»Gut! Ich werde also hierher kommen, um Sie abzuholen. Winnetou ist auch hier.«

Martha hielt die Hände vor das Gesicht und weinte; ich ging, um die Aufregung abzukürzen. Als ich an die Stelle kam, wo mein Name genannt worden war, wollte ich die beiden Männer schärfer als vorher ins Auge fassen; ihre Stühle waren leer; sie waren fort. Wäre ich doch vorhin nicht weiter gegangen!

Es dauerte jetzt eine längere Weile, ehe die Geschwister wieder erschienen. Martha mußte sich beruhigen, bevor sie sich zeigen konnte. Ihr Bruder trug ein Konzertstück vor; dann sang sie. Als der rauschende Beifall verklungen war, zeigte sich das Publikum so begeistert, daß sich niemand entfernen wollte; es dauerte sehr lange, ehe der Saal sich leerte. Winnetou ging auch; er wollte mich allein mit den Geschwistern lassen, und das war mir nicht unlieb, denn wir hätten doch deutsch gesprochen, und das verstand er nicht vollständig. Als ich glaubte, annehmen zu dürfen, daß keiner der begeisterten Zuhörer mehr willens sei, der Sängerin belästigend in den Weg zu treten, begab ich mich in ihr kleines Kabinett, um sie abzuholen. Sie sagte nichts, und auch ich schwieg. Ich bot ihr den Arm, und wir verließen das Lokal- Ihr Bruder konnte nicht gleich mitkommen, da er mit dem Wirte geschäftlich zu thun hatte.

Der Abendhimmel war von jener Bläue, welche Neu-Mexiko, wo es oft während eines ganzen Jahres nicht regnet, eigen ist. Man konnte, obgleich der Mond nicht am Himmel stand, fast wie am Tage sehen. Das Haus, in welchem die Geschwister für die kurze Zeit ihres hiesigen Aufenthaltes Logis genommen hatten, lag noch eine


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Strecke weiter nahe am Flusse. Die Wirtin war eine Witwe spanischer Abstammung. Martha hatte nicht in einem der öffentlichen Gasthäuser wohnen wollen. Dieselben wurden zwar Hotels genannt, boten aber keine Bequemlichkeit, waren überteuer und dabei Lokale, in denen alle möglichen Menschen und Existenzen verkehrten, so daß man seiner Bequemlichkeit und Ruhe, ja selbst wohl auch seines Lebens nicht sicher war.

Der schmale, ausgetretene Pfad, den wir gingen, führte hart am Ufer des Flusses hin. Da stand allerlei Gebüsch, hinter dem dichtes Schilf aus dem Wasser ragte. Die Wirtin öffnete; sie hatte auf die Heimkehr der Geschwister gewartet und zeigte ein einigermaßen verwundertes Gesicht, als sie ihre Mitbewohnerin mit einem fremden Manne erblickte; doch sagte sie nichts und leuchtete uns eine schmale Treppe hinauf in das kleine Obergeschoß, in welchem die dreizimmerige Wohnung der beiden lag. Häuser mit einem solchen Geschoß sind in Albuquerque äußerst selten. Nachdem sie eine Lampe angezündet hatte, entfernte sie sich, doch nicht, ohne daß sie vorher von Martha erfahren hatte, daß ihr Bruder gleich nachkommen werde.

Nun saßen wir einander gegenüber. Es mußte gesprochen werden; darum wollte ich es sein, welcher begann:

»Sie wissen natürlich, daß Ihr Bruder drüben bei mir in der Heimat gewesen ist, um mir mitzuteilen, wie es bei Ihnen stand?«

»Ja. Ich bin es ja eigentlich gewesen, welcher ihm den Mut gemacht hat, sich an Sie zu wenden.«

»Gehörte solch ein Mut dazu?«

»Gewiß. Er meinte, sie würden wohl kaum bereit sein, nach allem, was früher vorgekommen war, sich unser noch einmal anzunehmen.«


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»Da bin ich freilich von ihm nicht so beurteilt worden, wie es mir lieb sein würde. Uebrigens war es ja wohl Winnetou, der Sie auf mich lenkte. Oder nicht?«

»Ja. Der herrliche Mann wurde uns geradezu von Gott gesandt. Er errettete uns aus tiefer Not, und nur den Mitteln, mit denen er uns unterstützte, haben wir es zu verdanken, daß wir die Konzerttournee, auf welcher wir uns jetzt befinden, beginnen konnten.«

»Darf ich wissen, wie das geschäftliche Ergebnis ausgefallen ist?«

»Ausgezeichnet! Wo wir zum erstenmal auftreten, werden wir mit sichtbarem Zweifel empfangen; stets aber sind wir dann stürmisch aufgefordert worden, dem ersten Konzerte mehrere folgen zu lassen. So war es auch hier.«

»Und wohin reisen Sie nun?«

»Wir gehen nach Santa Fé und dann nach dem Osten.«

»Ah! Sie sind mit Ihren bisherigen Erfolgen nicht zufrieden? Sie wollen Millionärin werden!«

Sie senkte die Augen, und ihr Gesicht nahm einen viel ernsteren Ausdruck als vorher an, als sie antwortete:

»Millionärin? Ich mag es nicht wieder sein, wenigstens nicht um den Preis, den ich damals dafür bezahlen mußte. Ich sah sehr bald ein, daß ich verblendet gewesen war. Und von meinen Erfolgen sprechen Sie? Glauben Sie ja nicht, daß die im stande sind, mich trunken zu machen! Sie wissen, daß ich schon damals lieber daheim, als öffentlich singen wollte. Mein Ideal war nicht das einer Sängerin, die jeder hören darf, der das Entree bezahlt. Und noch viel lieber wäre es mir heute, wenn ich damals von dem Kapellmeister nicht >entdeckt< worden wäre. Er nahm mich unter einen Zwang, dem nur sehr schwer zu widerstehen war. Hätte


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er das nicht gethan, so wäre ich eine arme Punktiererin geblieben und - -«

Sie zögerte, weiterzusprechen; da ich aber nichts sagte, fuhr sie fort:

»Und wäre vielleicht trotzdem glücklich geworden oder vielmehr so glücklich geblieben, wie ich zu jener Zeit war.«

»Hoffentlich darf ich Sie nicht zu den Unglücklichen rechnen!«

Da schlug sie die Augen wieder auf, blickte sinnend über mich hinweg und antwortete-

»Was heißt Glück und was Unglück? Man darf Glück nicht mit immerwährender Wonne und Unglück nicht mit einem fortgesetzten Seelenschmerze vergleichen. Fragen Sie mich aber, ob ich - zufrieden bin, dann antworte ich mit einem ja, wenn ich mich dazu - zwinge.«

Das Gespräch schien eine etwas peinliche Wendung zu nehmen; darum war es mir lieb, daß jetzt ihr Bruder kam. Er hatte ein Paket unter dem Arme, legte es auf den Tisch, deutete mit der Linken darauf, reichte mir die Rechte und sagte in frohem Tone:

»Herzlich willkommen, Herr Doktor! Wer hätte so etwas ahnen können! Ich war starr vor Erstaunen, aber auch vor Freude, als ich Sie erblickte. Nun wollen wir aber auch das Willkommen feiern. Dazu habe ich etwas mitgebracht. Raten Sie, was!«

»Wein jedenfalls?«

»Ja, aber was für welchen? Da, lesen Sie!«

»Riedesheimer Berg!« las ich.

»Ja,« nickte er lachend, indem er mir die Flasche noch näher hielt. »Nun wundern Sie sich wohl?

»Nein, gar nicht. Ich ärgere mich vielmehr.«

»Worüber?«


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»Weil er falsch ist.«

»Erst kosten, erst kosten!«

»Ist nicht nötig, denn sogar die Etikette ist gefälscht, denn der Ort heißt Rüdesheim, nicht aber Riedesheim.«

»Ah!« machte er enttäuscht, indem er die Etikette genauer betrachtete. »Das habe ich gar nicht bemerkt.«

»Ein famoser, orthographischer Schnitzer! Wenn die Etikette hier hüben gedruckt worden ist, wo mag dann da erst der Wein zusammengequirlt worden sein! Wieviel haben Sie für die Flasche bezahlt?«

»Fünfzehn Dollars.«

»Zwei Flaschen?«

»Eine!«

»So! Da geht es noch. Es giebt Rüdesheimer, für welchen man sogar drüben an der Quelle weit mehr bezahlt. Die dreißig Dollars lassen sich verschmerzen. Also versuchen wir den famosen Rüdesheimer!«

Er hatte drei Gläser gefüllt. Wir stießen an und führten sie an den Mund. Die beiden Geschwister nahmen einen Schluck und machten dann unheimliche Gesichter. Ich trank aber gar nicht, denn ich hatte schon von dem Geruche genug. Das war ja der reine Essig- und Rosinenmoder! Wir setzten die Gläser auf den Tisch, und Franz Vogel schimpfte.

»Darüber lassen Sie sich ja keine grauen Haare wachsen!« sagte ich. »Ich bin nicht zu Ihnen gekommen, um zu trinken. Schütten Sie das Zeug weg, und setzen Sie sich! Wir haben von etwas Besserem zu sprechen.«

»Ja, von Ihren Erfolgen drüben in Aegypten!« meinte er, indem er mich in großer Spannung anblickte. »Die Aufgabe war zu schwer. Ich bin überzeugt, daß Sie nichts ausgerichtet haben. Es wäre ja dem klügsten


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Menschen der Erde unmöglich, den Gesuchten auf die wenigen und nebelhaften Anhaltepunkte hin, welche es gab, zu finden.«

»Hm! Im Nebel rennen oft Leute ganz zufällig zusammen, welche sich bei reiner, klarer Luft wahrscheinlich nicht gesehen hätten!«

»Wie - was?! Sagen Sie so? Das läßt vermuten, daß Ihre Reise doch nicht ganz vergeblich gewesen ist?«

»Das läßt vermuten, daß ich Ihre Frau Schwester zu etwas zwingen werde, was ihr sehr zuwider zu sein scheint.«

»Zu was?«

»Sie behauptete vorhin, als Sie noch nicht hier waren, daß sie keine Lust habe, wieder Millionärin zu werden.« '

»Millionärin?! Ist es etwa das, wozu Sie sie zwingen wollen?«

»Ja. Ich nehme meine Worte in vollstem Ernste.«

»Das wäre ja mehr als erstaunlich, mehr als wunderbar!« rief er aus, indem er von seinem Sitze aufsprang.

Auch seine Schwester richtete ihre Blicke in größer Spannung auf mein Gesicht, sagte aber nichts.

»Es ist gar nichts Wunderbares an der Sache,« fuhr ich fort. »Wunderbar könnte man nur das eine nennen, daß sie noch immer nicht zu Ende ist.«

»So sagen Sie schnell, wie war es denn eigentlich? Sie waren damals der Ansicht, daß der Reisebegleiter von Small Hunter ein Betrüger sei und Jonathan Melton heiße.«

»So ist es.«

»Haben Sie ihn getroffen?«


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»Ja, und Small Hunter auch, den einen tot und den andern lebend.«

»Welcher war es, der lebte?«

»Melton; Small Hunter ist tot.«

»Mein Himmel! So sind wir die Erben des riesigen Vermögens!«

»Der Millionen!« fügte ich hinzu.

Er legte sich die Hände auf den Kopf und rief aus:

»Wer das glauben könnte! Welche Freude! Schon um unserer Eltern willen! Jetzt fühle ich es, daß man vor Freude vom Schlage getroffen, oder gar wahnsinnig werden kann. Kommen Sie, kommen Sie; ich muß Sie umarmen, Sie einziger, einziger Mensch!«

Er wollte mich von meinem Stuhle aufziehen. Ich wehrte ab und versuchte, seine freudige Aufregung dadurch zu dämpfen, daß ich ihn bat:

»Mäßigen Sie sich! Die Angelegenheit ist noch nicht bei dem Punkte angelangt, an welchem sie stehen müßte, wenn Sie Grund hätten, vor Freude wahnsinnig zu werden. Ja, es ist richtig, daß Sie die Erben sind; aber das Vermögen ist leider nicht mehr da. Jonathan Melton hat es.«

»O Himmel! Dann hat es ihm der Rechtsanwalt Fred Murphy übergeben?«

»Derselbe,« entgegnete ich und erzählte ihm den Zusammenhang.

»So muß Melton das Geld augenblicklich herausgeben! Wo steckt der Halunke? Ich reise sofort von hier ab, um ihn aufzusuchen und zur Zurückgabe zu zwingen!«

Er nahm bei diesen Worten eine so drohende Stellung an, und machte dabei ein so grimmiges Gesicht, daß es Melton, wenn er es gesehen hätte, sicherlich angst geworden wäre.


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»Nun!« fuhr er fort, als ich nicht augenblicklich antwortete. »Wo steckt dieser Mensch?«

»Hier in Albuquerque,« antwortete ich ruhig.

»Was? Hier - in - Albuquerque?«

Ja. Begreifen Sie das nicht? Ich bin doch ausgezogen, den Menschen zu entlarven; ich bin seiner Spur gefolgt; also ist doch, wenn ich mich hier befinde, nicht allzu schwer zu denken, daß seine Spur mich hierher geführt hat.«

»Ah, so! Das ist freilich richtig! Also hier ist er, hier! Ich werde - -«

»Halt!« unterbrach ich ihn, weil er sich schon nach der Thür wendete. »Warten Sie noch ein Weilchen! Er steht nämlich nicht draußen auf der Treppe, um Ihnen gemütlich in die Arme zu laufen. Ich wollte vorhin sagen: er ist entweder hier oder wenigstens hier gewesen, und zwar vor ganz kurzer Zeit, vor längstens zwei Tagen.«

»Da sind wir ja schon länger hier! Und haben keine Ahnung von seiner Anwesenheit! Und Sie wissen nicht, ob er noch hier, oder schon wieder fort ist? Konnten Sie denn nicht erfahren, wo er seinen Aufenthalt hier nehmen wollte?«

»Ich habe es erfahren. Wahrscheinlich ist er in Pleners Salon abgestiegen.«

»Pleners Salon! Da bin ich täglich mehreremal gewesen! Vielleicht habe ich mit ihm sogar an einem Tische gesessen!«

»Die Möglichkeit ist allerdings vorhanden.«

»Und nichts davon gewußt! Aber daran bin doch ich nicht schuld, denn ich bin ohne alle Ahnung gewesen! Sie, Sie, Sie tragen die Schuld! Haben Sie sich denn nicht sofort, als Sie hier ankamen, nach ihm erkundigt?«


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»Erkundigt? Fällt mir nicht ein! Ich will sehr gern die Schuld auf mich nehmen, vorsichtig gewesen zu sein. Konnte ich mich bei ihm sehen lassen? Wenn er mich bemerkte, machte er sich heimlich von dannen.«

»Das ist freilich wahr; entschuldigen Sie! Die Millionen machen mich ganz verwirrt.«

»Sammeln Sie sich! Sie können überzeugt sein, daß von mir keine Vorsichts- oder sonst irgendwo gebotene Maßregel versäumt worden ist. Dieser Mensch hat es uns sehr schwer gemacht; er ist uns immer wieder entwischt, nicht etwa, weil wir große Fehler begangen hätten, sondern weil er viel Glück gehabt hat. Setzen Sie sich wieder ruhig her, und lassen Sie sich erzählen!«

Ich zog ihn auf seinen Sitz nieder und berichtete unsere Erlebnisse. Natürlich drängte es mich, dabei die Thätigkeit Winnetous und des Englishman hervorzuheben. Man kann sich sehr leicht denken, mit welcher Aufmerksamkeit die Geschwister meiner Erzählung folgten. Ich wurde von hundert und wieder hundert Fragen, Ausrufen und dergleichen unterbrochen, sodaß es lange dauerte, bis ich fertig wurde. Endlich war ich mit meinem Berichte bei der gegenwärtigen Stunde angekommen und konnte mich an der Verwunderung weiden, welche die beiden erfüllte.

Der Bruder fiel mit überschwänglichen Ausdrücken des Lobes über mich her; ich wehrte ihn mit der Bemerkung ab:

»Sagen Sie das nicht mir, sondern Sir Emery und Winnetou, die Sie ja bald sehen werden. Die beiden haben alles Lob verdient, wenn es uns gelingen sollte, die Angelegenheit zum guten Ende zu bringen.«

Die Schwester gab mir stumm die Hand, sie sagte nichts, und das war mir lieber als die überlaute An-


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erkennung [Anerkennung] ihres Bruders. Dieser ging aufgeregt im Zimmer hin und her, brummte, schüttelte den Kopf, stieß unverständliche Worte aus, drohte mit den Fäusten, als ob er Melton vor sich habe, bis ich diesem Gebaren durch die Bemerkung ein Ende machte:

»Zanken Sie sich nicht mit der Luft, mein lieber Freund! Dadurch erreichen Sie nichts. Nun ich Ihnen alles erzählt habe, werde ich nach meinem Hotel gehen. Jedenfalls ist Emery schon dagewesen, oder noch da, um zu berichten, wie es in Pleners Salon steht. Befindet sich Jonathan Melton noch dort, so entkommt er uns gewiß nicht wieder. Ist er aber schon fort, so reiten wir ihm morgen früh nach. Und was seinen Vater und seinen Oheim anbetrifft, so - hm, so möchte ich fast behaupten, daß sie hier sind, ja, daß ich sie sogar gesehen habe.« Und ich berichtete die Scene im Konzertsaal.

»Die beiden Männer trugen Sombreros?« meinte er nachdenklich. »Sagen Sie mir, von welcher Gestalt die beiden alten Meltons sind!«

»Lang und hager; die Höhe wird wohl bei beiden gleich sein.«

»So habe ich sie wahrscheinlich vorhin, als ich kam, gesehen!«

»Und wo?«

»Zwischen hier und dem ersten Hause, auf unserm Fußwege am Flusse.«

»Ah! Sollten Sie es auf mich abgesehen haben?«

»Schwerlich! Sie wissen ja nicht, daß Sie sich hier befinden.«

»Denken Sie das nicht! Die Meltons sind sehr erfahrene Westmänner. Nehmen wir an, daß sie mit den beiden Personen im Konzerte identisch sind. Sie haben mich gesehen und erkannt; sie haben sich sofort gesagt,


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daß ich nur ihretwegen hier bin; darum sind sie schleunigst fortgegangen.«

»Aber hierher? Sie konnten doch nicht wissen, daß Sie zu uns gehen würden!«

»Das ist richtig; aber sie sind auch nicht direkt von dort hierher gegangen, sondern sie haben sich in der Nähe des Konzertlokales versteckt, um zu erfahren, wo ich mich aufhalte, wo ich wohne. Sie haben gesehen, daß ich mit Ihrer Schwester den Weg nach hier eingeschlagen habe, sind uns gefolgt und wollen nun auf mich warten, wahrscheinlich um mich unschädlich zu machen. Wurden Sie von ihnen gesehen?«

»Natürlich! Ich mußte an ihnen vorüber. Und jetzt fällt mir ein, daß sie zu erschrecken schienen, als sie meine Schritte hinter sich hörten und sich nach mir umdrehten.«

»Es ist so hell draußen, daß man alles sehen kann. Haben Sie bemerkt, wie die beiden bewaffnet waren?«

»Nach Messern, Pistolen oder Revolvern habe ich nicht geschaut; ich war zu schnell an ihnen vorüber; aber Gewehre hatten sie in den Händen.«

»Das ist der sicherste Beweis, daß sie schießen wollen. Niemand schleppt jetzt Gewehre in der Stadt herum. Im Konzerte haben sie die Flinten nicht mitgehabt, folglich haben sie sich dieselben geholt, weil sie etwas vorhaben, wobei sie ihrer bedürfen. Und was sie vorhaben, das ersehe ich daraus, daß sie sich in der Nähe Ihrer Wohnung aufgestellt haben. Es gilt ohne allen Zweifel mir.«

Da bat Martha, indem sie schnell meine Hand ergriff:

»Um des Himmels willen, gehen Sie nicht fort! Sie müssen hier bleiben!«


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»Das ist unmöglich, weil Winnetou und Emery auf mich warten.«

»Sie mögen warten bis morgen früh!«

»Bis dahin kann gar manches geschehen, wobei meine Gegenwart notwendig ist. Jedenfalls warten Sie schon jetzt mit Ungeduld auf mich. Ich muß fort, wirklich fort.«

»Und ich lasse Sie nicht fort!« rief sie, indem sie sich auch meiner andern Hand bemächtigte. »Man will Sie erschießen, bedenken Sie doch, was das heißt!«

»Das heißt, daß schon mancher Mann auf mich hat schießen wollen und auch wirklich geschossen hat, und Sie sehen mich trotzdem heil und gesund hier bei Ihnen.«

»Diesmal aber ist die Gefahr zu groß. Draußen stehen zwei Mörder, hören Sie, zwei Mörder!«

»Das wäre nur dann gefährlich, wenn ich es nicht wüßte. Nun ich aber davon unterrichtet bin, hat es gar kein Bedenken. Es sind zwei Fälle möglich, und in beiden giebt es keine Gefahr für mich. Der eine Fall ist, daß die Meltons annehmen, daß Sie mich von ihrer Gegenwart am Flusse benachrichtigen. Sie sind also fortgegangen, weil Ihr Hinterhalt unnütz ist, da ich gewarnt worden bin.«

»Und der andere Fall?«

»Sie befinden sich trotz der Begegnung noch draußen. Um mich zu überraschen, müssen sie sich verbergen; sie stecken also im Gebüsch des Ufers, ich aber werde mich ganz selbstverständlich hüten, diese Richtung einzuschlagen. Ich mache einen Umweg.«

»Das sehen sie, eilen Ihnen nach und schießen Sie nieder! Nein, Sie bleiben da; ich bitte, bitte!«

Ihre Bitte war dringend; ich sah, daß sie sich wirklich ängstigte, durfte aber nicht nachgeben; darum


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antwortete ich, indem ich meine Hände aus den ihrigen befreite:

»Versuchen Sie nicht, mich zu halten; ich muß fort, wirklich fort, denn - -«

Ich hielt mitten in der Rede inne, denn draußen fiel ein Schuß und gleich darauf ein zweiter. Dann rief eine Stimme:

»Da drüben war es! Drauf, auf die Strauchdiebe!«

Das war Emerys Stimme. Ich nahm die Lampe, drückte sie Franz Vogel in die Hand und sagte:

»Leuchten Sie mir! Schnell, schnell! Ich muß fort!«

Martha wollte mich am Arme zurückhalten; ich riß mich aber los, und eilte aus dem Zimmer und die Treppe hinunter. Unten konnte ich die Thüre nicht öffnen, da ich den Mechanismus nicht kannte. Darum mußte ich warten, bis Vogel nachkam. Als ich dann draußen vor derselben stand und mich umblickte, konnte ich trotz der ungewöhnlichen Helligkeit nichts sehen. Droben an der Treppe stand Martha und rief herab:

»Bleiben Sie doch! Sie haben ja gehört, daß es Ernst ist!«

»Für mich nicht mehr. Für mich ist die Gefahr vorüber, denn die Kerle sind vertrieben worden, aber wenn ihre Schüsse getroffen haben, so ist es mir um meinen Winnetou leid.«

»Winnetou?« fragte Vogel. »Sie meinen, daß er hier gewesen ist?«

»Ja. Ich habe Bothwells Stimme erkannt; dieser hat nicht gewußt, daß ich hier bin; er kann es nur von Winnetou erfahren haben, und der hat ihn auf keinen Fall allein gehen lassen, sondern ihn ganz gewiß begleitet.«


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»Und um Winnetou thut es Ihnen leid?«

»Ja, denn dieser ist's, der eine Kugel erhalten hat, falls nämlich wirklich einer getroffen wurde. Emery ist, wie ich aus seinem Ausrufe höre, den Attentätern nach; die Stimme des Apatschen aber haben wir nicht gehört; er muß - - ah, Gott sei Dank, da drüben kommen zwei Gestalten! Das macht mir das Herz so leicht, so leicht! Sie sind's; sie sind's, und keiner scheint verletzt zu sein!«

Die beiden kamen schnell über das freie Feld herübergelaufen. Winnetou und Emery waren es. Ich sprang ihnen in meiner Freude entgegen und fragte:

»Wurde einer von euch getroffen?«

»Nein,« antwortete Emery. »Die Kugeln waren zwar sehr gut gemeint, aber um so schlechter gezielt. Wer weiß, wer die Schufte gewesen sind! Jedenfalls ein paar hiesige Elendsritter, welche es auf andere Leute abgesehen hatten und uns mit diesen verwechselt haben.«

»Denkt das nicht! Es war auf mich abgesehen. Die Strauchritter waren die alten Meltons, wenn mich nicht alles täuscht.«

»Wetter! Ist das möglich?«

»Nicht nur möglich, sondern sogar mehr als wahrscheinlich.«

»Der Tausend! Wenn das wirklich so wäre, ärgerte ich mich tot! Warum glaubst du, daß sie es waren?«

»Das sollst du erfahren; aber um keinen Fehler zu begehen und nichts zu versäumen, muß ich wissen, wohin die beiden Halunken geflüchtet sind.«

»Fort sind sie, fort!«

»Und ihr habt sie nicht eingeholt? Winnetou ist doch ein großer Läufer!«


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Da erklärte der Apatsche:

»Winnetou war schnell hinter ihnen her; fast hatte er sie ereilt; aber da standen zwei Pferde, sie sprangen auf und galoppierten fort.«

»Ah, ist's so? Und da ihr eure Büchsen nicht mit hattet, konntet ihr ihnen keine Kugeln nachsenden. Der Plan war gar nicht schlecht ausgedacht; sie sind fort und werden nicht zurückkehren.«

»Meinst du?« fragte Emery. »Wenn sie umkehren und sich heranschleichen, geraten wir abermals in Gefahr.«

»Sie sind fort; ich weiß es sicher. Nun sie auch euch gesehen und wenigstens Winnetou erkannt haben, werden sie sich hüten, sich nochmals hierher zu wagen. Kommt mit herauf! Die Sennora wird es gestatten!«

Es war mir lieb, daß ich die beiden Gefährten hier hatte, wir konnten so ohne Weitläufigkeit mit Franz Vogel das weitere besprechen. Und Martha war natürlich hocherfreut, die beiden Männer, denen sie soviel zu verdanken hatte, bei sich zu sehen. Als wir uns wieder im Zimmer befanden, forderte ich zunächst Emery auf:

»Erzähle vor allen Dingen, wie sich der Vorfall jetzt draußen abgespielt hat!«

»Schlecht hat er sich abgespielt, herzlich schlecht!« zürnte er. »Hätte ich geahnt, daß die beiden Kerls da draußen im Felde lagen, so -«

»Im Felde?« unterbrach ich ihn.

»Ja. Wo sonst?«

»Nicht in den Büschen am Flusse?«

»Nein. Warum fragst du?«

»Nachher! Erzähle nur weiter!«

»Ich ging in euer Hotel, um mit euch zu reden, und traf nur Winnetou, der mir sagte, wen du gefunden


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hattest. Wir warteten auf dich. Du kamst nicht; da gingen wir zu dir.«

»Aber Winnetou kannte doch dieses Haus nicht!«

»Unsinn! Wir sind doch keine Kinder, die nicht wissen, wie man etwas erfährt, was man wissen will! Wir haben natürlich nach der Wohnung der Herrschaften gefragt. Wir schlenderten am Flusse her, um zu erfahren, ob vielleicht etwas Unangenehmes der Grund deines langen Ausbleibends sei, da erhoben sich plötzlich zwei Gestalten rechts von uns im Felde, höchstens vierzig bis fünfzig Schritte von uns. Wir sahen, daß sie die Gewehre auf uns anlegten und warfen uns nieder, gerade als die Schüsse aufblitzten. Dann sprangen wir auf und eilten auf sie zu. Die Halunken drehten um und schossen davon, was ihre Beine nur laufen konnten. Winnetou war mir voran; du weißt, daß er besser läuft, als ich; er kam ihnen näher und näher; da standen plötzlich, wie aus der Erde hervorgezaubert, zwei Pferde, auf welche sie sprangen; fort ging's im Galopp. So ist's geschehen.«

Winnetou fügte hinzu, indem ein leichtes Lächeln über sein schönes Gesicht glitt:

»Winnetou war dem einen sehr nahe und kam gerade recht, den Schwanz seines Pferdes zu erfassen und ihn beim ersten Sprunge des Tieres wieder loszulassen.«

»Ihr habt doch Revolver mit. Warum habt ihr nicht geschossen?«

»Weil wir nicht wußten, wer es war,« antwortete Emery. »Hätte ich geahnt, wen wir vor uns hatten, so wäre es jedenfalls anders geworden!«

»Mein Bruder mag nicht so sprechen,« sagte der Apatsche. »Wir haben nicht klug, sondern wie Knaben


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gehandelt, welche keine Erfahrung besitzen. Sie schossen; sie waren Mörder, und Mörder läßt man nicht entlaufen. Wir hätten, als wir uns niederwarfen, liegen bleiben sollen; sie hätten geglaubt, wir seien getroffen worden und verwundet, oder gar tot. Sie wären zu uns gekommen, um nachzusehen, und wir hätten dann - weiß mein Bruder Emery, was wir dann gethan hätten?«

»Alle Wetter!« rief Bothwell begeistert. »Natürlich weiß ich es! Wir hätten sie gepackt und nicht wieder fortgelassen. Wir sind doch zwei Kerle, die es mit solchen Menschen aufnehmen dürfen. Ja, du hast recht, wir haben wie Schulbuben gehandelt. Wie konnten wir nur so dumm sein! Sage mir das einmal, Charley!«

»Das ist leicht zu sagen,« antwortete ich. »Ihr ginget unbefangen und ahnungslos eures Weges und mußtet also sehr betroffen sein, als ihr, so nahe der Stadt dazu, plötzlich mit Gewehren angefallen wurdet. Es ist ein Zeichen außerordentlicher Geistesgegenwart, daß ihr sofort niedergefallen seid. Mehr kann kein Mensch selbst vom gewandtesten und berühmtesten Westmanne verlangen.«

»Well! Das beruhigt mich. Dennoch wäre es besser gewesen, wenn wir Winnetous List in Anwendung gebracht hätten. Aber das ist nun vorüber; sprechen wir nicht mehr davon, da uns das nur zum Aerger gereichen würde!«

»Ja, sprechen wir lieber von der Meldung, welche du uns in das Hotel bringen wolltest! Hattest du uns etwas Wichtiges zu sagen?«

»Ja. Jonathan Melton ist hier gewesen und mit seiner Braut bei Plener abgestiegen.«

»Wann?«


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»Gestern vormittags. Die beiden haben mit einander gespeist, neue Pferde eingetauscht und sind dann gleich wieder fortgereist.«

»Zu Wagen?«

»Ja. Vorher hat ihnen Plener einen Führer besorgen müssen, welcher mit ihnen abgeritten ist. Sie fahren über Acoma nach dem kleinen Colorado hinüber.«

»Wenn man das glauben darf! Es könnte darauf angelegt sein, uns irre zu führen.«

»Dann müßte Plener mit Jonathan unter einer Decke stecken!«

»Ist nicht nötig. Jonathan kann ihn belogen haben, um uns von ihm täuschen zu lassen.«

»Möglich! Plener macht den Eindruck eines geriebenen Hoteliers, aber ein Schurke ist er sicher nicht. Und warum sollte sich Jonathan mit solchen Vorsichtsmaßregeln abgeben? Er wird das nicht für nötig halten, da er sehr wahrscheinlich überzeugt ist, daß wir da drüben im Thale des Todes von den Komantschen umgebracht worden sind.«

»Es ist möglich, daß er das denkt und sich also ziemlich sicher fühlt. War das alles, was du zu sagen hattest?«

»Nein. Plener selbst wollte ich nicht weiter fragen und belästigen, konnte aber von seinen Leuten nichts weiteres erfahren, sodaß ich mich heute abend wieder an ihn wendete. Da sind heute vormittag zwei Männer in seinen Salon gekommen, haben eine gute Zeche gemacht und ihn gefragt, ob ein Sennor mit einer Sennora zu Wagen bei ihm vorgesprochen habe. Er hat ihnen der Wahrheit nach die Auskunft gegeben, wie mir; dann sind sie fort.«

»Sie kamen zu Fuß?«


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»Ja. Und jetzt fällt mir ein, daß er mir so nebenbei bemerkte, sie hätten sehr große Sombreros gehabt.«

»Also Vater und Onkel Melton! Sie sind so vorsichtig gewesen, nicht bei Plener abzusteigen, sondern nur für kurze Zeit bei ihm einzukehren.«

»Aber warum sind sie bis heute abend hier geblieben und nicht sofort ihrem lieben Jonathan gefolgt?«

»Wahrscheinlich weil sie ermüdet waren, und auch ihren Pferden Ruhe gönnen mußten.«

»Wenn sie nicht ihre müden Pferde gegen frische umgetauscht haben! Geld werden sie wahrscheinlich haben.«

»Natürlich. Jonathan hat sie gewiß damit versorgt. Sie sind von New-Orleans aus einen andern Weg, als den seinigen hier heraufgeritten, der Vorsicht halber. Heut abend besuchten sie das Konzert, um sich zu unterhalten, und sahen mich. Sie vermuteten ganz selbstverständlich, daß ihr bei mir seid, schlichen sich hinter mir her und warteten am Flusse, um auf mich zu lauern. Da kam hier Master Vogel an ihnen vorüber. Sie wußten, daß er der Bruder der Dame ist, bei der ich mich befand, und vermuteten, daß er mich warnen werde.«

»Und doch entfernten sie sich nicht? Man sollte meinen, sie hätten sich darauf gleich aus dem Staube gemacht.«

»Ist ihnen nicht eingefallen. Ich war allein und hatte kein Gewehr bei mir; das wußten sie; es war also sehr leicht, mit mir anzubinden. Sie brauchten mich ja nur von weitem niederzuschießen; meine Revolver konnten mir in die Ferne nichts nützen. Und wie pfiffig haben sie es angefangen!«

»Pfiffig? Ich meine im Gegenteile, daß sie nicht dümmer handeln konnten.«


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»O nein. Es war wirklich pfiffig, daß sie sich nicht am Flusse versteckten. Ich war ja gewarnt und wußte, daß sie dort standen. Darum war anzunehmen, daß ich den Rückweg über das Feld einschlagen würde. Das hatte ich mir auch wirklich vorgenommen. Sie legten sich also ins Feld auf die Lauer, und zwar nicht allzu weit vom Flusse weg, um mich auch dann treffen zu können, falls ich den dortigen Weg einschlagen sollte. Da kamt ihr, und sie erkannten euch.«

»Auch mich?«

»Natürlich. Winnetou ist nicht zu verkennen, selbst dann nicht, wenn es nicht so hell ist, wie heute abend. Sie hatten mich gesehen; sie sahen Winnetou und wußten nun auch, wer du bist. Ihr waret ihnen ebenso gefährlich, wie ich es bin; darum schossen sie auf euch. Wir müssen Gott danken, daß ihnen der Anschlag nicht gelungen ist.«

»Allerdings. Eigentlich war es nur auf dich abgesehen, dann aber standen wir näher dem Tode als du, denn als die Kugeln um uns pfiffen, befandest du dich hier in vortrefflicher Sicherheit. Wie sie aber nur auf den Gedanken gekommen sind, ihre Pferde bereit zu halten?«

»Weil sie mich im Konzerte gesehen haben. Vielleicht haben sie dann auch, ehe sie gingen, Winnetou bemerkt. Sie sagten sich, daß wir sie suchen würden, und waren auf ihre Flucht bedacht. Als sie mir bis hierher gefolgt waren, holten sie oder einer von ihnen ihre Pferde und hielten dieselben bereit, um, sobald die tödlichen Schüsse auf mich gefallen seien, ihres Weges zu reiten.«

»Wohin?«

»Wahrscheinlich in ganz derselben Richtung, welche Jonathan eingeschlagen hat. Sie haben sich doch jeden-


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falls [jedenfalls] vor ihrer Trennung in New-Orleans mit ihm darüber besprochen.«

»Aber wie sie bis hierher anders geritten sind, als er, so können sie sich auch jetzt in gleicher Weise verhalten!«

Da bemerkte Winnetou:

»Das Schloß der weißen Squaw, wohin sie wollen, liegt, wie wir wissen, zwischen dem kleinen Colorado und der Sierra Blanca. Dorthin giebt es nur einen guten Weg, wie jeder weiß, der einmal in jener Gegend gewesen ist; dies ist der Weg, den das Bleichgesicht Jonathan einschlägt. Warum sollen sein Vater und sein Oheim einen weitern und schlechtern Weg einschlagen?«

»Das denke auch ich,« stimmte ich bei. »Die alten Meltons sind sehr erfahrene Bösewichter; die geben sich gewiß nicht mit großen Beschwerden ab, wenn das nicht unbedingt notwendig ist. Ich bin vollständig überzeugt, daß sie auch über Acoma reiten. Morgen, sobald es Tag geworden ist, folgen wir ihnen auf demselben Wege.«

»Und ich reite mit!« rief Franz Vogel begeistert aus.

»Sie?« lachte ich. »Wollen Sie in der wilden Sierra Blanca Konzerte geigen?«

»Ja. Es verlangt mich, diesen Meltons eine Melodie vorzugeigen, an welcher sie genug haben sollen!«

»Das überlassen Sie am besten uns, lieber Freund. Sie sind ein sehr tüchtiger Musiker, aber Ihre Noten stehen nicht da draußen in den Kanons des Colorado. Wir reiten den Meltons nach, um ihnen ihren Raub abzujagen; dabei können Sie uns gar nichts nützen. Wir werden nicht lange fort sein. Gehen sie inzwischen nach Santa Fé, um einige Konzerte zu geben; wir suchen Sie dort auf und legen Ihnen Ihre Millionen in den Schoß.«


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»Nein, nein! Sie wollen den Spitzbuben, den Mördern nach, um mich reich zu machen, und ich soll inzwischen Konzerte geben? Ich wäre nicht im stande, einen Bogenstrich zu thun! Thun Sie mir nicht das Zuleide, daß Sie mich hier sitzen lassen! Ich müßte ja gar keine Ehre im Leibe haben, wenn ich darauf eingehen wollte!«

Er hatte eigentlich recht. Wir sollten uns für ihn in Gefahr begeben; es war nicht mehr als billig, daß er an ihr teilnahm. Das mochte auch Emery denken, denn er fragte ihn:

»Können Sie denn leidlich reiten?«

»Nicht nur leidlich. Das lernt man hier zu Lande bald.«

»Und mit Waffen umgehen?«

»Ein Meisterschütze bin ich freilich nicht; aber geschossen habe ich doch schon zuweilen, und wenn ich bis auf drei Schritte an den Kerl herangehe, den ich treffen will, schieße ich gewiß nicht an ihm vorbei. Sie sehen, daß ich entschlossen bin, mich auf alle Fälle zu beteiligen. Also ist es am besten, Sie nehmen mich mit sich.«

»Hm! Was meinst du, Charley? Er ist nicht übel couragiert!«

Ich zuckte die Achsel, sprach aber nicht dagegen. Es giebt auch eine Courage, welche ihren Grund in der Unkenntnis der Verhältnisse und Gefahren hat, denen man entgegengeht. Eine Fliege summt dreist in das Lampenlicht, weil sie nicht weiß, daß sie in der Flamme umkommen wird.

Jetzt begann auch Martha zu bitten, ihren Bruder doch mitzunehmen. Sie hatte mein Achselzucken bemerkt und wendete sich an Emery. Der ritterliche Englishman war eigentlich ein wenig Damenherr; er konnte den


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Bitten der schönen, jungen Sängerin nicht widerstehen und fragte mich schließlich:

»Hast du etwa großartige Gründe dagegen, Charley?«

»Nein. Sprich mit Winnetou darüber; er mag entscheiden.«

Wenn ich Winnetou sprechend hier aufgeführt habe, so muß ich bemerken, daß wir ihm das Vorhergehende immer übersetzen mußten. Wir sprachen ja deutsch. Als Emery ihm die Angelegenheit vorgetragen hatte, erklärte er:

»Winnetou würde ganz dagegen sein, denn der junge Mann wird uns mehr stören und schaden, anstatt nützen können; aber ihm soll der Raub gehören, den die Diebe bei sich haben, und so dürfen wir ihm seinen Wunsch nicht abschlagen. Er mag aber ja nicht denken, daß es ein Vergnügen ist, mit uns zu reiten. Wir werden volle acht Tage im Sattel sitzen müssen, um an das Ziel zu gelangen.

»Ich werde das gern aushalten!« versprach Vogel in englischer Sprache.

»Wenn mein junger Bruder sich bis zum Anbruch des Tages hier ein gutes Pferd mit Sattel und Zaum kaufen kann, dazu ein Gewehr mit Munition, so wird er mit uns reiten können, sonst aber nicht, denn wir haben keine Zeit, auf ihn zu warten.«

Da nahm mich Vogel beim Arm und bat:

»Helfen Sie mir, bester Herr Doktor! Pferde giebt es hier, Gewehre und Munition auch, wenn auch zu hohen Preisen. Die meisten Stores sind noch offen. Wollen Sie?«

»Gern. Wir können damit bald fertig sein, und haben dann noch einige Stunden für den Schlaf.«

Da geschah etwas, was ich nicht erwartet hatte. Nämlich Martha fragte mich:


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»Meinen Sie, daß die Jüdin mit Jonathan Melton glücklich dort ankommen wird?«

»Wahrscheinlich.«

»Dann bitte, kaufen Sie zwei Pferde und einen Damensattel!«

»Verstehe ich Sie recht? Sie wollen ein Pferd für sich?«

»Ja, ich reite mit Ihnen.«

»Das ist unmöglich, ganz und gar unmöglich!«

»Gewiß nicht! Die Jüdin bringt dasselbe fertig.«

»Die sitzt im Wagen. Das ist etwas anderes.«

Sie ließ sich aber von mir nicht zurückweisen; Emery mußte innerlich über ihren Wunsch lachen, blieb aber äußerlich ernst und höflich; er wollte nicht Nein sagen, und so wiesen wir sie an Winnetou, indem wir überzeugt waren, daß es ihm besser als uns gelingen werde, ihr ihre Bitte abzuschlagen, ohne sie dadurch zu beleidigen. Und das gelang ihm auch.

Der Angriff der jungen, unternehmungslustigen Frau war also siegreich abgeschlagen. Winnetou, Emery und ich nahmen von Martha Abschied; die beiden ersteren begaben sich heim; ich aber ging mit Vogel noch auf die späte Suche nach einem Pferde und den anderen Gegenständen, welche er brauchte. Wir mußten verschiedene Misters, Masters und Sennores aus dem Schlafe wecken, und wegen der Störung der Nachtruhe verschiedene Dollar und Piaster mehr bezahlen. Besondere Mühe verursachte uns das Pferd. Alte, abgetriebene Ziegenböcke konnten wir genug und überall bekommen, aber kein Tier, wie wir es brauchten. Erst als wir die achte, neunte oder zehnte Thür fast eingeschlagen und die Bewohner vom Lager aufgeklopft hatten, kamen wir zu einem braven Manne, welcher uns, weil er sah, daß


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wir Not darum hatten, einen zwar alten, aber sonst noch ganz gelenkigen Braunen, welcher vierzig Dollars wert war, für »lumpige« achtzig überließ. Vogel zögerte gar nicht, den Preis zu zahlen. Seine Konzerte hatten soviel eingebracht, daß er sich die Ausgabe gestatten konnte.

Dabei war es so spät geworden, daß ihm, da er noch Vorbereitungen zu treffen hatte, keine Zeit zum Schlafe übrig blieb. Eine Stunde nach Tagesanbruch holte er uns ab; wir ritten über den Fluß nach Atrisco hinüber, und dann südwestlich dem Rio Puerco zu.

Es ist nicht nötig, die Einzelheiten des Rittes zu beschreiben; erwähnt sei nur, daß Vogel als Reiter sich recht leidlich hielt, wenn wir auch seinetwegen langsamer reiten mußten, da sein Pferd mit unsern Komantschenrossen nicht immer gleichen Schritt zu halten vermochte. Hier und da gab es Stellen, denen die Fährte zweier Pferde deutlich eingeprägt war; das war jedenfalls die Spur der Brüder Melton. Sie hatten den Vorsprung einer ganzen Nacht vor uns; aber gewisse untrügliche Anzeichen verrieten, daß wir uns ihnen zwar langsam, aber unausgesetzt näherten. Hätten wir Vogel nicht bei uns gehabt, so wären wir durch einen Parforceritt schnell an sie herangekommen.

Am Abend des zweiten Tages erreichten wir Acoma, ein altes Indianerpueblo, wo die Meltons gewiß auch angehalten hatten.

Unter Pueblos versteht man die festen, burgartigen Städte der alten seßhaften Bevölkerung des Landes; man zählt ihrer in Neu-Mexiko nur noch etwa zwanzig; die bedeutendsten sind Taos, Laguna, Isleta und Acoma. Man darf sich unter den alten Städten oder Dörfern nicht Ortschaften mit einzelstehenden Häusern oder Häuser-


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reihen [Häuserreihen] und Gassen denken. Sie wurden, um Schutz gegen feindliche Ueberfälle zu bieten, als Burgen errichtet; sie sind auch Burgen, aber in architektonischer Beziehung nicht in unserm Sinn des Wortes. Sie sind schwerfällige Lehm- oder Felsenbauten, je nachdem dieses oder jenes Material vorhanden war, ohne Stil und äußere Gliederung, wenn man nicht das Gliederung nennt, daß jedes höhere Stockwerk über dem untern zurücktritt.

Man denke sich zwei weit auseinanderstehende Felsenwände, zwischen denen einst größere oder kleinere Blöcke lagen. Die Blöcke wurden nebeneinander gewälzt und mit Lehm verbunden, bis eine Mauer entstand, welche von der einen Felsenwand bis an die andere reichte und die Höhe eines Stockwerkes hatte. In der Mauer gab es weder Thür- noch Fensteröffnung. Der Raum zwischen ihr und den Felswänden wurde durch weitere Lang- und Querwände aus Lehm in eine beliebige Anzahl von Vierecken zerlegt, und dann das Ganze mit einer dicken Lehmschicht zugedeckt. In der Lehmdecke befanden sich Löcher, welche als Eingang in die Vierecke und Wohnungen dienten. Ueber dem Erdgeschoß wurde aus demselben Materiale und in derselben Weise ein erstes, zweites, drittes usw. Stockwerk errichtet, doch so, daß jedes höhere Stockwerk einige oder mehrere Meter zurückweicht, und also in der Decke des tieferliegenden einen freien, balkonartigen Raum vor sich liegen hat. Oft haben auch diese terrassenförmig übereinander liegenden Geschosse weder Thür noch Fenster, sondern nur Löcher in der Decke. Man muß also, um in eine Wohnung zu gelangen, in das höhere Stockwerk hinauf- und dann durch das betreffende Loch wie in einen Keller hinuntersteigen. Das Erdgeschoß ist stets nur durch eine Leiter zu erklettern, welche außen an die öffnungslose Mauer


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gelehnt ist. Wird sie auf das platte Dach gezogen, so ist der Zutritt für einen Feind zwar nicht unmöglich gemacht, aber doch außerordentlich erschwert und mit Gefahren verbunden. Zuweilen sind die Lehmmauern, welche dann von einem Stockwerk zum andern führen, treppenartig abgestuft, so daß man hinaufsteigen kann; meist aber werden auch die höheren Geschosse nur durch angelehnte Leitern verbunden, welche jeden Augenblick hinaufgezogen werden können. Man sieht leicht ein, daß der Gedanke, welcher den Bauwerken zu Grunde liegt, in Beziehung auf die Verteidigung des Platzes bei der Art der damaligen Angriffswaffen ein ganz vortrefflicher ist. Waren alle Leitern der verschiedenen Stockwerke emporgezogen, so mußte der angreifende Feind mit Hilfe mitgebrachter Leitern zunächst die Plattform des Parterres ersteigen, wobei er sich den Geschossen aller oberen Terrassen aussetzte und auch noch in Gefahr stand, vom Innern des untern Stockwerkes aus angegriffen zu werden. Hatte er nach mörderischem Kampfe die erste Plattform in seinen Besitz gebracht, so mußte er mit denselben Schwierigkeiten und Gefahren die zweite ersteigen und erkämpfen; dabei mußte er frei und ohne allen Schutz kämpfen, während die Verteidiger über ihm infolge des terrassenartigen Baues stets gute Deckung hatten.

Diese Beschreibung gilt einem Pueblo der regelmäßigsten Bauart; solche sind aber sehr selten. Die andern sind ein unregelmäßig zusammengeschachtelter Komplex von verschiedenartigen Lehmzellen, welcher meist in einer trostlosen Umgebung liegt und den Eindruck eines häßlichen Trümmerhaufens macht. Und in diesen künstlichen hohlen Lehmwürfeln wohnten einst Hunderte und Tausende von Menschen zusammen, deren Verkehr nur dadurch ermöglicht wurde, daß man aus einer Zelle


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über die platten Dächer der unteren Herbergen durch ein Loch in die andere stieg! Jetzt kann man freilich nicht mehr von »tausend« sprechen.

Die Bewohner der Pueblos dürfen keineswegs mit den thatkräftigen freien Indianern verglichen werden. Sie sind gutmütige, genügsame, ganz unwissende Menschen, wahrscheinlich verkümmerte Abkömmlinge der alten Azteken. Meist Katholiken, sind sie doch eigentlich keine Christen. Sie beten noch immer heimlich zu ihrem Manitou und hängen an alten, heidnischen Gebräuchen, welche dem Christentume widerstreben. Daran trägt die alte, iberische Indolenz die Schuld, welche alles gehen läßt, wie es eben geht, das Auftreten und Umsichgreifen der Scheinheiligkeit begünstigt, es aber nicht zu einem wahren, begeisterten und überzeugungstreuen Glauben kommen läßt. Beschimpfe man die heilige Religion, der Puebloindianer wird ruhig bleiben und lachen; greift man ihn aber bei seinem Aberglauben an, den er aus der heidnischen Zeit überkommen hat, so kann der sonst so harmlose Mann sich in einen rachsüchtigen und gefährlichen Starrkopf verwandeln.

Diese Indianer treiben ein wenig Ackerbau, ein wenig Viehzucht und ein wenig Hausindustrie, doch das alles auf der niedrigsten Stufe. Die kleinen Aecker liegen gewöhnlich in der Nähe des Pueblo, und werden mit geradezu kindisch einfachen Werkzeugen bestellt. Das Neue und Praktische wird beharrlich zurückgewiesen; es stimmt nicht mit ihren Ueberlieferungen zusammen. Lieber ernten sie Hunger vom steinigten Lande, als daß sie es düngen und anders, als mit einem einfachen Stocke oder hölzernen Haken bearbeiten. Ebenso steht es mit der Viehzucht. Man sieht einige magere Hühner, einige Schweine und viele Hunde. Sonderbarerweise laufen


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die bissigen Köter frei umher, während die Schweine - sollte man es denken! - - an Ketten liegen.

Ihre Kunstfertigkeit besteht in der Anfertigung von Körben, Beuteln und verschiedenen Geflechten. Sie brennen Krüge und Urnen, welche keinen Kunstwert besitzen. Aus Thon stellen sie allerlei Figuren her, welche geradezu lächerlich sind. Der Sinn für schöne Formen ist ihnen vollständig versagt. Die Figuren werden bei uns von vierjährigen Kindern viel besser auf der Schiefertafel gezeichnet; sie dienen meist als Spielwerkzeuge; oft haben sie auch eine geheim religiöse, heidnische Bedeutung. In diesem Falle werden sie in der »Estufa« aufgestellt. Dies ist ein kleiner Raum, welcher von niedrigen, nur drei Fuß hohen Mauern eingefaßt wird, zwischen denen stets zwei hohe Stangen stehen. Vielleicht sollen diese ein Fingerzeig gen Himmel sein. Es wird sehr darauf gesehen, daß diese Estufa von keinem Unberufenen berührt oder gar betreten wird.

Also wir kamen gegen Abend in Acoma an und fragten nach dem Governor, unter welchem man sich freilich nicht einen Gouverneur nach unserm Sinne, einen hochgestellten Beamten, sondern eine Art Dorfschulzen vorzustellen hat. Da, wo man spanisch spricht, hat selbst der kleinste Beamte einen hohen, volltönenden Titel, und spanisch verstehen die meisten Puebloindianer mehr oder weniger geläufig zu reden. Die ganze Bevölkerung war zusammengelaufen und betrachtete uns mit nicht eben freundlichen Augen. Das mußte einen besondern Grund haben. Wir wollten nichts fordern und verlangen, und fragten nur deshalb nach dem Governor, weil wir beabsichtigten, ihn um Auskunft über die drei Meltons zu bitten. Als wir abgestiegen waren, zeigte sich niemand bereit, unsere Pferde zu halten, uns Wasser zu zeigen


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und uns zum Governor zu führen. Eigentümlicherweise war kein junges Mädchen zu sehen, aber einige sehr hübsche Knaben bemerkte ich.

Da sich niemand unser annehmen wollte und sich alle so zurückhaltend, ja feindselig gegen uns verhielten, waren wir auf uns selbst angewiesen. Wir befestigten also die Zügel unserer Pferde an Felsstücken und gingen aus, um Wasser zu suchen, wobei wir mit finstern Blicken betrachtet wurden. Ich kam mit Emery an ein kleines Gärtchen, in welchem ein armseliges Gemüse und einige Blumen standen. Emery bückte sich, um sich einen Rettich anzueignen, den er natürlich gut bezahlt hätte; da sprang einer der hübschen Knaben herbei und faßte ihn von hinten, um ihn wegzuziehen. Emery schüttelte ihn kräftig von sich ab und griff wieder zu; da nahm ich den Freund beim Arme und zog ihn mit mir fort. Gerade vor uns sahen wir die Estufa. Emery trat hinzu, sah über die niedrige Mauer und schlug ein lautes Gelächter auf. Es standen da ein Dutzend der oben erwähnten Figuren, welche allerdings höchst lächerlich waren, breitbeinige Kerls mit wurstartigen Armen, die sie in unmöglichen Haltungen vorstreckten. Köpfe und Stirn ohne Nase, mit zwei Löchern von oben als Augen, und einem großen Loche unten als Mund. Es gab sitzende Gestalten mit ungeheuerlichen Bäuchen und drei Köpfen, einen oben, einen auf dem Rücken und einen auf der Brust; die Ohren waren länger als die Arme. Emery griff zu, um eine dieser Figuren wegzunehmen und zu betrachten, ich zog ihn abermals zurück und erklärte ihm die Bedeutung dieser thönernen Gestalten. Er lachte und ging weiter. Die Menge folgte ihm; nur der Knabe blieb zurück, sah mich mit ungewissen Blicken an, brach dann mit einer raschen Bewegung eine Blume aus dem winzigen


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Gärtchen, reichte sie mir hin und sagte: »Ich danke! Der Rettich wuchs für meinen Vater; es ist der einzige.«

Das war keine Knaben-, sondern eine Mädchenstimme, und nun fiel mir ein, daß in einigen Pueblos sich die Mädchen wie Knaben kleiden. Sie tragen Hosen und scheiteln sich die kurzgeschnittenen Haare auf der Seite, was die Verwechslung sehr begünstigt. Ich wollte ihr gern ein Gegengeschenk machen, aber was? Da fiel mir ein, daß ich das kleine, neusilberne Etui eines verloren gegangenen Bleistiftspitzers noch im Gürtel hatte. ich nahm es heraus, schraubte es auf und wieder zu, um ihr zu zeigen, wie es zu handhaben sei und hielt es ihr dann hin.

»Nimm das für die Blume, schöne Puebla!«

Sie sah mich staunend an und wagte nicht, zuzugreifen.

Das kleine Büchschen war ja ein kostbares Kunstwerk, ein unerreichbarer Gegenstand für sie.

»Hier, nimm für die Blume; es ist dein!« wiederholte ich.

»Mein?« fragte sie zweifelnd, aber mit strahlenden Augen.

»Ja. Deine Blume ist mir lieber, als diese kleine Kaja.«

»Und mir deine Kaja viel lieber, als meine Blume! Ich danke dir! Du bist gut, sehr gut; ich habe es dir gleich angesehen!«

Sie nahm das Büchschen, küßte mir schnell die Hand und sprang mit einem lauten Jauchzer davon, um die Leiter zu ihrer Wohnung hinanzusteigen und dort ihren großen Schatz zu verbergen. Mit wie wenigem man doch einen Menschen glücklich machen kann! Und wie reich sich oft ein einziges freundliches Wort belohnt! Ich sollte das sehr bald erfahren.


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Jetzt kam Winnetou, um uns zu holen. Er hatte Wasser gefunden. In der Nähe des Pueblo befand sich eine Art Cisterne, in welcher das wenige Regenwasser des Jahres gesammelt wurde. Wir führten unsere Pferde dorthin und schickten uns an, mit Hilfe des dazu vorhandenen Thongefäßes, das an einem Stricke hing, Wasser zu schöpfen; da kamen die Indianer unter lautem Geschrei herbei, um uns daran zu verhindern. Wasser mußten wir haben; das war gewiß, denn morgen kamen wir, wie wir wußten, durch eine Gegend, in welcher es keinen Tropfen gab; darum griffen Winnetou und Emery und infolgedessen auch Vogel zu ihren Gewehren, um sich den Trank für sich und die Pferde mit Gewalt zu verschaffen. Die Pueblos wichen zurück, da sie sehr wohl wußten, daß sie, obgleich in solcher Ueberzahl, nichts gegen die Gewehre auszurichten vermochten; ihre Waffen waren gar zu erbärmlich.

Es war klar, daß die armen Leute ein Recht auf ihr weniges Wasser hatten, und darum erschien es mir hart, es ihnen abzuzwingen. Etwas wenigstens mußten sie dafür haben; darum bat ich meine Gefährten, von ihrem feindseligen Verhalten abzulassen und gab den Leuten einige kleine Silberstücke, indem ich ihnen erklärte, daß ich damit das Wasser bezahlen wolle. Sie änderten darauf sofort ihr Verhalten und ließen uns schöpfen.

Da der Abend nahte, mußten wir einen Ort suchen, an welchem wir die Nacht zubringen wollten. Die feindselige Haltung der Indianer ließ den Gedanken nicht aufkommen, in ihrer Nähe oder gar in dem Pueblo selbst zu schlafen. Zwar trauten wir ihnen keineswegs ein für uns gefährliches Beginnen zu, aber Widerwärtigkeiten konnten uns doch bereitet werden, und so führten wir unsere Pferde eine ansehnliche Strecke von ihnen fort


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und legten uns da draußen im Freien nieder. Es verstand sich ganz von selbst, daß wir die Nacht reihum wachen wollten.

Es mochte ungefähr zwei Stunden nach Einbruch der Dunkelheit sein, als wir eine Gestalt bemerkten, welche sich vom Pueblo her uns langsam näherte; sie blieb in einiger Entfernung von uns stehen. Wir riefen sie an und forderten sie auf, vollends herbei zu kommen. Da antwortete sie:

»Ich will mit dem guten Sennor sprechen.«

Es war die Stimme des Mädchens, welches mir die Blume gegeben hatte.

»Geh hin!« forderte mich Emery auf. »Denn jedenfalls bist du gemeint.«

Ich folgte der Aufforderung. Als ich die Indianerin erreicht hatte, sagte sie:

»Wir müssen leise sprechen, denn ich bin heimlich gekommen, weil ich nicht haben will, daß dir etwas Böses geschehe.«

»Von wem?«

»Von den beiden Weißen, welche heute bei uns angekommen sind.«

»Ah, ihr habt sie also gesehen! Wann ist das gewesen?«

»Drei Stunden vorher, ehe ihr kamt.«

»Wie lange haben sie sich hier bei euch aufgehalten?«

Da trat sie ganz an mich heran und sagte noch leiser als bisher:

»Sie sind noch hier!«

»Noch hier? Das ist für uns eine sehr wichtige Botschaft, für welche ich dir großen Dank schuldig bin.«

»Du bist mir keinen Dank schuldig, sondern ich will dir danken, indem ich dir dies sage. Die beiden Männer


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sprachen von euch; sie benachrichtigten uns, daß ihr hinter ihnen kommen würdet.«

»Und forderten euch auf, uns feindlich zu behandeln?«

»Ja. Sie sagten uns, daß ihr unsere Estufa zerstören und die Figuren der Götter vernichten wollet.«

»Das fällt uns ja gar nicht ein! Was sagten sie noch von uns?«

»Daß ihr gefährliche Männer seid, die schon viele Mordthaten begangen haben, und Diebe, welche gekommen sind, uns auszurauben.«

»Das ist eine ungeheure Lüge! Ich sage dir, daß es umgekehrt ist. Die beiden Männer sind Räuber und Diebe, welche schon manchen Mord und viele Unthaten auf dem Gewissen haben. Darum jagen wir hinter ihnen her, um sie zu fangen und bestrafen zu lassen. Wir sind ehrliche Leute.«

»Ich glaube es, Sennor. Du siehst nicht aus wie ein so böser Mann und bist freundlich mit uns gewesen. Darum habe ich mich fortgeschlichen, um dich zu retten.«

»Zu retten?« Danach müssen wir in einer Gefahr schweben?«

»Ja, ihr befindet euch in Gefahr. Inwiefern, das weiß ich nicht genau; aber die beiden Männer sind noch hier.«

»Ah! Wo? Kannst du mir das sagen?«

»Ich könnte es sagen, aber ich darf nicht, weil ich nicht zur Verräterin an meinen Leuten werden will.«

»Gut, so will ich dich nicht danach fragen; aber sagen darfst du mir wohl, worin die Gefahr besteht, welche uns von den Leuten droht?«

»Der Tod, glaube ich. Was wirklich geschehen soll, das wissen nur wenige Männer von uns; den Frauen und Kindern aber ist gar nichts verraten worden. Aber


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diese Verschwiegenheit läßt mich vermuten, daß man gegen euch nichts Geringes und nichts Gewöhnliches im Sinne hat.«

Mit diesen Worten huschte sie eiligst fort, so daß ich ihr nicht einmal Dank sagen konnte. Ich erfuhr hier wieder einmal, wie schnell sich oft das Gute ganz von selbst belohnt. Wir waren zwar mißtrauisch, keineswegs aber um unser Leben besorgt gewesen. Das Mädchen hatte uns wahrscheinlich vom Tode errettet.

»Meine Gefährten waren nicht wenig erstaunt, als ich ihnen sagte, was ich erfahren hatte. Emery wollte sofort nach dem Pueblo, um die Bewohner desselben zur Rechenschaft zu ziehen; Winnetou aber entgegnete ihm:

»Mein Bruder mag nicht zu schnell handeln. Die roten Leute haben die Lügen geglaubt, welche man ihnen gesagt hat. Wollen wir sie deshalb töten?«

»Sie verdienen es, weil sie uns auch an das Leben wollen!« antwortete der Englishman.

»Das wissen wir nicht gewiß. Uebrigens sind ihrer viele, und wir sind nur vier.«

»Ich fürchte mich nicht vor ihnen!«

»Mein Bruder wird gewiß nicht glauben, daß Winnetou sich fürchtet; aber vier Personen können kein Pueblo angreifen, sie mögen noch so tapfer sein, wenigstens nicht offen.«

»Aber wir können doch die Leute zwingen, uns die Meltons auszuliefern!«

»Zwingen? Also Kampf mit ihnen? Das ist's ja eben, was wir verhüten müssen. Wenn wir sie angriffen, würden die Meltons ihnen helfen oder die Zeit des Kampfes zur Flucht benutzen. Wir können das, was mein Bruder haben will, nur durch List erreichen. Wir warten, bis sie kommen. Sie wissen wahrscheinlich, wo


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wir uns jetzt befinden; darum werden wir eine andere Stelle aufsuchen, an welcher wir in der Nacht bleiben. Man wird uns suchen. Jedenfalls haben wir dies von den Meltons zu erwarten, welche wir festnehmen, sobald sie kommen.«

Er hatte recht, und wir handelten nach seinem Vorschlage, indem wir unsern Lagerplatz in noch größere Entfernung verlegten. Nun, da wir gewarnt waren, konnten wir uns nur darüber freuen, daß die Meltons hier geblieben waren. Wir brauchten sie nicht erst einzuholen. Wir hatten sie hier, und es bedurfte keiner großen Selbstüberschätzung, um unsererseits sagen zu können, daß sie in unsere Hände fallen würden.

Wir richteten uns auf die Weise ein, daß zwei von uns schliefen, während die beiden andern wachten, und wechselten darin ab. Ich hatte mit Vogel zu wachen. Als wir Winnetou zum zweitenmale ablösten, war die Nacht schon fast vergangen, ohne daß wir irgend etwas Verdächtiges bemerkt hatten; das mußte uns auffallen.

»Wer weiß, ob man überhaupt etwas gegen uns vorgehabt hat,« meinte Emery. »Das Mädchen kann sich geirrt haben!«

»Schwerlich!« antwortete ich.

»Aber es kommt ja niemand!«

»Weil man uns nicht gefunden hat, und wohl auch weil die Roten eingesehen haben, daß es gefährlich ist, sich uns zu nähern.«

»So müssen wir warten, bis es Tag geworden ist; dann aber bestehe ich darauf, die Pueblos zu zwingen, uns die Meltons auszuliefern.«

»Sie würden das nicht können, weil die Meltons dann nicht mehr da sein werden. Wenn es sich herausstellt, daß bis zum Anbruche des neuen Tages nichts


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gegen uns unternommen werden kann, werden sie keinen Augenblick zögern, sich aus dem Staube zu machen.«

»Das möchte ich nicht als so sicher hinstellen. Ebenso wahrscheinlich ist es, daß sie bleiben. Sie werden von den Pueblos unterstützt.«

»Das wäre die größte Dummheit, welche sie begehen könnten. Blieben sie hier, etwa um uns mit Hilfe der Pueblos anzugreifen, so wären sie sicher, in unsere Hände zu geraten oder von unsern Kugeln zu fallen. Die Halunken sind schlau genug, dies zu wissen. Auch kennen sie die Pueblo-Indianer jedenfalls gut genug, um sich sagen zu können, daß diese sich nicht sehr nahe an uns wagen werden, weil unsere Gewehre weiter tragen, als alle ihre Waffen. Ich bin überzeugt, daß sie fortgehen.«

»So haben wir das Nachsehen!«

»Allerdings. Aber dem könnte ja wohl vorgebeugt werden, indem wir unsern Standort abermals verlassen und uns westlich vom Pueblo lagern. Das ist die Richtung, welche sie einzuschlagen haben. Vielleicht hören wir sie, falls sie nicht allzu weit an uns vorüberreiten.«

Auch Winnetou war der Ansicht, und so veränderten wir zum zweitenmale unsern Lagerplatz. Als das geschehen war, setzte ich mich mit Vogel nicht etwa zu den beiden andern, welche sich wieder schlafen gelegt hatten, sondern wir trennten uns, indem wir uns ein Stück von ihnen entfernten, ich rechts und Vogel links von ihnen. Dadurch, daß wir uns so weit auseinander befanden, lag für unser Gehör eine viel größere Strecke offen, als wenn wir zusammen geblieben wären. Um noch besser und weiter hören zu können, legte ich mich mit einem Ohre auf die Erde.

So warteten wir still und unbeweglich eine lange Zeit, bis es ungefähr drei Viertelstunden vor Tagesanbruch


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sein mochte. Da vernahm ich ein Geräusch. Es erklang aus der Gegend her, in welcher Vogel lag, und wenn ich mich nicht täuschte, so war es der Hufschlag zweier Pferde, welche von dem Pueblo herkamen und dann in die Ebene hinausliefen. ich stand auf, ging zu Vogel und fragte:

»Haben Sie nicht etwas gehört?«

»Ja, Schritte von Menschen.«

»Wie viele können es gewesen sein?«

»Wer kann mit den Ohren zählen! Es waren viele. Sie kamen vom Pueblo her und dann an uns vorüber, aber weit von hier.«

»Das ist dasselbe, was ich auch gehört habe; aber Sie irren sich. Das waren keine Menschen, sondern Pferde.«

»Ich möchte aber doch wetten, daß es Menschen gewesen sind. Und über zehn waren es ganz gewiß.«

»Sie sind nicht so geübt wie ich. Es waren zwei Pferde, welche mit ihren Hufen die Erde so treffen, daß ein Unerfahrener allerdings denken kann, es seien über zehn Menschen. Wir müssen Winnetou und Sir Emery wecken, denn ich bin überzeugt, daß es die Meltons gewesen sind.«

Als die Genannten erwachten und meine Meldung hörten, waren sie gleicher Meinung mit mir. Emery sagte:

»Ja, sie waren es; sie sind fort, und wir müssen ihnen augenblicklich nach.«

»Nein,« entgegnete Winnetou. »Meine Brüder müssen mit mir warten, bis es hell geworden ist, damit wir die Spuren sehen können.«

»Das brauchen wir nicht. Wir kennen ja die Richtung, in welcher sie reiten.«


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»Nein, die kennen wir nicht,« antwortete ich. »Winnetou hat recht. Wir müssen unbedingt warten.«

»Wir wissen doch, daß sie nach dem kleinen Colorado reiten. Wenn wir das auch thun, müssen wir auf ihre Spur treffen.«

»Aber es ist möglich, daß sie von jetzt an eine andere Richtung einschlagen, um uns irre zu führen.«

»Da müssen sie sich doch sagen, daß das vergeblich sein dürfte!«

»O nein. Sie haben keine Ahnung davon, daß wir ihr Ziel kennen; sie sind später in Albuquerque angekommen, als ihr sauberer Jonathan, und er hat ihnen also nicht erzählen können, was geschehen ist, seit sie sich von ihm getrennt haben. Sie glauben also, wir folgen ihnen und wissen nichts von ihm und dem Orte, an welchem sie ihn treffen wollen. Darum ist es sehr leicht möglich, daß sie auf den Gedanken kommen, uns in eine andere Gegend zu locken.«

»Well! Aber was schadet das? Wir reiten eben nach dem Colorado, um ihren Jonathan zu fassen. Wenn sie von dieser Richtung abweichen, so lassen wir sie laufen.«

»Wir wollen aber auch sie haben!«

»Wir bekommen sie sicher bei ihrem Jonathan. Wenn wir diesen haben, so warten wir, bis sie kommen. Und kommen werden sie.«

»Das ist gar nicht sicher. Ich möchte lieber das Gegenteil behaupten. Und wenn sie wirklich kommen, so werden sie dies mit solcher Vorsicht thun, daß es gewiß außerordentlich schwer sein wird, sie zu erwischen.«

»Das behauptest du mit solcher Sicherheit?«

»Ja. Ich habe meine Gründe dazu. Frage Winnetou! Er wird mir beistimmen.«


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»Warum sollten sie sich später noch mehr in acht nehmen, als jetzt?«

»Das ist doch so einfach! Sie wollen uns fortlocken. Wenn sie bemerken, daß wir ihnen nicht folgen, so müssen sie natürlich annehmen, daß wir nach dem >Schlosse< der Jüdin seien, und zwar ihnen voran. Sie müssen auch hin, und da versteht es sich ganz von selbst, daß sie, wenn sie kommen, dies nur mit äußerster Vorsicht thun werden.«

»Hm! Das ist allerdings nun zu begreifen.«

»Dazu kommt, daß wir dann leicht zwischen zwei Feuer kommen können, vor uns haben wir Jonathan Melton und hinter uns die beiden.«

»Pshaw! Jonathan ist gar nicht zu fürchten!«

»Richtig! Aber du vergissest, daß er eine Anzahl von Indianern bei sich hat, welche mit der Jüdin und ihrem verstorbenen Manne, ihrem Häuptlinge, aus der Sonora herübergezogen sind. Mit diesen Leuten haben wir doch unbedingt zu rechnen.«

»Das ist richtig. Du meinst also, daß wir den Meltons nachreiten, selbst wenn sie einen andern Weg einschlagen?«

»Ja. Wir müssen sie haben. Darum können wir nicht eher von hier fort, als bis es Tag geworden ist und wir ihre Spuren sehen können.«

»Auch müssen wir warten, um unsere Pferde noch einmal zu tränken,« bemerkte Winnetou. »Sie haben zwar gestern abend Wasser bekommen, aber wir wissen nicht, wohin es geht und ob wir heute und morgen wieder welches finden.«

Wir blieben also sitzen, bis der erste Schimmer des Tages im Osten erschien und wir das Pueblo sehen konnten. Wir ritten hin und bemerkten, daß alle Be-


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wohner [Bewohner] wach waren. Das war ein Beweis, daß sie in der Nacht etwas gegen uns vorgehabt hatten. Als sie sahen, daß wir nach der Cisterne wollten, kam einer von ihnen auf uns zu und sagte:

»Wenn ihr eure Pferde tränken wollt, müßt ihr wieder bezahlen!«

»Wer bist du denn, daß du dies zu verlangen hast?«

»Ich bin der Häuptling des Pueblo.«

»Ah so! Wir wollten gestern mit dir reden und haben nach dir gefragt. Warum antwortete man uns nicht?«

»Weil ich nicht hier war.«

»Das ist eine Lüge, denn ich erinnere mich ganz genau, dein Gesicht gesehen zu haben. Wann bist du denn von hier fortgegangen?«

»Gestern früh.«

»So bist du also vorgestern und auch die vorigen Tage hier gewesen?«

»Ja.«

»Dann wirst du uns wohl sagen können, ob in der Zeit Fremde hier gewesen sind.«

»Es war niemand hier.«

»Aber gestern sind doch zwei weiße Reiter zu euch gekommen?«

»Nein. Als ich heimkam, hat man mir nur von euch erzählt. Wären noch andere dagewesen, so hätte man es mir auch gesagt.«

»Es sind zwei Reiter da gewesen. Sie haben uns in der Nacht gesucht, um uns zu töten!«

Er erschrak und antwortete:

»Sennor, wie könnt Ihr so etwas behaupten! Wir sind ehrliche und friedliche Leute, die nichts Böses thun!«

»Wäret ihr wirklich so ehrliche Leute, so würdest du


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uns nicht belügen. Eigentlich sollten wir euch dafür züchtigen; aber wir wollen das nicht thun, denn wir sind Christen. Wir wissen, daß die beiden Männer, von denen ich spreche, vor kaum einer Stunde fortgeritten sind. Da wir aber sie nicht fürchten und euch verachten, werden wir so thun, als ob nichts geschehen sei und euch sogar euer Wasser bezahlen.«

Er bekam die verlangte Summe; wir tränkten unsere Pferde, tranken auch selbst und ritten dann fort, zunächst nach Spuren gar nicht suchend. Aber dann, als wir außer Sicht der Indianer waren, trennten wir uns, um nach der Fährte zu forschen. Der Apatsche fand sie zuerst. Sie hatte zunächst eine westliche Richtung, machte dann aber einen Bogen nach Nordwest.

»Siehst du!« sagte ich zu Emery. »Die von mir angedeutete Möglichkeit wird zur Wirklichkeit. Die Kerle sind vom richtigen Wege abgewichen.«

»Das ist fatal! Wer weiß, wie weit sie uns mit sich fortschleppen und wie lange Zeit wir brauchen, um wieder auf den rechten Weg zu kommen!«

»Ja, wenn wir ihnen im Galopp folgen könnten, so hätten wir sie bald eingeholt!«

»Warum thun wir dies denn nicht?«

»Vogels Pferd kommt nicht mit fort.«

Als ich das sagte, stieg Winnetou ab, betrachtete die Spur sehr aufmerksam und fragte dann Vogel:

»Mein junger Bruder hat nicht gelernt, eine Fährte zu lesen?«

»Nein,« antwortete der Gefragte. »Wenn die Stapfen nicht ganz deutlich sind, finde ich sie nicht.«

»So dürfen wir ihn nicht allein zurücklassen, weil er uns nicht finden und sich verirren würde. Die Meltons reiten gute Pferde; dennoch können wir sie bald einholen,


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um sie zu fangen. Winnetou wird jetzt mit Old Shatterhand die Verfolgung beginnen. Wir beide genügen, diese Menschen festzunehmen. Mein Bruder Emery mag mit dem jungen Manne auf unserer Fährte folgen.«

Das Gesicht des Englishman bewies, daß er nicht sehr darüber erbaut war, daß er zurückbleiben sollte, doch sagte er nichts dagegen. Wir ritten im Galopp fort, und er blieb mit Vogel hinter uns.

Der Vorsprung, welchen die Meltons vor uns hatten, betrug ungefähr eine Stunde. Selbst wenn sie, wie Winnetous Meinung gewesen war, gute Pferde hatten, mußten wir sie mit unsern vortrefflichen Komantschenrossen noch vor Mittag eingeholt haben, falls es zu einem Wettrennen kommen sollte. War das nicht der Fall, so erreichten wir sie noch viel früher. Es kam ganz darauf an, ob sie uns zeitig genug bemerken würden oder nicht.

Wir ritten über die öde Steppe. Der Boden war steinhart; doch sorgten wir dafür, daß eine deutliche Fährte hinter uns blieb. Die Spur der Meltons war dagegen nur von Zeit zu Zeit zu erkennen. Sie hatten sich in acht genommen; wir sollten im Aufsuchen derselben möglichst viel Zeit verlieren. Es gehörte also keine geringe Aufmerksamkeit dazu, ihr im Galopp zu folgen, ohne sie zu verlieren. Hier bewährte sich, wie schon so oft, die Meisterschaft des Apatschen.

Nach und nach ging die Ebene in eine wellenförmige Gegend über. Es gab Erhebungen und Senkungen, welche je länger desto bedeutender wurden. Nach zwei Stunden konnte man schon von Bergen reden. Das waren die südlichen Ausläufer der Sierra Madre.

Es ging immer in gerader Richtung fort, bergauf und bergab, doch gab es dabei keine Schwierigkeit, weil die Höhen weder sehr hoch noch auch sehr steil waren.


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Sie zeichneten sich durch den gänzlichen Mangel der Vegetation aus. Die dritte Stunde war vorüber; wir hatten eine Kuppe erreicht und konnten das vor uns liegende Thal und den jenseits sich erhebenden Berg überblicken. Da sahen wir die Meltons deutlich vor uns. Sie hatten das Thal bereits hinter sich und ritten drüben die Berglehne hinan. Um ihnen, ehe sie uns bemerkten, möglichst nahe zu kommen, jagten wir im schnellsten Tempo ins Thal hinab. Sie konnten den Hufschlag unserer Pferde nicht hören. Doch drehte sich, als wir noch nicht unten angekommen waren, der eine von ihnen um. Er sah uns, machte seinen Bruder auf uns aufmerksam, und nun trieben sie ihre Pferde mit einer Schnelligkeit den Berg empor, daß Winnetou lächelnd sagte:

»Das werden ihre Pferde nicht lange aushalten. Diese Menschen sind uns sicher.«

»Wie denkst du, daß wir uns ihrer bemächtigen?« fragte ich.

»Durch Drohung,« antwortete er. »Wir reiten ihnen so nahe, bis sie unsere Stimmen hören können, und gebieten ihnen, anzuhalten, abzusteigen und ihre Waffen abzulegen. Wenn sie nicht gehorchen, so müssen wir schießen. Wir werden sie nicht töten, sondern nur verwunden, denn wir wollen sie lebendig haben.«

»Wahrscheinlich werden sie, wenn sie uns nahe genug sehen, auch auf uns schießen wollen.«

»Dann werden wir schneller sein als sie und ihnen eine Kugel in den Arm geben.«

Er sprach so zuversichtlich, und doch sollte es anders kommen, als er dachte. Als wir auf der jenseitigen Höhe anlangten, sahen wir die Meltons unten im Thale. Sie trieben ihre Pferde zur größten Eile an und sahen sich von Zeit zu Zeit nach uns um. So ging es bergauf


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und bergab, und so oft wir eine Höhe erreichten, bemerkten wir, daß wir ihnen wieder näher gekommen waren. Ihre Pferde begannen zu ermüden, während die unserigen noch nichts davon merken ließen.

Als wir uns abermals auf einer Kuppe befanden, sahen wir zwei Höhenzüge vor uns liegen, welche sich vor unsern Augen lang gegen West erstreckten. Zwischen ihnen lag ein schmales, ebenes und schnurgerades Thal, dessen Sohle stellenweise ganz mit Steintrümmern bedeckt war. Das Ganze hatte das Aussehen, als ob ein Geschlecht von Giganten hier einen riesigen Graben, einen Kanal gebaut hätte, der nun ausgetrocknet war. Auf diesen Kanal jagten die Meltons zu, und wir folgten ihnen. Die Hetze konnte höchstens noch eine Viertelstunde dauern.

Da geschah etwas, was uns vor Grauen die Haare emporziehen wollte. Die beiden Brüder, welche wir von hinten und in der Entfernung nicht zu unterscheiden vermochten, galoppierten über eine Stelle, in welcher Geröll und größere Steintrümmer lagen. Da stolperte das Pferd des einen und stürzte, den Reiter unter sich begrabend. Der andere sah es, hielt an und sprang ab, um trotz der Gefahr, welche jedes Verweilen mit sich brachte, dem Bruder aufzuhelfen. Später sahen wir, daß der Gestürzte Thomas Melton war.

Sein Bruder Harry wollte das Pferd aufzerren, brachte es aber nicht empor, weil es den Vorderfuß gebrochen hatte. Es gelang ihm nur, es zur Seite zu ziehen, wodurch Thomas frei wurde; dieser sprang auf, und wir sahen an ihren heftigen Gestikulationen, in welcher ungeheuren Aufregung sie sich befanden. Es war nur ein Pferd da; nur einer konnte auf demselben weiter fliehen; der andere mußte in kürzester Zeit von uns eingeholt werden.


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»Zwei Reiter und ein Pferd! Wir haben sie sicher!« rief Winnetou.

Wir stürmten eng nebeneinander auf den Riesenkanal zu. Da geschah das Entsetzliche. Harry Melton, welchem das unverletzte Pferd gehörte, wollte es wieder besteigen; sein Bruder hinderte ihn daran; er wollte auch hinauf. Sie stritten sich um das Pferd, freilich nur wenige Augenblicke lang, denn das ganze, grausige Ereignis ging viel schneller vor sich, als man es zu erzählen vermag. Harry drängte seinen Bruder von sich ab und setzte den Fuß in den Steigbügel, um sich aufzuschwingen; da holte hinter ihm Thomas mit dem Gewehre aus und versetzte ihm einen solchen Kolbenhieb auf den Kopf, daß der Getroffene zu Boden stürzte. Wir sahen, daß der andere sich eine kurze Weile zu ihm niederbeugte, dann sich wieder aufrichtete, auf das Pferd sprang und fortgaloppierte. Was er im Niederbücken gethan hatte, konnten wir erst später sehen. Von dem Augenblicke an, in welchem das Pferd gestürzt war, bis zu demjenigen, in welchem Thomas Melton davonritt, waren nicht zwei Minuten vergangen, und in dieser kurzen Zeit war es uns nicht möglich gewesen, bis auf Schußweite heranzukommen.

Wir trieben unsere Pferde noch mehr an als bisher und kamen so bald an die Stelle, an welcher Harry Melton und das Pferd seines Bruders lagen. Letzteres schlug mit den drei gesunden Beinen um sich, gab sich alle Mühe, sich aufzurichten, fiel aber immer wieder nieder. Melton aber lag bewegungslos im Steingeröll.

Wir hielten an und stiegen ab. Er blutete aus einer tiefen Wunde in der linken oberen Brust.

»Brudermörder!« rief der Apatsche grimmig aus.

»Ja, ein Brudermörder!« stimmte ich bei, indem ein Grauen mir durch und über den ganzen Körper zitterte.


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»Reiten wir weiter, um ihn zu fangen?«

»Nein. Er bleibt uns gewiß. Wir haben es hier wahrscheinlich mit einem Sterbenden zu thun; da müssen wir bleiben. Vielleicht ist er auch noch zu retten.«

Winnetou widersprach nicht, obgleich er einen sehnsüchtigen Blick vorwärts warf, wo der davoneilende Mörder noch deutlich zu sehen war. Wir rissen dem Verwundeten, der außerdem von dem Kolbenhiebe betäubt war, den Rock herunter und die Weste auf. Das unter derselben liegende Hemd war ganz mit Blut getränkt. Wir mußten die Weste auch entfernen und den ganzen Oberkörper entkleiden. Das Blut floß reichlich, doch nicht so stark, daß eine sehr schnelle Verblutung zu befürchten war.

Der Mann holte Atem; daß das Blut nicht stoßweise mit jedem Atemzuge aus der Wunde floß, war ein beruhigendes Zeichen. Wir versuchten, letztere zu verbinden, und waren nicht ganz ohne Erfolg dabei. Leider hatten wir kein Wasser.

Nun saßen wir lange Zeit bei Harry Melton, um auf sein Erwachen zu warten. Es verging lange Zeit, ehe er die Augen öffnete. Er griff mit beiden Händen nach dem Kopfe und stierte uns ausdruckslos an. Dann schien ihm die Besinnung zu kommen; er erkannte uns, stieß einen Fluch aus und wollte aufspringen, sank aber gleich wieder nieder.

»Bleibt liegen, Master!« sagte ich. »Der Tod steckt Euch in der Brust, und je mehr Ihr Euch bewegt, desto schneller wird er mit Euch fertig.«

Er sah an sich herab, bemerkte das Blut, den notdürftigen Verband und fragte mit leiser, stockender Stimme:

»Blut - Blut - wo - woher?«


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»Aus Eurer Brust!«

»Von - von wem?«

»Der Messerstich ist von Eurem Bruder.«

»Von - von - von Thomas - von meinem Bruder!«

Er schloß die Augen, um den ungeheuerlichen Gedanken auszudenken; dann öffnete er sie wieder und ein wilder Grimm ging über sein noch immer diabolisch schönes Gesicht, als er zähneknirschend hervorstieß:

»Gott verdamme ihn, den Mörder, den Judas Ischariot! Er hat mich Euch ausgeliefert!«

»Das würde das Geringste noch sein. Wahrscheinlich hat er Euch nicht nur uns, sondern auch dem Tode ausgeliefert. Macht Eure Rechnung mit dem Leben!«

»Wo - ist er?«

»Fort, auf Eurem Pferde.«

»Ja, ja, jetzt weiß ich es. Sein Pferd stürzte, und ich stieg ab, ihm zu helfen. Er wollte dann auf dem meinigen fort; wir stritten uns, und ich stieg auf. Mehr weiß ich nicht.«

Er hatte das natürlich nicht hintereinander, sondern nur mit Unterbrechungen sagen können. Ich berichtigte ihn:

»Ihr seid nicht aufgestiegen; er hinderte Euch daran, indem er Euch mit dem Gewehrkolben niederschlug. Dann sahen wir, daß er sich auf Euch niederbückte; da hat er Euch das Messer in die Brust gestoßen.«

»Niederbückte?« fragte er und fügte dann schnell hinzu:

»Wo ist mein Rock?«

»Da liegt er.«

»Gebt her, gebt her!«

Ich gab ihm denselben hin, der auch blutig war.


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Er suchte mit zitternden Händen nach der Brusttasche. Es war nichts drin.

»Leer!« stöhnte er. »Leer! Er hat sie genommen!«

»Was?«

»Die Brieftasche mit dem Gelde! 0 der Judas, der Judas! Und ich bin sein Bruder!«

»Wem gehörte das Geld?«

»Mir, mir!«

»Aber es war gestohlenes, geraubtes?«

Er schwieg, und erst als ich meine Frage noch zweimal wiederholt hatte, antwortete er:

»Das geht euch den Teufel an, ihr, ihr -!«

Er sah sein Messer, welches wir ihm aus dem Gürtel gezogen hatten, neben sich liegen, griff nach demselben und zückte es gegen mich. Es bedurfte trotz seiner Verwundung keiner kleinen Anstrengung, es ihm aus der Hand zu winden.

»Gebt Euch keine Mühe, uns von Eurer Gesinnung zu überzeugen,« sagte ich ihm; »wir kennen sie, auch ohne daß Ihr Euch vergeblich mit dem Messer bemüht.«

Das kurze Ringen mit mir hatte ihn angestrengt; das Blut floß stärker aus der Wunde; er schloß die Augen. Während ich mich bemühte, die Blutung zu stillen, sprach er wie abwesend, langsam, in Pausen und mit leiser Stimme:

»Gefangen - ergriffen! Winnetou - Shatterhand, die Hunde! - Beraubt - erstochen - von Thomas - verdammter Judas - verdammter Ischariot! O Rache, Rache - Rache!«

Er schien sich in einem halbwachen Zustande zu befinden, was ich benutzte, um vielleicht etwas zu erfahren, indem ich sagte:


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»Er hat Euch Euern Anteil an Hunters Geld genommen, der Schurke!«

»Ja - Hunters Geld!« nickte er, ohne die Augen zu öffnen.

»Und er hatte doch ebensoviel!«

»Ja, gerade soviel!«

»Das übrige hat alles Jonathan!«

»Jonathan - - alles! Rache - - Rache!«

»Die wird ihm werden! Wir reiten ihm nach bis - -«

Ich wartete mit Spannung, was er sagen würde.

»Bis an den Flujo blanco - Whitefork -« hauchte er.

»Wo die Jüdin ihr Schloß hat?«

»Ihr Schloß - - ihr Pueblo.«

Dann riß er plötzlich die Augen auf, starrte mir ins Gesicht und schrie mich an:

»Wer bist du?«

»Ihr kennt mich doch!«

»Ja, ich - kenne Euch. Old Shatterhand - - Winnetou, die beiden Teufel - Teufel - Teufel! Was fragst du mich? Laßt mich in Ruh!«

»Ich denke, wir sollen Euch an Eurem Bruder rächen?«

»Rächen -! Ja - ja - ja! Jagt ihm nach - schießt ihn nieder -nehmt ihm das Geld, und bringt - -«

Dann ballte er plötzlich beide Fäuste und fuhr fort:

»Nein, nein - ich sage nichts, gar nichts! Mag Thomas kommen! Ihr seid - seid - Ihr erfahrt nichts - nichts - nichts von mir! Geht in die Hölle - Hölle - Hölle!«

Er sank hintenüber und war still. Das Blut floß


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reichlicher; da er sich aber nicht mehr bewegte, gelang es uns, es abermals zu stillen. Er fiel in Schlaf.

Winnetou war bisher still gewesen; er ließ sein Auge forschend auf dem Gesichte des Schlafenden ruhen und sagte dann:

»Er wird diesen Ort hier nicht wieder verlassen.«

»Dann wollen wir hoffen, daß er noch bereut, ehe er stirbt!«

»Möchte es bald zu Ende sein, damit wir aufbrechen können, um seinen Bruder zu verfolgen. Du hast Mitleid mit ihm?«

»Ja.«

»Er verdient es nicht. Er war schlimmer als ein Tier. Weit mehr Mitleid verdient das Pferd hier, welches nie gesündigt hat. Winnetou wird seinen Schmerzen ein Ende machen.«

Das Pferd mühte sich, vor Schmerz schnaubend, noch immer vergeblich ab, sich aufzurichten. Der Apatsche hielt ihm die Mündung seiner Silberbüchse an den Kopf, und gab ihm die erlösende Kugel. Als der Schuß krachte, fuhr Melton mit dem Oberkörper empor, blickte erschrocken und mit weitaufgerissenen Augen umher und fragte:

»Wer hat geschossen? Galt das dem - dem - -«

Ohne die Frage ganz auszusprechen, sank er wieder nieder und blieb nun stundenlang so liegen. Zuweilen flüsterte er etwas, was wir nicht verstehen konnten. Diese äußerliche Ruhe schien Schlaf zu sein, war es aber nicht. Seine Seele war wach; das sahen wir an den verschiedensten Ausdrücken, welche unaufhörlich über sein Gesicht glitten.

»Jetzt wissen wir genau, wo das >Schloß< der Jüdin liegt,« bemerkte ich zu Winnetou.


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»Ja, am Flujo blanco; er hat es verraten.«

»Kennt mein Bruder diesen Fluß?«

»Ich war nicht dort, aber in der Nähe und werde ihn sehr leicht finden. Er kommt von der Sierra Blanca herab und wird von den Yankees White-Fork genannt.«

Um die Mittagszeit kam Emery mit Vogel nach. Als der Abend angebrochen war, kam das Ende. Melton sprang mit einem Male auf, stieß den Namen seines Bruders mit Verwünschungen aus, welche man unmöglich niederschreiben kann, und fiel dann tot zu Boden. Sein Ende war schmerzloser, als er es verdient hatte; leider aber hatte für seine Seele nichts geschehen können. Am nächsten Morgen begruben wir ihn unter Steinen, die seinen Körper vor den Schnäbeln und Fängen der Geier schützten. Dann verließen wir den traurigen Ort. -


Kapitel 4


Einführung zu "Satan und Ischariot"


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