Jahrgg. 16, Nummer 3, Seite 44
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
Erstes Kapitel. Der Yerbatero.

Ein kalter Pampero strich über die meerbusenartige Mündung des La Plata herüber und bestrich die Straßen von Montevideo mit einem Gemisch von Sand, Staub und großen Regentropfen. Man konnte nicht auf der Straße verweilen, und darum saß ich in meinem Zimmer des Hotel Oriental und vertrieb mir die Zeit mit einem Buche, dessen Inhalt sich auf das Land bezog, welches ich kennenlernen wollte. Es war in spanischer Sprache geschrieben, und die Stelle, bei welcher ich mich jetzt befand, würde in deutscher Übersetzung ungefähr lauten:

»Die Bevölkerung von Uruguay und der argentinischen Länder besteht aus Nachkommen der Spanier, aus einigen nicht sehr zahlreichen Indianerstämmen und aus den Gauchos, welche zwar Mestizen sind, sich aber trotzdem als Weiße betrachten und sich stolz auf diesen Titel fühlen. Sie vermählen sich meist mit indianischen Frauen und tragen dadurch das Ihrige bei, die Bevölkerung des Landes wieder den Ureinwohnern zu nähern.

Der Gaucho hat in seinem Charakter die wilde Entschlossenheit und den unabhängigen Sinn der Ureinwohner und zeigt dabei den Anstand, den Stolz, die edle Freimütigkeit und das vornehme, gewandte Betragen des spanischen Kavallero. Seine Neigungen ziehen ihn zum Nomadenleben und zu abenteuerlichen Fahrten. Ein Feind jeden Zwanges, ein Verächter


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des Eigentumes, welches er als eine unnütze Last betrachtet, ist er ein Freund glänzender Kleinigkeiten, welche er sich mit großem Eifer verschafft, aber auch ohne Bedauern wieder verliert.

Er ist ferner ein kühner, todesmutiger Beschützer seiner Familie, welche er aber ebenso hart behandelt wie sich selbst; mißtrauisch, weil er unzählige Male betrogen worden ist, schlau aus Instinkt und Vorsicht, achtet er den Fremden, ohne ihn zu lieben, dient er dem Städter, ohne ihn zu achten, und hat niemals begreifen gelernt, wie man in seine Heimat kommen konnte, um die Herden auszubeuten, welche die seinigen geworden waren und von denen er nichts verlangte als den täglichen Lebensunterhalt, ohne sich um den vorhergehenden und den folgenden zu Tag kümmern.

Seit sich im Lande eine besitzende Klasse gebildet hat, ruht der Gaucho, welcher sich tapfer für die Befreiung von dem spanischen Joche schlug, vom Siege aus, hat niemals Belohnung verlangt und begnügt sich mit der bescheidenen Rolle, das Eigentum anderer zu schützen, wofür er nichts fordert, als daß man nie vergesse, daß er ein freier Mann sei und seine Dienst freiwillig leiste.

Die Bewaffnung des Gaucho bildet der Lasso, ein langer, lederner Riemen mit einer Schlinge, die Bolas und außerdem im Falle des Krieges eine Lanze.

Der Ruhm des Gaucho besteht in der Geschicklichkeit, mit welcher er den Lasso wirft. Ein mehr als dreißig Fuß langer Riemen ist mit dem einen Ende an dem Schenkel des Reiters befestigt; das andere läuft in eine bewegliche Schlinge aus. Diese Schlinge wird um den Kopf geschlungen und nach dem fliehenden Tiere geworfen. Trifft sie den Hals oder die Füße, so wird sie durch den Widerstand des Tieres zugezogen. Die Aufgabe des Pferdes ist es nun, die Erschütterung des Riemens auszuhalten, bald nachzugeben, bald Widerstand zu leisten. Der Reiter versucht indes, das Tier nach einem Orte zu ziehen, wo er es niederwerfen kann. Diese Art des Schlingenwerfens, welche man laceara muerte nennt, ist sehr gefährlich und erfordert große Übung. Man hat viele Beispiele, daß durch die Verwickelung des Riemens dem Reiter die Beine zerbrochen worden sind. Der Lasso hängt beständig am Sattel des Gaucho. Widerspenstige Pferde, Ochsen, Hammel, alles wird mit der Schlinge gebändigt oder gefangen.

Die Bolas sind drei an Riemen zusammenhängende Bleikugeln. Zwei werden um den Kopf geschlungen, die dritte aber festgehalten, bis man sicher ist, das Tier mit dem Wurfe zu erreichen. Die Kugeln schlingen sich dann um die Beine desselben und bringen es zu Fall.

Die Hauptleidenschaft des Gauchos ist das Spiel; die Karten gehen ihm über alles. Auf den Fersen hockend, das Messer neben sich in die Erde gesteckt, um einen unehrlichen Gegner sofort mit einem Stich ins Herz bestrafen zu können, wirft er das Kostbarste, was er besitzt, in das Gras und wagt es kaltblütig.

In der Estanzia arbeitet der Gaucho nur, wenn es ihm gefällig ist, gibt seinem Dienstverhältnisse ein Gepräge von Unabhängigkeit und würde es niemals dulden, daß sein Herr so unhöflich wäre, in ihm nicht die Eigenschaft eines Kavallero anzuerkennen, deren er sich durch seine Bescheidenheit, sein anständiges, ja nobles Betragen und seine ruhige, Achtung einflößende Haltung würdig macht.

Wenn es ihm einmal nicht gefällig ist, die vom Herrn verlangte Arbeit zu verrichten, so sagt er, daß er nur zu der oder der Stunde unter den oder den Umständen an das Werk gehen könne. Wenn dann der Herr einige Unzufriedenheit zeigt, so verlangt der Gaucho, ohne aber grob zu werden, seinen Lohn, setzt sich auf sein Pferd und sucht sich eine andere Estanzia, deren Besitzer minder gebieterisch ist. Obgleich er die Bequemlichkeit liebt, findet er stets Arbeit, weil er verständig ist und die Pflege des Viehes, welches den Hauptreichtum jener Gegenden bildet, ganz vorzüglich versteht.

So ist der Gaucho, welchen man nicht mit den zwar kühnen, aber gewissenlosen Abenteurern verwechseln darf, welche Frauen, Mädchen, Pferde, kurz, alles entführen und stehlen, was ihnen gefällt, und unbesorgt in die Zukunft hinein leben.« - - -


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So stand geschrieben, was ich las. Ich war am Vormittag in Montevideo angekommen und kannte also das Land und seine Bewohner nicht im mindesten. Dennoch wagte ich, einigen Zweifel gegen die Wahrheit des Gelesenen zu hegen.

Zunächst besteht die Bevölkerung, von welcher die Rede war, nicht nur aus Gauchos, Indianern und Nachkommen der Spanier. Es sind auch Engländer, Deutsche, Franzosen und Italiener zu Tausenden, ja Zehntausenden vorhanden, die Schweizer, Illyrier und viele andere gar nicht gerechnet.

Mit der Art und Weise, in welcher der Gaucho den Lasso gebrauchen sollte, war ich gar nicht einverstanden. Welcher Reiter, der zum Beispiel einen halb wilden Stier einfangen will, wird den Lasso sich am Schenkel befestigen! Der Stier würde ihn unbedingt vom Sattel reißen und zu Tode schleppen.

Ich war bei erster Gelegenheit so frei, mich nach dem Verfasser dieser Auslassung zu erkundigen. Er hieß Adolphe Delacour und war Redakteur des Patriote Francais zu Montevideo gewesen. Nun, dieser Herr mußte die Verhältnisse besser kennen als ich. Ich mußte mich begnügen, abzuwarten, ob ich seine Ansichten bestätigt finden werde, was aber glücklicher Weise nicht der Fall war.

Übrigens war es nicht nötig, mich länger mit der Lektüre zu beschäftigen. Der Pampaswind hatte nachgelassen, und auf den Straßen entwickelte sich das rege Leben einer bedeutenden Hafenstadt von neuem. Ich wollte mir dasselbe betrachten und zu diesem Zwecke einen Ausgang machen.

Eben setzte ich den Hut auf, als es an meine Türe klopfte. Ich rief herein, und zu meinem großen Erstaunen trat ein fein nach französischer Mode gekleideter Herr ein. Er trug eine schwarze Hose, eben solchen Frack, weiße Weste, weißes Halstuch, Lackstiefel und hielt einen schwarzen Zylinderhut in der Hand. um welchen ein weißseidenes Band geschlungen war. Dieses Band, von welchem zwei breite Schleifen herabhingen, brachte mich unerfahrenen Menschen auf die famose Idee, einen Kindtaufs- oder Hochzeitsbitter vor mir zu haben. Er machte mir eine tiefe, ja ehrbietige Verneigung und grüßte:

»Ich mache Ihnen meine Verbeugung, Herr Oberst!«

Er wiederholte seinen tiefen Bückling noch zweimal in demonstrativ hochachtungsvoller Weise. Wozu dieser militärische Titel? Hatte man hier in Uruguay vielleicht dieselbe Gepflogenheit wie im lieben Österreich, wo die Kellner jeden dicken Gast »Herr Baron«, jeden Brillentragenden »Herr Professor« und jeden Inhaber eines kräftigen Schnurrbartes »Herr Major« nennen? Der Mann hatte so ein eigenartiges Gesicht. Er gefiel mir nicht. Darum antwortete ich kurz:

»Danke! Was wollen Sie?«

Er schwenkte den Hut zweimal hin und her und erklärte:

»Ich komme, mich Ihnen mit allem, was ich bin und habe zur geneigten Verfügung zu stellen.«

Dabei richtete sich sein Auge von seitwärts mit einem scharf forschenden Blick auf mich. Er hatte keine ehrlichen Augen. Darum fragte ich:

»Mit allem, was Sie sind und haben? So sagen Sie mir zunächst gefälligst, wer und was Sie sind.«

»Ich bin Sennor Esquilo Anibal Andaro, Besitzer einer bedeutenden Estanzia bei San Fructuoso. Euer Gnaden werden von mir gehört haben.«

Es kommt zuweilen vor, daß der Name eines Menschen bezeichnend für den Charakter desselben ist. Ins Deutsche übersetzt, lautete derjenige meines Besuchers Äschylus Hannibal Schleicher. Das war gar nicht empfehlend.

»Ich muß gestehen, daß ich noch nie von Ihnen gehört habe,« bemerkte ich. »Da Sie mir gesagt haben, wer und was Sie sind, darf ich wohl auch erfahren, was Sie haben, das heißt natürlich, was Sie besitzen?«

»Ich besitze erstens Geld und zweitens Einfluß.«

Er machte vor den beiden Worten, um sie besser ins Gehör zu bringen, eine Pause und sprach sie mit scharfer Betonung aus. Dann sah er mich mit einem pfiffigen, erwartungsvollen Augenblinzeln von der Seite an. Seine Gesicht war jetzt ganz dasjenige eines dummlistigen, dreisten Menschen.

»Das sind allerdings zwei recht schöne, brauchbare Sachen, Geld und Einfluß. Sind Sie zu dem Zwecke gekommen, mir beides zur Verfügung zu stellen?«


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»Ich würde mich glücklich fühlen, wenn Sie die Gewogenheit haben wollten, diese meine Absicht nicht zurückzuweisen!«

Das war überraschend. Dieser Mann stellte mir seine gesellschaftlichen Verbindungen und auch seinen Geldbeutel zur Verfügung! Aus welchem Grunde? Um das zu erfahren, sagte ich:

»Gut, Sennor, ich nehme beides an, vor allen Dingen das letztere.«

»Also zunächst Kapital! Wollen Euer Hochwohlgeboren mir sagen, wie stark die Summe ist, deren Sie bedürfen?«

»Ich brauche augenblicklich fünftausend Pesos Fuertos.«

Er zog sein Gesicht befriedigt in die Breite und sagte:

»Eine Kleinigkeit! Euer Gnaden können das Geld binnen einer halben Stunde haben, wenn wir die kleinen Bedingungen einig werden, welche zu machen mir wohl erlaubt sein wird.«

»Nennen Sie dieselben!«

Er trat nahe an mich heran, nickte mir sehr vertraulich zu und sagte:

»Darf ich vorher fragen, ob dieses Geld privaten oder offiziellen Zwecken dienen soll?«

»Nur privaten natürlich.«

»So bin ich bereit, die Summe nicht etwa herzuleihen, sondern sie Euer Hochwohlgeboren, falls Sie es mir gestatten, dies tun zu dürfen, als einen Beweis meiner Achtung schenkweise auszuzahlen.«

»Dagegen habe ich nicht das mindeste.«

»Freut mich außerordentlich. Nur möchte ich Sie in diesem Fall ersuchen, Ihren Namen unter zwei oder drei Zeilen zu setzen, welche ich augenblicklich entwerfen werde.«

»Welchen Inhaltes sollen diese Zeilen sein?«

»O, es wird sich nur um eine Kleinigkeit, um eine wirkliche Geringfügigkeit handeln. Euer Hochwohlgeboren werden mir durch diese Namensunterschrift bestätigen, daß ich, Esquilo Anibal Andaro, Ihr Korps bis zu einer angegebenen Zeit und zu einem ganz bestimmten Preise mit Gewehren versehen habe. Ich bin in der glücklichen Lage, mich in einigen Tagen im Besitze einer hinreichenden Anzahl von Spencer-Gewehren zu befinden.«

Jetzt war es mir klar, daß dieser Sennor Schleicher mich mit einem Offizier verwechselte, dem ich vielleicht ein wenig ähnlich sah. Wahrscheinlich hatte er die löbliche Absicht, den Betreffenden durch das Geschenk von fünftausend Pesos zu bestechen, auf den Gewehrhandel einzugehen. Beim Schlusse des nordamerikanischen Bürgerkrieges waren circa zwanzig Tausend Spencer-Gewehre in Gebrauch gewesen. Man konnte den Yankees recht gut zutrauen, daß sie einen Teil dieser Waffen nach den La Platastaaten, wo dergleichen damals gebraucht wurden, verkauft hatten. Bei diesem Handel konnte der Sennor das Zehnfache des Geschenkes, welches er mir anbot, herausschlagen.

Er hatte mich Oberst genannt. Wie kam ein Oberst dazu, über den Kriegsminister hinweg den Ankauf von Gewehren zu bestimmen? Wollte der Betreffende etwa als Libertador auftreten? Mit diesem Worte, zu deutsch Befreier, bezeichnet man am La Plata die Bandenführer, welche sich gegen das herrschende Regiment auflehnen. Dergleichen Leute hat die Geschichte jener südamerikanischen Gegenden sehr viele zu verzeichnen.

Die Sache war mir sehr interessant. Kaum hatte ich den Fuß auf das Land gesetzt, so bekam ich auch schon Gelegenheit, einen Blick in die intimsten Verhältnisse desselben zu tun. Ich hatte große Lust, die Rolle meines Doppelgängers noch ein wenig weiter zu spielen, doch besann ich mich eines bessern. Natürlich hatte ich, bevor ich nach hier kam, mich über die hiesigen Verhältnisse möglichst unterrichtet, und so wußte ich, daß es für mich sehr gefährlich werden könne, meinen Besuch in seinem Irrtume zu belassen, nur um mich über Verhältnisse zu unterrichten, welche mir unbekannt bleiben mußten. Darum sagte ich zu ihm:

»Eine solche Schrift kann ich leider nicht unterzeichnen. Ich wüßte nicht, was ich mit diesen Gewehren machen sollte, da ich nicht die geringste Verwendung für dieselben habe.«

»Nicht?« fragte er erstaunt. »Euer Hochwohlgeboren können in Zeit von einer Woche über tausend Mann beisammen haben!«


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»Zu welchem Zwecke?«

Er trat um zwei Schritte zurück, kniff das eine Auge zu, lächelte listig, als ob er sagen wolle: Na, spiele doch mit mir nicht Komödie; ich weiß ja genau, woran ich mit dir bin! und fragte:

»Soll ich das Euer Gnaden wirklich erst sagen? Ich habe gehört, daß Sie nach Montevideo kommen würden, und nun, da Sie sich hier befinden, kenne ich ganz genau den Zweck Ihrer Anwesenheit. Es gibt ja nur diesen einen Zweck.«

»Sie irren sich, Sennor. Mir scheint, Sie halten mich für einen ganz andern Mann, als ich bin.«

»Unmöglich! Sie hüllen sich in diesen Schleier, weil meine Forderung bezüglich der Gewehre Ihnen vielleicht nicht genehm ist. So bin ich gern bereit, Ihnen andere Vorschläge zu machen.«

»Auch diese würden nicht zu ihrem Ziele führen, denn sie verwechseln mich wirklich mit einer Person, mit welcher ich einige Ähnlichkeit zu besitzen scheine.«

Das machte ihn aber nicht irre. Er behielt seine zuversichtliche Miene, zu welcher sich noch ein beinahe überlegenes Lächeln gesellte, bei und sagte:

»Wie ich aus Ihren Worten schließe, befinden Sie sich jetzt überhaupt nicht in der Stimmung, über diese oder eine ähnliche Angelegenheit zu sprechen. Warten wir also eine geeignete Stunde ab, Sennor. Ich werde mir erlauben, wieder vorzusprechen.«

»Ihr Besuch würde das gegenwärtige Resultat haben. Ich bin nicht derjenige, für den Sie mich halten.«

Er wurde ernster.

(Fortsetzung folgt.)
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