Jahrgg. 16, Nummer 23, Seite 360
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
20. Fortsetzung

Die ganze Bande schrie so laut sie konnte. Der Major kommandierte; die Leute trieben ihre Pferde ins Wasser. Später erzählte mir der Yerbatero, daß in diesem Augenblicke auch sein Wächter nach dem Ufer geeilt sei, um zu sehen, wie die Jagd ausfallen werde. Monteso benutzte das. Als ich ihm das Messer hinschleuderte, hatte niemand darauf geachtet, denn die Aufmerksamkeit war dadurch abgelenkt worden, daß ich mit dem Major in den Fluß sprang. Monteso hatte sich sofort niedergesetzt, dann, als der einzige Wächter ihn verließ, machte er sich an das Werk. Da ihm die Hände nicht vorn, sondern auf dem Rücken zusammengebunden waren, war es sehr schwer, die Riemen mit dem Messer zu zerschneiden. Er kam auf einen guten


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Einfall. Er legte sich auf den Rücken und hob das Messer auf. Dann ging er zum nächsten Busch, welcher mehrere nicht zu starke Äste hatte. Durch einen derselben stieß er das Messer, dessen Klinge so fest stecken blieb, daß er den Riemen an ihr aufscheuern konnte. Als er die Hände frei hatte, zog er das Messer wieder heraus und eilte zu seinem noch dastehenden Pferde, welches neben demjenigen des Wächters hielt. Aber eben, als er in den Sattel stieg, wurde er bemerkt. Noch waren nicht alle Reiter im Flusse, da es für fünfzig Mann nicht Platz genug gab, zugleich hinein zu gehen. Diejenigen, welche sich noch am Ufer befanden, jagten dem davongaloppierenden Yerbatero nach.

Der Major konnte sich nicht sofort entscheiden, welche Richtung er einschlagen solle. Sollte er es machen wie der Wächter, welcher auch auf sein Pferd sprang, um sich der Verfolgung Montesos anzuschließen? Oder sollte er denen nachreiten, welche es auf mich abgesehen? Er zauderte. Und in solcher Lage hat eine einzige Minute Versäumnis viel zu bedeuten. Die Wiedererlangung meiner Person mochte ihm doch wichtiger erscheinen, als das Ergreifen des Yerbatero. Er trieb sein Pferd, das heißt mein Pferd, in das Wasser, als seine Leute alle das andere Ufer bereits erreicht hatten und dort verschwunden waren. Wo aber befand ich mich? Nun, ganz in der Nähe! Sobald ich sah, daß man mich erblickt hatte, rannte ich am Ufer entlang aufwärts. Die Stelle, an welcher ich aus dem Wasser gekommen war, lag ein wenig weiter abwärts, als diejenige, an welcher jenseits die Bolaleute auf mich warteten. Ich wollte und mußte sie irre leiten. Indem ich aufwärts rannte, wollte ich ihnen die Meinung beibringen, daß ich in dieser Richtung meine Flucht fortsetzen werde, was mir aber gar nicht einfiel, denn sonst wäre ich gewiß sehr bald ergriffen worden. Ich konnte nur dann entkommen, wenn es mir gelang, sie irre zu führen.

Am Ufer gab es viel Gebüsch. Sollte ich mich durch dasselbe decken oder nicht? Ließ ich mich nicht sehen, so sahen sie nicht, wohin ich lief, und ich konnte sie nicht irre leiten. Ließ ich mich aber sehen, so gab ich ihnen ein Ziel für ihre Kugeln und Bolas. Ich mußte indessen das letztere riskieren, wenn ich überhaupt entkommen wollte. Doch, ich hatte Glück. Einige Schüsse wurden abgegeben, welche neben hergingen; einige Bolas kamen geflogen, doch trafen sie nicht, sondern wickelten sich um die Zweige und Äste, welche in der Richtung lagen. So rannte ich eine Strecke von vielleicht dreihundert Schritten aufwärts. So lange ließ ich mich sehen. Dann tat ich, als ob ich mich nach dem freien Camp wende, bis wohin man nicht sehen konnte, duckte mich aber wieder und kroch unter den Büschen bis an den Rand des Wassers zurück. Ich sah unten den letzten Reiter aus dem Wasser kommen. Hinter mir, draußen vor den Büschen, welche wie ein schmales, grünes Band das Ufer säumten, hörte ich die ersten vorüberjagen. Man vermutete mich schon viel weiter oben. Der Major hielt


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noch unten jenseits des Flusses. Er sah den Verfolgern des Yerbatero nach. Ach, wenn ich ihn fassen und mein Pferd bekommen könnte! Dieser Gedanke elektrisierte mich. Ich ließ mich sofort in das Wasser, tauchte unter und schwamm nach jenseits. Zweimal mußte ich Atem schöpfen, nahm mir aber dabei keine Zeit, abwärts zu blicken. Erst als ich an das Ufer stieß, sah ich hin, wo er sich befand. Er trieb soeben das Pferd in das Wasser. Das paßte ja vortrefflich! Ich tauchte wieder unter und schwamm abwärts. Das ging sehr rasch, denn das Wasser hatte hier ein starkes Gefälle, und ich stieß aus Leibeskräften aus. Als ich wieder empor kam, um Atem zu holen, hatte er zwei Drittel seines Weges, ich aber noch mehr des meinigen zurückgelegt. Ich befand mich beinahe hinter ihm. Nun fiel es mir gar nicht ein, wieder zu tauchen. Ich schwamm ihm mit aller Kraft nach. Er sah sich nicht um. Hätte er mit dem Kopf nur eine halbe Wendung gemacht, so wäre sein Blick ganz gewiß auf mich gefallen.

Ich schwamm schneller als das Pferd und kam ihm näher und näher. Jetzt trafen die Hufe auf Grund; ich aber hatte das Pferd mit der Linken beim Schwanze; in der Rechten hielt ich das Messer. Seine einzige Waffe war der Säbel. Er hatte zwar zwei funkelnde Pistolen im Gürtel stecken, aber die Dinger sahen so hübsch aus, daß sie keine Furcht zu erregen vermochten. Nun hatte der Reiter das Ufer erreicht. Er wollte das Pferd weiter treiben, ich aber zog am Schwanze. In Folge dessen schlug es aus.

»Sennor Cadera!« sagte ich.

Er fuhr erschrocken herum, als er den Namen hörte, den er selbst mir vorhin genannt hatte. Sein Schreck verzehnfachte sich aber, als er mich erblickte, noch mehr triefend als er.

»Mein Gott!« rief er aus. »Sie sind es, Sie!«

»Schreien Sie nicht so sehr, Sennor, sonst zwingen Sie mich, Sie mit diesem Messer still zu machen! Kommen Sie vom Pferde herab!«

»Das sollte mir einfallen! Ich habe Sie ja fest, und wenn Sie Ihr Messer nicht sofort wegtun, schieße ich Sie nieder!«

Er gab dem Pferde die Sporen, um es halb zu wenden und mich als besseres Ziel zu haben. Der Braune aber war, seit ich ihn besaß, eine solche Behandlung nicht gewöhnt; er bäumte sich, und ich bekam den Reiter griffgerecht. Ich nahm ihn beim Gürtel, riß ihn aus dem Sattel und schleuderte ihn zu Boden. Da ich aber zugleich das Pferd am Zügel fassen mußte, damit es nicht fort könne, kam er schnell wieder auf und faßte mich an der Brust. Das Pferd schlug vorn und hinten aus. Ich durfte den Zügel nicht fahren lassen. Darum nahm ich mich zusammen und gab dem Manne mit der freien Hand einen Hieb an die Schläfe, daß er niederbrach. Dann band ich das Pferd leicht an einen Strauch, zog dem Major den Säbel aus der Scheide und trat ihn entzwei. Die eine Pistole war ihm entfallen. Ich nahm ihm auch die zweite aus dem Gürtel und warf sie eine Strecke fort. Dann band ich das Pferd wieder los und stieg in den Sattel. Eine schnelle Untersuchung der Satteltaschen belehrte mich, daß der Inhalt derselben noch beisammen sei. Jetzt hatte ich alles wieder, das Pferd und mein ganzes Eigentum. Diese Bolamänner sollten nichts bekommen, weder mich, noch meine Sachen! Der Hieb, welchen ich dem Major versetzt hatte, war nicht allzukräftig gewesen, weil ich keinen Raum gehabt hatte, weit auszuholen. Der nur leicht Betäubte schlug die Augen auf, besann sich schnell und sprang empor.

»Halt, Sennor!« gebot er. »Sie bleiben! Tut Ihr Pferd einen Schritt, so -«

Er sprach nicht weiter, denn er fand seine Pistolen nicht, und als er nach dem Säbel griff, fehlte die Klinge. Er sah die beiden Stücke derselben am Boden hegen.

»So - so? Was denn?« fragte ich lachend, indem ich mit der einen Hand die Wasserschnalle des Stiefels aufzog und den Revolver herausnahm.

»So - so -! Sie haben mich um meine Waffen gebracht!«

»Allerdings! Und nun sage ich Ihnen, leise können Sie sprechen; reden Sie aber noch ein einziges lautes Wort, so jage ich Ihnen eine von diesen sechs Kugeln in den Kopf!«


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»Das werden Sie nicht tun! Ich war ja auch freundlich mit Ihnen!«

»Dennoch wollten Sie mich, den Unschuldigen, füsilieren lassen!«

»Ich konnte nicht anders; ich hatte den Befehl dazu.«

»Von wem?«

»Das darf ich nicht sagen.«

»Und wenn ich Sie mit diesem Revolver zwinge, offenherzig zu sein?«

»Erschießen Sie mich! Ich bin in Ihrer Hand; aber zum Sprechen zwingen Sie mich doch nicht!«

»Gut, das achte ich. Es ist mir auch ganz gleichgültig, wer mir an den Kragen wollte; ich habe den Kragen noch.«

»Ich aber nicht! Sie haben mir die Uniform zerrissen.«

»Um zu meinem Eigentume zu kommen. Ich sagte Ihnen ja, daß ich die Uhr und das Geld zu meiner Reise brauche. Sie aber wollten es nicht glauben.«

»Meinten Sie wirklich die Weiterreise, nicht den Tod?«

»Natürlich!«

Er sah mich ganz fassungslos an.

»Diabolo! So hatten Sie bereits den Entschluß, zu fliehen?«

»Ja.«

»Dann sind Sie ein Kerl, ein Kerl - Sennor, ich hatte über fünfzig Mann bei mir!«

»Die haben mich nicht halten können! Ja, wenn Ihnen wieder einmal ein Deutscher begegnet, so denken Sie, daß er mehr wiegt, als zwanzig Ihrer Guardareiter.«

»Sennor, Sie sind ein Teufel!«

»Aber ein sehr nasser. Übrigens habe ich keine Veranlassung, Ihnen diesen Glauben zu nehmen. Stecken Sie Ihren Haudegen in die Scheide, und suchen Sie nach Ihren Pistolen! Ich habe sie über den Rand des Ufers hinauf geworfen, wo Sie sie finden werden.«

»Wohin reiten Sie?«

»Warum fragen Sie? Wollen Sie mich nochmals fangen?«

Er war natürlich voller Ärger, biß die Zähne zusammen, blickte vor sich nieder und stieß dann trotzig hervor:

»Jetzt sind Sie mir entgangen, und ich bin durch Sie blamiert. Hüten Sie sich, mir abermals zu begegnen! Ich würde Rache an Ihnen nehmen!«

»Das mögen Sie, Herr Major!«

Ich lenkte den Braunen in das Wasser und ließ ihn zum andern Ufer schwimmen. Dort angekommen, sah ich zurück. Der Major kroch im Grase herum und suchte nach seinen Pistolen. Zu meiner Freude bemerkte ich, daß der Yerbatero verschwunden war. Ich glaubte, daß er entkommen sei. Als ich den Platz sorgfältig überblickte, sah ich an einem Busche einen zerschnittenen Riemen liegen. Aus den zwei Schlingen, welche er gebildet hatte, war zu erkennen, daß er als Fessel gebraucht worden war. Es war gewiß, Monteso hatte die Flucht ergriffen. Natürlich war er nach der Estanzia del Yerbatero; ich mußte auch dorthin und schlug denselben Weg ein, welchen wir gekommen waren. Bald aber bemerkte ich Spuren vieler Pferde. Ich stieg ab und untersuchte diese Fährte. Leider kam ich sehr bald zu dem Resultate, daß der Yerbatero verfolgt worden sei, und zwar von acht bis zehn Reitern. Es war möglich, daß diese auf demselben Wege zurückkamen. Unter gewöhnlichen Verhältnissen fürchtete ich mich vor einer so kleinen Anzahl von Leuten nicht, zumal ich ein ausgezeichnetes Pferd ritt; aber ich hatte mich vor den Bolas in acht zu nehmen, gegen welche es keine Abwehr gibt. Einer Lassoschlinge kann man entgehen, indem man das Gewehr waagerecht emporhält, so daß sich die Schlinge nicht über den Kopf herabsenken kann oder indem man das Messer bereit hält, um den Riemen, sobald er trifft, zu zerschneiden. Wie aber entgeht man der Bola? Sie wird nach den Hinterfüßen des Pferdes geworfen und schlingt sich um dieselben; das Tier stürzt, der Reiter natürlich mit, und ehe er sich aufrafft, sind die Feinde über ihm. Oder er selbst wird von den drei fürchterlichen Kugelriemen umschlungen, die ihn für so lange wehrlos machen, daß der Feind Zeit bekommt, ihn zu fassen.


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Also nur die Bola war es, die ich fürchtete, und bald sollte mir Veranlassung werden, dieser Furcht Raum zu geben.

Um den etwa Zurückkehrenden auszuweichen, wollte ich mich weiter südwärts halten. Leider aber war das nicht möglich, wegen des bereits erwähnten Sumpflandes, in welches ich mich nicht tiefer wagen durfte, da ich es nicht kannte.

Nach Norden wollte ich nicht, denn da oben befanden sich die Kavalleristen. Sie waren zwar noch jenseits des Flusses, aber sobald es dem Major gelang, sie von dem Gelingen meiner Flucht zu unterrichten, kamen sie sofort herüber; das war gewiß. Aus diesen beiden Gründen sah ich mich gezwungen, doch auf dem Wege zu bleiben, welchen ich so gern vermeiden wollte, und ritt nach der Höhe empor, von welcher wir herabgekommen waren. Das Wasser tropfte noch immer von mir. In den Stiefeln hatte ich keine Feuchtigkeit; aber die andern Kleidungsstücke waren eingeweicht. Ich zog den Brustfetzen des Frackes aus dem Gürtel und nahm die Uhr und die Brieftasche heraus. Ich sah zu meiner Genugtuung, daß das Wasser beiden keinen Schaden getan hatte. Den Fetzen warf ich fort; Geld und Uhr steckte ich in den trockenen Stiefel.

Während dieser Untersuchung hatte ich die Höhe fast erreicht und schnallte oben den Stiefel wieder zu, damit kein Wasser von oben in denselben herab sickern könne, als zwischen den Felsstücken, welche, wie bereits erwähnt, auf dem Berge lagen, ein Reitertrupp erschien. Ich hielt an und sah scharf hin. Es waren die Kavalleristen. Sie hatten den Yerbatero in der Mitte. Auch sie hielten an. Es gab im ganzen Lande keinen Menschen, welcher einen Anzug trug wie ich, so erkannten sie mich denn. Sie erhoben ein Triumphgeschrei und sprengten auf mich ein. Ich sah, wie sie die Bolas lösten und um die Köpfe schwangen. Nun, da hatte ich ja gleich Gelegenheit, diese gefürchtete Waffe kennen zu lernen. Ich riß mein Pferd herum und jagte davon, nach Norden zu, denn zurück zum Flusse konnte ich nicht. So lange ich es nur mit dieser kleinen Truppe zu tun hatte, war die Sache nicht gefährlich, denn ihre Pferde konnten meinen Braunen nicht einholen, und es war also ein leichtes, sie so weit hinter mir zu lassen, daß die Bolas mich nicht zu erreichen vermochten.

Wohl siebenhundert Schritte war ich ihnen voraus. Sie schrieen und heulten wie die Wilden. Zurückblickend, gewahrte ich, daß sie mir nicht direkt folgten; sie hielten sich vielmehr auf der Höhe, um mich talabwärts nach dem Flusse zu drängen und in dieser Weise ihren Kameraden in die Hände zu treiben.

Das war für mich gefährlich, zumal ich sah. daß das Terrain sich mir nicht günstig zeigte. Während sie auf dem geraden, glatten Bergesrücken ritten, hatte ich einige weite Halden zu umbiegen, was mich gegen sie außerordentlich zurückhielt. Mein Pferd schien zu ahnen, daß es seine Schnelligkeit zu zeigen habe und griff so wacker aus, daß ich überzeugt war, ihnen zu entgehen.

Aber diese Überzeugung währte nicht lange. Ein schrilles Freudengeheul ließ mich ahnen, daß irgend etwas für die Kavalleristen Vorteilhaftes geschehen sei. Ich sah mich um. - Wahrhaftig! Da unten zur linken Hand kamen Reiter aus dem Saumgebüsch des Flusses. Der Major hatte seine Leute gefunden und ihnen befohlen, über den Fluß zu gehen. Sie sahen mich; sie sahen ihre Kameraden und antworteten ihnen mit einem ebenso lauten wie triumphierenden Jauchzen. Jetzt befand ich mich nun freilich in der Lage, welche der Deutsche in sehr bezeichnender Weise eine »Klemme« nennt. Hinter mir den Sumpf, links den Fluß mit vierzig und rechts die Höhe mit zehn Bolamännern. Und dabei befanden sich die ersteren mir nicht etwa parallel, sondern sie waren mir vor. Sie hatten den Fluß nicht unten in der Gegend des Lagerplatzes, sondern eine tüchtige Strecke weiter oben durchschwommen. Das schlimmste war, daß sie nun nach rechts hielten, während ihre Kameraden ihre Richtung nach links herab nahmen. Die Linien dieser beiden Richtungen bildeten einen spitzen Winkel, und wo sie zusammen trafen, lag der Rancho, welchen ich gesehen hatte, als wir bei unserer Ankunft über die Höhe geritten waren.

Es gab eine Rettung für mich, und diese lag vorn, vor mir; zurück durfte und konnte ich nicht. Gelang es mir, den


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Rancho zuerst zu erreichen, so durfte ich hoffen, zu entkommen. Nicht etwa, daß ich erwartet hätte, in dem Rancho selbst Rettung zu finden, nein; dort wäre ich eingeschlossen worden, wodurch meine Lage nicht verbessert gewesen wäre. Aber es war zu berechnen, daß die Trupps dort zusammentreffen würden. Kam ich ihnen vor, so konnte ich nicht von ihnen umgangen, nicht mehr zwischen sie genommen werden. Darum war die höchste Eile geboten. Unten und oben raste die wilde Jagd vorwärts. Die Kerle wirbelten die Bolas um ihre Köpfe und heulten wie die Indianer. Sie waren überzeugt, daß ich ihnen nicht entgehen könne. Hätte ich mein Doppelgewehr bei mir gehabt, so wäre mir gewiß nicht leicht so ein Kerl so nahe gekommen, daß er mich mit der Bola zu erreichen vermochte; aber was nützten mir die armseligen Revolver!

Ich erhob mich in den Bügeln, um mich leichter zu machen. Ich klopfte und streichelte den Hals des Pferdes. Es verstand mich. Auch war es durch das Geheul aufgeregt worden und strengte alle seine Kräfte an. Ich gewann an Raum, langsam zwar, aber sicher. Die andern merkten das. Sie schrien und schlugen auf ihre Pferde ein, vergeblich! Ich berechnete das Terrain, benutzte auch den kleinsten Vorteil, um einen Schritt, einen Zoll des Weges zu sparen, und das hatte Erfolg. Die beiden Trupps näherten sich mir mehr und mehr, aber ich kam doch vor und weiter vor. Schon waren die zehn zurück und die vierzig parallel, die doch vorher so weit vor gewesen waren. Ich jubelte, aber nicht laut, sondern im stillen. Der Rancho kam näher; es war, als ob er auf mich zugeschoben werde. Aber die zur linken Hand waren mir jetzt so nahe, daß ich fast die Gesichter unterscheiden konnte. Sie versuchten ihr Heil mit den Wurfkugeln. Vier, fünf, sechs und noch mehr Bolas flogen auf mich zu, doch keine erreichte mich. Und nun war ich ihnen so voran, daß ein Einholen nicht mehr möglich zu sein schien. Ich war gerettet, oder vielmehr, ich glaubte, gerettet zu sein.

Der Rancho war nicht groß. Sein weißes Mauerwerk leuchtete weithin, und schattige Bäume überwölbten sein Dach. Eine dicke, ziemlich hohe Mauer umgab ihn; aber über diese Mauer ragten noch die Spitzen undurchdringlicher Kaktushecken hervor. In der Mauer gab es ein breites Tor. Es war geöffnet worden. Zwei Männer und einige Frauengestalten standen vor demselben. Sie hatten von weitem das Wettrennen, die Menschenjagd, bemerkt und waren herausgekommen, zu sehen, um was es sich handle. Der eine der beiden Männer war wie ein Geistlicher gekleidet. Als mein Brauner heranschoß, um wie ein Wind an dem Tor vorüberzuschießen, trat dieser Mann weiter vor, schlug die Arme aus einander, als ob er das Pferd anhalten wollte:

»Halt! Sie reiten ins Verderben!«

Sollte ein Mann, der diesem Stande angehörte, mich belügen? Gewiß nicht! Ich sah nach rückwärts. Die Verfolger waren so weit hinter mir, daß ich getrost eine halbe Minute opfern konnte. Freilich, anzuhalten vermochte ich das Pferd nicht so schnell; ich lenkte es zur Seite, ritt einen scharfen Bogen, blieb dann vor dem Tor halten und fragte:

»In das Verderben? Wieso?«

»Sie fliehen vor den Leuten dort?«

»Ja.«

»Sind Sie schuldig?«

»Vollständig unschuldig. Ich habe keinem Menschen ein Leid getan. Ich bin ein Fremder, ein ehrlicher Deutscher, welcher noch nicht - -«

»Ein Deutscher?« rief die eine Frau. »Dann herein, herein, Landsmann! Schnell, schnell! Gleich werden die Bolas sausen!«

Wirklich fiel eine nach mir geworfene Bola kaum zwanzig Schritte vor mir nieder und überschlug sich einigemale auf der Erde. Ich drückte dem Pferde die Fersen in die Weichen, daß es mit einem Satze durch das Tor in den Hof flog. Männer und Frauen warfen die Torflügel zu. Zwei starke Riegelbalken wurden vorgeschoben.

(Fortsetzung folgt.)
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