Jahrgg. 16, Nummer 9, Seite 139
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Lopez Jordan

(El Sendador, Theil I.)

Reiseroman von Karl May.
6. Fortsetzung

»Armes Mädchen! Das ist eine Täuschung. Ihr Vater verkehrt mit den berüchtigsten Bravos. Doch will ich gegen Sie lieber davon schweigen. Sie, Sennor, werden neugierig sein, zu erfahren, wie ich hierher und hinter diese Geheimnisse gekommen bin. Ich werde es Ihnen nachher erzählen. Jetzt aber können Sie sich Ihre Mörder einmal ansehen, ohne daß es für Sie eine Gefahr dabei gibt. Warten Sie, nachdem ich mich jetzt entfernt habe, noch ungefähr fünf Minuten. Dann gehen Sie langsam mit der Sennorita auf die Hütte zu. Das übrige werde ich besorgen.«

»Warum gehen Sie nicht mit uns?«

»Weil der Mond so hell scheint, und weil man Sie mit der Sennorita erwartet. Man blickt Ihnen ganz gewiß aus dem Fenster entgegen. Darum müssen Sie beide allein kommen, damit kein Verdacht erregt werde. Ich hingegen folge meinen Kameraden, welche auf einem Umwege voran sind, um von hinten an das Häuschen zu kommen.«

»Was sind diese deine Kameraden!«

»Brave Yerbateros, wie ich, die sich selbst vor dem Teufel nicht fürchten. Sie werden sie wohl noch kennen lernen. Also ich gehe, und nach fünf Minuten gehen dann Sie!«

Er wandte sich nach der Straße, in deren Seitenschatten er verschwand. Das Mädchen war von mir zurückgetreten, aber ich hielt sie noch immer am Handgelenk fest.


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Fast konnte ich es nicht glauben, daß dieses Kind mit den unschuldsvollen Gesichtszügen die Zubringerin einer Spielerbande sei. Das Mädchen hatte wohl gar keine Ahnung von der Verwerflichkeit dessen, was sie getan und bis heute abend getrieben hatte. Daß man mir nach dem Leben trachtete, wußte sie nicht. Davon war ich überzeugt. Ich war überhaupt geneigt, sie von jeder Schuld frei zu sprechen. Das Mädchen wartete, bis von dem Yerbatero nichts mehr zu sehen und zu hören war; dann fragte sie mich:

»Sennor, glauben auch Sie es, daß mein Vater Ihnen nach dem Leben trachte?«

»Auf diese Frage kann ich keine bestimmte Antwort geben, mein Kind. Ihren Vater kenne ich nicht; von dem Mann aber, welcher mir diese Mitteilung machte, glaube ich annehmen zu dürfen, daß er mir keine Unwahrheit sagt. Ich denke, daß er seine guten Gründe haben werde, einen solchen Verdacht auszusprechen. Wie dem aber auch sei, so bin ich vollständig überzeugt, daß Sie mit diesem ruchlosen Plan nichts zu tun haben.«

»Nein, gewiß nicht, ich nicht und auch die Großmutter nicht.«

»Sie lieben wohl Ihre Großmutter sehr?«

»Sehr, Sennor, viel mehr als den Vater.«

»Und doch gebrauchten Sie dieselbe als Lockung, mich nach der Hütte zu bringen!«

»Das war mir so gesagt worden, und ich mußte gehorchen, sonst wäre es mir nicht gut ergangen.«

»Aber Sie haben Ihren Auftrag in so ausgezeichneter Weise ausgeführt, daß ich annehmen muß, Sie seien in solchen Sachen außerordentlich erfahren. Sie besitzen ein bedeutsames Verstellungsvermögen.«

»Das lernt man ja, wenn man es oft machen muß.«

Fast hätte ich über diese Worte lachen müssen und über den Ton, in welchem sie dieselben vorbrachte. Sie war eine heißblütige, leichtlebige Südländerin und nicht gewöhnt, über das, was sie tat, viel nachzudenken. Es war vorauszusehen, daß sie zu Grunde gehen werde; aber ich konnte ihr nicht helfen. Darum schwieg ich und trat nach den abgelaufenen fünf Minuten den Weg mit ihr an.

Der Mond beschien sehr hell die ganze Fläche, welche zwischen uns und der Hütte lag. Man mußte uns von dem Fenster derselben aus kommen sehen. Als wir noch nicht die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatten, fragte mich das Mädchen:

»Was meinen Sie, Sennor, werden die Männer, welche uns anhielten, mit meinem Vater schlimm verfahren?«

»Sie haben wohl keine Veranlassung, ihm viel Gutes zu erweisen.«

»So muß ich die Leute in der Hütte warnen!«

Ich war auf einen Fluchtversuch nicht gefaßt und hielt in Folge dessen ihre Hand nicht mehr so fest wie vorher. Sie riß sich los und eilte davon. Aber mit einigen Sprüngen hatte ich sie wieder erreicht und ergriff sie beim Arme.

»Halt, Sennorita; so schnell und ohne allen Abschied wollen wir uns doch nicht trennen. Es würde unhöflich sein, den Schutz ohne Dank zu verlassen, in den Sie sich begeben haben.«

Sie stieß einen tiefen, ärgerlichen Seufzer aus, sagte aber von jetzt an kein Wort mehr und folgte mir willig weiter. So kamen wir an die Hütte. Noch ehe wir die Türe öffnen konnten, wurde dieselbe von innen aufgestoßen, und beim Schein der drin brennenden Lampe sah ich einen Mann, welcher ein buntes Tuch um den Kopf trug, ungefähr wie die Gauchos sich ähnliche Tücher über den Hut weg um das Kinn binden. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, da er das Licht im Rücken hatte.

»Endlich, endlich!« sagte er. »Deine Großmutter hat mit Schmerzen auf die Medizin gewartet.«

»Du, Vetter, bist da?« fragte sie erstaunt. »Dich konnte man heute und so spät nicht erwarten.«

»Die Sorge um die Kranke trieb mich her. Aber, du bist nicht allein. Seit wann läßt sich mein Mühmchen in so später Stunde in Herrenbegleitung sehen?«

»Seit heute, wo ich von einem wüsten Menschen angefallen wurde. Dieser Sennor befand sich glücklicher Weise in der Nähe und hat mich von dem Zudringlichen befreit. Wollen


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wir ihn bitten, hereinzukommen, um dem Großmütterchen Gelegenheit zu geben, ihm zu danken?«

Das gewandte Mühmchen spielte ihre Rolle ganz so, wie sie ihr aufgetragen worden war, obgleich sie wußte, daß nun der Erfolg ausbleiben werde. Sie wußte wohl nicht, welches andere Benehmen in ihrer Lage besser einzuschlagen sei.

»Ganz natürlich!« antwortete der Vetter. »Bitte, Sennor, treten Sie herein! Sie sind uns auf das herzlichste willkommen.«

Er trat zur Seite, um die Türöffnung freizugeben; das Licht fiel auf sein Gesicht, und ich erkannte - - den Bravo. Der Kerl verstand es sehr gut, seine Stimme zu verstellen. Daß er anstatt des Hutes ein Tuch um den Kopf trug, gab ihm ein verändertes Aussehen. Hätte ich sein Gesicht nicht am Nachmittage genau betrachten können, so wäre ich jetzt getäuscht worden.

»Danke, Sennor!« antwortete ich zurückhaltend. »Ich will nicht stören. Ich habe die Sennorita bis an ihre Wohnung gebracht, was ich ihr versprochen hatte, und meine Zeit ist mir nicht so reichlich zugemessen, daß ich hier verweilen könnte.«

»Nur auf einen Augenblick, auf einen einzigen Augenblick, Sennor!«

»Nun gut, um das Großmütterchen zu begrüßen. Oder befinden sich noch andere Personen drin?«

»O nein. Nur mein Pate ist noch da mit seinem Sohne, sonst weiter niemand. Sie müssen einen Schluck mit uns trinken, bis der Vater der Sennorita kommt, welcher in einigen Minuten von seinem Ausgange zurückkehren wird. Mein Mühmchen ist ein liebenswürdiges Wesen; Sie müssen sie kennen lernen. Kommen Sie also, kommen Sie, Sennor!«

Er sagte das in so freundlichem und dringendem Ton, daß er jeden andern getäuscht hätte. Ich aber zögerte, seiner Aufforderung zu folgen. Da erklang es hinter mir:

»Gehen Sie getrost hinein, Sennor! Es ist wirklich so, wie Ihnen dieser gute Sobrino sagt. Es wird Ihnen außerordentlich gefallen. Ich gehe auch mit hinein. Gehen Sie, gehen Sie!«

Es war der Yerbatero, welcher mich nach der Türe schob. Der Bravo fragte überrascht:

»Noch einer! Wer sind Sie, Sennor?«

»Ich bin der Begleiter des Vaters, welcher soeben von seinem Ausgange zurückkehrt,« antwortete der Yerbatero. »Nur immer hinein, hinein!«

Er schob mich; ich schob die Sennorita, und diese schob den Bravo zur Seite. So gelangten wir in die Stube, denn die Türe führte aus dem Freien direkt in dieselbe. Ich hatte das erbeutete Messer bei mir und griff nach demselben. Die Sache kam mir verdächtiger vor, als sie war. Eine Art von Mißtrauen wollte sich auch gegen den Yerbatero in mir


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regen. Ich kannte ihn eigentlich noch gar nicht. Sein Benehmen ließ immerhin die Möglichkeit offen, daß er ein Mitglied der saubern Bande sei. Aber mein Vertrauen wurde augenblicklich wieder hergestellt, als ich bemerkte, daß noch fünf Yerbateros hinter mir sich hereindrängten. Jeder von ihnen hatte sein Messer in der Hand. Das Haus hatte keine Glasfenster und die Läden standen offen. Nur aus dem Parterre bestehend, war es durch eine dünne Wand in zwei Hälften geteilt. Die Verbindungstüre war geschlossen. Auf einem in der Ecke stehenden Stuhle saß eine alte, sehr runzelige Frau, deren Augen mit sichtbarer Sorge auf den vielen Menschen ruhten, welche so unerwartet eingetreten waren. Einige am Boden liegende Strohmatten und ein Schemel, welcher als Tisch benutzt zu werden schien, bildeten das Meublement dieses Raumes.

Der Sobrino machte auch große Augen, als er die Yerbateros bemerkte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie? Wer hat Ihnen erlaubt, hier einzutreten?« fragte er.

»Wir selbst,« antwortete Monteso. »Dieser Sennor hat die Sennorita beschützt, und wir beschützen ihn. So hängt einer am andern, und wir sind mit ihm gekommen. Wo befindet sich denn der liebe Pate mit seinem Sohne?«

»Jedenfalls hier neben,« antwortete das Mädchen schnell, auf die Verbindungstüre zeigend. »Ich werde sie holen.«

»Ja, tun Sie das! Ich möchte die liebenswürdige Gesellschaft vollständig kennen lernen.«

Sie ging in den Nebenraum. Die Yerbateros standen unbeweglich an der Eingangstüre; die Alte saß starr in ihrem Stuhle und sagte kein Wort; Mauricio Monteso musterte den Bravo mit einem verächtlichen Blicke und fragte ihn:

»Haben wir uns nicht heute bereits getroffen, Sennor? Sie standen doch in der Nähe des Geschäftes des Sennor Tupido?«

»Es ist möglich, daß ich da vorübergegangen bin.«

»Nein, Sie standen wartend da. Und sodann hatten Sie sich um die Ecke der Plaza gegenüber der Confiteria aufgestellt, sind durch mehrere Straßen bis zum Dome gegangen, in welchem Sie gewartet haben, bis das Orgelspiel zu Ende war.«

»Sennor, was gehen Sie meine Spaziergänge an!«

»Sie interessieren mich außerordentlich, wenigstens heute haben sie das getan. So weiß ich auch, daß Sie dann bis an das Häuschen gegangen sind, in welchem der Organista wohnt. Und eigentümlich, daß überall, wo Sie gingen, gerade dieser Sennor vor Ihnen ging! Und noch viel eigentümlicher, daß da, wo Sie gingen, ich mit diesen meinen Kameraden Ihnen folgte!«

»Ich habe mit Ihnen nichts zu schaffen!«

»Aber wir mit Ihnen. Leider war es uns nicht vergönnt, Ihnen bis zum Hause des Organisten zu folgen; wir wurden


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gestört. Glücklicherweise aber gelang Ihr Vorhaben nicht, welches Sie dort ausführen wollten. Dieser Sennor bedurfte unseres Beistandes nicht, da er selbst auf seiner Hut war. Er begab sich zu Sennor Tupido, und Sie hatten sich indessen hierher verfügt. Sie sprachen mit dem Bewohner dieses Häuschens und bemerkten nicht, daß ich draußen am Fenster stand und alles hörte.«

Der Bravo erbleichte.

»Was Sie mir da sagen, ist mir vollständig fremd,« wendete er ein. »Ich weiß von alledem kein Wort.«

»Leugnen Sie immerhin! Wir aber sind unserer Sache gewiß.«

»Ich bin erst vor einigen Minuten hier angekommen und vorher heute noch nicht dagewesen. Fragen Sie den Wirt, wenn er jetzt zurückkehrt!«

»Er ist bereits da, und wir haben ihn gefragt. Er liegt draußen neben dem Häuschen, denn er ist mit einem Lasso gebunden, und er hat uns alles eingestanden.«

»So ein Dummkopf!«

»O, wenn man Ihnen die Spitze eines guten Messers auf die Brust setzen würde, so glaube ich nicht, daß Sie klüger handeln würden. Und wenn Sie nicht gestehen, werden wir dieses Experiment versuchen.«

»So zeige ich Sie an und lasse Sie bestrafen!«

»Das werden Sie wohlweislich unterlassen, denn Sie wissen gar wohl, daß die Polizei keine allzu gute Freundin von Ihnen ist.«

Da hielt ich ihm sein Messer hin und fragte:

»Jedenfalls ist Ihnen dieses Messer wohlbekannt. Wollen Sie das leugnen?«

Er warf einen kurzen Blick darauf und antwortete:

»Das Messer habe ich noch nie gesehen. Lassen Sie mich mit Ihren Fragen in Ruhe!«

Ich sah jetzt unter dem Kopftuche eine zerschundene Stelle seines Gesichtes.

»Bei welcher Gelegenheit sind Sie hier blessiert worden?« fragte ich ihn, indem ich auf die betreffende Stelle deutete. »Das ist wohl geschehen, als ich Sie an die Mauer des Hauses des Organista warf?«

Jetzt wurde er grob:

»Bekümmern Sie sich doch um Ihr eigenes Gesicht, für welches ich das meinige nicht umtauschen möchte! Sie haben nichts zu fragen, nichts zu sagen und nichts zu befehlen. Packen Sie sich fort, sonst werden Sie hinausgeworfen!«

»Nachdem Sie mich vorher so höflich eingeladen haben!«

 »Das tat ich, weil ich Sie für einen Caballero hielt. Jetzt sehe ich ein, daß ich mich in Ihnen geirrt habe. Denken Sie nur nicht, daß ich mich vor Ihnen fürchte! Ich stehe nicht allein gegen Sie, sondern ich werde mir Hilfe holen.«

Er öffnete die Nebentüre und rief hinaus:

»Komm heraus, Pate! Hier sind Leute, welche Fäuste oder Messer sehen wollen.«

Anstatt des Gerufenen kam die Sennorita herbei. Sie erklärte mit zufrieden lächelndem Gesicht:

»Der Pate ist gar nicht mehr da. Als ich ihm sagte, welchen Besuch wir haben, ist er mit seinem Sohne durch das Fenster hinausgestiegen, denn er meinte, daß es nicht seine Leidenschaft sei, mit Yerbateros zu verkehren.«

»Welche Feigheit! Durch das Fenster zu steigen und mich hier allein zu lassen! Aber ich fürchte mich dennoch nicht. Macht Platz, Leute! Wer mich anrührt, bekommt das Messer!«

Er zog ein Messer hervor, welches er sich indessen wohl geborgt hatte, und wendete sich nach der Türe. Ich trat zurück, um ihn vorüber zu lassen. Das war eine Falle, in welche er lief, denn kaum wendete er mir den Rücken zu, so umfaßte ich ihn von hinten und drückte ihm die Arme fest an den Leib. Einer der Yerbateros schlang sich den Lasso von den Hüften und band den Bravo mit demselben. Der Kerl versuchte zwar sich zu wehren, doch ohne allen Erfolg. Er schrie und schimpfte aus Leibeskräften, bis ihm der Mund mit seinem Kopftuche zugebunden wurde.

(Fortsetzung folgt.)
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