Lieferung 31

Karl May

23. Juni 1883

Waldröschen
oder
Die Rächerjagd rund um die Erde.

Großer Enthüllungsroman
über die
Geheimnisse der menschlichen Gesellschaft

von

Capitain Ramon Diaz de la Escosura.


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hundert; reite ich über einen Baumstamm, so sprengt er über eine Mauer; fange ich mit dem Lasso eine Ziege, so reißt er ein Pferd nieder. Er schießt von vier Steinen, welche ich empor werfe, zwei mit einem Schusse herab, und jeden Stein, jede Kugel, welche ich werfe, trifft er im raschesten Galopp. Das ist der richtige Held! Aber, ich lerne es auch noch!«

Seine Wangen glühten, und er sah dabei so hübsch aus, daß ihn die Großherzogin streichelte. Der Großherzog sagte:

»Dann wundere ich mich nicht mehr, daß Du Wölfe schießest. Ist der Wolf noch zu sehen?«

»Ja,« sagte Kurt. »Er liegt im Holzstall.«

»Und der Luchs?«

»Der liegt auch noch drüben, nackt, ohne Haut.«

»So werden sie nachher in Augenschein genommen. Also auch fechten kannst Du, und mit allen Waffen?«

»Es ist so, Hoheit!«

»Wer war denn Dein Lehrer?«

»Der Herr Hauptmann. Und jetzt lerne ich gar noch boxen vom Onkel Sternau.«

»Das geht ja nicht; Du bist klein und er so groß.«

»Ach, das wird anders gemacht! Es muß ein Junge aus dem Dorfe her, den nehme ich; der Onkel nimmt den Ludewig; diese Beiden machen es vor, und wir machen es nach.«

»Ach so! Und wer bekommt da die Hiebe?«

»Der Junge und der Ludewig. Dann ruft er immer: »Gottstrampach dahier!« Es ist das ein sehr lustiger Unterricht!«

»Das glaube ich,« lachte der Großherzog. »Also auch ein Reiter bist Du?«

»O, nur ein Ponnyreiter; aber man hat dennoch Respekt vor mir.«

»So wirst Du uns nachher einmal Etwas vorreiten?«

»Sehr gern.«

»Und wie steht es mit den Sprachen? Du sprichst Französisch?«

»Ja. Wir können jetzt ja französisch oder englisch sprechen, Hoheit. Mir ist's egal.«

»Du Tausendsassa! Aber wir wollen doch beim Deutsch bleiben! Wer hat Dich in diesen Sprachen unterrichtet?«

»Der Herr Hauptmann und meine Frau Sternau. Jetzt aber habe ich noch einen anderen Lehrer; den Tombi, er ist ein Waldhüter, eigentlich ein Zigeuner.«

»Welche Sprache lernst Du von ihm?«

»Das sagt er noch nicht; aber ich habe ihn überlistet und einmal nachgeschlagen. Man liest verkehrt, nämlich von rechts nach links; es wird wohl Arabisch sein, oder Malayisch.«

»Davon weiß ich ja noch gar nichts!« sagte Sternau.

»Ach, ich soll es geheim halten, denn Tombi denkt, der Herr Hauptmann raisonnirt darüber.«

»Aber warum lehrt er es Dich?«

»Er sagt, ich könne es vielleicht einmal gebrauchen, und er will in der Uebung, bleiben.«


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»So wird es wohl die Zigeunersprache sein. Die sollst Du allerdings nicht lernen.«

»Zigeunerisch ist es nicht, nein! Die Zigeuner beten doch nicht!«

»Ah, er lehrt Dich Gebete?«

»Ja. Alle meine Sprüche, Lieder und Gebete übersetzt er mir. Onkel, nicht wahr, Du verstehst Arabisch?«

»Ja.«

»Nun, so kannst Du gleich einmal sehen, ob es vielleicht Arabisch ist. Soll ich Dir einmal den Anfang des Vaterunsers sagen?«

»Ja. Arabisch heißt er: »Ja abana 'Iledsi fi 's-semavati jata-kaddeso 'smoka.««

»Nein, das ist es nicht; das Meinige lautet: »Bapa kami jang ada de surga, kuduslah kiranja namamu.««

»Was! Woher hat der Waldhüter diese seltene Sprache! Es ist Malayisch.«

»Malayisch?« fragte der Großherzog. »Ein deutscher Waldhüter, und Malayisch! Wie es scheint, sind hier auf Rheinswalden lauter außerordentliche Menschen zu finden.«

»Er ist in der Malayensee gewesen,« sagte der Knabe. »Er hat mir von Borneo und Timur und Celebes erzählt.«

»Dann muß ich mit ihm hierüber sprechen.«

»Also, Onkel Sternau, darf ich diese Sprache weiter lernen?«

»Jawohl, in Gottes Namen. Auch ich kann Einiges davon; ich werde mitthun!«

»Außerordentlich!« sagte die Großherzogin. »Man sieht, daß man Veranlassung hat, zum Oefteren nach Rheinswalden zu kommen.«

»Ja, ja, kommen Sie, Hoheit!« rief Kurt freudig.

»Ah, warum sagst Du das?« fragte sie freundlich.

»Weil ich Sie lieb habe!«

Sie beugte sich über ihn und fragte:

»Und warum bist Du mir gut, Kurt?«

»Weil Sie so gute Augen haben.«

»Also, Du fürchtest Dich nicht vor mir?«

»Nein. Warum sollte ich mich fürchten?«

»Weil - nun, weil ich eine Fürstin, eine Großherzogin bin,« lächelte sie.

»Darum? O nein,« sagte er. »Ist denn eine Großherzogin so etwas Schreckliches? Wie kann ich mich vor Ihnen fürchten, wenn ich mich nicht vor dem Luchs gefürchtet habe!«

Die Hofdamen wurden verlegen. Dieser Verstoß war zu groß, als daß nach ihrer Meinung die Großherzogin ihn ruhig hinnehmen konnte; diese aber dachte anders als ihre Damen. Sie nickte gütig und sagte:

»Du hast Recht, mein Sohn. Auch eine Fürstin braucht Liebe; man soll sie ehren, aber man soll sie nicht fürchten. Nun aber magst Du uns einmal Deine Künste zeigen.«

»Nicht erst den Wolf und den Luchs?«

»Ja, auch so ist es uns Recht. Komm'!«


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Sie nahm ihn bei der Hand, und nun spazierten sämmtliche Herrschaften hinüber nach dem Vorwerke, um die beiden Thiere zu sehen, welche man ihrer Seltenheit wegen noch gar nicht aufgerissen hatte. In der jetzt herrschenden Kälte waren sie gefroren und boten also nichts Widerliches. Der Großherzog untersuchte die Schüsse mit eigenen Händen.

»Und das bist Du wirklich gewesen?« fragte er erstaunt.

»Ja,« antwortete der Kleine.

»Und Niemand war bei Dir?«

»Kein Mensch!«

»Kind, so bist Du ein Liebling der Vorsehung. Sie muß Dich zu Ungewöhnlichem bestimmt haben. Sei immer brav und gut, und hüte Dich vor allem Unrecht!«

»Das werde ich, Hoheit!« sagte Kurt sehr ernsthaft. »Aber nun darf ich wohl mein Ponny und meine Waffen holen?«

»Thue das,« sagte der Hauptmann. »Die Herrschaften werden aus den Fenstern zusehen.«

»Und,« wendete sich die Großherzogin zu Sternau, »werden auch Sie uns eine Ihrer ritterlichen Künste zeigen?«

Ueber seine Stirn legte sich eine leise Falte; es widerstrebte ihm, als Kunstreiter oder Kunstschütze aufzutreten. Die hohe Dame bemerkte es und fügte hinzu:

»Wir haben noch nie ein Lasso gesehen. Bitte, Herr Doktor!«

Die Falte glättete sich, und er machte eine zustimmende Verbeugung.

»Ich stelle mich zur Verfügung.«

»Ja, Onkel Sternau, Sie müssen mitthun!« rief Kurt. »Dann habe ich auch mehr Lust, und es geht weit besser.«

Der Schloßhof war groß genug zu den beabsichtigten Experimenten. Der Kälte wegen gingen die Damen in den Saal, durch dessen Fenstern sie Alles sehen konnten; die Herren aber blieben erwartungsvoll im Freien stehen.

Sternau war nach seiner Wohnung gegangen. Nach einiger Zeit kam er wieder herab. Man kannte ihn kaum. Er trug ein wildledernes Jagdhemd und eben solche Hosen, lange, schwere Trapperstiefel und einen breitrandigen Filzhut. In seinem Gürtel staken zwei Revolver, ein Bowiemesser und ein Tomahawk; über seinem Rücken hingen zwei Gewehre, und um die Hüfte hatte er ein Lasso geschlungen, an welchem noch eine südamerikanische Bola hing.

»Ah, ein Prairiejäger!«

Spätauflage

»Ah, ein Prairiejäger!« rief der Großherzog, ganz enthusiasmirt.

Auch die anderen Herren stießen sich leise an. Der Anblick dieses Mannes war verheißungsvoll.

»Allerdings, ein Prairiejäger,« sagte Sternau lächelnd. »Ich bin kein Künstler, sondern ein einfacher Savannenläufer; aber vielleicht gelingt es mir, den Herrschaften ein Bild des dortigen Kampflebens zu geben. Da kommt Kurt.«

Der Knabe kam jetzt in den Hof herein geritten, ohne Sattel, nur mit einem einfachen Zaum. Er hatte seine grüne Kleidung abgelegt und trug einen Anzug, der ganz demjenigen Sternau's glich. Seine Doppelflinte hing ihm über der Schulter.

»Was thun wir zuerst, Onkel Sternau?« fragte er.


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»Das Lasso!«

»Gut. Ludewig, laß einmal den Ziegenbock heraus!«

Der Jägerbursche ging nach dem Stalle und lockte einen großen, ungewöhnlich starken Bock heraus, der beim Anblick des Ponnys sich sofort in kampfbereite Positur stellte.

Sternau stand an der Seite des Großherzogs.

»Hoheit werden nur Kindliches sehen,« sagte er. »Von einem fünfjährigen Knaben geleistet, ist es jedoch immerhin interessant.«

»Keine Sorge!« antwortete der Fürst. »Wir sind Alle außerordentlich gespannt.«

»Soll ich?« fragte Kurt.

»Ja, fange an!« rief der Hauptmann.

Der Knabe band sich das eine Ende des Lassos um den Leib, legte den übrigen Theil in Rollen und nahm diese in die rechte Hand. Mit der Linken lenkte er das Pferd.

Sobald sich dieses in Bewegung setzen wollte, stellte sich ihm der muthige Bock entgegen und stieß mit den Hörnern nach ihm.

»Der Bock weiß, was losgehen soll; er wehrt sich,« sagte Sternau.

Das Ponny schlug mit den Vorderhufen nach ihm; aber der Bock wich nicht.

»D'rüber weg!« rief Sternau.

»Halloh!« antwortete der Knabe.

Er nahm das Pferdchen hoch, schnalzte mit der Zunge und schnellte im nächsten Augenblicke über den Bock hinweg.

»Mein Gott, dieser kühne Sprung! Welch' ein Knabe!«

Dies sagte hinter dem Fenster die Großherzogin zu Rosa, welche neben ihr stand.

»Ja, es ist ein außerordentliches Kind. Es leistet wirklich bereits mehr als mancher Erwachsene,« antwortete die Spanierin.

»Sehen Sie, wie er jetzt rund um den Hof sprengt! Welche Carriere, ventre-à-terre

»Und ohne Sattel!« sagte eine Hofdame.

»Ohne Bügel!« fügte eine Andere hinzu.

Der Knabe flog im rasenden Galopp um den Hof. Er saß frei auf dem Pferde. Jetzt zog er die Füße empor; er kniete auf dem Rücken seines Ponny.

»Halloh, Ludewig!« rief er.

»Ja,« antwortete dieser.

»Nimm die Peitsche!«

Der Bursche, welcher bei diesen Uebungen seine Obliegenheiten kannte, hatte die Peitsche bereits in der Hand. Er trat hervor und trieb den Bock, welcher in der Mitte des Hofes stand, von der Stelle. Das Thier wollte sich erst zur Gegenwehr stellen, gehorchte aber doch und flog bald im Galopp davon - Kurt jetzt hinter ihm her. Der Bock wußte, daß er jetzt mit dem Lasso gefangen werden solle. Er strengte alle seine Kräfte an, um zu entkommen. Er rannte nicht in continuirlichem Laufe herum, sondern im Zickzack durch den Hof, machte Finten und Seitensprünge,


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aber es half ihm nichts - der gewandte Knabe war auf seinem Pferdchen immer hinter ihm her.

»Exquisit!« rief der Großherzog.

»Er reitet wahrhaft meisterhaft!« meinte einer der erstaunten Hofherren.

Droben hinter den Fenstern hörte man ein Beifallklatschen von zarten Händen. Der Junge blickte empor und warf während eines Seitensprunges, den er meisterlich ausführte, eine Kußhand hinauf.

»Er hätte den Bock schon lange,« bemerkte Sternau -

»Warum nimmt er ihn nicht?«

»Er wartet mein Kommando ab; das macht es ihm schwieriger.«

»So thun Sie!«

»Achtung!« rief Sternau.

Der Knabe, welcher bis jetzt noch immer geknieet hatte, setzte sich schnell wieder zurecht und ließ die Schleifen des Lasso um seinen Kopf schwingen.

»Jetzt!« kommandirte Sternau.

»Halloh!« rief Kurt begeistert.

Das Lasso flog; die Schleifen rollten sich auf, und die Schlinge warf sich um den Kopf des Bockes. In demselben Augenblicke riß der Knabe sein Pferd in die Höhe und herum; es war geschult; es stand fest. Der Bock that noch einige Sprünge; dabei lief das Lasso ab, die Schlinge zog sich zusammen, und der Bock stürzte zur Erde.

»Bravo!« rief es rund im Kreise.

»Bravo!« erschallte es auch von oben herab.

»Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Lehrer!« sagte der Großherzog zu Sternau.

»O,« antwortete dieser, »bei einem solchen Schüler ist der Unterricht eine Lust.«

»Er wird einmal ein ausgezeichneter Mensch.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Aber dieses Lasso ist eine fürchterliche Waffe!«

»In der Hand des Geübten allerdings.«

»Kann man ihr nicht entkommen?«

»O doch, aber es gehört ein außerordentlich scharfes Auge dazu. Man muß gerade in dem Augenblicke, an welchem die Schlinge über dem Kopfe schwebt, Abwehr treffen, keinen Moment früher oder später.«

»Ist dies möglich?«

»Darf ich es Ew. Hoheit zeigen?«

»Ich bitte!«

»Ich hoffe, daß es gehen wird, obgleich ich dieses Experiment mit Kurt noch nicht vorgenommen habe.«

Kurt war abgestiegen und hatte den Bock, welcher zu ersticken drohte, von der Schlinge befreit. Jetzt kam er langsam herbei.

»War es so recht, Hoheit?« fragte er.

»Sehr, mein Junge. Das hatte ich nicht von Dir erwartet.«

»O, eine solche Schlinge ist hübsch; man fängt Alles mit ihr.«


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»Auch mich?« fragte Sternau lächelnd.

»Nein! Sie reiten besser als ich. Sie würden sich immer in einer solchen Entfernung halten, daß mein Lasso zu kurz ist, Sie zu erreichen.«

»Nein, das würde ich nicht thun.«

»O, dann fange ich Sie!«

»Wirklich?«

»Ganz sicher!« sagte der Knabe zuversichtlich.

»Auch wenn ich mich hier in die Mitte des Hofes stelle und gar nicht fortschreite?«

»Na, dann ist es ja ganz leicht!«

»Wollen wir es versuchen?«

»Sie machen doch blos Spaß!«

»Nein. Also ich bleibe fest auf der Stelle stehen, und wenn es Dir gelingt, mich mit dem Lasso zu umschlingen, dann - ja, was dann?«

»Dann schenken Sie mir einen kleinen Tomahawk und lehren mich, ihn zu gebrauchen!« sagte Kurt mit leuchtenden Augen.

»Gut, es gilt!«

»Na, so ist der Tomahawk bereits mein!«

»Warte es ab, Kleiner!«

Sternau stellte sich inmitten des Hofes auf und nahm von den beiden Gewehren, welche er auf dem Rücken trug, das lange herunter.

»Nun, Kurt, es kann losgehen!« sagte er.

»So gelingt es gleich beim ersten Wurfe; passen Sie auf!«

Der kleine Prairiejäger stellte sich in abgemessener Entfernung auf, rollte das Lasso kunstgerecht zusammen, schwang es über dem Kopfe und warf es. Aber in dem Augenblicke, als die Schlinge gerade über dem Kopfe Sternau's schwebte, hob dieser seine schwere Büchse empor, schlug einen Wirbel und fing die Schlinge auf.

»Nun?« fragte er lachend.

»Ja,« sagte der Knabe ganz verblüfft, »da bringe ich nichts!«

»Versuche es noch einmal!«

Der Versuch wurde wohl noch ein Dutzend Mal gemacht, aber immer mit demselben Mißerfolge.

Ludewig war näher geschlichen. Er stand fast hinter dem Großherzoge.

»Das ist viel, sehr viel von dem Herrn Doctor,« sagte er; »das macht ihm Keiner nach; das ist ein wirkliches Kunststück dahier!«

»Es geht nicht,« sagte Kurt, ganz enttäuscht.

»Nun, so zeige Dich zu Pferde, mit Hindernissen.«

»Schön!« rief der Knabe. »Ludewig!«

»Ja.«

»Schaff meine Hindernisse her!«

»Hat sich 'was zu Hindernissen,« brummte dieser. »Sie sind ja für den Jungen gar keine Hindernisse mehr dahier.«

Er legte Bretter und Latten, stellte alte Töpfe und Kessel, Kisten und Fässer kreuz und quer und zog über die Zwischenräume noch verschiedene Stricke, alles ohne Symmetrie und Berechnung.


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»Da kommt Keiner durch!« sagte einer der Offiziere.

»Wenigstens dieser Knabe nicht,« stimmte der Großherzog bei, welcher selbst ein sehr gewandter Reiter war. »Ohne Sattel und Bügel! Das sind ja keine berechneten Kunstreiterhindernisse.«

»Hoheit werden sich vom Gegentheile überzeugen. Der Junge reitet wirklich famos, und das Ponny ist ein ausgezeichnetes Thierchen.«

»Na, wollen sehen; Sie machen mich wirklich gespannt.«

Der Bock war wieder in seinen Stall geschafft worden, und Kurt stieg nun wieder auf. Er ritt im Schritt durch das Labyrinth, ohne anzustoßen, ohne einen Augenblick lang anzuhalten oder verlegen zu werden, dann im Trabe, wobei er sich schon in sehr schwierigen Sprüngen und Wendungen zeigen mußte, und endlich im Galopp. Die Herren rissen förmlich die Augen auf über die Kühnheit, mit welcher er über die Fässer, Kisten und Stricke hinwegsetzte, und über den Scharfblick, mit welchem er die Töpfe, Teller und Scherben zu vermeiden wußte.

Droben wurden trotz der Kälte von den Damen die Fenster geöffnet, und je mehr man ihm zuklatschte und zurief, desto mehr wagte er, bis ihm endlich Sternau das Zeichen gab, einzuhalten. Er ging wieder in den Trab und dann in den Schritt zurück und sprang dann vom Pferde.

»Unglaublich!« rief der Großherzog.

»Das war noch nie da. So Etwas hat man nicht gedacht!« In solchen und ähnlichen Ausdrücken sprachen die Herren ihre Bewunderung aus.

»Nicht wahr?« meinte der Hauptmann. »Es ist ein Donnerwetterjunge!«

»Er hat sich heute selbst übertroffen,« sagte Sternau. »Die Gegenwart der Herrschaften hat ihn förmlich begeistert.«

Der Großherzog wandte sich ernst zu den Beiden:

»Meine Herren, dieser Knabe wird einmal nicht nur ein fescher, schneidiger Husarenoffizier, sondern in ihm steckt noch Größeres. Wer bei solcher Kühnheit eine solche Umsicht und einen solchen Scharfblick besitzt, der hat ganz sicher das Zeug zu einem Kommandeur. Herr Oberförster, lassen Sie später mich für den Knaben sorgen!«

»Es wird mir eine Genugthuung sein, Hoheit, diesem Befehle nachzukommen,« antwortete der Hauptmann, im höchsten Grade geschmeichelt.

»Herr Oberförster,« ertönte die Stimme der Großherzogin von oben herab, »senden Sie uns den Knaben herauf. Wir müssen den kleinen Ritter einmal bei uns haben.«

Kurt erhielt einen Wink und verschwand im Portale, während Ludewig das warm gewordene Ponny in den Stall führte.

»Und Sie, Herr Doctor,« fragte der Fürst, »auch Sie haben Ihr Lasso mit? Ah, was ist denn das?«

Er deutete nach dem dreistrahligen Riemenstern, welcher an Sternau's Lasso hing.

»Das ist eine Bola -«

»Ah, davon habe ich gelesen. Die Gauchos von Südamerika bedienen sich ihrer. Ist sie praktisch?«

»Mehr als das, Hoheit. Sie ist sogar noch gefährlicher als das Lasso. Sie


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zerbricht, wenn sie von geschickter Hand geschleudert wird, die Beine eines Pferdes, ja eines Ochsen. Ich will Ihnen den Gebrauch zeigen, darf aber dazu kein Thier nehmen, da ich es ganz sicher schwer verletzen würde.«

Er zeigte zunächst die Bola herum. Sie bestand aus drei kurzen Lederriemen, welche an einem Ende zusammengebunden, am andern aber mit einer schweren Kugel versehen waren, die in einer festen, ledernen Hülle stak. Dann ließ er von den Knechten an dem einen Ende des Hofes einen Pfahl in die Erde rammen und schritt nach dem andern Ende hin.

»Hoheit,« sagte er, »damit die Herrschaften sehen, wie sicher ein guter Bolawerfer trifft, werde ich dieses Mal den Pfahl zehn Zoll unter seiner Spitze treffen.«

Er stand wohl über fünfzig Schritte von dem Pfahle entfernt, nahm die eine Kugel der Bola in die rechte Hand, wirbelte die beiden andern einige Male um den Kopf und ließ sie dann fliegen. Sich immer um einander drehend, flogen die Kugeln in einem Bogen durch die Luft, trafen den Pfahl mit erstaunlicher Sicherheit und schlangen sich um denselben. Man hörte einen Krach - die Spitze des Pfahles war abgebrochen.

»Außerordentlich!« rief der Großherzog.

Er eilte zu dem Pfahle, und die Andern folgten ihm. Eine zehn Zoll lange Spitze war abgebrochen. Der Fürst nahm sie vom Boden auf und gab sie von Hand zu Hand.

»Welche Sicherheit, welche Kraft!« sagte er. »Treffen Sie stets so genau?«

»Stets! Ich will es beweisen,« sagte Sternau.

Er warf noch vier Male und traf jedes Mal die Stange an dem Orte, den er bezeichnet hatte.

»So ist dies die gefährlichste Waffe, welche es giebt, wenigstens in der Prairie,« sagte der Großherzog.

»O, dieses Schlachtbeil ist noch gefährlicher,« meinte Sternau.

Er nahm seinen Tomahawk aus dem Gürtel und zeigte ihn vor.

»Dieses schwache Beil mit dem kurzen Griffe?« sagte der Fürst. »Ist es nicht nur eine Waffe für den Nahekampf?«

»Nein. Es spaltet den dicksten Schädel, aber es trifft auch aus großer Entfernung das kleinste Ziel. Ich tödte mit ihm einen Flüchtling, welcher im Galopp entspringt, indem ich hier ruhig stehen bleibe. Ich berechne ganz genau, ob ich seinen Kopf, seinen Hals, seinen Arm, seinen Leib oder sein rechtes oder linkes Bein treffen werde.«

»Das wäre ja kaum zu denken!«

»Doch. Und was das Sonderbarste ist, dieses Beil fliegt, wenn ich es werfe, erst wagerecht mit dem Boden fort, dann steigt es empor, so hoch, als ich es berechnet habe, senkt sich wieder nieder und trifft gerade den Punkt, welchen ich mir zum Ziele nahm. Darf ich dies den Herrschaften beweisen?«

»Bitte, wir sind ganz außerordentlich gespannt!« sagte der Großherzog.

»So werde ich zunächst den Rest dieses Pfahles treffen.«

Er hing die Bola in den Gürtel und nahm den Tomahawk zur Hand. Als er an das äußerste Ende des Hofes zurückgekehrt war, stellte er sich mit der linken


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Seite nach der Gegend des Zieles, schwang mit der Rechten den Tomahawk und ließ ihn dann fahren. Er traf den Pfahl gerade in der Mitte.

»Erstaunlich!« rief der Großherzog. »Es sind wenigstens fünfzig Schritte.«

»Ich treffe das Ziel auf fünfhundert Schritte,« behauptete Sternau.

»Unmöglich! Wenigstens nicht so genau.«

»Ich werde es beweisen. Zwar ist der Hof nicht so lang, aber es wird sich dennoch machen lassen. Um Ihnen die Sicherheit des Wurfes zu beweisen, werde ich das Ziel nur einen Fuß vom Fenster wählen; dann verlasse ich den Hof durch das Thor, dessen Flügel wir weit öffnen, gehe genau fünfhundert Schritte auf die Straße hinaus und werfe den Tomahawk.«

Keiner der Herren glaubte an die Möglichkeit des Gelingens. Aber Sternau ließ gerade unter einem Fenster der hintern Hoffronte einen Pfahl einschlagen und legte auf diesen einen Stein. Dann wurden die Thorflügel geöffnet.

»Die Herren sehen,« sagte er, »daß dieser Stein nur einen Fuß unterhalb des Fensters liegt; ihn will ich treffen. Man könnte ganz getrost das Fenster öffnen und herausblicken; ich schädige Niemand.«

»Das wäre ein Wunder!« ließ sich Einer hören.

»Es ist nur die Folge einer langen Uebung.«

Er verließ den Hof und schritt die Straße, welche kerzengerade auf das Thor zulief, fünfhundert Schritte weit hinaus. Die Herren retirirten sich hinter die Mauern, um nicht getroffen zu werden, und die Damen hatten zwar die Fenster geöffnet, getrauten sich aber nicht, aus denselben herabzublicken.

Jetzt schwang er den Tomahawk, beschrieb mit demselben zunächst einige vertikale Kreise und schleuderte ihn dann nach dem Ziele. Das Indianerbeil flog, ganz wie er es gesagt hatte, erst am Boden hin, stieg dann rasch und plötzlich bis über erste Etagenhöhe empor, senkte sich dann jäh und - warf mit einem lauten Krach den Stein vom Pfahle und gegen die Mauer, ohne diesen Pfahl dabei im Mindesten zu berühren.

Auf dieses Meisterstück brach ein außerordentlicher Beifallssturm los. Sternau kam zurück, bedankte sich mit einer stummen Verbeugung und sagte:

»Die Herren sehen, welch' eine Waffe das ist.«

»Die fürchterlichste!« meinte der Großherzog.

»Ich stimme unbedingt bei,« meinte Sternau.

»Aber es gehört bei einer solchen Entfernung nicht nur die von Ihnen erwähnte Uebung dazu, sondern auch eine Riesenkraft, wie nur Sie dieselbe unter uns Allen besitzen.«

Sternau lächelte.

»Hier ist die Kunst, den Tomahawk zu schleudern, eine brodlose,« sagte er, »aber da drüben in der Prairie ist sie eine Lebensfrage. Was Sie jetzt gesehen haben, bringt ein jeder Indianer fertig.«

»Und nun Ihr Lasso? Bitte!« sagte der Großherzog.

»Nur Ihnen und diesen Herrschaften, Hoheit,« antwortete der Arzt. »Anderen eine Fertigkeit zu zeigen, würde nichts als eine prahlerische Schaustellung sein.«

»Thun Sie es immerhin, mein Lieber! Sie sollen uns nicht amüsiren, sondern belehren.«


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Sternau ließ das Thor wieder schließen und den Braunen des Hauptmanns satteln. Dann wurden sämmtliche Pferde aus dem Stalle gelassen. Jetzt hatten die Damen wieder den Muth, aus den Fenstern zu blicken. Er stieg zu Pferde und tummelte es einige Male hin und her. Man konnte sich keine ritterlichere Figur denken, als ihn.

»Ein schöner, ein sehr schöner Mann!« flüsterte die Großherzogin der Gräfin Rosa zu.

Diese erglühte und antwortete dann:

»Und ein edler Mann, Hoheit; ein Mann, der Kind und Held zu gleicher Zeit ist.«

»Dann sind Sie glücklich?«

»Unendlich!« hauchte sie.

Auch die anderen Damen flüsterten sich ihre Bemerkungen zu.

»Man könnte diese Rodriganda beneiden!« meinte die Eine.

»Er hat die Attitude eines Bayard!« sagte eine Andere.

»Er reitet wie ein Gott!«

Der, welchem diese Worte galten, knüpfte jetzt das eine Ende seines Lassos an den Sattelknopf und legte ihn dann in Schlingen.

»Meine Herren,« sagte er, »mein Pferd ist das Lasso nicht gewohnt, und der Raum ist hier zu beschränkt, um Ihnen das richtige Bild einer Pferdebändigung zu geben. Mein Lasso hat eine Länge von vierzig Fuß, viel zu viel, um frei agiren zu können; doch wollen wir es versuchen.«

Er gab den Burschen den Befehl, die Pferde scheu zu machen und durch einander zu treiben. Mit Hilfe von Peitschen und Stücken angebrannten Schwammes gelang dies sehr bald. Die Thiere fegten im Galopp im Hofe umher.

»Welches Pferd wünschen Sie, Hoheit?« fragte Sternau.

»Den Rapphengst,« lautete die Antwort.

»Gut!«

Er gab jetzt seinem Pferde die Sporen und sprengte mit lautem, schrillem Indianerschrei zwischen die anderen hinein. Diesen war so Etwas noch nicht passirt; sie wurden noch wilder als vorher und rannten wie toll im Kreise herum.

Sternau befand sich mitten unter ihnen und regte sie durch seine Schreie bis auf das Höchste auf. Dann zog er plötzlich die Füße aus den Bügeln und stellte sich auf den Rücken seines Pferdes.

»Ah, ein Büffelritt!« meinte der Großherzog, »ein Ritt mitten in einer wilden Heerde!«

»Herr Doktor,« rief da Ludewig von Weitem, »ich habe noch einen Kanonenschlag dahier; soll ich?«

»Los damit!« antwortete der Gefragte.

Der Bursche brannte den Zunder an und warf dann die Kapsel mitten auf den Hof.

»Mein Gott, das wird lebensgefährlich!« rief die Großherzogin.

»Ich vergehe!« zitterte Rosa.

»Doktor, um aller Welt willen - -« rief der Großherzog.

Er kam nicht weiter. Noch stand Sternau frei auf dem Pferde, da krachte der


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Schuß und sämmtliche Pferde schnellten erschreckt hoch empor. Auch sein Brauner stieg. Jeder glaubte, er müsse stürzen und unter die stampfenden Hufe gerathen; aber er hatte den rechten Augenblick ersehen; gerade als sein Pferd sich bäumen wollte, war er herab in den Sattel geglitten, in welchem er fest saß, wie mit dem Pferde zusammengewachsen.

Ein Ah! der Erleichterung erscholl, aber dennoch war die Situation gefährlich. Die durch den Schuß auf das Aeußerste aufgeregten Pferde jagten wie toll im Hofe herum. Er dirigirte den Braunen in eine Ecke, musterte mit scharfem Auge den wirren Knäuel, der im Galopp umhersetzte, und gab dann seinem Pferde die Sporen.

»Herr Gott, was fällt ihm ein!« rief der Großherzog.

Die Damen schrieen aus den Fenstern und die Herren standen steif vor Schreck. Er flog gerade auf die rasenden Pferde zu; es sah aus, als müsse er ganz unvermeidlich mit ihnen zusammenprallen; aber da nahm er den Braunen empor und flog in einem wild-verwegenen Satze über zwei neben einander her galoppirende Pferde hinweg.

Es hatte ganz den Anschein, als ob er gegen die Mauer springen müsse, aber mitten im Sprunge riß er sein Pferd herum; das kühne Wagniß gelang, und frei galoppirte er nun hinter der vor ihm fliehenden Pferdetruppe her.

»Bravo! Hurrah!« rief der Großherzog, ganz hingerissen von dieser Verwegenheit.

Die Herren und Damen stimmten ein. So Etwas hatten sie noch nie gesehen, selbst in einem Circus nicht. Sternau nickte dankend mit dem Kopfe und schwang das Lasso. Es schwirrte durch die Luft und flog mitten im Jagen dem Rapphengst um den Hals. Sofort riß er sein Pferd herum, in die entgegengesetzte Richtung - ein fürchterlicher Ruck, sein Pferd ward auf die Hinterbeine niedergerissen; aber der Rappe flog zu Boden und schlug mit den Hufen in der Luft herum; das Lasso schnürte ihm den Hals zusammen und raubte ihm den Athem.

Jetzt sprang er aus dem Sattel und erlöste den Hengst.

Ein erneuter Beifall erscholl.

»Ma foi, Doktor, sind Sie ein Reiter!« rief der Großherzog.

Sternau übergab mit einem Winke den Knechten die Pferde und trat hinzu.

»Was ich that, thut jeder Indanerknabe,« sagte er.

»Aber Sie hatten die beiden Gewehre auf dem Rücken!«

»Die legt ein Prairiejäger niemals ab. Soll ich Ihnen zeigen, wie man mit ihnen umgeht?«

»Ja, thun Sie das; wir bitten darum!«

»Dann möchte ich wünschen, Kurt sei wieder da.«

»Sogleich!«

Er theilte Sternau's Wunsch der Großherzogin mit, und sogleich wurde der Knabe von ihr entlassen; er war oben von den Damen mit Liebkosungen überhäuft worden.

»Nimm Dein Gewehr,« sagte Sternau. »Es gilt zu zeigen, daß Du auch noch Anderes treffen kannst, als einen Hasen.«


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Der Knabe hatte dasselbe vorhin gegen die Mauer gelehnt; er nahm es und trat zu Sternau.

»Die Krähe auf der Dachfirste!« sagte dieser.

Hoch oben auf der stellen Firste des Daches saß eine einsame Krähe. Kurt legte an und drückte ab. Sie fiel herunter, und als man sie beobachtete, ergab es sich, daß sie mitten durch den Leib geschossen war.

»Vortrefflich!« sagte der Großherzog.

»Verzeihung, Hoheit, das ist ein schlechter Schuß,« sagte Sternau.

»Warum?«

»Eine Krähe ist ein so großes Object, daß man sie billiger Weise nur durch den Kopf schießen wird.«

»Ah, bringen Sie das?«

»Ich?« fragte Sternau lächelnd.

»Ja.«

»Dieser Knabe bringt es bereits!«

»Aber in welcher Nähe!«

Sternau wendete sich gegen die Burschen:

»Ludewig, gehen Sie hinaus nach der Tanne, und bringen Sie die Krähe, welche Kurt jetzt herabschießen wird!«

Der Bursche ging.

Draußen vor dem Schlosse stand eine hohe Tanne, deren Aeste über die Mauer emporragten. Auf ihren Zweigen saß eine ganze Schaar von Krähen. Sie hatten sich durch den einen Schuß nicht erschrecken lassen, denn sie waren in der Nähe des Försters das Schießen gewöhnt.

»Welche?« fragte Kurt.

»Auf dem dritten Ast die äußerste.«

»Ungezählt?«

»Nein, das wäre zu leicht.«

»Gut, ich bin fertig!«

»Eins - zwei - drei!«

Sternau sprach diese Zahlen nicht etwa langsam, sondern schnell hinter einander aus. Bei Eins erhob Kurt das Gewehr, und bei Drei krachte sein Schuß. Die Krähe fiel herab, und die anderen erhoben sich kreischend in die Luft.

»Aufpassen!« rief Sternau.

Er riß das kleinere seiner beiden Gewehre vom Rücken und zielte. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs Schüsse krachten hinter einander, fast schneller, als man zählen kann, und ebenso viele der entfliehenden Vögel fielen aus der Luft herab.

»Ah, was ist das für ein Gewehr?« fragte der Großherzog.

»Ein Henrystutzen.«

»Ein Repetirgewehr?«

»Ja.«

»Mit wie vielen Schüssen?«

»Mit fünfundzwanzig.«

»Zeigen Sie!«


// 733 //

Sternau gab das Gewehr zur Besichtigung ab. Unterdessen kam der Ludewig wieder herein.

»Nicht eine, sondern sieben sind es dahier,« schmunzelte er.

Er legte die Vögel vor und die Herren staunten, denn eine jede der Krähen war durch den Kopf geschossen.

»Wunderbar!« rief der Großherzog.

»Wunderbar!« echoten die Anderen nach.

»Das ist keine Kunst,« meinte Sternau lächelnd. »Kurt, gehe hinauf in mein Zimmer, und hole das Lineal von meinem Schreibtische!«

»Darf ich nicht vorher den Sperling schießen?« fragte der Knabe.

»Welchen?«

»Oben auf dem Glockenthürmchen?«

»Ja.«

Auf einem hohen Seitengebäude des Schlosses befand sich ein kleines, offenes Thürmchen, in welchem eine Glocke hing, welche dazu diente, die in Wald und Feld zerstreuten Leute heimzurufen. Dieses Thürmchen hatte eine Wetterfahne, und auf derselben saß ein Sperling.

»Den trifft er nicht!« meinte einer der Herren.

»Wollen wir wetten?« fragte der Knabe.

»Ja,« lachte der Sprecher.

»Wie hoch?«

»Fünf Thaler!« lautete die Antwort, wohl um den Knaben abzuschrecken.

»Gut, es gilt!«

Er hatte sein abgeschossenes Gewehr wieder geladen.

»Onkel Sternau, zählen Sie,« sagte er; »aber rasch, ehe er fortfliegt.«

»Eins - zwei - drei!« rief Sternau.

Kurt hatte bei diesem schnellen Zählen kaum Zeit zum Zielen gehabt, aber er drückte ab, und der Sperling fiel von der Wetterfahne auf das Dach und rollte von demselben in den Hof herab. Es zeigte sich, daß ihm die Kugel mitten durch den Leib gegangen war.

»Erstaunlich!« rief der Großherzog. »Major, Sie zahlen die Wette!«

»Dieses Mal sehr gern!« sagte dieser.

Er zog die Börse und hielt dem Knaben einen Doppellouis'dor entgegen:

»Hier, mein kleiner Tell!«

Kurt griff zu und sagte:

»Danke, Herr Major! Einen so werthvollen Sperling habe ich noch nie geschossen!«

Alle lachten, und der Knabe ging, um das Lineal zu holen.

»Ich glaube, meine Herren, das macht ihm von uns so leicht Keiner nach!« sagte der Großherzog.

»Hm!« sagte der Major.

»Oder glauben Sie etwa, Major - - -?« fragte der Fürst.

»Ja, wo gleich einen Sperling hernehmen!« antwortete dieser.

»Da fliegt einer!« sagte Sternau, in die Luft deutend.

»Donner, wer soll den treffen, kein Mensch!«


// 734 //

Sternau lächelte leise, und der Großherzog sagte:

»So schießen Sie nach der Wetterfahne, wie Hans Winkelsee, im Eschenheimer Thurm, wie uns Simrock erzählt. Sie ist zwar auch größer wie ein Sperling, aber es bleibt bei dieser Höhe immerhin ein Meisterschuß.«

Der Major nahm den Hinterlader auf, welchen Kurt einstweilen weggelegt hatte, und beobachtete ihn.

»Ein prachtvolles Gewehr; sehr gut und sorgfältig gearbeitet; ein kleines Meisterstück!« sagte er. »Ich werde es versuchen.«

Er zielte und drückte ab - - es war ein Fehlschuß.

»Donner!« rief er.

»Hier sind zwei Patronen, Herr Major!« sagte Kurt, der mittlerweile zurückgekehrt war.

»Gut! Ich werde es noch versuchen!«

Er lud und gab noch zwei Schüsse ab, ohne zu treffen.

»Teufel!« sagte er. »Das ist wahrhaftig eine Blamage!«

Der Major war als ein guter Schütze bekannt; darum sagte der Großherzog:

»Es ist keine Blamage, Major. Sie kennen das Gewehr nicht, und das Ziel ist wirklich ein wenig zu entfernt. Lassen Sie ab davon! Was soll das Lineal, Herr Doktor?«

»Es soll ein Ziel sein,« antwortete Sternau. »Kurt, vertraust Du mir?«

»Ja,« antwortete dieser.

»Willst Du es halten?«

»Ja.«

»Auch über den Kopf?«

»Das ist bei Ihnen egal.«

»So tritt hier an das Thor, fasse es mit beiden Händen an den Enden und halte es über den Kopf empor.«

»Halt, Herr Doctor!« rief der Großherzog, »das ist lebensgefährlich; das ist ja der reine Tellschuß!«

»Das soll er auch sein, Hoheit!«

»Aber das können wir nicht dulden! Wir glauben, daß Sie treffen, aber wir wissen auch, daß der kleinste Umstand hier den Tod zur Folge haben kann.«

»Den Tod?« lachte der Knabe zuversichtlich. »O, Onkel Sternau schießt noch ganz anders als so, wie er es jetzt zeigen will. Ich gehe!«

»Nein, Du bleibst!«

Da trat der Hauptmann vor und sagte:

»Hoheit, lassen Sie die Zwei! Die wissen, was sie wollen und können!«

»Aber ich trage keine Verantwortung!«

»Es giebt hier faktisch keine!«

Kurt eilte nach dem Thore und hielt dort mit beiden Händen das Lineal quer über den Kopf empor.

»Wie viele Schüsse?« fragte er.

»Zehn,« antwortete Sternau.

Dieser war an das entgegengesetzte Ende des Hofes gegangen und nahm dort den Henrystutzen empor. Die Damen, welche von oben die Unterhaltung der Herren


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nicht bis in das Einzelnste verstehen konnten, merkten jetzt erst, um was es sich handelte.

»Mein Gott, was geht da vor!« rief die Großherzogin herab.

»Ein Tellschuß!« antwortete ihr Gemahl empor.

»Nein, zehn Tellschüsse!« fügte der Oberförster hinzu.

Sie wollte Einspruch erheben und sagte:

»Das soll nicht sein, das darf -«

Sie wurde unterbrochen, denn Sternau's sonore Stimme erklang:

»Fertig, Kurt?«

»Ja.«

»Halt fest und still!«

Ein, zwei, drei, fünf - sieben - neun, zehn Schüsse fielen so schnell hinter einander, daß man sie kaum zu zählen vermochte; dann kam Sternau rasch herbeigeschritten und hielt, ohne sich um Kurt und das Lineal zu bekümmern, dem Großherzog den Stutzen hin.

»Hoheit, sehen Sie, welch eine Arbeit dieses Gewehr ist! Zehn Schüsse, so schnell hinter einander abgegeben, und doch ist der Lauf noch nicht erhitzt.«

»Das wäre allerdings fast ein Wunder!«

Das Gewehr ging von Hand zu Hand und Alle überzeugten sich von der vortrefflichen Construction desselben. Dann aber fragte der Großherzog:

»Und das Lineal?«

»Hier, Hoheit!« sagte Kurt, welcher bereits herbeigekommen war und hinter ihm gewartet hatte.

Der Fürst nahm ihm das Lineal aus der Hand und sah zu seinem Erstaunen in demselben zehn Schußlöcher, eines neben dem andern, in einer so geraden Linie, als sei sie mit dem Lineal gezogen, und so gleich weit von einander entfernt, als ob die Distanzen mit einem Zirkel abgemessen worden seien.

Natürlich gab es Ausrufe der Verwunderung und verschiedene Lobeserhebungen, aus denen sich aber Sternau nicht viel zu machen schien. Er wendete sich ruhig an den Major:

»Mein Herr, Sie sagten vorhin, daß ein Sperling im Fluge nicht zu treffen sei?«

»Ich behaupte es!« antwortete dieser.

»O, man schießt sogar die Schwalbe.«

»Zufall!«

»Ich will Ihnen keine Wette anbieten, und Schwalben giebt es nicht; aber warten wir; den ersten Sperling, welcher wieder über den Hof kommt, den hole ich herab.«

»Da bin ich doch neugierig!« sagte der Major zweifelnd.

Von jetzt an hingen aller Augen in der Höhe. Sternau hielt das Gewehr in beiden Händen, aber nicht angelegt. Eine, zwei, drei Minuten vergingen.

»Da - da - da - da!« rief es endlich aus aller Mund.

Ein Sperling kam schnell wie der Blitz über das eine Dach herüber und schwippte nach dem andern hinüber. Aber ehe er es erreichte, blitzte der Schuß, und er stürzte zur Erde herab.


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»Erstaunlich, ganz erstaunlich!« rief der Großherzog.

»O,« antwortete Sternau, »ein leidlicher Schuß garantirt für jeden Sperling. Es ist das ja nichts Schweres.«

»Sie sind ein ausgezeichneter Schütze, auf Ehre!« ließ sich da eine Stimme vernehmen, welche man noch nicht gehört hatte.

Sie gehörte einem Herrn an, dessen Verhalten bisher ein sehr reservirtes gewesen war. Er hatte noch kein Wort gesprochen; aber als er jetzt Aller Blicke auf sich gerichtet sah, fuhr er fort:

»Habe kürzlich viel von Prairie erzählen hören. In Berlin, bei amerikanischen Gesandten. Sprachen von Savanne, von Trapper und Squatter, von Rothhaut und Bleichgesicht. War interessant, sehr interessant, auf Ehre.«

»Das ist Etwas für Sie gewesen, mein lieber Graf,« sagte der Großherzog. »Sie sind ja unser Sportsman comme il faut.« Und sich an Sternau wendend, sagte er vorstellend: »Graf Walesrode, bester Doctor!«

Die beiden Herren verbeugten sich; dann fuhr der Graf fort:

»Habe viele Romane gelesen, Reisebeschreibungen. Cooper, Marryat, Möllhausen, Gerstäcker. Habe gedacht, Alles Schwindel. Aber doch anders. Hörte in Berlin beim Gesandten, daß Alles wahr. Gesandter früher selbst in Prairie gewesen. Berühmte Häuptlinge und Jäger gesehen. Allerberühmteste Häuptlinge in Neumexiko. Sollen heißen Bärenherz und Büffelstirn. Gesandte viel Abenteuer von ihnen erzählt.«

»Bärenherz und Büffelstirn?« rief da Sternau erfreut. »Ah, das sind Shosh-in-liett und Mokaschi-motak, die Häuptlinge der Jicarillas-Apachen und der Miztecas.«

»Ah, kennen Sie?«

»Ich habe sie nicht gesehen, aber viel von ihnen gehört. Sie schweifen viel nach dem alten Mexiko hinüber.«

»Richtig! Also doch wahr! Auch noch gehört von zwei sehr berühmten Jägern.«

»Wie heißen sie, Graf? Wenn sie wirklich berühmt sind, so muß ich sie kennen.«

»Habe ihre Indianernamen vergessen, hießen aber Donnerpfeil und Fürst des Felsens. Fürst des Felsens soll famoser Kerl sein. Nie Fehlschuß, nie verlaufen in Prairie, Urwald oder Felsenbergen. Famoser Yankee, auf Ehre!«

»Sie irren, Graf; dieser »Herr des Felsens« ist kein Yankee.«

»Was sonst?«

»Ein Deutscher.«

»Ah! Wunderbar! Kennen ihn?«

»Ja. Ich kenne auch den Namen des Andern. Donnerpfeil wird von den Wilden Itinti-ka genannt. Ich habe ihn nicht gesehen. Aber den Herrn des Felsens kenne ich sehr genau; die Rothhäute nennen ihn Matava-se.«

»Ah, wahrhaftig! War dieser Name, auf Ehre. Soll ein Riese sein.«

»Ja, er ist kein Zwerg,« lächelte Sternau.

»Wahrer Goliath! Schlägt ein Pferd mit Faust nieder!«

»Oho!« ertönte es rundum.


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Der Graf blickte sich im Kreise um und fragte:

»Wer glaubt nicht? Schlägt ein Pferd nieder, auf Ehre! Wer zweifelt noch?«

Auf diese drohende Frage erfolgte keine Antwort, und der Großherzog meinte:

»Ich möchte doch einmal so einen berühmten Westmann sehen!«

Und der Graf fügte nickend hinzu:

»Ich auch. Würde ihn einladen. Freund sein. Famos reiten und schießen, auf Ehre!«

»O, der Wunsch der Herren ist ja bereits erfüllt!« sagte Sternau.

»Wenn? Wo?« fragte der Graf.

»Jetzt, hier,« antwortete Sternau.

»Ah, Sie?«

»Ja, ich.«

»Hm, ja. Sind sehr famoser Kerl, aber doch nur Tourist gewesen. Habe mich erst zurückgezogen; dachte an Humbug; habe aber gesehen, daß Sie exquisiter Mann. Aber noch kein echter Westläufer, kein Kerl wie Donnerpfeil oder gar Fürst des Felsens.«

»Sie irren abermals,« sagte Sternau; »denn dieser Matava-se, dieser Fürst des Felsens bin ich selbst.«

»Ah!«

Der Graf riß die Augen auf und den Mund noch weiter. Vor Ueberraschung drückte er das Monocle vor das Auge und blickte den Arzt starr an. Auch die Andern glaubten eher an einen Scherz als an Ernst.

»Ist es wahr, Doctor?« fragte der Großherzog.

»Gewiß. Oder dürfte ich es wagen, mir mit Ew. Hoheit einen Scherz zu erlauben!«

»Halt!« sagte der Graf. »Wollen sehen! Prüfen!«

»Prüfen Sie!« sagte Sternau ruhig.

»Fürst des Felsens soll 'mal fürchterlichen Stich in Hals erhalten haben.«

»Hier ist die Narbe. Blicken Sie her!«

Er zog den Kragen zurück, und alle überzeugten sich von dem Dasein der Narbe.

»Gut, sehr gut!« sagte der Graf. »Fürst des Felsens hat berühmte Kugelbüchse, Bärentödter; schießt Kugel Nummer Null. Ungeheuer schwer.«

»Hier ist die Büchse!«

Er nahm die große Büchse vor und hielt sie dem Grafen hin. Man sah ihm nicht an, daß dieses Gewehr schwer sei, aber als der Graf zugriff, ließ dieser sofort den Arm sinken.

»Teufel!« rief er. »Schweres Thier! Zwanzig Pfund, wie?«

Auch der Großherzog griff nach der Bärenbüchse, und nun begann ein großes Wundern.

»Aber, Doctor,« sagte der Fürst, »Sie hantieren mit dieser Büchse ja wie mit einem leichten Stocke. Vorhin, als sie das Lasso mit ihr parirten, sah es aus, als ob sie kaum ein Pfund schwer sei.«

»Riesige Kraft! Ist wirklich Fürst des Felsens, auf Ehre!« meinte der Graf.


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»Ich werde den Herren noch einen weiteren Beweis geben. Es wurde vorhin nicht geglaubt, daß dieser Matava-se mit der bloßen Faust ein Pferd niederschlägt. Ludewig!«

»Ja, Herr Doctor!« antwortete der Bursche.

»Führe einen der schweren Ackergäule vor!«

»Ah!« rief der Graf, welcher jetzt ganz begeistert war. »Prachtvolles Experiment! Ackergaul niederschlagen. Famos! Nicht dagewesen! Prächtiges Amusement!«

Der Bursche brachte das Pferd; es war ein etwa neunjähriger Fuchs, welcher lange nicht an die Luft gekommen war. In Folge dessen zeigte er sich sehr lebhaft; es gelang ihm, sich los zu reißen, und nun trabte er wiehernd im Hofe umher. Ludewig wollte ihn wieder fangen.

»Laß ihn!« sagte Sternau. »Er wird gehorchen.«

Um es sich noch schwerer zu machen, warf er sich die Gewehre über den Rücken und schritt auf das Pferd zu. Dieses wandte sich wiehernd von ihm ab und entsprang. So entstand ein Haschen, welches dem Fuchse Spaß zu machen schien. Da aber holte Sternau aus, nahm einen Anlauf - ein Sprung, und er saß auf dem Pferde.

»Ach, glanzvoll! Auf Ehre!« rief der Graf.

Sternau trieb durch den einfachen Schenkeldruck den Fuchs einige Male im Hofe auf und ab, dann stieg er wieder ab.

»Aufpassen, meine Herren!« rief er. »Nicht niederschlagen, sondern niederwerfen.«

Er steckte dem Pferde zwei Finger der rechten Hand in die Nüstern, so daß es vorn emporsteigen wollte - ein kurzer Schritt zur Seite, eine Wendung nach hinten, ein gewaltiger Ruck, und der Fuchs lag an der Erde.

Die Herren klatschten und auch die Damen fielen ein.

»Wahrer Goliath! Simson! Auf Ehre!« meinte der Graf. »Ist Fürst des Felsens! Glaube es gern!«

Der Fuchs hatte sich aufgerafft und stand zitternd vor dem riesenstarken Manne.

»Jetzt niederschlagen!« rief dieser.

Er holte aus und traf mit einem fürchterlichen Hiebe seiner Faust die Stirn des Pferdes, grad über dem einen Auge. Eine einzige Sekunde lang ging ein sichtbares Zittern durch den Körper des Thieres, dann aber brach es mit einem einzigen Rucke zusammen und blieb regungslos am Boden liegen.

»Ach! Oh! Verteufelter Kerl!« jubelte der Graf, ganz enthusiasmirt. »Wer macht das nach? Keiner! Auf Ehre!«

Die Zuschauer waren ganz starr vor Erstaunen über eine solche physische Stärke. Droben standen die Damen noch erstaunter als die Herren.

»Mein Gott, solch ein Herkules ist mir noch nicht vorgekommen!« sagte die Großherzogin. »Haben Sie das gewußt, theuerste Gräfin?«

Rosa's Gesicht glänzte vor Genugthuung.

»Ja,« sagte sie. »Er hat sich bei uns in Rodriganda gleich als Held eingeführt.«

»Ach!«


// 739 //

»Wir wurden von einer ganzen Schaar Räuber überfallen; es waren fünf; vier tödtete er, und der Fünfte floh.«

»Außerordentlich!«

»Einen unserer größten Feinde hielt er frei über den Abgrund hinaus.«

»Gott! Vor solch einem Manne sollte man sich eigentlich fürchten!«

»Ja, wenn er nicht auch an Herz und Gemüth ein eben solcher Riese wäre!«

»Er sollte Offizier sein. Denken Sie sich diesen Mann, diese Gestalt in Uniform.«

Rosa erröthete.

»Ja, man muß ihn auch so lieben,« fügte die Großherzogin hinzu. »Sie erlauben doch, daß wir ihn Ihnen öfters zu uns entführen?«

»Er wird Ew. Majestät Befehlen stets gehorsam sein.«

Auch unten sprachen sich die Herren in ganz gleicher Weise über ihn aus. Der Oberförster war zu ihm und dem Pferde getreten; er hatte doch eine kleine Sorge.

»Doctor, Sie sind weiß Gott ein ganz verteufelter Kerl!« sagte er.

»Danke!« lachte Sternau. »Ich wollte mich ein Wenig in Respect setzen.«

»Aber das hat mich ein Pferd gekostet.«

»Wieso?«

»Es ist ja todt!«

»Fällt ihm gar nicht ein!«

»Also nur betäubt?«

»Ja. Oder glauben Sie wirklich, daß ein Mensch, selbst wenn er wirklich ein Riese wäre, mit einem Faustschlage ein Pferd tödten kann? Nur zu betäuben vermag er es.«

»Aber es war ein Schlag, gerade wie mit dem Schmiedehammer. Was thut Ihre Hand?«

»Nichts.«

»O, ich denke, die muß ganz zerschmettert sein!«

»Das fällt ihr gar nicht ein.«

»Zeigen Sie her!«

»Hier!«

Der Oberförster untersuchte die Hand, wobei auch die anderen Herren sich neugierig näherten. Er schüttelte den Kopf.

»Meine Herren,« sagte er; »sehen Sie diese Hand, so weich wie eine Frauenhand. Nur der kleine Finger ist etwas geröthet.«

»Unbegreiflicher Mensch! Famoser Kerl!« sagte Graf Walesrode. »Müssen zu mir kommen, Doctor! Auf Schloß Grillstein schöne Waffen, vortreffliche Pferde, guten Wein, auf Ehre! Müssen Freunde werden! Wie?«

»Ich acceptire!« sagte Sternau.

»Hier Hand, topp!«

»Topp!«

»Aber nun noch zeigen Bärentödter! Nur ein Schuß, ein einziger! Bitte, Doctor!«

»Wenn die Herren es wünschen -?«

»Ja, wir bitten um einen Schuß,« sagte der Großherzog.


// 740 //

»Geben Sie mir ein Ziel!«

Die Herren sahen sich vergebens nach einem solchen um. Da sagte Sternau:

»Sehen die Herren drüben über der Mauer und weit jenseits der Tanne die Eiche?«

»Gewiß!« sagte der Graf. »Ist groß genug! Famoses Geäst! Echt deutsche Eiche, auf Ehre!«

»Nehmen Sie den langen Ast, welcher rechts am Weitesten hervorsteht.«

»Gut.«

»Ein Zweig geht von ihm abwärts?«

»Sehe ihn!«

»An seiner Spitze sind drei Blätter, und auf dem mittelsten sitzt ein Eichapfel.«

»Unmöglich! Wer kann Eichapfel sehen so weit! Mein Auge ist kein Riesentelescop, auf Ehre!«

Auch die andern Herren sahen nichts. Den Zweig konnten sie wohl erkennen, aber die drei Blätter und gar der Apfel waren für sie nicht zu unterscheiden.

»Sie sehen wirklich den Apfel, Doctor?« fragte der Graf.

»Ja, ganz genau.«

»Mirakulös, ganz vehement mirakulös!«

»Ich habe Prairienaugen.«

»Hm, ja! Und diesen Apfel wollen Sie schießen?«

»Ja.«

»Unmöglich! Ganz und gar unmöglich. Diese Distance und dieses Object! Bringen es nicht fertig, Doctor!«

Sternau nahm aber doch den Bärentödter vor und wandte sich an den Großherzog:

»Wollen Hoheit die Güte haben, sich in die Nähe des Baumes zu begeben, bis der Eichapfel zu sehen ist? Auf ein Zeichen werde ich ihn herabholen.«

»Halt,« sagte der Oberförster, »ich habe ja ein Fernrohr und auch einen Operngucker.«

Diese Instrumente wurde herbeigeholt, und dann verließen die Herren den Hof, um sich nach der Eiche zu begeben. Da trat Ludewig heran.

»Sehen Sie wirklich den Apfel, Herr Doctor?« fragte er.

»Ja, aber nur als kleinen, dunklen Punkt.«

»Und Sie werden ihn treffen?«

»Den Apfel nicht direct, denn sonst fehlte mir der Beweis. Ich werde das Blatt herabschießen, an welchem er sich befindet.«

»Wenn Ihnen das gelingt, so haben Sie den Teufel, grad wie der Kurt dahier!«

Nach einiger Zeit erscholl ein lauter Zuruf. Sternau nahm die Büchse empor, frei in die Hand und ohne anzulegen, zielte sehr sorgfältig, setzte auch ein und zwei Male ab, denn es galt einen Meisterschuß zu thun, aber endlich krachte der Schuß.

Er setzte die Büchse ab, warf einen scharfen Blick nach der Eiche und lächelte befriedigt.

»Getroffen?« fragte Ludewig.


// 741 //

»Ja.«

»Und ich habe nicht einmal das Blatt, geschweige denn den Apfel gesehen dahier!«

Eine Minute lang blieb Alles ruhig, dann aber ließ sich von draußen ein Jubelruf vernehmen, und die Herren kehrten zurück. Ihnen voran eilte Graf Walesrode. Er hatte das Blatt und hielt es in die Höhe.

»Getroffen!« rief er von Weitem. »Famoser Kerl! Noch nie gesehen. Das Blatt Ihr Eigenthum natürlich!«

Sternau zuckte die Achsel.

»Wollen Sie das Blatt verkaufen? Kostbares Blatt! Viel Effect damit machen! Zahle jeden Preis, auf Ehre.«

»Pah, ich verkaufe kein Blatt, Graf.«

»So wollen behalten?«

»Nein. Wenn es Ihnen Vergnügen macht, so bewahren Sie es auf; es mag ein kleines Andenken sein an den Mann, dem Sie nicht glaubten, daß er der »Fürst des Felsens« ist.«

»O, Pardon, mein Lieber! Müssen verzeihen; auf Ehre, müssen verzeihen! Sind ja Freunde!«

Da trat der Großherzog an ihn heran und streckte ihm die Hand entgegen.

»Doctor,« sagte er, »Sie sind ein ganz außerordentlicher Mann. In Allem, was Sie einmal begonnen haben, sind Sie Meister. Ich muß Sie näher kennen lernen. Wollen Sie mich morgen auf Schloß Kranichstein besuchen?«

»Ich stehe zu Befehl, Hoheit.«

»Nein, nicht zu Befehl. Sie sollen mir einen Gefallen thun; das nur ist es. Nicht als Fürst will ich Sie empfangen. Aber nun haben wir die Damen genug vernachlässigt. Lassen wir uns diese Sünde verzeihen. Vorher aber, Doctor, zeigen Sie mir Ihr Zimmer. Ich muß wissen, wie ein solcher Mann wohnt und arbeitet.«

Sternau verbeugte sich zustimmend und führte ihn nach seiner Wohnung. Die Herren aber kehrten nach dem Saale zurück.

Nach einiger Zeit erschien Sternau, um die Großherzogin und Rosa de Rodriganda mit sich zu nehmen. Später wurde der Staatsanwalt und Frau Sternau geholt. Es mußte eine wichtige Unterhaltung geben, denn es währte wohl über eine Stunde, ehe die Herrschaften wieder erschienen. Als sie zurückkehrten, bemerkte man, daß Rosa geweint hatte, und auch die Lider der Großherzogin Mathilde waren geröthet.

Nun ließ der Großherzog nach Kurt's Eltern schicken, welche ihren Sohn mitbringen sollten. Die braven, einfachen Leute wurden von dem Fürsten mit außerordentlicher Huld empfangen.

»Sie sind Seemann?« fragte er Helmers.

»Ja, Hoheit.«

»Und haben es bis zum Steuermann gebracht?«

»Ja.«

»Haben Sie Ihre Eltern noch?«


// 742 //

»Nein.«

Diese Fragen wurden mehr aus Gewohnheit ausgesprochen, aber es sollte sich bald zeigen, welche Folgen sie hatten.

»Auch keine Geschwister?«

»Einen Bruder, Hoheit.«

»Ist auch er ein Unterthan von mir?«

»Er ist in Hessen geboren, befindet sich aber in Amerika.«

»Als was?«

»Als - als - - ich kann das wirklich nicht sagen; das Richtige ist wohl, wenn ich sage, daß er Jäger ist.«

»Ah, Jäger! Das ist interessant. Wissen Sie nichts Genaues über ihn?«

»Seit einem halben Jahre haben wir keine Nachrichten von ihm. Er hat sich als Squatter versucht, dann als Fallensteller; nachher ist er in die Goldminen gegangen - -«

»Und ein Millionär geworden?« lächelte der Fürst.

»Das Gegentheil. Er verließ Kaliformen und wurde Cibolero. Er schrieb mir dieses Wort, aber ich weiß nicht, was es bedeutet.«

»Der Herr Doktor wird es uns erklären,« sagte der Großherzog.

»Ciboleros werden die mexikanischen Büffeljäger genannt,« antwortete dieser.

»Auch da brachte er es zu nichts; da wurde er Gambusino.«

»Goldsucher,« erklärte Sternau.

»Dabei wurde er von den Comanchen gefangen. Er floh und nahm zur Strafe einen ihrer Häuptlinge mit - - -«

»Ah!« rief da Sternau schnell. »Einen Häuptling?«

»Ja.«

»Wissen Sie das gewiß?«

»Ganz gewiß. Er hat es mir ja geschrieben.«

»Haben Sie den Brief noch?«

»Ja. Es steht auch der Name des Häuptlings darin.«

»Ah, hieß er vielleicht Yo-ovuts-tokvi?«

»Ein solch' kauderwelsches Wort ist's, was da steht, aber dahinter steht zu Deutsch der Name »der schwarze Wolf«.«

»Ja ja; Yo-ovuts-tokvi heißt in der Utahsprache, welche viele Stämme der Comanchen sprechen, der schwarze Wolf. Ist das möglich! Wie wunderbar!«

»Was ist wunderbar?« fragte Graf Walesrode.

»Meine Herren, wir haben vorhin von einem berühmten weißen Jäger gesprochen; es wurden zwei Namen genannt, der meinige und der seinige; nun, unser Herr Helmers hier ist der Bruder dieses berühmten Mannes.«

Das gab nun wieder eine Ueberraschung. Sogar der Großherzog sagte :

»Heute ist ein Tag der Außerordentlichkeiten. Aber, irren Sie sich nicht, Doktor?«

»Nein, Hoheit. Wenn der Bruder von dem Steuermanne wirklich den Häuptling der Comanchen entführt hat, so ist er Der, welchen wir meinten. Ich werde gleich den Beweis führen.« Und sich an Helmers wendend, fragte er: »Wenn Ihr


// 743 //

Bruder Ihnen den Namen des Comanchen genannt hat, so hat er Ihnen jedenfalls auch geschrieben, wie er selbst da drüben geheißen wird?«

»Ja.«

»Nun?«

»Er hat auch so einen indianischen Namen, und weil es der Bruder ist, so habe ich ihn mir gemerkt; daneben steht dann die deutsche Uebersetzung.«

»Nun, wie heißt er?«

»Itinti-ka, das heißt Donnerpfeil.«

»Nun, meine Herren, habe ich Recht oder nicht?« fragte Sternau.

»Außerordentlich! Wunderbar! Famose Geschichte!« rief Graf Walesrode. »Donnerpfeil habe ich gehört bei amerikanischen Gesandten!«

»Und ich habe gesagt, daß Donnerpfeil auf Indianisch Itintika heißt,« meinte Sternau.

»Das würde, wenn es eine Folge dieser interessanten Entdeckung gäbe, eine Fügung Gottes genannt werden müssen,« sagte die Großherzogin.

»O, Hoheit, ich bin überzeugt, daß die Folge nicht ausbleiben wird,« sagte Sternau. »Ich glaube an Gott, und habe tausendmal erkannt, wie seine Hand selbst das Entfernteste verbindet. Es war das damals eine ganz außerordentliche Geschichte, als Donnerpfeil als Gefangener entwich und sogar den schwarzen Wolf mit sich entführte. Das war eine Heldenthat, welche geradezu in Aller Munde lebte. Wenn Hoheit gestatten, so werde ich dieses hochinteressante Abenteuer morgen in Kranichstein erzählen.«

»Ja, gewiß,« sagte der Großherzog. »Wir rechnen darauf, daß Sie kommen. Sie bringen natürlich hier unseren Rodenstein mit. Ich würde Sie heute um diese Geschichte bitten, aber unsere Zeit ist bereits längst abgelaufen. Ich wollte nur nicht scheiden, ohne die Eltern unseres kleinen Kurt gesehen zu haben. Komm' her, mein Sohn!«

Kurt trat näher heran.

»Weißt Du, welche Prämien auf den Wolf und auf den Luchs gesetzt waren?«

»Ja.«

»Nun?«

»Zwanzig Thaler und hundert Thaler.«

»Sie gehören Dir. Komm', halte Deine Hände auf!«

Der Knabe streckte, am ganzen Gesichte lachend, seine beiden Hände hin. Der Großherzog zog seine mit Gold gefüllte Börse und zählte sie ihm voller Goldstücke.

»Hier, hast Du fünfzig Dukaten.«

»Fünfzig Dukaten?« sagte Kurt. »Das stimmt nicht!«

»Wie? Nicht?« fragte der Großherzog.

»Nein; es ist zu viel, Hoheit.«

»Nun, das Uebrige ist auch Dein. Nimm es als Dank für die Künste, welche wir heute von Dir gesehen haben.«

Da blickte der Knabe dem Fürsten freudig bewegt in die Augen und fragte :

»Ist das wahr, Hoheit?«

»Ja.«


// 744 //

»Und ich darf damit machen, was ich will?«

»Ja,« sagte der Großherzog gespannt.

»Nun, so bekommen meine hundertzwanzig Thaler die Eltern und das Uebrige erhält der Klaus.«

»Warum?«

»Der hat mir das Viehzeug nach Hause gefahren; der hat kein Holz, und vor einer Woche sagte mir seine kleine Anna, daß ihr der Bauch so weh thut, weil sie nichts zu essen haben.«

Das war nicht gewählt gesprochen; aber die Großherzogin zog den Jungen an sich und drückte ihm einen Kuß auf den Mund. Sie war kinderlos, aber sie hatte ein gutes, weiches Herz.

Nun wurde aufgebrochen. Da der Großherzog über Mainz fuhr, so erhielt der Staatsanwalt die Erlaubniß, sich ihm anzuschließen. Der Abschied der Herrschaften war ein herzlicher, und die Einladung auf morgen wurde abermals wiederholt.

Als die Wagen und Reiter verschwunden waren, stand der Hauptmann von Rodenstein vor dem großen Pfeilerspiegel, um zu sehen, wie ihm das Kreuz des Ludwigsordens stand; da trat der Forstgehilfe Ludewig herein.

»Nun, Herr Hauptmann, habe ich meine Sache gestern wirklich so schlecht gemacht, wie Sie sagten?« fragte er.

»Kerl, Du bist ein Prachtjunge!« lautete die Antwort. »Statt der Nase diesen Orden! Himmeldonnerwetter, ist das ein Unterschied! Ich muß nur gleich zum Doktor gehen, um zu erfahren, was in seinem Zimmer gesprochen worden ist!«

Er fand den Doktor mit Rosa beisammen. Sie saßen traulich neben einander und schienen sich über denselben Gegenstand unterhalten zu haben, welcher den Hauptmann herbeiführte.

»Gott sei Dank!« sagte dieser. »Es ist eine große Ehre, diese Herrschaften bei sich zu sehen; aber heiß wird Einem doch dabei. Den Wirth greift es am Meisten an; obgleich ich sagen muß, daß auch Sie ganz tüchtig gearbeitet haben, Doktor. Diese hohen Herren und Damen haben einen ganz gewaltigen Respekt vor Ihnen bekommen.«

»Ja,« sagte Rosa ganz glücklich, »man möchte fast sagen, daß er eine Schlacht gewonnen hat. Er hat sich die Achtung und das Wohlwollen von Personen erkauft, denen wir viel zu verdanken haben werden.«

»Hat der Großherzog sich dahin ausgesprochen?«

»Ja,« sagte Sternau. »Wir haben ihm Alles erzählen müssen.«

»Und - - -?«

»Er hat uns einen Rath gegeben, welchen ich schleunigst befolgen werde.«

»Welchen?«

Rosa erröthete; Sternau antwortete:

»Ich werde baldigst abreisen, um Kapitän Landola aufzusuchen; vorher aber, so lautete der Rath der Hoheiten, sollen wir uns vermählen.«

»Donnerwetter! Ist dies so schnell möglich?«

»Ja. Der Großherzog will alle Hindernisse beseitigen und dann während meiner Abwesenheit Rosa unter seinen speciellen Schutz nehmen.«


Ende der einunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Waldröschen

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