(|94|)A XI. [Elftes Kapitel.]

Paroli.

Es war am Abende. Ein feiner, dichter Regen fiel vom Himmel nieder, so daß auf den Straßen der Residenz nur Diejenigen verkehrten, welche die Nothwendigkeit aus ihren Wohnungen trieb. Der Posten, welcher vor dem Polizeigebäude auf und ab patrouillirte, hatte sich fest in seinen Mantel gehüllt und murmelte zuweilen ein zorniges Kraftwort über das unfreundliche Wetter, dem er sich in Folge seiner dienstlichen Obliegenheiten preisgeben mußte.

Ein hochgewachsener Mann, der einen weiten Gummirock mit Kapuze trug, kam die Straße heraufgeschritten und trat durch das Portal in das Gebäude. Der diensthabende Polizist im Flure desselben trat ihm einen Schritt entgegen.

"Was wünschen Sie?"

"Ist der Inspektor zu Hause?"

"Der Herr Inspektor, wollen Sie wohl sagen! Er ist zwar da, aber nicht mehr zu sprechen."

Statt aller Antwort drehte sich der Mann um und schritt auf die Treppe zu. Der Polizist eilte ihm nach und faßte ihn am Arme.

"Ich sagte, daß der Herr Inspektor nicht zu sprechen sei."

Der Andere schlug jetzt die Kapuze zurück und frug:

"Kennen Sie mich?"

Der Beamte trat erschrocken einen Schritt zurück.

"Durchlaucht Excellenz! Verzeihung, ich konnte Ew. Hoheit ganz unmöglich erkennen!"

Der Herzog von Raumburg, denn dieser war es, nickte kurz und stieg dann zur ersten Etage empor, in welcher sich die Wohnung des Inspektors befand. Dort angekommen, öffnete er ohne Weiteres eine Thür und befand sich seinem Untergebenen gegenüber, den über den unvermutheten Besuch eine sichtliche Überraschung befiel.

"Durchlaucht!"

"Schon gut; lassen wir alle Komplimente! Sie kennen meine Gewohnheit, Alles selbst zu sehen, mich von Allem so viel wie möglich selbst zu überzeugen. Ich komme, die Polizeigefängnisse zu revidiren. Ist Alles in Ordnung?"

"Alles," antwortete der Inspektor, nach einem Schlüsselbunde greifend.

"Lassen Sie die Schlüssel! Sie wissen, daß ich einen Hauptschlüssel für die Schlösser sämmtlicher Landesanstalten besitze. Ist bereits abgespeist?"

"Ja."

"Die Gefangenen haben die Strohsäcke in ihre Zellen bekommen und werden nun eigentlich nicht mehr gestört?"

"So ist es, Excellenz!"

"Sind alle Schließer da?"

"Nur der wachthabende; die andern haben frei."

"Gut. Er wird mich führen, und Ihre Begleitung ist also nicht nöthig."

Der Herzog verließ das Zimmer und schritt dem ihm wohlbekannten Theile des Gebäudes zu, in welchem sich die mit Nummern versehenen Gefängnißzellen befanden. Sie lagen an den Seiten von zwei Korridoren, welche den ersten und zweiten Stock des Hinterhauses bildeten. Der Jour habende Schließer erkannte ihn sofort und stellte sich in devotester Haltung zur Disposition.

"Revidiren!" klang es kurz und befehlshaberisch.

"Wo, Excellenz?"

"Zunächst oben!"

Sie stiegen eine zweite Treppe empor. Der Schließer öffnete eine Zellenthür nach der andern und leuchtete in die engen Räume, in welche der Herzog einen kurzen Blick warf. Fast waren sie damit fertig, als Raumburg frug:

"Haben Sie Trinkwasser oben?"

"Nein; es befindet sich im unteren Korridore."

Der Herzog hatte dies bereits bemerkt und gerade deshalb dieses Mittel gewählt, den Beamten auf eine kurze Zeit zu entfernen.

|95A "Es gibt hier eine Luft, welche in Folge des Zellendunstes beinahe unerträglich ist. Holen Sie mir ein Glas frisches Wasser!"

Der Schließer beeilte sich, diesem Befehle schleunigst nachzukommen. Kaum hatte er den Gang verlassen, so trat der Herzog zu einer Thür, welche eine nach dem Boden führende Treppe verschloß. Mit Hilfe seines Hauptschlüssels war sie in drei Sekunden geöffnet; dann schloß er ebenso die Zelle auf, in welcher Helbig detinirt war, und zog ein Bündel unter seinem Rock hervor.

"Schnell, schnell! Hier ist der Strick. Dort hinauf!"

Helbig ergriff das Bündel und huschte die dunklen Stufen empor. Der Herzog verschloß die beiden Thüren hinter ihm und war damit vollständig fertig, als der Schließer das Wasser brachte. Die Revision wurde fortgesetzt.

|96A Als der Herzog vorhin auf das Polizeigebäude zuschritt, war ihm von weitem ein Mann gefolgt, welcher sich ungesehen von ihm und dem Militärposten so plazirte, daß er den Eingang des Gebäudes im Auge zu behalten vermochte. Es war Max, der Sohn des Hofschmiedes Brandauer. Aus dem belauschten Gespräche zwischen Raumburg und Helbig hatte er mit Sicherheit geschlossen, daß heut etwas gegen ihn, Zarba und den Hauptmann unternommen werde, und daher den Palast des Herzogs aufgesucht, um das Nöthige zu beobachten. Seine Vermuthung bestätigte sich; er sah den Herzog seine Wohnung verlassen und folgte ihm auf dem Fuße bis hierher.

Er nahm als gewiß an, daß Helbig sein Gefängniß heimlich verlassen werde; da er aber die Art und Weise nicht kannte, in welcher dies bewerkstelligt werden sollte, so konnte er nicht den Mörder beobachten, sondern mußte sich begnügen, seine Aufmerksamkeit auf den herzog zu richten.

Er hatte beinahe eine volle Stunde gewartet, als er den Letzteren endlich aus dem Portale treten und die Straße hinabschreiten sah. Er folgte ihm.

Raumburg bog in die nächste Seitenstraße ein und folgte dann einigen engen Gassen, die ihn an die hintere Seite des Polizeigebäudes führten. Dieses lag außerhalb der inneren Stadt, und seine Rückfront stieß an das offene Feld, welches hier die Spuren einiger alter Festungsgräben zeigte, die nicht zugeschüttet worden waren. In den Vertiefungen wucherte ein üppiges Weidengebüsch, zu welchem der Herzog seine Schritte lenkte. Dort angekommen, stieß er einen leisen Pfiff aus, und sofort tauchte die Gestalt Helbigs vor ihm empor.

"Helbig!"

"Hier!"

"Alles gut?"

"Ja."

"Wo ist das Seil?"

"Es hängt noch."

"Wirst Du wieder hinaufkommen?"

"Ja, wenn ich wirklich wieder in die Zelle muß. Aber ich denke, Sie wollen mir die Freiheit schenken!"

|96B "Du sollst sie auch haben, aber auf anderem Wege. Du kehrst in Deine Zelle zurück, und ich werde dafür sorgen, daß durch ein Alibi Deine Unschuld bewiesen wird."

"Es ist finster, und Niemand wird das Seil bemerken, mit dessen Hilfe ich wieder hinauf zum Bodenfenster klettere; aber wie komme ich von dort oben wieder in meine Zelle?"

"Sobald Du oben bist, wirfst Du das Seil herab; ich werde es dann selbst entfernen. Natürlich kann ich Gründe haben, gegen Morgen das Gefängniß nochmals zu revidiren; Du wartest hinter der Bodenthür, bis ich diese öffne. Es wird morgen Niemand ahnen, daß Du während der Nacht das Gefängniß verlassen hast."

"Und nun meine Aufgabe, gnädiger Herr?"

"Du gehst zunächst in meinen Garten. In derjenigen hinteren Ecke, welche nach dem Flusse zu liegt, findest Du ein Paket. Es enthält einen vollständigen Handwerksburschenanzug, den Du anlegst. Hast Du Geschick genug, für einen Schmiedegesellen zu gelten?"

"Wird mir nicht schwer fallen, Durchlaucht."

"Schön! Hier hast Du ein Wanderbuch, in welchem Du natürlich vorher die Visa nachsehen mußt. Kennst Du Brandauers Hofschmiede?"

"Ja."

"Dorthin gehst Du und sprichst um ein Nachtlager an."

"Sie werden mich in die Herberge weisen."

"Ich habe Erkundigung eingezogen und erfahren, daß der Meister sehr oft wandernde Gesellen bei sich behält, wenn ihm ihr Äußeres und ihre Legitimation gefällt. Dein Wanderbuch wird Dich ihm empfehlen; das Übrige ist Deine eigene Sache. Du mußt auf alle Fälle versuchen, bleiben zu dürfen; halte Dich an die Gesellen; Hier hast Du Geld, ihnen ein Gratial zu geben. Und solltest Du partout gehen müssen, so benütze Deine Zeit wenigstens dazu, Dich mit der Örtlichkeit vertraut zu machen, damit es Dir gelingt, Dich heimlich einzuschleichen."

"Und was kommt dann?"

"Der Schmied hat einen Sohn, Namens Max, welcher in der Stube über der Schmiede schläft. Auf der andern Seite wohnt eine Zigeunerin und ein verabschiedeter Artilleriehauptmann; das sind drei Personen, für welche ich Dir hier dieses Messer und diesen Revolver gebe; er ist geladen. Weiter kann ich nichts sagen."

|97A "Ist auch nicht nöthig! Sie können sich darauf verlassen, daß ich stets vollbringe, was ich mir einmal vorgenommen habe. Geht es im Stillen mit dem Messer, so ist es mir um so lieber; gelingt es aber nicht, so schieße ich die Drei ganz einfach vor Aller Augen nieder. Für meine Person ist keinerlei Gefahr dabei."

"Du kleidest Dich dann in meinem Garten wieder um, wo ich in der hintersten Laube auf Dich warten werde. Gelingt Dir Alles gut, so bist Du in wenigen Tagen frei und ich statte Dich so aus, daß Du ohne Sorgen leben kannst. Jetzt geh!"

Helbig verschwand. Der Herzog wartete noch einige Minuten und entfernte sich dann auch. Jetzt erhob sich kaum einige Fuß von dem Platze, an welchem die Beiden gestanden hatten, Max vom Boden. Er hatte jedes Wort der für ihn so gefahrdrohenden Unterredung vernommen.

"Ein sauberes Paar! Der Plan ist wahrhaftig so verwegen, daß wir sehr bedeutende Personen sein müssen, von deren Entfernung höchst Wichtiges abzuhängen scheint. Diesen Helbig werde ich bekommen, und den Herzog später auch, trotzdem ihm sein Rang den besten Schutz gewährt!"

Er kehrte nach der Schmiede zurück.

Dort saßen heut die Gesellen nicht wie an schönen Abenden im Freien, sondern sie hatten sich in der Werkstatt plazirt. Thomas fehlte; es waren also nur Baldrian, Heinrich und die Lehrlinge anwesend.

"Wenn ich nur wüßte, warum der Thomas verreist ist!" meinte Heinrich, der Artillerist. "Es muß das einen ganz besonderen Grund haben."

"Das ist am Den!" nickte Baldrian, der Grenadier.

"Kannst Du Dir nichts denken?"

Baldrian schüttelte mit dem Kopfe, und Heinrich fuhr fort:

"Erst eine Depesche und dann der Obergeselle auf Reisen - es geht Etwas vor. Meinst Du nicht auch, Baldrian?"

"Das ist am Den!"

"Droben die Zigeunerin und der Hauptmann; dann der junge Herr immer auf dem Sprunge - es geht Etwas vor! Hast Du das Gesicht gesehen, welches er machte, als er jetzt kam?"

Baldrian nickte.

"Das sah aus, als hätte er etwas ganz Außerordentliches erlebt. Er war fadennaß, und der Schmutz lag so dick auf seinen Hosenbeinen, als hätte er draußen auf dem Felde gelegen. Nun ist er mit dem Meister hinauf zu der Zigeunerin, wo sie Allerlei verhandeln, als ob großer Kriegsrath abgehalten würde, gerade wie damals, als wir vor Hochberg lagen und kein Mensch Rath wußte, bis ich endlich der ganzen Generalität aus der Patsche half."

"Du?" frug Baldrian verwundert.

"Ja, ich. Das war nämlich so: Wir belagerten Hochberg schon sechs Wochen lang und konnten doch das Nest nicht bekommen. Der Oberstkommandirende war ganz grimmig darüber, hielt einen Kriegsrath nach dem andern und konnte doch zu keinem Ziele kommen. Eines schönen Tages saßen sie wieder beisammen, und ich hatte den Zimmerpostendienst. Jeder hatte eine andere Meinung; der Generalissimus fluchte und wetterte, daß es krachte, und sagte endlich: "Die Schuld liegt daran, daß wir weder von der Befestigung noch von der Vertheidigung etwas Genaues wissen. Ich wollte der Sache bald ein Ende machen, wenn ich drin Jemand hätte, der mir Alles sagte."

Die Rede leuchtete mir ein; ich konnte mich nicht halten und trat vor.

"Zu Befehl, Herr Generalissimus; schicken Sie mich hinein. Ich werde auf den Thurm steigen und mir Alles genau ansehen."

"Du?" frug er. "Ja so, Du bist ja der Heinrich Feldmann, der berühmteste und gescheidteste Artillerist in meinem ganzen Heere! Getraust Du Dir das wirklich zu Stande zu bringen?"

"Zu Befehl, ja!"

"Gut; ich gebe Dir jetzt sofort Urlaub. Laß Dich ablösen und handle ganz nach Deinem Ermessen; ich weiß, daß Du ein guter strategischer Kopf bist und mir meinen Feldzugsplan nicht verderben wirst. Wenn es Dir wirklich gelingt, so bekommst Du eine lebenslängliche Pension von jährlich fünfhundert Thalern."

"Ich ließ mich also ablösen, setzte mich auf meinen Fuchs, denn ich war doch reitender Kanonier und durfte mich zu Fuße nicht blamiren, und ritt im Galopp gegen die Festung. Sie hielten mich für einen Parlamentär und dachten schon, wir wollten uns ihnen ergeben; darum machten sie schnell das Thor auf und kamen in hellen Haufen herbei, um mich zu empfangen. Indem ich mir nun die Leute ansehe, erblicke ich unter ihnen den ganz obersten Festungskommandanten. Da fährt mir ein kühner, gewaltiger Plan durch den Kopf, denn ich hatte bemerkt, daß die Kirchthür offen stand. Ich reite also auf den Kerl zu, packe ihn bei der Gurgel, |97B reiße ihn zu mir herauf auf den Fuchs und sprenge mit ihm nach der Kirche. Hinter uns ertönt ein ungeheures Wuthgeheul; ich aber kehre mich nicht im Geringsten daran, sondern galoppire die vier Thurmtreppen hinauf bis auf den Glockenboden. Dort steige ich ab und werfe den Kommandanten vom Pferde; er war in eine Ohnmacht gefallen, und da ich keine ästhetischen Tropfen mit hatte, konnte ich ihm nicht helfen. Im Nu habe ich die Fallthüre zugeworfen und schiebe den Riegel vor. Aber das ganze Heer der Belagerten war mir nachgestiegen und wollte die Fallthür sprengen. Was ist da zu thun? Ich schraube also die drei Glocken los und wälze sie auf die Thür. Das war meine Rettung. Nun binde ich dem Kommandanten die Hände und Füße und gucke durch das Schallloch hinaus. Ich kann da die ganze Befestigung überblicken und gebe unsern Leuten durch Zeichen zu verstehen, was sie machen sollen. Auf diese Weise dauerte es nur fünf Tage, und die Festung war unser. Der Feind wußte natürlich, daß ich die Hauptrolle dabei spielte, und ich wurde darum von der obersten Treppe aus ganz fürchterlich belagert; aber die Glocken waren so schwer, daß ich keine Sorge zu haben brauchte. Gehungert habe ich während dieser fünf Tage auch nicht, denn der Kommandant war gerade als ich kam, beim Konditor gewesen, um seiner Frau fünf Pfund Chokolade und drei Pfund Marzipan mitzunehmen; davon haben wir gelebt, und es schmeckte gar nicht übel. Der Fuchs aber steckte von Zeit zu Zeit den Kopf zum Schallloche hinaus und fraß das Stroh und Heu aus den Dohlen- und Schwalbennestern, die es da draußen in Menge gab. Als die Unsrigen die Festung erstürmt hatten, bauten sie mir auf jeder Treppe einen Triumphbogen mit allerlei Fahnen und Guirlanden, und ich bin wieder hinuntergeritten, daß es puffte."

"Das ist am Den!" nickte Baldrian mit einem Gesichte, als ob er an der fürchterlichsten Kolik litte.

"Willst Du es etwa nicht glauben? Für die Gefangennahme des Festungskommandanten bekam ich extra eine goldene Medaille geschlagen, die mir aber auch irgendwo abhanden gekommen ist, und die Pension beziehe ich noch heut; Ihr seht nur nichts davon, weil ich das Geld stehen lasse, bis es mir einmal gefallen wird, mich zur Ruhe zu setzen."

Baldrian stand im Begriffe, trotz seiner sonstigen Einsilbigkeit eine scharfe Bemerkung zu machen, wurde aber daran verhindert, denn die Hausthür öffnete sich, und Helbig trat ein, den Knotenstock in der Hand und ein volles Felleisen auf dem Rücken.

"Viel Glück ins Haus, Ihr Leute!" grüßte er nach Handwerksburschenmanier. "Ich bin ein wandernder Schmiedegeselle und komme, den Herrn Meister um ein Nachtquartier zu bitten."

"Ein Nachtquartier?" Frug Heinrich. "Hast Du gute Papiere?"

"Ja."

"Steht der Bettel vielleicht drin?"

"Ich bettle nicht, sondern ich verdiene mir von Ort zu Ort so viel Reisegeld, als ich brauche."

"Eigentlich ist hier bei uns keine Herberge; aber der Meister ist ein guter Mann, der schon Manchen übernachtet hat, wenn es ein anständiger Bursche war. Nicht wahr, Baldrian?"

"Das ist am Den!" stimmte der Gefragte bei.

"Du siehst allerdings nicht aus wie ein Bummler; ich werde hinaufgehen und den Meister holen," fügte Heinrich hinzu.

"Ist es nicht möglich, daß ich vielleicht Arbeit hier bei Euch bekommen könnte?" frug Helbig treuherzig. "Ich habe etwas gelernt und immer nur bei tüchtigen Meistern in Arbeit gestanden."

"Ich glaube nicht, doch kannst Du ja den Meister selber fragen."

Heinrich ging, und Helbig wandte sich nun ausschließlich zu Baldrian:

"Nicht wahr, Euer Meister heißt Brandauer?"

"Das ist am Den!"

"Hat er Kinder?"

Baldrian nickte.

"Einen Sohn?"

Ein zweites folgte.

"Ist dieser daheim?"

Ein Drittes Nicken.

"Wohnt Ihr allein im Hause?"

"Das ist nicht am Den!"

"So wohnen auch noch Fremde hier, die eigentlich nicht zur Familie des Meisters gehören?"

Jetzt warf ihm Baldrian einen höchst verweisenden Blick zu.

"Höre, Fremder, halte das Maul; ich halte es auch am Liebsten!"

Diese Rede des schweigsamen Gesellen war kurz und sehr deutlich. Helbig öffnete den Mund zu einer Entgegnung, als sich droben |98A eine Thür öffnete. Max kam mit dem Vater die Treppe herab. Helbig wiederholte seinen Gruß und seine Bitte.

"Zeige mir Dein Buch!" antwortete Brandauer.

Helbig reichte es ihm entgegen. Der Meister blickte es durch und nickte dann zufrieden.

"Du kannst und sollst hier bleiben. Lege ab!"

Helbig stellte seinen Stock in eine Ecke und schnallte das Felleisen vom Rücken. In dem Augenblicke, als er es an einen Nagel hängen wollte, trat Brandauer hinter ihn und legte ihm die Arme um den Leib; zugleich zog Max zwei bereit gehaltene Riemen hervor, und ehe die Andern ihrer Überraschung über dieses unvorhergesehene Ereigniß Ausdruck geben konnten, war der falsche Schmiedegeselle so gefesselt, daß er sich nicht im Geringsten zu rühren vermochte. Auch ihn hatte das Plötzliche des Angriffs so außer aller Fassung gebracht, daß kein einziger Laut von seinen Lippen zu hören war. Die Gesellen und Lehrlinge standen wortlos und staunten; der Meister legte den Gefesselten zur Erde.

"Also ein Nachtlager bekommst Du, mein Junge, das habe ich Dir versprochen; nur weiß ich nicht, ob es nach Deinem Gusto sein wird. Laß einmal sehen, was Du bei Dir hast!"

Er zog ihm zunächst das Geld aus der Tasche.

"Das also war zum Gratial für meine Gesellen. Seine Durchlaucht werden es ehrlich wieder bekommen!"

Jetzt fand er das Messer und den Revolver.

"Und das war für die drei Menschen, welche Euch im Wege sind! Ich werde Dir diese Sachen bis Morgen aufheben und sogar auch Deine Kleider aus der hintersten Gartenecke holen lassen, damit Du nicht in Verlust geräthst. Baldrian!"

"Herr Meister!"

"Dieser Mensch ist ein gefährlicher Verbrecher; ich muß ihn heut hier behalten und übergebe ihn Dir und Heinrich. Schließt ihn in die Eisenkammer und seht darauf, daß er Euch nicht etwa abhanden kommt. Ich weiß, ich kann mich auf Dich verlassen!"

"Das ist am Den!"

Der starke Geselle nahm den Gefangenen von der Erde auf, warf ihn mit Leichtigkeit über die Schulter und trug ihn nach dem bezeichneten Orte. Heinrich und die Lehrjungen folgten; es gab ja hier ein Abenteuer, welches sie ganz gehörig durchkosten mußten.

"Ich werde morgen Vormittag zum König gehen, um ihm die Sache vorzutragen," meinte Brandauer. "Er und kein Anderer hat hier zu entscheiden, da der Herzog seine Hand im Spiele hält. Willst Du noch hin zu diesem?"

"Ja, und zwar sofort, er ist ein Meuchler; aber ich biete ihm mein Schach in das Gesicht."

Er ging. Nachdem er über den Fluß gerudert war, passirte er das herzogliche Palais und sprang dann über die Gartenmauer. Er brauchte keine Vorsicht anzuwenden, da Helbig ja von Raumburg erwartet wurde. Er schritt offen zur Laube; in ihrer Nähe angekommen, griff er in die Tasche, in welcher er ein Phosphorlaternchen stecken hatte, deren Schein ihm jede Feindseligkeit von Seiten des Herzogs zeigen mußte.

"Helbig!" klang es ihm halblaut entgegen.

"Durchlaucht!" antwortete er ebenso.

"Schon! Ich hatte Dich viel später erwartet; es muß sehr günstig gestanden haben. Wie ist es abgelaufen?"

"Schnell und gut."

"Sind sie todt?"

"Nein."

"Alle Teufel; warum kommst Du dann?"

Jetzt öffnete Max die Laterne, deren genügend heller Schein auf den Herzog fiel.

"Um Ihnen zu sagen, Durchlaucht, daß Sie ein Schurke sind!" antwortete er mit fester, ruhiger Stimme.

"Ein Schur - - ah, wer ist das? Wer sind Sie? Was wollen Sie hier?"

Max ließ das Licht einen Augenblick lang auf sein Gesicht fallen.

"Sehen Sie her! Sie kennen mich ja wohl."

"Brandauer! Hölle und Teufel! Mensch, was thun Sie in meinem Garten? Ich lasse Sie sofort arretiren!"

"Das werden Sie bleiben lassen, mein Herr! Ich komme nicht als Dieb und Einschleicher, denn ich wußte sehr genau, daß ich Sie hier treffen würde."

"Nun, was wollen Sie?"

"Ich bitte sehr höflich um die Erlaubniß, mir einen Gegenstand holen zu dürfen, welcher sich gegenwärtig in Ihrem Garten befindet."

"Welchen Gegenstand?"

"Die Kleidung eines gewissen Helbig."

|98B "Helbig? Kleidung? Wer ist das? Ich weiß von Nichts."

"Lügen Sie nicht?"

"Herrrr - -!"

Er trat mit erhobenem Arme auf Max zu. Dieser jedoch wich keinen Zoll breit zurück, sondern antwortete:

"Herrrr - -! Sie sehen, Durchlaucht, mir stehen ganz dieselben Stimmmittel zur Verfügung wie Ihnen, die Vertheidigungswaffen ganz unerwähnt, welche ich gebrauchen würde, falls Sie Lust bekämen, den offenen Kampf mit mir aufzunehmen. Also bitte, darf ich mir die Kleider nehmen?"

"Ich verstehe Sie nicht. Sie reden wahrscheinlich irre!"

"Dann muß ich, um Sie von dem Gegentheile zu überzeugen, ausführlicher sein."

"Nun? Ich befehle Ihnen das allerdings!"

"Seit wann steht Ihnen die Erlaubniß zu, mir irgend etwas zu befehlen? Jetzt reden wohl Ew. Hoheit irre, denn was ich Ihnen gegenüber thue, geschieht einzig und allein nur, weil es mir so beliebt. Sie erinnern sich wohl eines gewissen Helbig, welcher einst in Ihren Diensten stand?"

"Möglich. Weiter!"

"Er scheint von Ihnen vorzugsweise zu Missionen verwendet worden zu sein, welche nicht ganz heller Natur gewesen sind, denn - - -"

"Schweigen Sie!" herrschte ihn der Herzog an.

Das Innere desselben kochte förmlich vor Grimm. Er wußte jetzt, daß sein Anschlag gescheitert, daß Alles verrathen sei; er fühlte, in welcher Gestalt er seinem Gegner erscheinen müsse, und wenn ihm auch seine hohe Stellung eine gewisse Sicherheit gab, er war nicht nur besiegt, er war entlarvt von einem stolzen, unüberwindlich scheinenden Gegner, von einem - Schmiedesohne, der vor ihm stand und bereits schon vor ihm gestanden hatte so ruhig und hehr, wie der Löwe vor dem schmutzigen Gewürm, welches im Staube kriecht. Das steigerte seinen Grimm bis zum höchsten Grade, aber es war eine ohnmächtige Wuth, der lächelnden Ruhe gegenüber, mit welcher Max antwortete:

Wollen Sie nicht Ihre Stimme dämpfen, Durchlaucht? Es kann unmöglich in Ihrem Interesse liegen, unsere Unterredung für Andere hörbar werden zu lassen. Also ich sagte, diese Missionen können nicht ganz heller Natur gewesen sein, ebenso wie zum Beispiel der Auftrag, welchen er heut in Ihrem Interesse ausführen sollte."

"Sie sprechen in Räthseln. Verlassen Sie meinen Garten!"

"Das Erstere ist nicht wahr, und das Letztere ist nicht Ihr Wunsch, denn es muß Ihnen sehr daran liegen zu erfahren, warum ich an Stelle dieses Helbig komme. Er läßt sich nämlich durch mich entschuldigen, da es ihm unmöglich ist, Ihnen seinen Bericht selbst abzustatten. Er liegt gebunden bei mir; Ihr Messer und Revolver wurde ihm abgenommen und ebenso das Geld, welches er zum Gratial für die Gesellen meines Vaters verwenden sollte."

"Elender Verräther!"

"Sie irren wieder, Durchlaucht. Helbig hat Sie nicht verrathen; er hat sogar nicht einen einzigen Laut von sich gegeben; dennoch aber wußte ich bereits ehe er als Handwerksbursche bei uns erschien, welche Gefahr mir, der Zigeunerin Zarba und dem Hauptmann von Wallroth drohte."

"Mensch, wie soll ich Sie behandeln?"

"Anders als bisher, Durchlaucht. Lassen Sie mir die Kleider des Meuchelmörders, und ich gestatte Ihnen dafür, mit dem am Polizeigefängnisse hängenden Seile ganz nach Ihrem Belieben zu verfahren. Ich gehe in dieser Konzession geradezu so weit, daß ich nichts dawider habe, wenn Sie den Entschluß fassen, sich daran aufzuknüpfen. Dann wären alle Kontraste gelöst, und Sie ersparen sich die geplante nochmalige Revision des zweiten Korridors."

"Ah, es scheint, sie sind allwissend!" keuchte der vor Wuth bebende Herzog. "Wo haben Sie diese raffinirten Schlüsse gezogen?"

"Draußen zwischen den Weiden im alten Festungsgraben, gnädiger Herr. Ich stand da auf dem Anstande, um einen Fuchs und einen Marder zu ertappen. Sie gingen Beide ein. Den Fuchs lasse ich für heut noch laufen, denn er ist mir zu jeder Zeit sicher, den Marder aber halte ich fest, da ich ihn nicht an das Polizeigefängniß zurückliefern darf, weil über dieses nächtliche Raubzeug kein Anderer entscheiden soll, als Seine Majestät der König selbst."

"Sind Sie toll?"

"Nichts weniger als das!"

"Und dennoch sind Sie es, sonst würden Sie es nicht wagen, sich mir als Feind zu präsentiren."

"Unsere Intentionen gehen so weit auseinander, daß eine freundliche Beziehung geradezu eine positive Unmöglichkeit genannt werden muß."

|99A "Sie irren!" Der Herzog glaubte jetzt, diplomatisch verfahren zu müssen, und fuhr fort: "Ich könnte Ihnen den Beweis liefern, daß unsere Intentionen sich sehr leicht vereinigen lassen. Schweigen Sie über den heutigen Tag und geben Sie Helbig frei, dann sollen Sie einen mächtigen Beschützer und Gönner in mir finden."

"Sie beweisen mit dieser Forderung gerade das Gegentheil von dem, was Sie beweisen wollen. Ich kann keinen Mörder freigeben, weil ich ja dann sein Mitschuldiger würde; ich stehe so gut auf meinen eigenen Füßen, daß ich eines Gönners und Beschützers nicht bedarf. Unsere Interessen sind so divergirend, daß wir stets Gegner sein werden; doch verspreche ich Ihnen, stets mit offener Stirn mit Ihnen zu verkehren, und rathe Ihnen, dasselbe auch mit mir zu versuchen. Ein ehrenhafter Feind ist schätzenswerth, ein hinterlistiger Freund aber einfach verächtlich. Ich habe Ihnen nichts weiter zu sagen, als daß ich die betreffenden Kleidungsstücke mir mit oder ohne Ihre Genehmigung jetzt nehmen werde."

"Halt! Bedenken Sie sich sehr wohl, ehe Sie Ihr letztes Wort sprechen! Ich kann beglücken und verderben, ganz wie es mir beliebt, und Ihrer Anklage und Verfolgung stehe ich zu hoch, als daß es Ihnen gelingen könnte, mich zu erreichen."

|100A "Ein Glück aus Ihrer Hand würde ich niemals annehmen, und wollen Sie mich verderben, so versuchen Sie es. Ihre Höhe ist nur eine konventionelle, nicht aber eine moralische; in Beziehung auf die letztere stehen Sie auf gleicher Stufe wie Ihr Werkzeug Helbig, und noch ist die Gewißheit nicht vorhanden, daß Ihnen nicht dasjenige Schicksal bevorstehe, von welchem Sie ihn befreien wollten. Gute Nacht!"

Da faßte ihn der Herzog beim Arme.

"Noch einmal: Halt! Sie werden dem Könige wirklich das Geschehene referiren?"

"Nicht ich, sondern der Vater wird es thun."

"So gehen Sie. Sie haben es gewagt, mir Schach zu bieten, und werden eher als Sie glauben erkennen, daß ich Herr meines Feldes bin, während Sie nichts sind als ein elender, jämmerlicher Wurm, den ich gewiß zermalmen und zertreten werde."

Max entzog sich mit einem kräftigen Rucke der Hand seines Gegners. Seine Stimme klang ruhig, aber es lag eine Sicherheit und Festigkeit darin, welche imponiren mußte.

"Sie wagen es, mich einen Wurm zu nennen? Es wird die Stunde kommen, in welcher ich Ihnen den Fuß auf den Kopf setze, um Sie zu vernichten wie eine giftige Viper, deren Dasein nur Gefahr bringt. Unter vier Augen haben Sie mich nicht zu fürchten, denn ich verachte jeden heimlichen Vortheil; öffentlich aber werde ich Sie zu finden und zu treffen wissen, und dann wird Sie kein Rang vor meinen Streichen schützen, von denen Sie entblößt werden sollen bis zur tiefsten Armseligkeit!"

Mit zwei raschen Schritten trat er in die Ecke, nahm das hier liegende Kleiderbündel empor, steckte die Laterne zu sich und schwang sich über die Umfassung des Gartens. Drinnen stand der Herzog wüthend aber rathlos. Er jedoch schritt davon mit dem Bewußtsein, einen glanzvollen Sieg errungen zu haben.

Als er die Schmiede erreichte, saßen die beiden Gesellen wieder am Herde.

"Ihr habt den Mann doch sicher?" frug er sie.

"Na und ob!" antwortete Heinrich, der Artillerist. "Er kann ja kein Glied rühren, und wir wachen hier, bis er fortgeschafft wird. Eine Flucht ist rein unmöglich."

|100B "Das ist am Den!" stimmte Baldrian bei.

"Wo sind die Eltern?"

"Droben bei der Hex - - wollte sagen bei der Zigeunerin."

Max begab sich nach oben, wo er Alle beisammen fand. Er berichtete von seiner Unterredung mit dem Herzoge.

"Er soll kein Wort gesprochen haben, welches der König nicht erfährt," meinte Brandauer.

"Er hat die heiligsten Gefühle des Menschenherzen verhöhnt und alle Bande zerrissen, welche das Kind mit dem Vater vereinigen," fügte der Hauptmann bei. "Er wüthet gegen sein eigenes Fleisch und Blut; ich bin aller Rücksicht gegen ihn quitt und habe die Erlaubniß, von nun an nur an die Qualen zu denken, welche ich auf seine Befehle erdulden mußte. Ich sehe in ihm nur meinen ärgsten Feind, den ich schonungslos bekämpfen muß."

Auch Zarba erhob die Hand.

"Fluch ihm, tausendfachen Fluch! Der Tiger liebt sein Junges und der Geier beschützt seine Brut; dieser Teufel aber zerreißt die Herzen Derer, die ihn lieben. Bhowannie wird ihre Pfeile über ihn schicken, wenn er es am wenigsten vermeint. Schon ist das Messer geschärft, welches gegen ihn gezückt werden soll, und die Vajdzina der Brinjaaren wird ihn zu ihren Füßen sehen, wie er sich windet unter Klagen, Bitten und Jammern; aber sie wird weder Gnade noch Barmherzigkeit für ihn haben, sondern ihm seinen Lohn geben, den er verdient!"

An demselben Tage hatte der Regen die Wasser und Bäche des Gebirges hoch angeschwellt, daß es schwer und bedenklich war, auf Fußpfaden durch die Waldung zu kommen. Auch die wenigen fahrbaren Straßen, welche nach der Grenze führten, wurden schwerer wegbar, und wer nicht gezwungen war, dem Wetter zu trotzen, der blieb daheim am sichern Herde sitzen.

Ungefähr drei Wegsstunden von der Grenze entfernt liegt das Städtchen Waldenberg, rings umgeben von schroffen Höhen, welche die Poststraße nur schwer zu überwinden vermag. Seitwärts von dieser Letzteren steht an einem Saumpfade fast mitten im Walde ein einstöckiges Häuschen, über dessen Thür eine Holztafel angebracht ist, deren verwitterte und verwaschene Inschrift man nur mit Mühe zu entziffern vermag. Sie lautet: "Zur Oberschenke." Fragt der Fremde, ob es denn Gäste gebe, welche Durst genug haben, dieses einsame und anspruchslose Haus zu frequentiren, |101A so antwortet man ihm allerdings mit Ja! er selbst aber würde wochenlang beobachten und zählen können, ehe er zu dem Resultate käme, daß am Tage nicht ein einziger Gast dort verkehrt.

Nur der Eingeweihte weiß, daß sehr oft gewisse Gestalten heimlich in das Gebäude huschen und es ebenso vorsichtig wieder verlassen; er weiß auch, daß zuweilen des Nachts die alte verräucherte Stube kaum die Zahl Derer zu fassen vermag, welche lautlos kommen und verschwinden.

Steht man vor der Thür der Oberschenke, so gestattet ein schmaler Holzschlag, der sich den Berg hinabzieht, einen Blick hinunter in das Thal und auf die Fahrstraße, welche dem Letzteren in vielen Windungen zu folgen hat. Sollte dieser Holzschlag durch eine gewisse Absicht hervorgerufen worden sein? Fast scheint es, als hätte es dem Wirthe ermöglicht werden sollen, von seinem verborgenen Wohnsitze aus die Straße immer im Auge behalten und beobachten zu können.

Heut that er dies nicht; er wußte, daß es keinen Verkehr oder wenigstens keinen nennenswerthen geben werde, er saß an dem gewaltigen Kachelofen, in welchem ein großer Holzklotz mehr klimmte als brannte, rauchte seine Pfeife und hob zuweilen einen dicken Steinkrug zum Munde, um in einem langen Zuge das Getränk zu schmecken, welches bei ihm Bier genannt wurde.

Am Tische, der in der Nähe des Ofens stand, saßen zwei Männer, welche ähnliche Krüge vor sich stehen hatten und ein Gespräch unterhielten, über welches sich ein heimlicher Lauscher gewundert haben würde. Sie waren mehr in Lumpen als in ein ordentliches Gewand gekleidet, und doch hatte der Tabak, den sie rauchten, ein so feines und dabei kräftiges Parfüm, daß der Kenner geschworen hätte, er könne nur von sehr wohlhabenden Leuten bezahlt werden. Die Gesichter der Beiden hatten unbedingt jenen unverkennbaren Schnitt, der den Zigeuner kennzeichnet, während die breiten Züge des Wirthes die nordische Abstammung dokumentirten. Eines aber hatten alle Drei gemein: den Ausdruck der List und Verschlagenheit, der dem Beschauer gleich beim ersten Blicke auffallen mußte.

"Und sie sind wirklich wieder hüben gewesen, die Süderländer?" frug der Wirth.

"Wirklich!"

"Woher weißt Du es, Horgy?"

"Ich bin Ihnen begegnet."

"Alle Teufel! Allein?"

"Mit Tschemba hier."

"Auch Du warst mit?" wandte sich der Wirth an den Genannten. "Wann war es?"

"Heute Nacht, drüben bei der alten Kapelle. Wir wären sicher des Todes gewesen, wenn sie es bemerkt hätten."

"Das ist so gewiß wie mein Ofen hier! Was wird Sie dazu sagen, wenn sie es erfährt?"

"Sie? Hm, sie wird sie heimschicken mit blutigen Köpfen, wie vor fünf Wochen, als sie uns in das Tabaksgeschäft pfuschen wollten. Wenn diese albernen Kerls Ihre Oberhoheit anerkennen und Ihr gehorchen wollten, würde es ganz anders sein. Das Geschäft würde dann nicht zerrissen; es wäre ein gemeinsames; der Gewinn müßte sich verdoppeln, und Gefahr, haha, Gefahr wäre dann ein Wort, welches man gar nicht zu kennen brauchte."

"Aber wie kommst Du zur Kapelle, Horgy? Ich denke, Du warst das, was man verreist zu nennen pflegt!"

"Allerdings. Ich kehrte gestern wieder und traf mit Tschemba zusammen."

"Wo warst Du?"

"In Süderland."

"Ah! Weit drin?"

"In Tremona."

"Bist Du des Teufels? Hatte Sie Dich geschickt?"

"Ja."

"Also ein Auftrag von Ihr! Darf man wissen, was es gewesen ist?"

"Nicht nothwendig. Ich hatte einen Kerl zu beobachten, der die Augen verdrehte, als ob sie an einer Kurbel gingen, und dann einen Brief zu übergeben."

"An wen?"

"An - an einen türkischen Pascha!"

"An einen Pascha? Lüge Du und der Teufel!"

Wirklich war Horgy derjenige Zigeuner, welcher Arthur von Sternburg den Brief für Nurwan Pascha übergeben hatte. Bei der Interjektion des Wirthes lächelte er wie ein Mann, der die Wahrheit nur aus dem Grunde gesagt hat, weil er weiß, daß sie nicht geglaubt wird.

"Frage nicht mehr, als Du darfst! Du weißt, daß Sie streng |101B darauf sieht, daß nie gesprochen wird. Also halte lieber den Mund und schenke mir nochmals ein!"

Der Wirth erhob sich, um den Wunsch des Gastes zu erfüllen; dabei fiel sein Blick durch das Fenster.

"Alle Wetter, dort kommt Einer auf die Schenke zu! Macht Euch hinaus in die Kammer! Es kann zwar Jeder bei mir verkehren, aber man braucht doch nicht Alles und Jedes mit der Kanone in die Welt hinaus zu schießen."

Die beiden Zigeuner verschwanden mit ihren Krügen in dem anstoßenden Raume, und gleich darauf trat der Mann ein, der trotz des herabströmenden Regens den Weg nach der Schenke unternommen hatte. Die Dienstmütze kennzeichnete ihn als einen Post- oder Telegraphenbeamten.

"Eine Depesche!" verkündigte er.

"Eine Depesche? An mich?"

"Ja. Hier ist sie!"

Der Wirth machte Miene, das Couvert zu entfalten; der Beamte verhinderte ihn daran.

"Lest sie nachher. Ich habe keine Zeit, auf Euch zu warten."

"Wollt Ihr nicht ein Bier trinken oder einen Schnaps?"

"Geht nicht. Ich muß pünktlich wieder zurück und habe mich wegen des schlechten Weges bereits verspätet."

Er erhielt seine Gebühr und ging dann. Jetzt öffnete der Wirth den Umschlag und las die Depesche. In seine Mienen kam Bewegung; er trat zur Kammerthür und öffnete dieselbe.

"Kommt heraus! Es gibt Arbeit."

"Arbeit?" frug Tschemba. "Auch für uns?"

"Ja. Ich habe eine Depesche bekommen."

"Woher?"

"Aus der Residenz, von Ihr."

"Von Ihr? Ists möglich?"

"Ja; hört! "Oberschenke Waldenberg - Fuhrmann Beyer und zwei Männer - einen Tag lang aufhalten - mit Gewalt zur Tannenschlucht - Zarba." Habt Ihr es verstanden?"

"Der Beyer soll aufgehalten werden? Er gehört ja doch zu uns!"

"Auf ihn ist es jedenfalls nicht gemünzt, sondern auf die zwei Männer. Er fährt nie einen andern Weg, als hier bei uns vorbei, und Sie muß genau wissen, daß er kommen wird."

"Wer mögen die Männer sein?"

"Geht uns jetzt nichts an. Sie sollen aufgehalten und nach der Tannenschlucht geführt werden. Sind wir Drei dazu genug, oder soll ich noch einige rufen?"

"Wir sind genug, denn der Beyer muß mithelfen."

"So lauf Du in die Stadt, Horgy, und erkundige Dich im "Weißen Schwane," ob er schon dagewesen ist! Er kehrt auf jeden Fall dort ein. Nach dem, was Du erfährst, haben wir uns dann einzurichten."

Der Zigeuner folgte dem Gebote. Er holte den Telegraphenbeamten ein, so schnell schritt er aus, doch ließ er sich nicht von ihm bemerken, sondern schlug sich an ihm vorüber durch den Wald, nicht achtend der Nässe, welche die Äste auf ihn warfen. In der Stadt angekommen, suchte er den bezeichneten Gasthof auf. Vor dem Thore desselben stand ein mit zwei Pferden bespannter Kutschwagen, den er sofort erkannte, auch wenn der Besitzer desselben nicht gerade bei den Thieren gestanden hätte. Es war Beyer, und die Depesche war also keine Minute zu früh an ihre Adresse gekommen.

"Beyer!"

Der Angeredete drehte sich um.

"Horgy! In diesem Wetter auf den Beinen?"

"Deinetwegen. Du fährst zwei Männer?"

"Ja."

"Wohin?"

"Über die Grenze."

"Daraus darf nichts werden."

"Warum?"

"Sie müssen in die Tannenschlucht."

"Warum?" frug der Fuhrmann verwundert.

"Weil Sie es befohlen hat."

"Sie? Zarba?"

"Still! Weißt Du nicht, daß kein Name genannt werden darf. Sie hat es aus der Hauptstadt telegraphirt."

"Gewiß?"

"Gewiß!"

"So gibt es für uns nichts Anderes als wir müssen gehorchen. Aber wie?"

"Wer sind die Leute?"

"Der Direktor und der Oberarzt aus dem Irrenhause."

|102A "Hm, vornehme und gelehrte Leute! Sollen wir List oder Gewalt gebrauchen?"

"Beides, wenn es nothwendig ist, vorerst jedoch nur List. Ich habe Ihnen zwar versprechen müssen, sie so schnell wie möglich über die Grenze zu bringen, jetzt aber gibt es keine Wahl. Wie viele seid Ihr dazu?"

"Drei."

"Ist wenig, wird aber reichen, wenn nichts Außerordentliches dazwischen kommt."

"Sind sie bewaffnet?"

"Nein, soviel ich bemerkt habe. Sie essen jetzt. In zehn Minuten geht es weiter. Eilt Ihr voraus. Ich fahre bis an das Holzkreuz droben im Hochwalde. Dort werde ich es so einzurichten wissen, daß wir umkippen und der Wagen sich gemüthlich an die Seite des Hohlwegs legt. Das Übrige ist dann Eure Sache."

"Gut. Also vorwärts!"

Der Zigeuner schritt davon.

Drinnen in der Gaststube saßen die beiden Flüchtlinge bei den Resten ihres sehr eilig abgehaltenen Mahls. Die Wirthin hatte sich zu ihnen gesetzt, um sie dabei zu unterhalten.

"Also Sie denken, daß man am Tage nichts zu befürchten braucht?" frug der dicke Direktor, das gepflogene Gespräch fortsetzend.

"Nein, mein sehr verehrter Herr," antwortete sie. "Ein Schmuggler ist noch lange kein Straßenräuber. Sogar bei Nacht könnte man ganz sicher reisen, wenn man sich nur hütet, ihnen partout in den Weg kommen zu wollen. Nur für den Fall wäre eine Gefahr vorhanden, wenn man zwischen sie und die Süderländer geriethe."

"Wie so? Die Süderländer, wen meinen Sie?"

"Die Schmuggler von drüben. Beide treiben ganz dasselbe Geschäft, aber es herrscht Feindschaft zwischen hüben und drüben, weshalb, das kann ich allerdings nicht sagen, und wenn sie einmal an einander gerathen, dann geht es stets auf Tod und Leben. Erst kürzlich haben sie sich ein Treffen geleistet, bei welchem die von drüben mehrere Todte lassen mußten."

"Schauderhaft!" meinte der Direktor, sich den Schmeerbauch mit einer Miene betastend, als wolle er untersuchen, ob auch er mit zu diesen Todten gehöre. "Hier muß doch die Behörde einschreiten!"

"Die Behörde? Ja, eine Behörde gibt es, und Grenzer und Soldaten gibt es auch, aber man hat noch niemals gehört, daß auch nur Einer von ihnen einmal einem Pascher begegnet wäre. Es ist verwunderlich."

"Die Leute müssen ja förmlich organisirt sein und einen sehr listigen Anführer besitzen."

"Das sagt man, aber es kennt ihn Niemand, und es geht Alles so glatt und geheim, daß man von keinem einzigen Menschen mit Sicherheit sagen könnte, daß er zu den Paschern gehört. Aber wollen die Herren wirklich fort?"

Die beiden Männer hatten sich erhoben.

"Ja; wir haben Eile und bitten um Ihre Rechnung."

Diese wurde aufgestellt und bezahlt; dann stiegen sie ein und der Wagen rollte durch das Städtchen weiter, hinaus in den Wald.

Eine Zeit lang saßen die Flüchtlinge einander schweigsam gegenüber, bis der Oberarzt die Stille unterbrach.

"Kennen Sie den Geheimerath, an welchen wir gewiesen sind?"

"Persönlich nicht; ich war ja überhaupt noch nie in Süderland. Aber sein Ruf ist wohl auch Ihnen nicht ganz fremd. Er ist einer von den wenigen Beamten der dortigen Regierung, welchen man einen Einfluß auf den König zutrauen darf; wir sind ihm jedenfalls gut empfohlen, und wenn es uns gelingt, einen günstigen Eindruck auf ihn zu machen, so zweifle ich nicht, daß der uns aufgezwungene Ortswechsel von keinen unangenehmen Folgen für uns ist."

"Wenn! Ja, könnte man in die Zukunft blicken!" meinte der etwas düsterer angelegte Oberarzt.

"Folgen Sie meinem Beispiele und seien Sie guter Dinge! Der Herzog von Raumburg darf uns unmöglich fallen lassen; denken Sie an die beträchtliche Summe, welche er uns überwiesen hat, und an die wichtigen Depeschen, welche uns durch Penentrier anvertraut worden sind. Die Zukunft läßt mich nichts befürchten; anders aber ist es mit der Gegenwart. Wir haben eine noch ziemliche Strecke zurückzulegen, ehe wir die Grenze erreichen, und es sollte mich wundern, wenn wir nicht bereits verfolgt würden. Dazu kommt die Geschichte mit den Schmugglern, die einander gegenseitig massakriren. ich wollte, wir wären hinüber!"

Dieser letztere Gedankengang warf ihn in die vorige Schweigsamkeit zurück; er lehnte sich in die Polster des Wagens und schloß |102B die Augen. Der Oberarzt folgte seinem Beispiele; die Landschaft draußen bot ja bei der gegenwärtigen Witterung nichts Anziehendes, und so wühlten sich die Räder immer weiter fort; Viertelstunde um Viertelstunde verging, bis plötzlich ein lauter Ruf des Kutschers die Fahrgäste aus ihrem Halbschlummer aufschreckte.

Dem Rufe folgte ein eigenthümliches Schwanken des Wagens, welcher jetzt einen scharfen Ruck bekam und sich auf die Seite neigte.

"Um Gotteswillen, wir stürzen!" rief der Direktor. "Beyer, halt, halten Sie an!"

Der Wagen kam nicht vollständig zum Umfallen; er stand inmitten eines tiefen Hohlweges und lehnte sich mit der einen Seite fest an die Böschung desselben. Die Pferde hielten vorn unbeweglich und geduldig wie die Lämmer, und nur der Kutscher stieß einige zornige Flüche hervor und stieg ab, um nach der Ursache des Unfalls zu sehen.

Der Direktor öffnete ängstlich das Fenster, um sich über seine Lage zu unterrichten, fuhr aber sofort mit einem Schreckenslaute zurück.

"Gott stehe uns bei! Doktor, sehen Sie die drei Kerls, welche dort herabspringen?"

Der Wirth mit den beiden Zigeunern war es. Sie hatten schwarze Masken vor die Gesichter gebunden, lange Messer in den Fäusten und kamen in den Hohlweg herabgestiegen. Der Erstere öffnete den Wagenschlag.

"Wohin die Reise, meine Herren?"

"Nach der Grenze," antwortete der Direktor zähneklappernd.

"Schnell oder langsam?"

"Schnell, so schnell wie möglich, mein Lieber."

"Gut, dann muß ich Ihnen sagen, daß dieser Weg nicht der kürzeste ist, und zudem scheint Ihnen Ihr Kutscher abhanden gekommen zu sein. Wollen Sie sich uns anvertrauen, so werden wir Sie sicherer und schneller führen, als er Sie gefahren hat."

"Sie meinen - Sie wollen - - ja, meine Herren, verstehe ich Sie recht?"

"Jedenfalls. Wir sind hier, uns Ihrer anzunehmen. Steigen Sie aus!"

Aber bitte, wollen Sie uns nicht lieber den Wagen aufrichten und dann den Kutscher rufen? Ich werde Sie für diese kleine Mühe gern bezahlen."

"Was könnten wir für eine so kleine Mühe fordern! Erlauben Sie uns doch eine etwas größere Mühe. Steigen Sie aus!"

"Aber, mein Bester, ich - - -"

"Heraus!"

"Sollte es wirklich Ihr Ernst - - -"

"Herrrraus, oder - - -!"

Dieser Ton, verbunden mit einer sehr deutlich zu erklärenden Bewegung des Messers brachte eine sehr schnelle Wirkung hervor. Der Direktor war trotz seiner Korpulenz in einem Nu aus dem Wagen; der Oberarzt folgte ihm ebenso eilig. Von dem Fuhrmann Beyer war nicht die geringste Spur zu bemerken.

"Kommen Sie!" gebot der Wirth und wandte sich dem Walde zu.

"Aber bitte, entschuldigen Sie, meine Herren, unser Gepäck -!"

"Geht Ihnen sicher nicht verloren, dafür lassen Sie mich sorgen. Folgen Sie nur diesen beiden Männern, die es so gut mit Ihnen meinen, daß sie nicht gern von ihren Messern Gebrauch machen möchten. Vorwärts, marsch!"

|103A Die beiden Ärzte sahen sich gezwungen, dem fürchterlichen Menschen zu gehorchen. Sie wurden von den Zigeunern in den Wald geführt, wo man ihnen die Augen verband und sie dann an der Hand weiter geleitete. Dies dauerte sehr lang; die Zeit wurde ihnen fast zur Ewigkeit; aber endlich erreichte man das Ziel; eine Thür kreischte in den Angeln - noch einige Schritte weiter, dann wurden ihnen die Binden wieder von den Augen genommen. Sie befanden sich in einem vollständig dunkeln Raume.

"Hier herein!" klang die Stimme des einen Zigeuners.

Die Gefangenen wurden in einen engen, niedrigen Raum gestoßen; ein helles Gelächter ertönte hinter ihnen, dann waren sie mit sich allein. - -

Es war nur einige Tage früher, daß Prinz Arthur von Sternburg im Garten von Schloß Sternburg sein Renkontre mit dem wilden Prinzen gehabt hatte.

Die Kastellanin Horn stand in der Küche und bügelte Gardinen und allerlei andere Hauswäsche, welche jetzt ja sehr nöthig gebraucht wird, als die Thür aufgerissen wurde und Almah ganz athemlos hereintrat.

"Hülfe, meine liebe Mama Horn, Hülfe!"

"Hülfe?! Herrjesses, mein Kind, was ist denn los?"

"Hülfe! Um Gottes willen, helfen Sie, retten Sie ihn!"

"Ihn? Wen denn?"

"Ihn!" antwortete das erschrockene Mädchen, indem sie auf einen Stuhl sank und die Augen schloß.

"Herr meines Lebens, jetzt stirbt sie mir!" schrie die Kastellanin und eilte hin und her, um irgend ein Mittel zu finden, die Ohnmächtige wieder in das Leben zurückzurufen. Vor Angst und Bestürzung jedoch fand sie nichts, und so nahm sie den Kopf des Mädchens an ihr Herz, streichelte die erbleichten Wangen und bat:

"Nicht sterben, mein liebes, mein gutes, mein süßes Kind, nur nicht sterben! Herrjesses, wo nur mein Alter steckt; nun bin ich ganz allein in dieser schrecklichen Noth! Sie stirbt mir wahrhaftig noch, und hat mir nicht einmal vorher gesagt, wen ich retten soll. Aber da, Gott sei Lob und Dank, da holt sie ja wieder Athem, da macht sie die Augen auf. Kind, fassen Sie sich und sagen Sie mir schnell, wen ich retten soll!"

"Ihn!" hauchte es leise.

|103B "Ihn? Ja, wen denn und wo denn?"

"Im Garten. Sie werden sich tödten!"

"Tödten? Herrjesses, ist das schrecklich!" Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Was soll daraus werden, und wie soll das enden, wenn sie sich tödten! Aber, mein Kind, wer ist es denn?"

"Prinz Hugo."

"Der? Und wer noch?"

"Er - er - - der Matrose, der neue Diener."

"Der gute, gnädige Herr Ar - - - der - der Bill Willmers, wollen Sie sagen, mein Kind?"

"Ja. Der Prinz zog den Degen."

"Den Degen? Herrjesses, ist das gefährlich, ist das eine Angst und eine Noth! Wo ist nur mein Alter? Bleiben Sie hier, mein Kind, ich muß gleich sofort in den Garten, um ein solches Elend und Herzeleid zu verhüten!"

Jetzt eilte sie hinaus. Sie war schon ein Stück in den Garten hinein, als sie stehen blieb, sich besann und dann schnell wieder umkehrte.

"Sagen Sie mir doch, mein Kind, wo sie sich umbringen; ich muß sonst zu lange suchen!"

"In der Ecke, ganz hinten."

"Auch das noch. Da sind sie todt, ehe ich hinkomme!"

Sie sprang wieder hinaus, so schnell sie es vermochte, und wäre draußen beinahe an Arthur gerannt, welcher soeben aus dem Garten zurückkehrte.

"Gnädiger H - - - Sie leben noch, Sie haben sich nicht umgebracht? Herrjesses, was bin ich glücklich! Das muß ich gleich dem lieben, guten Fräulein erzählen!"

Sie kehrte zur Küche zurück, um diesen Vorsatz auszuführen. Der ganze Vorgang hatte nicht unbemerkt bleiben können. Horn kam die Treppe herabgestiegen, und auch der Pascha zeigte sich von oben.

"Was gibt es, Bill?" frug er.

"Einen Menschen, der im Garten liegt, Excellenz."

"Todt?"

"Nein. - Und einen Brief."

Er stieg die Stufen empor.

"Von wem?"

"Von einem Fremden."

|104A Er gab das Schreiben der Zigeunerin ab. Nurwan Pascha warf einen Blick auf das Papier und erbrach dasselbe dann mit einer Hast, welche deutlich die Bedeutung zeigte, die es für ihn haben mußte.

"Wo ist der Bote?"

"Fort."

"Du hast sonst keinen Auftrag von ihm bekommen?"

"Keinen."

"So geh!"

Schon stand Arthur im Begriffe, dieser Weisung Folge zu leisten, als unten vom Garten her eilige Schritte ertönten. Es war der wilde Prinz, welcher wieder zum Bewußtsein gekommen war. Mit blutigem Gesichte stürmte er herbei, um seinen Gegner zu suchen. Er sah ihn droben beim Pascha stehen, stieß einen heiseren Ruf der Rache aus und sprang empor. Schon wollte er Arthur von hinten packen, als dieser sich schnell umdrehte, ihn bei den Hüften faßte, emporhob und mit solcher Wucht die Treppe hinunterwarf, daß er unten wie ein Holzklotz aufschlug und zum zweiten Male liegen blieb. Das geschah so schnell, daß der Pascha nicht die mindeste Zeit gehabt hatte, es zu verhindern.

"Mensch!" rief er jetzt erschrocken. "Dieser Mann ist ein königlicher Prinz. Was hast Du mit ihm?"

"Nichts, Excellenz."

"Nichts? Und wirfst ihn die Treppe hinab!"

"Ich nichts mit ihm, er aber wohl mit mir."

Unten ertönten zwei Schreckensrufe. Die Kastellanin war mit Almah aus der Küche getreten und hatte den Prinzen liegen sehen.

"Herrjesses, welch ein Malheur!" rief sie erschrocken. "Einer ist also doch noch umgebracht worden. Und wie ist er im Gesichte zugerichtet!"

"Er hat es verdient," klang da des Mädchens Stimme.

"Verdient?" frug ihr Vater, welcher jetzt herabgekommen war. "Wie meinst Du das?"

"Er verfolgte mich im Garten, Papa, und hielt mich bereits arg gefaßt, so daß ich mich gar nicht wehren konnte. Da kam Bill und errettete mich."

"Ah, ists so!"

Er stieß mit dem Fuße gegen den Bewußtlosen und machte dabei die Pantomime der größten Verachtung.

"Herr Kastellan!"

"Excellenz!"

"Ich will diesen Menschen nicht wiedersehen. Nehmen Sie sich seiner an, daß er nicht so liegen bleibt, und säubern Sie ihn. Will er mich aber sprechen, so sagen Sie ihm, daß ich meinem Versprechen sofort nachkommen würde, auf ein Wiedersehen jetzt aber Verzicht leisten müsse."

Dann wandte er sich an Arthur.

"Bill, wußtest Du, daß es ein Prinz ist?"

"Ja."

"Und hast Dich dennoch an ihn gewagt?"

"Pah!"

"Du bist ein guter, tüchtiger Junge, und ich werde Dir dankbar sein. Ich muß sofort verreisen. Willst Du mich begleiten, oder mußt Du hier bleiben?"

"Dauert diese Reise lang, Excellenz?"

"Keine Woche."

"Verreisen, Papa?" fiel hier Almah ein. "Darf ich mit?"

"Es würde für Dich beschwerlich sein, mein Kind. Es geht in das Gebirge."

"Dann muß ich doch erst recht mit, Papa; ich habe ja noch gar kein Gebirge gesehen!"

"Nun meinetwegen, nämlich wenn Bill mitgeht, dem ich Dich übergeben müßte. Nun, Bill?"

"Ich gehe mit, Excellenz!"

Das Blut stieg ihm zu Herzen bei dem Gedanken, daß ihm das herrliche Wesen für eine Reise anvertraut werde, und bei dem dankbaren Blicke, welcher ihn aus ihrem Auge traf. Der Pascha stieg, ohne sich um Prinz Hugo weiter zu bekümmern, mit seiner Tochter wieder empor, und Arthur sah sich jetzt mit dem Kastellan und dessen Frau allein.

"Durchlaucht, ich bin ganz erschrocken," meinte Horn; Arthur aber fiel ihm sofort in die Rede:

"Willmers heiße ich, Willmers, merken Sie sich das! Diesen Menschen tragen Sie hinaus vor das Thor, und wenn er wieder hereinkommt, sind Sie Ihres Dienstes entlassen."

"Durchl - - -!"

"Willmers heiße ich!"

"Vor das Thor - ein königlicher Prinz - - -!"

"Ein Lump ist er, nichts weiter! Übrigens haben Sie gehört, |104B daß ich mit verreisen werde; versorgen Sie mich mit dem Nöthigen. Ich weiß noch nicht, wohin es geht, werde aber dafür sorgen, daß wir in Berührung bleiben, damit wenn ich plötzlich einberufen würde, Sie mich sofort benachrichtigen können."

Jetzt ertönte die Stimme Almahs, welche nach der Kastellanin rief. Diese gehorchte und fand das Mädchen in der Wohnung desselben.

"Wir werden uns Abschied sagen müssen, meine gute Mama Horn," wurde sie empfangen.

"Doch nicht für immer!"

"Nein, nur für einige Tage. Wissen Sie, Papa hat mit dem wilden Prinzen eine sehr wichtige Unterredung gehabt, und die Folge dieser Unterredung muß wohl diese Reise sein."

"Wo gehen Sie hin?"

"Zunächst nach Süderhafen und dann hinauf in die Berge. Wissen Sie, Mama, daß ich mich unendlich freue?"

"Ich glaube es Ihnen, mein liebes Kind."

"Wo ist der Prinz?"

"Er wird vor das Thor geschafft. Ach, was war das für ein Schreck, als Sie kamen und um Hülfe riefen; ich hätte vor lauter Angst gleich in den Erdboden hineinsinken können. Wie ist es nur so schlimm gekommen?"

Almah theilte ihr das Nähere mit und fügte dann hinzu:

"Es ist gerade so gewesen, als sei Bill ein Prinz und der Prinz ein Matrose. ich sage Ihnen, Mama, dieser Willmers ist ein Held, dem ich mich auf unserer Reise sehr gern anvertrauen werde."

"Nicht wahr? Ja, ja, vertrauen Sie sich ihm nur an, mein liebes Kind; bei ihm sind Sie sicher vor aller Fährlichkeit. Der Prinz hatte nichts Anderes verdient, obgleich ich erschreckliche Angst habe, was auf die Sache folgen wird; denn einen königlichen Prinzen mit der Ruthe entehren, das kann selbst dem hochgestelltesten Manne höchst gefährlich werden."

"Ihm können sie nichts thun, denn er steht unter Papa's Schutz. Schlimmer wäre es, wenn er ihn getödtet hätte."

"Herrjesses, das wäre doch ganz und gar entsetzlich gewesen! Ich kann von solchen Dingen ein Wort erzählen."

"Sie, Mama Horn?"

"Ja ich! Denken Sie sich einmal" - und dabei näherte sie sich ihr mit wichtiger und geheimnißvoller Miene - "ich bin einst dabei gewesen, daß Jemand getödtet wurde!"

"Durch den Scharfrichter?"

"Nein, durch einen richtigen ächten Mörder."

"Nicht möglich! Das wäre dann ja bei einem Morde gewesen!"

"Das war es auch!"

"Wirklich? O, Mama Horn, dann haben Sie ein fürchterliches Abenteuer erlebt, welches Sie mir erzählen müssen."

"Liebes Kind, das darf ich nicht!"

"Warum?"

"Mein Mann hat es mir verboten."

"Der? So haben Sie es ihm erzählt?"

"Er war ja selbst auch mit dabei!"

"Er auch? Das wird ja immer interessanter! Dürfen Sie es wirklich nicht erzählen?"

"Nein."

"Keinem Menschen?"

"Keinem!"

"Hat er Ihnen denn auch befohlen, es mir zu verschweigen?"

"Nein."

"Na, sehen Sie, Mama Horn; jetzt können Sie mir diese schöne Geschichte also doch erzählen! Nicht wahr? Bitte!"

"Ich darf wirklich nicht, mein Kind. Nur das kann ich Ihnen sagen, daß es schon lange her ist."

"Wie lange wohl?"

"Ich war damals noch ledig, und mein Mann hat mir eben gesagt, daß wir bald heirathen wollten. Wir saßen in der Laube und - - -"

"In der Laube? Mit einander?"

"Natürlich! Es war am Abende, und Alles schlief, so dachten wir nämlich; aber dennoch war der Herzog noch im Garten."

"Der Herzog? Welcher Herzog?"

"Der Herzog von Raumburg."

"Den kenne ich nicht."

"Ich stand nämlich als Küchenmädchen in seinem Dienste, und mein Mann war Reitknecht. Es durfte Niemand wissen, daß wir uns lieb hatten, und darum kamen wir manchmal des Abends zusammen, wo uns Niemand sehen konnte. Da saßen wir in der Laube und hatten uns gar viel zu sagen und zu erzählen, bis ein fremdes Weib über die Mauer stieg."

"Wer war sie?"

|105A "Eine Zigeunerin."

"Sagte ich es nicht, daß diese Geschichte sehr schön sein werde! Was wollte dieses Weib?"

"Das wußten wir erst auch nicht; bald aber stand der Herzog bei ihr, der auf sie gewartet hatte, und dann erwürgte er sie."

"Ein Herzog eine Zigeunerin? Wissen Sie das genau?"

"Natürlich; wir standen ja ganz nahe dabei."

"Warum aber erwürgte er sie?"

"Weil sie ihre Tochter wieder haben wollte und auch ihren Sohn, den er gefangen hielt."

"Das muß ja ein ganz und gar schlimmer Mensch gewesen sein, dieser Herzog! Wollte er denn den Sohn und die Tochter nicht herausgeben?"

"Nein. Er erwürgte die Frau, und wir durften ihn nicht anzeigen, weil er unser Herr war und kein Mensch uns geglaubt hätte, was wir sagten. Aber wir sind dann schnell aus seinem Dienste und zu unserem jetzigen Herrn gegangen und haben das bis auf den heutigen Tag noch niemals bereut."

"So weiß also außer Euch kein anderer Mensch, daß dieser garstige Herzog die Zigeunerin erwürgt hat?"

"Kein Mensch:"

"Wie hieß sie?"

"Das weiß ich nicht; aber ihre Tochter hieß Zarba, und ihr Sohn floh noch in derselben Nacht aus seiner Gefangenschaft; er hieß - hieß - - da komme ich doch nicht auf den Namen!"

"Katombo!" ertönte es von dem Eingange her.

Die beiden Frauen drehten sich um und erblickten den Pascha, welcher Zutritt hatte nehmen wollen und ein unbemerkter Zuhörer der Erzählung gewesen war. Warum hatte diese Letztere einen solchen Eindruck auf ihn gemacht. Er sah bleich aus, und seine Augen glühten wie im Fieber.

"Katombo, ja, so hieß er," antwortete die Kastellanin überrascht.

"Du weißt diesen Namen, Papa? Wie kannst Du ihn erfahren haben?"

"Ich hörte einst von dieser Sache sprechen," antwortete er kurz, und zu der Kastellanin gewandt fügte er hinzu: "Sie werden mir das noch ausführlicher erzählen müssen, ehe ich heute abreise."

"Schon heut, Excellenz?"

"In zwei Stunden schon. Bitte, schicken Sie Willmers hinunter zu meiner Yacht; sie soll sofort segelfertig gemacht werden!"

Die Kastellanin entfernte sich.

Papa, wird es Dir nicht Schaden bringen, daß dieser Prinz hier so gezüchtigt worden ist?"

"Schaden? Pah! Der König muß es mir Dank wissen, wenn ich mich durch die Frechheit seines Buben nicht bestimmen lasse, den Vertrag rückgängig zu machen, den ich heut mit diesem abgeschlossen habe!"

"Einen Vertrag? Ist es ein wichtiger, Papa?"

"Ja."

"Darf ich ihn wissen?"

"Du wirst ihn seiner Zeit erfahren. Jetzt brauche ich Dir nur zu sagen, daß ich jetzt die Aufgabe habe, die Küsten- und Grenzfortifikationen Norlands zu untersuchen, daher unsere Reise."

Sie blickte ihm ängstlich in das Angesicht.

"Das deutet auf einen Krieg, Papa. Sollst Du etwa wieder das Kommando einer Kriegsflotte übernehmen?"

"Möglich, doch das sind sehr geheimnißvolle Pläne, von denen ich kaum zu Dir sprechen darf, obgleich ich weiß, daß ich meinem guten Kinde vollständig vertrauen kann."

"Sage mir es, Papa! Wenn ich nichts weiß, kann ich sehr leicht einen großen Fehler begehen, der Dich in Schaden bringt."

"Du hast Recht. Es wird bald zwischen Norland und Süderland ein sehr ernster Krieg ausbrechen, und da Süderland keinen hervorragenden Seemann besitzt, so ist mir der Oberbefehl über die Kriegsflotte angetragen worden."

"Hast Du angenommen?"

"Nur für gewisse Bedingungen. Der König von Norland ist ein guter Herrscher, aber er hat sein Scepter aus der Hand gegeben, denn der eigentliche Regent ist jener böse Herzog von Raumburg, von dem die Kastellanin vorhin erzählte. Dieser will nun nicht nur die Macht, sondern auch sämmtliche Attribute eines Königs haben und hat deshalb mit Süderland einen geheimen Plan verabredet. In Norland soll die Revolution ausbrechen; Süderland wird eingreifen, den jetzigen König absetzen und den Herzog krönen."

"Das ist aber ja eine Ungerechtigkeit, Papa! Was wird Süderland davon haben?"

"Vortheilhafte Verträge, und überdies wird die Prinzessin Asta Königin von Norland werden, denn sie soll den Sohn des Herzogs heirathen."

|105B "Und dazu sollst Du helfen! Auch Du willst den bösen Herzog zum Könige machen?"

Über das wettergebräunte Gesicht des türkischen Kapudan-Pascha ging ein eigenthümliches Zucken.

"Ob ich es thue oder nicht, Almah, Du wirst stets wissen, daß Dein Vater nur das Gute will und alles Böse haßt. Ich mache Dir diese Mittheilungen und schließe dabei manche meiner Absichten aus, weil ich vielleicht gezwungen sein werde, Dich hier bei Hofe vorzustellen. Du darfst nur Dinge wissen, durch deren Kenntniß Du mir dienen kannst, während ich gewisse Punkte unaufgeklärt lassen muß, weil mir Deine Einweihung Schaden bringen kann. Trete ich das Kommando wirklich an, so werde ich leider gezwungen sein, gegen unsre gegenwärtigen Wirthe zu kämpfen."

"Wie so?"

"Der alte Sternburg ist ohne Zweifel der befähigste General der norländischen Armee, und er wird sich an dem Kampfe betheiligen, wenn auch auf Einfluß des Herzogs, der ihn nicht liebt, ihm keine hervorragende Heerführerstelle anvertraut wird. Sein Sohn, Prinz Arthur, ist trotz seiner Jugend und obgleich er erst den Rang eines Kapitän begleitet, der einzige Seemann Norlands, den ich als ebenbürtig anerkennen würde. Auf alle Fälle aber werden wir uns nicht als persönliche Gegner zu betrachten haben. Jetzt beeile Dich, mein Kind, damit Du zur angesetzten Zeit fertig bist. Wir kehren wieder nach hier zurück."

Er ging hinab in die Wohnung des Kastellans, um dessen Frau heraufzuschicken. Er fand sie sehr verlegen und ihren Mann zornig.

"Excellenz," meinte der Letztere, "meine Frau hat Ihnen ein Ereigniß mitgetheilt, welches bisher unser alleiniges Geheimniß war -"

"Sorgen Sie nicht! In Beziehung auf Sie wird es Geheimniß bleiben wie bisher. Ich gebe Ihnen hiermit mein Ehrenwort, daß Sie seinetwegen nicht in die geringste Verwickelung oder Ungelegenheit gerathen werden, nur mache ich hierbei allerdings die Bedingung, daß Sie mir Alles einmal genau und ausführlich erzählen, während Ihre Frau meiner Tochter bei der Reisevorbereitung behilflich ist."

Dies geschah. Horn erinnerte sich jenes verhängnißvollen Abends noch ganz genau und konnte sich auf jedes Wort besinnen, das er damals mit seinem Mädchen belauscht hatte.

Unterdessen kehrte Arthur von der Yacht zurück und machte sich reisefertig. Er hatte von dem Prinzen Hugo weder oben auf der Höhe noch unten in der Stadt eine Spur bemerkt. Zur festgesetzten Zeit hatte das kleine, flotte Schiff seine sämmtlichen Passagiere an Bord. Es lichtete die Anker, entfaltete seine Segel und strebte in einem graziösen Bogen aus dem Hafen hinaus der See entgegen. Bald war der weiße Punkt, welchen seine Leinwand am blauen Horizonte bildete, verschwunden.

Die Straße, welche von Süderhafen in das Gebirge führte, dieselbe, welche Balduin Schubert, Karavey und dann auch Thomas Schubert benutzt hatte, um zu dem Waldhüter Tirban zu gelangen, schien heut belebter als gewöhnlich zu sein. Von irgend einem den Weg beherrschenden Punkte hätte man nach und nach verschiedene Gestalten oder Gruppen bemerken können, in ihrem Äußeren so verschieden, daß die Ahnung ferne lag, sie könnten vielleicht bald in eine engere Beziehung zu einander treten.

|106A Zunächst lag auf der Blöße vor Tirbans Hütte der Steuermann mit dem Bootsmann im Grase. Beide schienen nur mit ihren Gedanken beschäftigt und mit dem Priemchen, welches sie von Zeit zu Zeit von einer Backe in die andere schoben. Da raschelte es in den Büschen, und eine lange, breite Gestalt erschien, über und über von Ruß geschwärzt und einen mächtigen Schürbaum auf der Schulter. Es war der Schmiedegeselle Thomas, welcher seine gegenwärtige Muße benutzt hatte, einem Köhler werkthätige Gesellschaft zu leisten.

"Was ist mir denn das für eine Sache," meinte er. "Da liegt Ihr am Poden, haltet Maulaffen feil und guckt den Himmel an. Giept es denn keine Arpeit hier für zwei Faullenzer von Eurer Sorte? Ich würde gar nicht räsonniren, wenn nur wenigsten Einer von Euch eine Cigarre üprig hätte, es prauchte gar keine Ampalema zu sein!"

Der Steuermann langte phlegmatisch in die Tasche und brachte einen riesigen Knollen Kautabak zum Vorschein.

"Hier, alte Feueresse!"

"Danke, Palduin! Peiße Dir die Zähne selper aus an diesem Zeuge. Ich werde jetzt einmal nach dem Kruge gehen. Wer geht mit?"

Im Nu stand der Steuermann auf den Beinen.

"Ich, mein Junge; das versteht sich ja ganz von selber. Komm, Thomas, lege Dich Backbord an mich, und Du Steuerbord, Bootsmann. So, nun fare well, Tirban, Du siehst uns nicht eher wieder, als bis es keinen Schluck mehr im Kruge gibt!"

"Und keine Ampalema oder Kapalleros. Lauf, Palduin, denn Dein Packpord hat es eilig!"

Sie schritten nach dem bekannten Kruge, in welchem der Steuer- und Bootsmann den Loosungszettel gefunden hatten. An der hinteren Seite desselben befand sich ein kleines Gärtchen, in welchem ein sehr primitiv gebauter Tisch nebst ebensolchen Bänken stand. An ihm saßen drei Personen, welche man vom Walde aus sehr genau sehen und beobachten konnte. Der Obergeselle hielt die beiden Andern an und deutete nach der Gruppe.

"Donnerwetter, wer muß das sein; das ist gewiß ein ganz |106B vornehmes Volk! Seht Euch nur einmal das Weipspild an; das ist ja die reine Genovefa, so schön und so fein, so glatt polirt, als käme sie gerade erst aus dem Schraupstock heraus. Hol' mich der Teufel, die ist sogar noch hüpscher als meine alte gute Parpara Seidenmüller!"

Auch der Steuermann schaute aufmerksam hin.

"Karavey, sieh Dir einmal den jungen Mann an, der sich da seitwärts von der Dame niedergestaut hat!"

"Warum?"

"Du hast von dem berühmten Lieutenant und jetzigen Kapitän von Sternburg gehört?"

"Natürlich!"

"Nun, dieser Sternburg sieht dem Manne dort so ähnlich wie ein Tropfen dem andern, und - heiliges Mars- und Braamenwetter, wer ist denn das?"

"Wer?"

"Nun, der Andere, der Alte!"

"Kennst Du ihn?"

"Bist Du während Deiner Seefahrten einmal dem Tiger begegnet?"

"Dem Tiger? Meinst Du das Piratenschiff?"

"Natürlich!"

"Nein."

"Nun, ich sage Dir, daß ich zweimal hart an ihm vorübergekommen bin, ohne daß er Miene machte, die Flagge zu hissen und uns Antwort zu geben. Ich steuerte damals die Fregatte "Poseidon," das beste Schiff und den schnellsten Segler unserer Marine. Wir gaben den Signalschuß; wir riefen ihn an, er aber ging an uns vorüber ohne die geringste Antwort. Keine Flagge wehte, kein Wimpel war zu sehen; kein Mann befand sich an Deck, sogar der Mann am Steuer war verschwunden. Aber vorn auf dem Klüverbaum stand, ohne sich anzuhalten, frank und frei Einer, der bis an die Zähne bewaffnet war, hoch, lang und breit von Gestalt und schwarz von Gesicht wie ein Neger. Und zwei Tage später ging dasselbe Schiff wieder an uns vorbei, kaum drei Kabellängen von unsrem Back entfernt; die Kanonenluken waren geöffnet, an der großen Raa hing einer, der am Strick gestorben war, und vorn auf dem Klüver stand wieder ganz derselbe Mann, hoch, lang und breit von Gestalt, bis an die Zähne bewaffnet, dieses Mal aber |107A von weißer Gesichtsfarbe. Ich habe ihn mir ganz genau angesehen, und möchte ein Panzerschiff gegen ein Teichboot verwetten, daß er und dort dieser Mann wenigstens Zwillingsbrüder sind."

"Laß Dich doch nicht auslachen, Steuermann! Der schwarze Pirat und der Kapitän von Sternburg neben einander mitten hier im Waldgebirge. Eher kommt die Ebbe mit der Fluth zusammen."

"Was ist denn das eigentlich für ein Insekt oder ein Amphipium, der schwarze Pirat?" frug Thomas, der einstige Kavallerist.

"Ein Seeräuber, wie es keinen zweiten gegeben hat."

"Ein Seeräuper? Keinen Zweiten gegepen? Seid Ihr gescheidt? Und das soll der dort sein? Palduin, wenn ich jetzt hingehe und es ihm sage, pringt er Dich an den Galgen! Und der Andere soll ein Seekapitän sein? Donnerwetter, seid Ihr denn alle Peide plind, daß Ihr nicht seht, daß er plos der Pediente ist von den zwei Andern!"

Sie waren jetzt an das Haus gekommen und bemerkten nun eine Equipage, welche vor demselben hielt; jedenfalls gehörte sie den drei Personen, welche im Garten saßen. Sie traten in die Stube und wurden von dem Wirthe mit möglichster Freundlichkeit empfangen. Trotz ihres erst so kurzen Aufenthaltes hatte er sie doch bereits als Zecher kennen gelernt, denen sowohl die Qualität als auch die Quantität seiner Getränke vollständig gleichgiltig zu sein schien. Sie tranken von Allem, was er hatte, ungeheuer viel und bezahlten ebenso reichlich.

"Noch keine Ampalema?" war die erste Frage des Schmiedes.

"Noch nicht."

"Schaffe Dir Ampalema an, Kerl, sonst pringe ich Dich um die Konzession und um das Lepen. Giep her, was Du hast!"

Sie hatten noch nicht lange gesessen, so vernahmen sie draußen das nahende Rollen eines Wagens. Der Steuermann blickte durch das Fenster.

"Heiliger Mars, sitzt in dieser Kabine ein wunderliches Brautpaar. Seht Euch doch einmal den hübschen Kerl an, neben der Hexe! Wenn Der sich in sie verliebt, so verschlinge ich den ersten Haifisch, dem ich hier im Gebirge begegne!"

Auch Karavey blickte hinaus.

"Allerdings ein verteufelt schmucker Patron; aber von wegen der Hexe darfst Du Dich nur immer ein wenig in Acht nehmen; Du siehst doch, daß es eine Zigeunerin ist, und was bin ich denn, he?"

Da fuhr der Schmiedegeselle zwischen sie.

"Hört, Ihr Kerls, haltet doch einmal alle Peide den Schnapel! Die da hier gefahren kommen, kennt Keiner so gut wie der Thomas Schupert. Das ist nämlich mein junger Herr, der Doktor Max Prandauer, na, welch eine Freude! - und das Weipsen ist die Zigeunerin Zarpa, auf die wir Alle warten."

"Ists wahr?" frug Karavey.

"Natürlich! Oder denkst Du, daß ich Euch pelügen möchte?"

Der Wagen hielt. Max sprang herab und half dann Zarba zur Erde. Sie traten mit einander in die Stube. Der Geselle fuhr auf Brandauer zu, als ob er ihn zerreißen wolle.

"Willkommen, junger Herr! Weiß Gott, tausend Thaler sind mir nicht so liep wie dieses Wiedersehen! Lept der Herr Meister noch und auch die Frau Meisterin? Wie geht es dem Paldrian? Ists noch "am Den" und lügt der Heinrich immer noch wie gedruckt?"

Max mußte über diese Ansprache lächeln, die so sanguinisch war, als sei der brave Thomas zehn Jahre lang von der Schmiede entfernt gewesen. Indessen hatte Zarba dem Wirthe einige Worte im Zigeuneridiom hingeworfen, welche dieser bejahte, indem er nach der Gegend deutete, in welcher die Tannenschlucht lag. Sie nickte kurz und frug dann Thomas:

"Wer sind diese Beiden?"

"Dieser da ist Palduin der Steuermann, mein durchgeprannter und lieper Bruder, den ich hier ganz unverhofft wiedergefunden hape, und Der dort, das ist -"

"Halt!" wehrte Karavey ab, indem er zu Zarba trat. "Siehe mich an, ob Du meinen Namen selper findest!"

Sie forschte in seinen Zügen und schüttelte langsam den Kopf.

"Ich kenne Dich nicht."

"Und dennoch kennst Du mich! Du weißt meinen Namen und hast tausendmal an mich gedacht. Hast Du ihn nicht zu Deiner letzten Losung genommen?"

Sie horchte auf, trat ihm näher, blickte ihn schärfer an; dann entsank der Stock ihren Händen, und sie glitt langsam und schwach in den Sessel, welcher neben ihr stand. Die Stille des Todes herrschte in der Stube; nur ein leises, mit aller Macht nicht zu unterdrückendes Schluchzen war zu vernehmen - Zarba weinte.

Dann nahm sie die Hände von den Augen und streckte sie zitternd dem Bruder entgegen.

|107B "Karavey!"

"Zarba!"

Sie lagen einander in den Armen, die sich seit länger als fast einem Menschenalter verloren und nicht wiedergesehen hatten. Das Leid hatte in ihren Herzen gewühlt wie der Pflug in der Erde, und wer trug die Schuld? Zarba, die einstige Rose der Brinjaaren, die jetzt verwelkt und entblättert dasaß, eine verfallene Ruine einstiger Herrlichkeit.

"Karavey, vergieb!"

"Dir ist schon längst vergeben!"

Dem guten Thomas stand das Wasser in den Augen; er konnte sich nicht halten und trat näher.

"Zarpa, ich pitte auch um Vergepung! Ich hape Dich für eine ganz schlimme Hexe gehalten und sehe jetzt, daß Du ein recht praves Frauenzimmer pist. Du sollst in meinem Herzen gleich nach der Parpara Seidenmüller kommen!"

Diese lyrisch-komische Auslassung war mehr als alles Andere im Stande, das erschütterte innere Gleichgewicht wieder herzustellen; nur die beiden Hauptpersonen der soeben stattgehabten Erkennungsscene blieben ernst.

"Bleibt hier!" bat Zarba. "Komm mit, Karavey!"

Sie traten mit einander hinaus in den Flur und wandten sich nach dem Gärtchen. Die Zingaritta hatte noch nicht bemerkt, daß dasselbe bereits besetzt war. Als sie die drei Personen erblickte, blieb sie überrascht stehen. Waren sie ihr bekannt? Es schien so. Fast hätte man aus dem Spiele ihrer Mienen vermuthen sollen, daß sie sie hier in den Bergen erwartet habe, nur die Art und Weise schien sie zu befremden. In diesem einen Augenblicke war die innere Erschütterung zurückgedrängt; sie war wieder Zarba, die Vajdzina ihres Stammes.

Sie schritt auf die drei Personen zu und blieb vor Almah stehen.

"Bhowannie läßt blühen die Blumen und duften die Rosen. Darf ich sehen dieses kleine Händchen?"

Lächelnd reichte das Mädchen ihr die Rechte dar. Zarba forschte in den Linien derselben, und es ging hell über ihre faltigen Züge.

"Fürchte Dich nicht vor dem Wasser; es bringt Dir Glück und Seligkeit. Im fernen Süd hat er Dich im Wasser gefunden, im Norden wirst Du ihn wiederfinden, schwimmend auf den Wegen im Donner des Kampfes; dann wirst Du sehen, wie nahe er Dir gewesen ist."

Almah erglühte; auch Arthur war im höchsten Grade verwundert. Woher wußte die Zigeunerin von jener Begegnung im Nile? Sie wandte sich jetzt zu ihm:

"Auch Eure Hand, mein blanker Herr!"

Er gab sie ihr hin. Nach einer kurzen Betrachtung meinte sie:

"Der Geist der Weissagung blickt durch die Kleidung und das Gewand. Du wirst den Freund mit einer Krone schmücken und hohe Ehren erlangen. Fürsten und Könige sind in den Bergen, und in der kleinen Hütte ruhen die Beherrscher der Völker."

Nun trat sie auch zu Nurwan Pascha. Er hatte seine türkische Kleidung abgelegt und trug sich ganz nach der hiesigen Sitte. Auch er streckte ihr seine Hand hin. Sie nahm dieselbe und betrachtete sie. Da plötzlich wurde ihr Gesicht leichenfahl, sie stieß einen gellenden Schrei aus und sank besinnungslos zur Erde. Der Name, die Gestalt, das Gesicht, Alles war ihr fremd geworden, aber diese Hand, die hatte sie wieder erkannt, die Hand, die sie einst so zärtlich liebkost und die sie dann so undankbar und leichtsinnig von sich gestoßen hatte.

"Was war das? Wer ist sie?" frugen die beiden Männer, und Almah bog sich liebreich zu ihr nieder, um ihr mit Hilfe eines Riechfläschchens beizustehen. Karavey kniete an der Erde und hielt die Hände der Schwester gefaßt.

"Zarba, wache auf! Was ist mit Dir?"

"Zarba!" rief Arthur, und

"Zarba!" rief auch der Pascha.

Der Letztere bog sich zu ihr herab:

"Zarba, erwache; Katombo ist da!"

"Wer?" rief Karavey aufspringend. "Katombo? Wo ist Katombo?"

"Hier; ich bin es selbst!"

"Ihr - Du bist es? O - o - welch ein Tag! Kennst Du mich?"

"Nein."

"Karavey!"

"Karavey? Mann, Bruder, ists möglich!"

Jetzt lagen sich die beiden Männer in den Armen. Darüber erwachte die Zigeunerin. Sie richtete sich halb empor.

|108A "Katombo, tödte mich!"

"Tödten? Nein, segnen werde ich Dich, Du Geliebte meiner Jugend und Du Abgott meines Schaffens!"

Er hob sie empor und setzte sie auf den Platz, den er erst inne gehabt hatte.

"Also Du, Zarba, bist die Königin unserer großen Verbindung? Du bist das allmächtige und allwissende Wesen, dem Groß und Klein gehorcht, ohne zu klagen und zu fragen! Du wiesest meine Liebe von Dir, aber ich war stark im Herzen und wurde dennoch glücklich. Siehe mein Kind, mein einziges, herrliches Kind; es mag Dir sagen, daß ich Liebe um Liebe wiedergefunden habe!"

Durch die laute Unterhaltung hier im Garten wurden die in der Stube Befindlichen aufmerksam. Max trat heraus; ihm folgten die Andern. Kaum hatte er die Hinterthür erreicht, so entfuhr ihm ein Laut der Verwunderung. Zwei Augen hatten auch ihn erblickt, Arthur kam herbei:

"Max, ich bitte Dich, in bin ein Matrose und heiße Bill Willmers! Nur Zarba scheint meinen wahren Namen zu kennen."

"Warum dieses Inkognito?"

"Werde es Dir später erklären. Ah! Was ist das für ein Gespenst?"

Tirban, der Waldhüter kam am Waldessaume herbeigeschlichen. Kaum hatte Zarba ihn erblickt, so rief sie ihn herbei. Er kam und begrüßte sie mit einer Unterwürfigkeit, als ob er eine Königin vor sich habe.

"Kam die Depesche nach Waldenberg?" frug sie ihn.

"Ja."

"Habt Ihr sie?"

"Wir haben sie."

"In der Tannenschlucht?"

"Du hast es so befohlen."

"Wer bewacht sie?"

"Horgy und Tschemba."

Sie wandte sich an den Schmiedegesellen und seinen Bruder:

"Thomas, wir werden uns für eine halbe Stunde entfernen und übergeben Euch diese Dame!"

"Schön!" antwortete der Angeredete. "Ich werde sie pewachen und pewahren, als ob sie meine peste Ampalema wäre!"

"Bleibe hier!" bat Nurwan Pascha seine Tochter.

Sie nickte zustimmend.

"Darf Bill nicht auch bleiben, Papa?"

Die Zigeunerin hatte die Frage vernommen.

"Er darf bleiben!" entschied sie.

Das Erlebte hatte so mächtig auf die Anwesenden eingewirkt, daß sich Alle wie halb im Traume befanden. Sie folgte Tirban, welcher voranschritt.

Der Weg ging zunächst nach seiner Hütte, dann an dieser vorüber in den dichten Wald hinein, bis sich vor ihnen eine tiefe, finstere Schlucht öffnete, deren Seiten mit riesigen Tannen besetzt waren. Das war die Tannenschlucht. Sie war beinahe eine Viertelstunde lang und schien seit Jahren von keinem menschlichen Fuße betreten worden zu sein. Ihr Hintergrund wurde von wirr über einander gethürmten Felsen gebildet. Tirban schob einen derselben mit Leichtigkeit bei Seite; das Kreischen verrosteter Angeln ertönte und es wurde eine Öffnung sichtbar, welche groß genug war, zwei Männer neben einander hindurch zu lassen.

Drin war es dunkel, aber eine angebrannte Fackel verbreitete bald das gehörige Licht. Auf einer Streu hatten zwei Männer gelegen, welche bei dem Eintritte der Kommenden sich erhoben. Es waren die beiden Wächter Horgy und Tschemba, welche ihre Vajdzina mit größter Ehrerbietung grüßten.

"Alles in Ordnung?" frug diese.

"Alles!"

"So bringt die Gefangenen!"

Im hinteren Theile des Raumes wurde eine Thür geöffnet, hinter welcher der Direktor mit dem Oberarzte hervortrat. Beim Erblicken der Anwesenden erbleichten Beide; dem dicken Direktor schlotterten die Kniee; er wäre zusammengebrochen, wenn er sich nicht an die Wand gelehnt hätte.

Zarba trat auf ihn zu.

"Hund, welcher den zerreißt, auf welchen er gehetzt wird, Du hast nur noch eine Minute zu leben, wenn Du nicht offen beichtest. Tirban, nimm die Pistolen!"

Der Alte griff in eine Vertiefung und brachte die Waffen hervor.

Zarba fuhr fort:

"Hier der Herr Doktor Brandauer wird Euch fragen; bei der geringsten Unwahrheit drückst Du los, Tirban!"

Der Direktor stöhnte vor Entsetzen. Max, welcher sicher annahm, |108B daß es Zarba mit ihrer Drohung blos darum zu thun war, die beiden Ärzte einzuschüchtern, begann:

"Ich wiederhole, daß ich bei der geringsten Lüge winken werde; mehr bedarf es nicht zu einer Kugel. Herr Direktor, Sie kennen einen Herrn Aloys Penentrier?"

"Ja."

"Er besuchte Ihre Anstalt sehr oft?"

"Ja."

"Im Auftrage des Herzogs von Raumburg?"

"So ist es."

"Er hatte Ihnen die Befehle desselben zu bringen?"

"Denen ich natürlich gehorchen mußte," versuchte er sich zu entschuldigen.

"Ich theile diese Ansicht natürlich nicht. Sie konstatiren hiermit gewisse Fälle, in denen geistig vollkommen Gesunde als wahnsinnig eingeliefert und behandelt wurden?"

"Ja," klang es nach einigem Zögern.

"Ebenso gestehen Sie Fälle ein, in denen Sie angehalten waren, gefürchtete Internirte durch Tödtung zu entfernen?"

"Ja."

"Ihr Oberarzt war ausnahmslos Ihr Mithelfer?"

"Ja."

"Gestehen Sie das ein?" wandte sich Max an diesen.

Er warf dem Direktor einen fürchterlichen Blick zu, schielte nach der bereitgehaltenen Pistole und antwortete:

"Bei solchen Gewaltmitteln kann ich nicht anders als ja sagen."

"Gut, so sind wir fertig. Wo sind die Effekten dieser Männer?"

"Hier," antwortete Tirban, indem er zwei Koffer herbeischob.

"Untersuchen!"

Sie wurden geöffnet, enthielten aber nichts als Wäsche und Toilettengegenstände. Daher ließ Max die Kleidung der Gefangenen untersuchen. Jetzt kam das Reisegeld und außer demselben ein Portefeuille zum Vorschein, welches einige versiegelte Briefe ohne Adresse enthielt. Max erbrach sie, und kaum hatte er einen Blick auf den ersten geworfen, so griff er in die Tasche und zog sein Notizbuch hervor. Er hatte ganz dieselbe Geheimschrift erkannt, zu welcher er aus der Bibliothek des Herzogs von Raumburg sich den Schlüssel mitgenommen hatte. Er trat an das Tageslicht und begann zu dechiffriren.

Es dauerte lange, ehe er fertig war. Die Andern ahnten, daß er etwas sehr Wichtiges gefunden haben müsse, und vermieden, alle Störung. Als er geendet hatte, steckte er die Briefe zu sich und überlegte einige Zeit.

"Ich werde über diesen Fund später berichten. Können die Gefangenen für diese Nacht noch hier bleiben?"

"Ja," entschied Zarba.

"So schließt sie wieder ein! Jetzt vorerst wieder zurück zum Kruge, wo wir versuchen wollen, die Räthsel zu lösen, vor welche wir uns heute gestellt sehen."

"Halt!" gebot Zarba. "Ehe wir diesen Ort verlassen, verlange ich von Euch Allen den Schwur, ihn niemals zu verrathen."

"Ich schwöre es gern," antwortete Max.

"Ich auch," stimmten die Andern bei.

Der Rückweg wurde angetreten. Tirban blieb in seiner Hütte; die Übrigen begaben sich nach dem Kruge. Als sie dort angekommen waren, näherte sich Thomas Schubert seinem jungen Herrn.

"Herr Doktor, darf ich einmal ein Pischen neugierig sein?"

"Nun?"

"Warum ist der Herr Hauptmann von Wallroth zurückgeplieben und nicht lieper auch mitgekommen?"

"Der König erlaubte es nicht. Er hat ihn zum Major avancirt und gewünscht, ihn für jetzt im Schlosse zu behalten."

"Donnerwetter, da pleipe ich ein anderes Mal auch zu Hause!"

Er trat befriedigt zu seinem Bruder. Dieser verwandte kein Auge von Nurwan Pascha, welcher sich wieder zu seiner Tochter gesetzt hatte, und drehte sich endlich ärgerlich um.

"Thomas, ich wette doch mit Dir, daß dieser Mann der schwarze Kapitän ist. Je länger ich ihn mir betrachte, desto gewisser werde ich!"

"Ein Seeräuper? Dann hat er dieses Mädchen wohl auch aus der See geraupt und giept sie nun für seine Tochter aus. Darüper zerpreche ich mir aper den Kopf nicht; lieper will ich einmal nachdenken, wie ich es anfange, daß mein junger Herr auf den glücklichen Gedanken kommt, mir eine von seinen Cupa oder Hapanna anzupieten?" - - -


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