Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Zweiter Band


Lieferung 33.

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»Spreche ich auch laut genug, um von Ihnen Recht zu erhalten?«

»Ja.«

»Freut mich sehr, Herr Anwalt, zumal ich überzeugt bin, daß es Ihnen sehr schwer werden wird, den erwähnten Beweis zu führen.«

»Ich glaube, es wird mir nicht nur sehr schwer, sondern sogar unmöglich sein.«

»Schön! So lassen Sie ihn frei.«

»Doch nicht sofort?«

»Eigentlich wollte ich ohne ihn nicht fortgehen. Hm! Wenn nur diese verteufelten Spitzen nicht wären!«

»Das ist es ja! Man hat sie bei ihm gefunden.«

»Aber ist das etwa zum Einsperren?«

»Zunächst ist das kein Grund, ihn criminaliter vorzunehmen. Wer schmuggelt und dabei ergriffen wird, der wird gepfändet und muß Strafe zahlen. So auch Hauser. Gefängnißstrafe kann er wegen diesen Spitzen nicht bekommen.«

»Nun, so wiederhole ich: Lassen Sie ihn heraus!«

»Nur nicht so sanguinisch!«

»Donner und Doria! Ich weiß gar nicht, was Sie heute nur mit Ihrem Sanguinisch haben!«

»Das Verfahren muß den geordneten Weg einschlagen. Ich werde den Gefangenen heute gleich vernehmen, und dann wird sich zeigen, was zu thun ist. Überhaupt sind die Spitzen, welche man bei ihm gefunden hat, eben jener Vorhangzipfel, von dem ich vorhin sprach.«

»Wieso?« fragte Arndt.

»Er behauptet, nichts von diesen Spitzen zu wissen.«

»Soweit ich ihn kenne, ist er kein Lügner.«

»Auch auf mich hat er nicht den Eindruck eines Menschen gemacht, welcher dummer Weise eine erwiesene Thatsache in Abrede stellt. Aber wenn er wirklich die Wahrheit spricht, wie kommen dann die Spitzen in seinen Rock?«

»Hm!« brummte Arndt, der noch nichts sagen, sondern zuvor die Ansicht des Anwaltes erfahren wollte.

Dieser Letztere fühlte sich von dem gegenwärtigen Gedanken gepackt; er schritt, nachdenklich den Blick auf die Diele gerichtet, langsam im Zimmer auf und ab und meinte dabei:

»Man müßte sie ihm heimlich hineinpracticirt haben?«

»So ist es!«

»Aber wer kann dies gethan haben?«

»Ein Feind von ihm.«

»Ganz recht! Wer aber ist dieser Feind?«

»Eine Frage, welche nicht leicht zu beantworten ist!«

»Gewiß! Und dennoch höre ich eine leise, innere Stimme, welche mir unaufhörlich eine Antwort wiederholt.«


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»Diese inneren Stimmen haben oft sehr Recht. Der Criminalist soll auf sie hören.«

»Das möchte ich gern thun. Mir ist nämlich dieser Fritz Seidelmann nicht sympathisch.«

»Mir auch nicht,« meinte Arndt.

»Und mir noch weniger,« fügte der Förster hinzu.

»Sein Verhalten ist mir aufgefallen,« fuhr der Staatsanwalt nachdenklich fort.

»Wieso?«

»Fast möchte ich sagen, daß er mir verdächtig geworden ist. Zunächst beobachtete ich ihn nicht. Ich schenkte seinen Worten Vertrauen. Dann aber fiel mir nach und nach der Eifer, mit welchem er gegen Hauser agitirte, immer mehr auf. Sein Verhalten ließ auf einen glühenden Haß schließen. Später hörte ich von seinem Verhalten zu Hofmann's Tochter, und es trat mir der Gedanke nahe, daß dieser Seidelmann nur unter dem Einflusse einer ungezügelten Rachsucht handle.«

»Wie lautete die Anzeige, welche er Ihnen erstattete? Nur auf den Brief?«

»Nein. Auch den Spitzenschmuggel erwähnte er.«

»Ah! Wie konnte er davon wissen?«

»Er hatte Hauser belauscht.«

»Wann?«

»Am Abende, nach der Maskerade. Er war ihm und dem Mädchen gefolgt, um zu hören, was sie sprechen würden.«

»Und sie haben von dem Spitzenschmuggel gesprochen?«

»Nein. Aber als Hauser von dem Mädchen fortgegangen ist, hat er sich nicht, wie doch zu erwarten gestanden hätte, nach Hause begeben.«

»Wohin sonst?« fragte Arndt gespannt.

»Er ist mit einem Manne zusammengetroffen, mit dem er sich jedenfalls bestellt gehabt hat.«

»So! Hm! Eigenthümlich! Wer ist dieser Mann gewesen?«

»Ein Schmuggler.«

»Woher will Seidelmann das wissen?«

»Aus dem Gespräch, welches er belauscht hat. Hauser hat nämlich mit dem Fremden die Spitzenpascherei besprochen.«

»Und das hat Seidelmann belauscht?«

»Ja.«

»Lüge!«

Der Anwalt blieb, als Arndt dieses Wort stark und mit Nachdruck aussprach, rasch stehen und fragte:

»Lüge? Haben Sie einen Grund, Seidelmann's Aussage für eine Lüge zu halten?«

»Ja.«

»Welchen?«


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»Hauser hat mit dem Fremden kein einziges Wort von Pascherei gesprochen. Es ist auch von Spitzen keine Rede gewesen.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

»Sehr einfach: Ich selbst war der Fremde, von welchem Sie soeben gesprochen haben.«

Das machte einen überraschenden Eindruck auf den Staatsanwalt.

»Sie selbst?« fragte er.

»Gewiß! Ich wußte, daß Hauser zur Maskerade gehen werde. Ich ahnte, daß ihm da Gefahr drohe. Ich ging also in die Schänke, um ihm nöthigenfalls beizustehen. Ich kam auch wirklich in die Lage, Fritz Seidelmann zu packen und zurückzuwerfen. Dann ging ich, um mit Hausern zu sprechen.«

»So lügt also Seidelmann?«

»Gewiß.«

»Das, was er erlauscht haben will, ist ersonnenes Zeug?«

»Ohne allen Zweifel!«

»So fällt ein ganz und gar eigenthümliches Licht auf ihn: Er hat die Absicht gehabt, Hauser als Pascher zu verdächtigen.«

»Und um dieser Absicht Nachdruck zu geben, hat er -«

»Hat er die Spitzen in Hauser's Rock practicirt, wollen Sie sagen?« fiel der Anwalt schnell ein.

»Das will ich allerdings sagen.«

»Dieser Gedanke liegt allerdings sehr nahe. Aber, wie soll Seidelmann das angefangen haben?«

»Hm! Er hat sich in Hauser's Wohnung geschlichen.«

»Sie sprechen da meine eigene Vermuthung aus. Ich dachte ganz das Ähnliche bereits, als ich mich bei Hauser's befand, und mich erkundigte, ob man des Nachts unbemerkt in das Haus eindringen könne.«

»Welche Antwort wurde Ihnen?«

»Der Alte sagte, daß Jedermann durch die Hinterthüre herein könne. Aber Eduard Hauser hat seinen Rock stets in der Stube gehabt, und die ist stets verschlossen.«

»Aber außerordentlich leicht zu öffnen.«

»Auf welche Weise?«

»Die Thür hat kein Kastenschloß, sondern eines jener hier in dieser Gegend gebräuchlichen Schlösser, zu welchen nicht ein Schlüssel, sondern ein Drücker gehört, welcher eingeschraubt wird. Alle diese Drücker sind sich ähnlich oder sogar gleich. Ein Jeder kann mit seinem Drücker die Thür eines Andern öffnen.«

»Daran habe ich nicht gedacht. Auf diese Weise hätte Seidelmann freilich sehr leicht in Hauser's Stube kommen können. Aber hier gelten nur Beweise. Vermuthungen wiegen zu leicht.«

»Gut! Ich werde den Beweis liefern.«

»Sie, Herr Arndt? Das wäre!«


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»Ja, ich! Ich habe nämlich ganz genau gesehen, daß Fritz Seidelmann sich an Hauser's Laden schlich, um in die Wohnstube zu spioniren.«

»Können Sie das beschwören?«

»Ja. Aber ein Schwur wird nicht nöthig sein.«

»Wann ist das gewesen?«

»Nach meiner Unterredung mit Hauser, welche Seidelmann belauscht haben will.«

»Trat er in das Haus?«

»Nein. Er ging nach Hause.«

»O weh! So ist eben nichts bewiesen.«

»O doch! Nun eben kommt die Hauptsache! Ich schlich ihm nach.«

»Und Sie machten vielleicht eine Entdeckung?«

»Eine sehr wichtige. Nämlich Fritz Seidelmann befand sich nebst seinem Vater und seinem Oheim in einem Zimmer, welches nach dem Garten hinaus liegt. Ich fand eine Leiter und legte sie an eines der Fenster dieses Zimmers an -«

»Sie scheinen Ursache zu haben, diese Leute sehr genau unter Ihre Beobachtung zu nehmen.«

»Sie werden darüber noch Weiteres hören. Also, ich lauschte. Was gesprochen wurde, konnte ich nicht hören; aber ich sah, daß ein Bild von der Wand genommen wurde. Hinter demselben war eine Öffnung, und darinnen befand sich - rathen Sie!«

»Das Rathen würde mir schwer werden!«

»Ist hier aber eigentlich leicht. In dem Loche befanden sich nämlich Spitzen.«

»Spitzen?« fuhr der Staatsanwalt empor.

»Spitzen?« rief auch der Förster.

»Ja, Spitzen.«

»Weiter, weiter!«

»Von diesen Spitzen wurde ein ziemlich langes Stück abgeschnitten.«

»Wozu?«

»Das sah ich leider nicht. Das Zimmer war hell erleuchtet. Das Licht fiel auf mich. Ich konnte sehr leicht bemerkt werden. Ich zog mich also zurück und ging nach Hause.«

»Wie schade! Jammerschade!«

»O, noch ist nichts aufzugeben! Resummiren wir: Fritz Seidelmann will Hauser's Geliebte verführen; es gelingt ihm nicht; er will sich rächen; er schleicht sich an Hauser's Laden und recognoscirt dessen Stube; einige Minuten vorher ist Eduard Hauser nach Hause gekommen und entkleidet sich; er legt seinen Rock auf den Tisch und geht schlafen; das sieht Seidelmann; er eilt nach Hause, holt ein Stück Spitze, schleicht sich in Hauser's Stube ein und näht die Spitze in Hauser's Rockfutter. Am anderen Tage geht er zu Ihnen und zeigt Hauser an, zufälliger Weise unterstützt von Hauser's Brief. Hauser wird arretirt, ohne von den Spitzen eine Ahnung gehabt zu haben.«


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Der Staatsanwalt hatte fast athemlos zugehört.

»Welche Combination!« rief er jetzt.

»Halten Sie dieselbe für zu gewagt?«

»Sie ist gewagt; aber doch erscheint sie so natürlich und folgerichtig, daß ich mich Ihrer Meinung unbedingt anschließen möchte. Ich sehe, Herr Arndt, welch ein scharfer Kopf Sie sind.«

»Danke! Lassen wir aber der Combination den Beweis folgen.«

»Sie meinen?«

»Sie sind natürlich im Besitze der Spitze, welche bei Hauser entdeckt wurde?«

»Natürlich! Sie gehört zu den Acten.«

»Diese Spitze muß mit dem Stücke, von welchem sie abgeschnitten wurde, genau zusammenpassen.«

»Gewiß! Man muß sich also zu Seidelmann's begeben.«

»Das ist unerläßlich. Aber noch Eins: der Zwirn.«

»Wieso dieser?«

»Nun, glauben Sie, daß Fritz Seidelmann bei Hauser's nach Zwirn gesucht hat?«

»Keinesfalls. Er hat natürlich Zwirn und Nadel von zu Hause mitgenommen.«

»Nun, so gilt es zu entdecken, welche Sorte Zwirn es war. Wie haben Sie Hauser's Rock geöffnet?«

»Ich habe mit dem Federmesser einen Riß in das Futter geschnitten.«

»Nicht die Naht aufgetrennt?«

»Nein. Dazu gab es im Walde keine Zeit.«

»Das ist gut. Man wird also die Naht ganz unverletzt vor sich haben.«

»Gewiß! Und man wird sehr leicht erkennen, ob die ursprüngliche Naht von fremder Hand aufgetrennt und dann mit einem andern Zwirn wieder zugenäht wurde. Wollen wir das vielleicht jetzt untersuchen?«

»Wo haben Sie den Rock?«

»In meinem Arbeitszimmer. Als ich mit den beiden Gefangenen hier ankam, waren die Expeditionen bereits geschlossen. Ich gab also die Inhaftaten ab und nahm das Andere mit nach meiner Privatwohnung.«

»So bitte, holen Sie ihn! Aber, hat Hauser den Rock nicht anbehalten?«

»Nein; er zog ihn aus, als sein Arm verbunden wurde und legte dann einen anderen an - den sogenannten Sonntagsrock.«

Er entfernte sich. Der Förster fragte:

»Und das, was Sie da erzählt haben, haben Sie wirklich Alles gesehen, Herr Vetter?«

»Alles.«

»Aber, zum Donnerwetter! Warum haben Sie mir denn gar nichts davon gesagt?«

»Hatte ich Zeit?«

»Warum nicht?«


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»Nun, als ich nach Hause kam, fand ich ja gar nicht Gelegenheit, Ihnen Etwas zu erzählen. Sie hatten es mit Ihrer Hundepost gar zu eilig.«

»Aber unterwegs!«

»Pah! Wir flogen so schnell vorwärts, daß mir fast der Athem versagte. Wer mag da plaudern!«

»Hm! Das ist richtig. Also wollen wir - ah, da kommt der Herr Anwalt mit dem Rocke!«

Der Beamte breitete den Rock auf dem Tische aus und stellte die Lampe so, daß sie das Kleidungsstück hell beleuchtete.

»Sapperment!« meinte der Förster. »Blut! Dieser arme Junge hat wirklich stark geschweißt.«

»Es ist nicht gefährlich. Sorgen Sie sich nicht um ihn,« bemerkte der Anwalt. »Also hier sehen Sie den Schnitt, welchen ich gemacht habe und hier ist der Rand und die Naht.«

»Richtig!« sagte Arndt. »Meine Vermuthung hat mich nicht getäuscht. Der Schneider hat mit Seide genäht; hier unten sehen Sie die Stelle, welche geöffnet worden ist.«

»Und wieder mit Zwirn zugemacht!«

»Und zwar in großen, schlechten, eiligen Stichen.«

»Man wird sehen, ob bei Seidelmanns diese Zwirnnummer zu finden ist. Ich werde mich mit einem Protokollanten und den Polizeiorganen bereits am Vormittage zu ihnen begeben. Es liegt hier eine Gewissenlosigkeit, eine Raffinerie vor, welche ihres Gleichen sucht.«

»Und welche auf noch Weiteres schließen läßt,« meinte Arndt.

»Haben Sie mit diesen Worten etwas Bestimmtes im Sinne?«

»Gewiß. Wozu brauchen Seidelmanns die Spitzen?«

»Für ihren Privatbedarf, werden Sie sagen.«

»Warum verstecken sie diese Spitzen aber in so auffälliger Weise?«

»Hm!«

»Warum giebt Seidelmann sich solche Mühe, Hauser als Waldkönig erscheinen zu lassen?«

»Ich habe allerdings eine Ahnung; aber sie ist mir wirklich zu ungeheuerlich.«

»Ich bitte, sie mir dennoch mittzutheilen.«

»Sollten Seidelmanns pasch en?«

»Ich meines Theils, bin sehr überzeugt davon.«

»Ah! Wirklich? Haben Sie Veranlassung zu dieser Annahme?«

»Gewiß.«

»So sprechen Sie, sprechen Sie! Sie machen ein Gesicht, als ob Sie noch Vieles, Vieles wüßten.«

»Ich weiß allerdings Einiges, was ich Ihnen mittheilen muß. Ich halte die Seidelmanns nämlich nicht nur für Pascher, sondern ich bin sogar beinahe überzeugt, daß Vater und Sohn den Waldkönig spielen.«

Der Staatsanwalt trat erschrocken zurück.


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»Herrgott! Wäre das möglich!« rief er aus.

»Es ist sogar sehr wahrscheinlich.«

»Welch eine Voraussetzung! Welch ein Gedanke! Der bedeutendste Kaufmann der Umgegend ist der Pascherkönig! Aber Sie haben bisher einen solchen Scharfblick gezeigt, daß es mir jetzt schwer wird, an Ihnen zu zweifeln. Welch ein Unglück! Welch eine Schande!«

»Unglück? Schande? Für wen? Ich halte es im Gegentheile für ein Glück, wenn der Waldkönig ergriffen wird.«

»Ganz gewiß! Aber ich dachte in diesem Augenblick an eine mir gut bekannte Familie, der ich diesen Schlag unmöglich gönnen kann.«

»Warum ein Schlag für sie?«

»Es sind die Schwiegereltern Seidelmanns.«

»Wohl brave Leute?«

»Sehr. Der Mann ist ein kleiner Beamter, welcher hier seine kärgliche Pension verzehrt. Er heißt Mothes.«

Da hob Arndt den Kopf empor. Als er den Namen hörte, stieg ein plötzlicher Gedanke in ihm auf.

»Mothes?« fragte er. »Sie sagen, daß Sie mit diesen Leuten bekannt sind?«

»Sehr gut.«

»Haben sie Kinder?«

»Nur die eine Tochter, welche mit Seidelmann verheirathet ist.«

»Ist Ihnen vielleicht der Vorname derselben bekannt?«

»Ja. Sie heißt Therese.«

»Ah! Also doch!«

Diese Worte waren mit einem solchen Seufzer der Erleichterung ausgestoßen, daß der Anwalt erkannte, daß sie eine Bedeutung hätten. Er fragte:

»Sie verfolgen bei dieser Erkundigung einen gewissen Zweck?«

»Ja, einen Zweck, welcher mit dem Gegenstande unserer Unterredung in inniger Beziehung steht. Vetter Wunderlich, haben Sie den Betttuchzipfel, welchen wir draußen bei den Tannen fanden, bereits abgegeben?«

»Ja. Der Obergensd'arm hat ihn bekommen.«

»Erinnern Sie sich des Buchstabens, welcher darauf stand?«

»Ja; es war ein T.«

»Und dann erzählte ich Ihnen, daß ich das Betttuch untersucht habe, als der Waldkönig mit Hauser sprach?«

»Ja. Da haben in der Ecke die beiden Buchstaben T und M gestanden?«

»Richtig! Wir haben geforscht, wessen Namen mit T und M beginnt, aber vergebens. Jetzt haben wir es.«

»Sakkerment! Was?«

»Nun, haben Sie es nicht gehört? Therese Mothes.«

Der Alte öffnete den Mund, so betroffen fühlte er sich.

»Da schlage doch das Wetter drein!« meinte er. »Sie wollen doch nicht etwa sagen, daß Frau Seidelmann, die geborene Therese Mothes, der Waldkönig ist!«


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»Nein. Aber als wir nach dem Namen forschten, haben wir gar nicht daran gedacht, daß viele Wäschestücke zur Ausstattung gehören und also mit dem Namen der Frau gezeichnet sind. Der Waldkönig hat sich eines solchen Betttuches bedient.«

»Richtig! So muß es sein, anders nicht! Daß wir auch nicht früher auf diesen Gedanken gekommen sind.«

Der Anwalt hatte unter großem Staunen diesen Reden zugehört. Jetzt nun konnte er nicht länger schweigen. Er fragte:

»Verstehe ich Sie recht, Herr Arndt? Der Waldkönig hat mit Eduard Hauser gesprochen?«

»Ja.«

»Und Sie sind dabeigewesen?«

»Ja.«

»Wo und wann war das?«

»Am letzten Sonntage, im Walde, auf der Straße, welche nach dem Forsthause führt.«

»Und das erfahre ich erst jetzt und nur so nebenbei!«

»Nicht nebenbei. Ich bin vielmehr gekommen, Ihnen das Alles mitzutheilen.«

»So sprechen Sie! Sie sehen mich in einer Spannung, wie ich sie in meinem Leben noch selten empfunden habe. Sie sagten vorhin, daß Sie gekommen seien, den Waldkönig zu fangen. Sie wissen mehr, als Sie mich vermuthen ließen. Ich beginne, zu glauben, daß der Pascherkönig seine Rolle sehr bald ausgespielt haben wird.«

»Sie irren, wenn Sie von dem Pascherkönige sprechen.«

»Wie meinen Sie?«

»Man muß nicht von dem Pascherkönige, sondern von den Pascherkönigen sprechen.«

»Warum?«

»Weil es mehrere giebt.«

Der Anwalt machte ein Gesicht wie Einer, der etwas ganz und gar Unbegreifliches zu hören bekommt.

»Mehrere?« fragte er.

»Ja.«

»Ich verstehe Sie nicht. Es kann ja nur einen einzigen Pascherkönig geben!«

»Meinen Sie? Haben Sie die Thaten dieses unheilvollen Wesens mit Aufmerksamkeit verfolgt?«

»Natürlich! Es ist das ja meine Pflicht und Schuldigkeit.«

»Kennen Sie auch den Schauplatz seiner Thätigkeit?«

»Es ist die Grenze in ihrer ganzen Ausdehnung.«

»Ist Ihnen nicht zuweilen aufgefallen, daß der König an einem und demselben Tage an zwei verschiedenen Orten, welche wohl zwanzig Meilen von einander entfernt sind, gesehen worden ist?«


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»Ja. Es war mir das unbegreiflich. Die niedere Bevölkerung glaubt daher, daß er hexen könne.«

»Die ganze Hexerei besteht einfach darin, daß es mehrere Waldkönige giebt. Der hiesige gehört unbedingt zur Familie Seidelmann.«

»Herr Arndt, Sie setzen mich allerdings in's größte Erstaunen. Sie befinden sich erst seit einigen Tagen hier und zeigen sich unterrichteter als alle Grenzer und Polizisten, die bereits seit Jahren den Paschern nachgespürt haben!«

»Pah! Ich bin Polizist!«

»Und was für Einer! Die Anderen sind es auch. Ich sehe natürlich ein, daß Sie sehr guten Grund gehabt haben, mich aus dem Schlafe zu wecken. Ihr Verdacht gegen Seidelmanns erscheint mir nicht mehr ungeheuerlich. Und wie ich vermuthe, haben Sie bereits entsprechende Indicien gesammelt?«

»Sie vermuthen richtig. Ich werde Ihnen diese Indicien nicht vorenthalten. Zunächst gebe ich Ihnen die Möglichkeit an die Hand, Seidelmann als den Mörder des Grenzoffiziers, welcher am Freitag erschossen wurde, anzuklagen.«

»Herrgott! Ist's möglich?«

»Ja. Wir haben einen Zipfel von Seidelmanns Betttuch auf dem Thatorte gefunden, und ich kann nachweisen, daß der Waldkönig, also Seidelmann, sich bei seinen nächtlichen Ausgängen stets eines Betttuches bedient.«

Er erzählte jetzt, daß er mit dem Förster nach den drei Tannen gegangen sei, um den Ort des Verbrechens zu untersuchen, und trug ihm dann seine Erklärungen vor. Der Anwalt hörte ihm in größter Spannung zu und sagte am Ende des Berichtes:

»Gewiß, Sie sind ein polizeiliches Genie, Herr Arndt. Woran Keiner von uns gedacht hat, daran denken Sie zuerst, und dann tragen Sie das in einer Weise vor, daß man nicht nur vollständig überzeugt wird, sondern sich auch noch wundert, daß man nicht selbst sogleich darauf gelcommen ist.«

Arndt erzählte weiter. Als er so weit gekommen war, daß er mit Hauser bei der Eiche gelegen hatte, sprang der Anwalt auf und sagte:

»Nein, nein! Völlig unbegreiflich! Warum ist denn Keiner von uns auf diesen Gedanken gekommen? Also dieser Bormann befand sich dort?«

»Ja.«

»Und wir haben ihn überall gesucht, nur gerade dort nicht. Haben Sie die Schrift in dem Kästchen enträthseln können?«

»Gewiß. Eduard Hauser hat mitgeholfen. Es hieß, daß man Auskunft bei Laube auf dem Schachte erhalten könne.«

»Wer ist dieser Laube?«

»Der Nachtwächter.«

Und Arndt erzählte immer weiter. Der Anwalt schien vor Erstaunen die Sprache zu verlieren. Erst als Arndt schwieg, weil er nun nichts mehr mitzutheilen hatte, sagte er:

»Lassen Sie mir einen Augenblick Zeit! Was ich da höre, das ist so wichtig und kommt so unerwartet, daß ich mich erst zu fassen habe.«


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Er begann seine Wanderung durch das Zimmer wieder. Endlich nahm er abermals auf dem Stuhle Platz und sagte:

»Herr Arndt, ich darf nicht fragen, wer Sie sind - -«

»Ich würde es Ihnen auch nicht sagen.«

»Aber ich hoffe, daß die Zeit einmal kommt, in welcher ich es erfahren werde. Seien Sie, wer Sie wollen, das ist gewiß, daß man Ihnen großen Dank schulden wird. Das, was wir trotz aller Anstrengung nicht erreichten, das bringen Sie uns geradezu auf dem Präsentirteller herbeigetragen. Ich bin mir in Allem klar geworden und weiß, was ich zu thun habe. Vorher noch einige Fragen!«

»Ich stehe zur Verfügung.«

»Sie wissen nicht, wohin der Bormann ist?«

»Nein.«

»Der Nachtwächter Laube ist also wirklich eingeweiht?«

»Ja.«

»Sie haben den frommen Schuster gewiß erkannt?«

»Ganz gewiß.«

»Und heute auch seinen Bruder?«

»Vernehmen Sie den Pfarrer und den Gensdarmen.«

»Also der Wächter giebt das Zeichen mit einer Glocke?«

»Er muß viermal klingeln, hatte aber die Anweisung, es heute fünfmal zu thun.«

»Wie aber kommen die Seidelmanns auf den Schacht?«

»Vielleicht durch einen unterirdischen Gang.«

»Sollte es einen Stollen geben, der ihr Haus mit dem Schachte verbindet? Das ist doch kaum anzunehmen.«

»Vielleicht datirt ein solcher Stollen von einem früheren, eingegangenen Werke.«

»Möglich. Wir haben alte Zeichnungen und Sitationspläne in Masse daliegen. Ich werde einmal nachschlagen. Wann soll jener Coup ausgeführt werden?«

»Zwei Uhr nach Mitternacht am diesseitigen Ausgange des Haingrundes.«

»Ah! Wir werden dieses Mal diese Kerle ganz sicherlich ergreifen!«

»Wenn sie Ihnen entkommen, sind Sie selbst schuld.«

»Wollen Sie sich nicht betheiligen?«

»Vielleicht. Ich habe einen Ausflug nach Schloß Hirschenau vor. Kehre ich zur rechten Zeit zurück, so werde ich mich Ihnen gern anschließen.«

»Ich würde mich natürlich sehr freuen, Sie zu sehen. Aber, da fällt mir ja ein, daß ich bereits am Vormittage zu den Seidelmanns wollte!«

»Der Spitzen wegen?«

»Ja. Das werde ich nun freilich unterlassen müssen.«

»Warum?«

»Um keine Sorge bei ihnen zu erwecken.«

»Ganz recht. Wenn Sie nach den Spitzen und dem Zwirn suchen, so


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muß Seidelmann natürlich auf den Gedanken kommen, daß er sich in Gefahr befindet. Es läßt sich vermuthen, daß er dann den Paschercoup für die Nacht unterläßt.«

»Gewiß. Ich werde also nicht zu ihm gehen.«

»Aber nachdem Sie die Schmuggler im Haingrunde aufgehoben haben, werden Sie sich dann sofort zu Seidelmanns bemühen. Es ist mein Wunsch, daß der unschuldige Hauser möglichst bald entlassen werden könne.«

»Tragen Sie keine Sorge! Ich bin von seiner Unschuld jetzt noch mehr überzeugt als vorher und werde ihm ein Privatstübchen anweisen lassen. Er soll nicht in der Zelle bleiben.«

»Und das Engelchen?« fragte der Förster. »Die steckt auch im Loche! Was wird mit ihr?«

»Darauf kann ich genaue Antwort jetzt noch nicht ertheilen, gebe Ihnen aber die Versicherung, daß ich mein Möglichstes thun werde, ihre Gefangenschaft abzukürzen.«

»So ein gutes, braves Mädchen im Gefängnisse!«

»Sie wird ihre Lage nicht so schwer empfinden, wie Sie dieses meinen. Ich habe ihr eine Zelle angewiesen, in welcher sie passende Gesellschaft findet.«

»Passende Gesellschaft? Donnerwetter, im Loche! Welche Gesellschaft könnte das wohl sein?«

»Auguste Bey er.«

»Ah, die Schreiberstochter?«

»Ja.«

»Auch eine Unschuldige! Himmeldonnerwetter! Wenn ich daran denke, so läuft mir die Galle über! Na, Sie können ja nichts dafür! Daran ist der Lump, der Seidelmann schuld. Aber wehe ihm, wenn ich ihn einmal so zwischen meine Fäuste bekomme! Er hat dann sicher auf dem letzten Loche gepfiffen!«

»Sie halten also diese Beyer auch für unschuldig?«

»Natürlich! Was soll sie denn sein?«

»Hm? Es wird auch ihr zum Vortheile gereichen, wenn Seidelmann als Waldkönig ergriffen wird. Seine Anzeige verliert dann den größten Theil ihrer Glaubhaftigkeit.«

»So machen Sie nur auch, daß Sie ihn wirklich bekommen!«

»Darüber brauchen Sie sich nicht zu sorgen. Herr Arndt hat mir Alles so ausführlich erzählt, daß ich meine Vorbereitungen auf das Vortrefflichste einzuleiten vermag. Werden auch Sie mit dabei sein, Herr Wunderlich?«

»Ich möchte wohl.«

»Gut! Um zwei Uhr kommen die Pascher. Gerade um Mitternacht werde ich im Forsthause eintreffen, um zu sehen, wer von Ihnen sich mir anschließen mag. Ich bin so aufgeregt, daß ich nicht mehr schlafen kann. Ich bleibe gleich wach, um meine Arrangements zu treffen. Sie aber werden der Ruhe bedürfen. Ich kann Sie nicht länger aufhalten.«


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»Na, ich bin einverstanden. Ich muß zwar ohne den Hauser fort, aber er wird wohl bald nachkommen. Gute Nacht!«

Der Anwalt geleitete sie selbst bis an die Thür. Er wunderte sich nicht wenig, als er das Hundefuhrwerk erblickte.

»Sie sehen, wozu sich ein Polizist verstehen muß,« lachte Arndt. »Das ist heute meine Amtsequipage.«

»Aber ein tüchtiges Gespann!« sagte der Förster. »Ehe wir die Hand umdrehen, werden wir zu Hause sein!«

Eine Minute später flogen sie davon, wie von der Gewalt eines Sturmes getrieben.- - -


[Zweites Kapitel.]

- - - - -

Schlagende Wetter.

Bei der Ankunft im Gerichtsgebäude, an welchem sich das Gefängniß befand, hatte der Staatsanwalt dem Wachtmeister die beiden Gefangenen mit einer leisen Weisung übergeben, und sich dann entfernt. Der Wachtmeister warf einen theilnehmenden Blick auf sie und sagte dann:

»Kommen Sie mit mir. Ich habe den Befehl erhalten, Ihnen Ihre Lage möglichst zu erleichtern. Sie werden gute Zellen erhalten.«

Engelchen wurde der Wachtmeisterin übergeben. Sie erhielt von derselben einen warmen Kaffee und die Beruhigung:

»Seien Sie nicht bange, mein Kind! Es ist schon Mancher gerechtfertigt von hier fortgegangen, den seine Mitmenschen zu früh verurtheilt hatten. Weshalb hat man Sie denn eigentlich hierher gebracht?«

Statt der Antwort liefen dem Mädchen die Thränen über die jetzt erbleichten Wangen.

»Fassen und beruhigen Sie sich! Eigentlich darf ich solche Fragen gar nicht stellen; aber ich weiß, daß Mittheilung das Herz erleichtert. Wessen wird man Sie anklagen?«

»Mein Gott, mein Gott! Ich glaube, des Mordversuches!«

»Des Mordversuches? Ah! Das ist schlimm!«

Sie betrachtete das Mädchen mit dem forschenden Blick einer Kennerin und sagte dann:

»Aber das begreife ich nicht. Sind Sie denn -«

Engelchen erhob den Blick fragend zu ihr, und dieser Blick war so rein und unschuldig, daß die Frau gleich fortfuhr:

»Nein, das ist es nicht! Einen Geliebten haben Sie nicht!«

»O doch!«

»Wirklich? Hm! Und - und wohl auch - ein Kindchen?«

Engelchens Gesicht überzog sich mit einer tiefen Gluth.

»Nein, nein!« lautete die rasche Antwort.

»Ich dachte, weil Sie von einem Mordversuche sprachen.«

»Ein Kind morden? O Himmel, das könnte ich nicht!«


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»So haben Sie einen Erwachsenen tödten wollen?«

»Ich wollte nicht, es kam ohne Absicht; ich war so fürchterlich aufgeregt.«

Aber er ist nicht todt? »Aber er ist nicht todt?«

»Nein. Ein Schrotkorn hat ihn am Ohre gestreift.«

»So haben Sie auf ihn geschossen? Wohl auf den Geliebten? Aus Eifersucht?«

»Nein. Mein Geliebter ist mit hier - der Bursche, welcher mit mir gekommen ist. Der, auf welchen ich geschossen habe, wollte mich zwingen, seine Geliebte zu werden.«

»Ach so! Nun verstehe und begreife ich Alles! Sie Ärmste! Na, Sie können versichert sein, daß Ihre Strafe recht gelind ausfallen wird. Wer ist es denn, auf den Sie geschossen haben?«

»Fritz Seidelmann.«

»Der? Wegen dem auch die junge Beyer hier ist?«

»Ja, derselbe. Sie ist unschuldig; alle Leute wissen und sagen das.«

»Sie ist wohl eine Freundin von Ihnen?«

»Ja. Wir sind miteinander confirmirt.«

»Schön! Da werde ich Sie Beide zusammen thun. Kommen Sie!«

Sie führte sie nach einem verschlossenen Corridore, auf welchen zu beiden Seiten die Zellen mündeten. Sie öffnete eine derselben und sagte hinein:

»Schlafen Sie?«

Es wurde ihr keine Antwort.

»Sie bekommen eine Gesellschafterin!«

Auch jetzt blieb es still.

»Kommen Sie heraus, und helfen Sie ihr den Strohsack hineintragen!«

Aber drinnen in der Zelle rührte sich nichts.

»Sie redet nicht und thut nichts als weinen,« flüsterte die Wachtmeisterin. »Vielleicht ist es ein Glück für sie, daß Sie kommen. Jetzt müssen Sie sich das Schlafzeug selbst hinein tragen.«

An der Thür lag ein Strohsack und eine wollene Decke, die Letztere allerdings nicht hinreichend bei dieser winterlichen Kälte. Engelchen trug Beides in die enge Zelle. Da lag bereits ein Strohsack auf dem Fußboden und darauf eine in die Decke eingehüllte Gestalt, welche das Gesicht nach der Wand gewendet hatte und sich nicht bewegte.

So viel erblickte Engelchen beim Scheine der Laterne, welche die Wachtmeisterin in der Hand trug. Sie machte sich ihr Lager so gut wie möglich fertig, und dann wurde ihr von der Frau eine »gute Nacht« geboten. Die Thür ging zu. Angeln kreischten, Riegel klirrten; dann war es still.

In der Zelle war es dunkel. Engelchen wickelte sich in die Decke und weinte leise vor sich hin. Wie ganz anders lag es sich doch daheim im warmen Bette! Nach und nach beruhigte sie sich, und ihre Thränen hörten auf zu fließen.


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Nun aber beängstigte sie die tiefe Stille. Sie lauschte. Kein Athemzug war zu hören. Es war wie im dunklen Grabe, gerade als ob die andere Gefangene todt sei. Es überkam sie ein Grauen. Sie fürchtete sich, und darum nahm sie sich vor, die peinigende Stille zu unterbrechen.

»Gustel!« flüsterte sie.

Es wurde ihr keine Antwort.

»Gustel!« wiederholte sie nach einer Weile, und zwar lauter.

Ihr Ruf hatte ganz denselben Erfolg, nämlich keinen.

»Beyers Gustel!« rief sie zum dritten Mal. »Schläfst Du denn gar so tief?«

Da regte es sich drüben, und eine leise Stimme fragte:

»Wer bist Du denn?«

»Kennst Du mich nicht?«

»Nein.«

»Es war ja Licht hier! Du hast mich wohl gar nicht angesehen?«

»Nein.«

»Ich bin Hofmanns Engelchen.«

Da gab es drüben ein Geräusch, als ob Jemand rasch emporfahre, und dann sagte eine hastige Stimme:

»Das Engelchen? Ist's wahr? Ist's möglich?«

»Ja, ich bin es.«

»Herr Jesus Christus! Ja, Du bist es! Jetzt erkenne ich Dich an der Stimme! Ganz gewiß bist Du unschuldig, geradeso wie ich! Wegen wem bist Du denn da«

»Wegen dem Fritz Seidelmann.«

»Wegen dem auch? Engelchen, ich bin vor Schreck ganz starr. Wie kannst Du wegen dem gefangen sein?«

»Ich habe auf ihn geschossen!«

»Geschossen? Mein Herr Jesus! Warum denn?«

»Er hat den Hauser's Eduard angezeigt und gesagt, daß er der Waldkönig sei. Sie haben den Eduard gefangen genommen und auf ihn geschossen, so daß er ganz blutig war. Ich bin dazu gekommen, und die Grenzer standen dabei. Da weiß ich nicht, wie es gekommen ist. Ich habe das Gewehr eines Grenzers genommen und auf den Seidelmann abgedrückt.«

»Herrgott! Und hast Du ihn erschossen?«

»Nein. Er ist nur am Ohre gestreift.«

»Allen Heiligen sei Dank! So bist Du also keine Mörderin?«

»Nein. Aber man hat mich dennoch wegen Mordversuch arretirt und hierher geschafft.«

»Das ist gar traurig. Aber warum hat denn Seidelmann den Eduard für den Pascherkönig ausgegeben?«

»Um ihn zu verderben. Seidelmann wollte nämlich - - -«

Sie stockte. Auguste Beyer fragte:

»Was wollte er?«


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»Mich. Ich sollte seine Geliebte sein.«

»Du? Er wollte Dich etwa heirathen?«

»Er sagte es.«

»Glaube es ihm nicht, Engelchen! Glaube es ihm um Gottes willen nicht. Er will Dich nur verführen und unglücklich machen, ganz so, wie er es bei mir gemacht hat.«

»Ich habe es ihm auch nicht geglaubt. Er hat gemerkt, daß ich dem Eduard gut bin, und darum hat er ihn verderben wollen.«

»So bist Du jetzt wohl Eduard's Schätzchen geworden?«

»Ja.«

»Das ist gut; das ist schön! Den Eduard gönne ich Dir. Er ist ein guter, braver und ehrlicher Bursche, und Du wirst mit ihm glücklich werden. Also geschossen haben sie auf ihn! Was ist dann mit ihm geworden?«

»Er ist auch eingesperrt.«

»Auch gefangen? Wohl gar hier?«

»Ja. Wir sind zusammen hergeschafft worden.«

»Welch' eine Schlechtigkeit! Er ist sicher unschuldig! Darauf kann man getrost zehn Eide schwören. Habe keine Sorge. Seine Unschuld wird an den Tag kommen.«

»Um ihn sorge ich mich auch nicht, desto mehr aber um mich.«

»Warum?«

»Mordversuch! Das klingt gar schrecklich.«

»Es ist aber nicht so schrecklich, wie es klingt. Was haben denn Deine Eltern gesagt, als sie es erfuhren?«

»Die Mutter war nicht da, und der Vater hat kein Wort herausgebracht. Er ist an Allem schuld. Er wollte mich zwingen, zu Seidelmanns zu ziehen.«

»Um Gottes willen nicht, Engelchen! Du siehst ja, wie es mir ergangen ist. Ich bin nur einige Tage dort gewesen, und die Folgen wirst Du wissen.«

»Ist es denn wirklich so anders mit Dir?«

Es entstand eine minutenlange Pause, dann antwortete die Tochter des Schreibers:

»Warum fragst Du? Alle Welt wird es bereits wissen!«

»Du Ärmste!«

»Ja. Und ich bin unschuldig, das kann ich bei allen Heiligen beschwören. Ich habe mich gegen ihn gewehrt wie ein Teufel. Ich habe um Hilfe gerufen, aber Niemand hat es gehört.«

»Das glauben Dir alle Leute!«

»Und den Ring habe ich auch nicht gestohlen!«

»Er hat ihn Dir geschenkt?«

»Nein. Als ich mit ihm rang, blieb mir sein Ring in der Hand. Ich habe ihn behalten, um beweisen zu können, daß er bei mir gewesen ist.«

»Hättest Du ihn doch lieber zurückgegeben.«


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»Leider! Ich sehe jetzt auch ein, daß ich da sehr unvorsichtig gewesen bin. Man wird mich als Diebin bestrafen. Und nachher - - -«

Sie schwieg. Engelchen fragte:

»Und vor dem Anderen, was nachher kommen wird, fürchtest Du Dich auch? Nicht wahr?«

»Ja. Mein Leben ist verdorben. Ich bin ein unglückliches Geschöpf und habe nichts mehr zu hoffen!«

»Das darfst Du nicht sagen! Die Leute wissen alle, daß Du unschuldig bist.«

»Gehe mir mit den Leuten! Sie haben für sich selbst zu thun. Und wenn sie zehnmal wissen, daß ich unschuldig bin, so bin und bleibe ich doch ein gefallenes Mädchen. Nach meiner Schuld oder Unschuld wird Keiner fragen.«

»Du darfst Dein Gottvertrauen nicht sinken lassen. Es wird ja Vieles ganz anders, als man sich ursprünglich gedacht hat.«

»Das ist wohl wahr! Aber ich habe keine Hoffnung mehr. Meinen Vater haben sie zwar wieder frei gelassen. Aber was wird er machen? Seidelmanns haben ihn ganz sicher nicht wieder in Arbeit genommen.«

Sie erwartete eine Antwort von Engelchen; da diese aber schwieg, fuhr sie fort:

»Weißt Du vielleicht, ob er wieder bei ihnen ist?«

»Er ist nicht dort,« antwortete die Gefragte leise und langsam.

Sie merkte, daß die Tochter noch nichts von dem Tode ihres Vaters wußte, und scheute sich, ihr diese betrübende oder gar wohl erschütternde Nachricht mitzutheilen.

»Nicht?« fragte Gustel. »So hat er wohl gar keine Arbeit?«

»Nein; erarbeitet nicht.«

Sie hatte damit allerdings die Wahrheit gesprochen. Der Schreiber ruhte in einem und demselben Grabe mit seinem Weibe unter der Erde. Sein irdisches Wirken war abgeschlossen; er arbeitete nicht mehr. Seine Tochter aber nahm diese Worte anders und fragte:

»O Gott! So ist er daheim bei der Mutter?«

»Ja.«

Auch das war keine Unwahrheit. Er war daheim, in der Heimath, welche uns Alle erwartet. Er war bei der Mutter. Seine Tochter verstand das freilich nicht symbolisch. Sie seufzte tief auf und klagte:

»Welch' ein Elend! Du kennst unsere Armuth, und darum kann ich Dir sagen, daß wir die ganze vorige Woche von einem Topf voll Sauerkraut gelebt haben. Das ist das Allerbilligste, was es giebt. Ich habe gehungert, damit die Mutter nichts davon merken sollte, und wenn sie fragte, ob die kleinen Geschwister gegessen hätten und satt seien, habe ich mit Ja geantwortet, obgleich die armen Kleinen nur eine trockene, harte Brodrinde gehabt hatten. Da stand der Vater noch in Arbeit. Jetzt nun sitzt auch er zu Hause und hat keine Arbeit! Wie soll es da stehen und gehen! Welch' ein Elend wird


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es da geben! Sie werden hungern, mehr als zuvor. Und dazu die arme, kranke Mutter!«

Sie weinte leise, aber herzbrechend vor sich hin. Und als Engelchen nichts dazu sagte, fuhr sie nach einer Weile schluchzend fort:

»Und nun ich dazu im Gefängnisse!«

»Man wird Dich entlassen,« tröstete Engelchen.

»Entlassen? O nein! Seidelmann wird bei seiner Aussage bleiben, und ich werde wegen Diebstahls bestraft werden.«

Da nahm Engelchen alle ihre Weisheit zusammen und sagte:

»Nein, das wird nicht geschehen! Noch giebt es einen lieben Gott, und noch giebt es gute Advocaten!«

»Ja, wenn man so am lieben Gott festhalten könnte!«

»Das kannst Du! Ich wollte, der alte Papa Hauser wäre da; der würde Dir schon Muth machen. Der hat eine felsenfeste Zuversicht und ist in der Bibel und im Gesangbuche zu Hause. Weißt Du, was er Dir sagen würde?«

»Was?«

»Wo soll ich hingehen vor Deinem Geiste, und wo soll ich hinfliehen vor Deinem Angesichte? Führe ich gen Himmel, siehe, so bist Du da; bettete ich mich in die Hölle, siehe, so bist Du auch da; nähme ich Flügel der Morgenröthe und bliebe am äußersten Meere, so würde doch Deine Rechte mich führen und Deine Hand mich halten! - Gott ist also im Himmel; er ist in der Hölle; er ist am äußersten Meere; er wird also auch hier in der dunklen Zelle bei Dir sein!«

Es war wirklich so Etwas wie Nachbar Hauser's Geist über Engelchen gekommen. Sie war selbst gefangen; aber sie fühlte, daß ihre Freundin noch unglücklicher sei, und hielt sich verpflichtet, sie zu trösten.

»Ja; Gott kann helfen - wenn er will!« seufzte Gustel vor sich hin.

»O, er kann nicht nur, sondern er will auch! Weißt Du, was Hauser Dir noch sagen würde?«

»Noch einen Bibelvers.«

»Oder einen Liedervers. Etwa:

Hoff, o bedrängte Seele,
Hoff, und sei unverzagt!
Gott wird Dich aus der Höhle,
Da Dich der Kummer plagt,
Mit großen Gnaden rücken.
Erwarte nur die Zeit,
So wirst Du schon erblicken
Die Sonn' der schönsten Freud!«

Die Sprecherin hörte, daß Gustel noch immer weinte; aber dieses Weinen war ruhiger geworden. Dann erklang es von drüben herüber:

»Und doch kommt Gott nicht mehr vom Himmel auf die Erde herab, wie es nach der Bibel früher geschehen sein soll!«

»Aber er machte seine Boten zu Winden und seine Diener zu Feuerflammen!«


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»Das heißt; er schickt irdische Helfer.«

»Ja. Nimm Dir nur einen tüchtigen Advocaten an! Ich habe gehört, daß man keinen Unschuldigen ohne Advocaten und Vertheidigung verurtheilen darf.«

»Das hat mir auch der Wachtmeister bereits gesagt. Aber was kann mir das für später helfen? Ob ich verurtheilt werde oder nicht, so komme ich doch nach Hause, wo sie bereits so elend sind. Und dieses Elend wird durch mich nur noch schlimmer. Denke Dir, was ich erwarte! O Gott, das Kind - - das Kind!«

Und wieder begann sie zum Erbarmen zu schluchzen. Engelchen fühlte das tiefste Mitleiden. Sie sagte sich, daß Gustel sich ganz besonders fürchte, ihren armen Eltern zur Last zu fallen, und daß es vielleicht besser sei, ihr die Wahrheit zu sagen. Darum entfuhr es ihr:

»Du brauchst Dir wegen zu Hause keine Sorge zu machen!«

»Keine? Das ist ja meine größte Sorge! Was soll werden, wenn auch ich noch komme, und - nicht ich allein!«

»Du wirst den Eltern nicht beschwerlich werden.«

»Nicht? Wieso?«

»Deine Mutter ist - liebe Gustel, Du wirst doch nicht darüber erschrecken?«

Da fuhr die Genannte von ihrem Lager empor und sagte:

»Erschrecken? Gott, was meinst Du! Was werde ich hören? Was ist geschehen, daß ich darüber erschrecken könnte?«

»Hast Du es wirklich noch nicht erfahren?«

»Was denn? Ich weiß nichts, gar nichts. Ich weiß nur, daß der Vater entlassen ist.«

»Wer hat es Dir gesagt?«

»Der Actuar und der Wachtmeister.«

»Und sie haben Dir weiter nichts gesagt?«

»Nein.«

»Von Deiner Mutter?«

»Nein, kein Wort! Was ist mit ihr? Engelchen, mach schnell! Sage es mir! Herr Jesus! Der Gensd'arm war bei uns. Ich sollte gestohlen haben! Mutter war so sehr krank. Sie hat gehört, daß man mich und den Vater fortgeschafft hat, und da - da - Engelchen, sag's! Sie ist noch kränker geworden?«

»Ja, liebe Gustel!«

»Nicht nur kränker geworden! Sie ist sogar gestorben, gestorben vor Schreck und Herzeleid?«

Engelchen antwortete auf diese Frage nicht, darum fügte ihre Freundin noch hinzu:

»Gestehe es nur! Sie ist todt! Nicht wahr?«

»Ja,« erklang es leise und zögernd.

Engelchen hatte erwartet, daß ihre Mitgefangene nun in laute Klagen


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ausbrechen werde; aber das geschah nicht, sie blieb ruhig; sie ließ keinen Laut hören. Es trat eine tiefe Stille ein, welche umso bedrückender umso beängstigender wirkte, je länger sie dauerte. So vergingen fünf Minuten, zehn Minuten, ja wohl eine ganze Viertelstunde. Engelchen lauschte angestrengt; aber es war nicht das Geringste zu hören. Da wurde es ihr bange und immer banger, sie konnte es nicht mehr aushalten und sagte, leise rufend:

»Gustel!«

Sie erhielt keine Antwort.

»Gustel! Hörst Du mich?«

Jetzt war nur ein leises Rascheln des Lagers zu hören.

»Gustel, antworte! Mir wird es sonst ganz bange!«

Da erklang es unter einem Schluchzen, wie Engelchen es in ihrem ganzen Leben noch nicht gehört hatte:

»Todt! Todt! Meine Mutter ist todt!«

»Tröste Dich! Sei ruhig! Sie ist gut aufgehoben!«

»Meine Mutter! Meine liebe, liebe, gute Mutter!«

»Nicht so, nicht so, liebe Gustel! Weine lieber! Weine Dich aus! Das erleichtert das Herz!«

»O Du mein Gott! Meine Mutter ist todt! Meinetwegen ist sie gestorben! Was soll ich thun? Wenn ich nur auch gleich sterben könnte! Wäre ich doch weg, weg von der Welt!«

Das arme Mädchen war auf das Tiefste erschüttert. Engelchen versuchte Alles, die Freundin zu trösten, aber ihre gut gemeinten Worte fanden keine Beachtung. Erst mit der Zeit wurde der erste Eindruck dieser traurigen Botschaft überwunden, und die tiefe Erschütterung löste sich in Thränen auf. Dann fragte die Weinende:

»Wann ist sie denn gestorben?«

»Gleich als sie hörte, daß man Euch arretirt und nach der Amtsstadt geschafft habe.«

»Gleich da! Also vor Schreck! Wie entsetzlich! Wer kann sich da beruhigen! Wer kann sich darüber hinwegsetzen!«

»Und doch giebt es auch dabei einen Trost!«

»Welchen? Ich weiß keinen!«

»Daß Deine Mutter einen guten Tod gehabt hat.«

»Vor Schreck! Nennst Du das gut?«

»Sie ist schnell gestorben; sie hat nicht zu leiden gehabt.«

»Aber sie ist doch gestorben, vor Schreck, vor Entsetzen! Das ist fürchterlich! Das kann ich nimmermehr verwinden! Sie todt, und ich mit dem Vater gefangen! Was ist da mit den armen, kleinen Geschwistern geschehen?«

»Da brauchst Du Dich nicht zu kränken! Sie sind gut versorgt!«

»Versorgt? O, man wird sie in das Armenhaus geschafft haben. Und wie sie es dort haben, wie es dort zugeht, das weiß man ja ganz genau!«


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»Es ist wahr, sie sind zunächst nach dem Armenhause geschafft worden; aber sie sind nur wenige Stunden dort geblieben. Der Herr Pastor hat sie geholt!«

»Der? Gott segne ihn! Er hat sie zu sich genommen?«

»Nein; aber er hat sie zu Hausers gethan.«

»Zu Hausers? Da sind sie gut aufgehoben! Hausers sind ja brave Leute. Aber bei ihnen ist die Armuth daheim. Sie haben selbst zu schaffen, um zur Noth auszukommen. Wie wollen sie jetzt für so Viele sorgen können!«

»Auch da ist geholfen. Es ist nämlich ein fremder Herr zu dem Pfarrer - ah, hast Du schon von dem Fürsten des Elendes gehört?«

»Nein. Wer ist das?«

»Das ist ein sehr geheimnißvoller Mann, der zuerst in der Residenz aufgetreten ist. Wo irgend wer in Noth und Sorge gewesen ist, da ist dieser Mann gekommen und hat geholfen. Wo es irgend einen Jammer, ein Elend gegeben hat, da ist er schnell bei der Hand gewesen. Darum hat man ihn eben den Fürsten des Elendes genannt.«

Gustel machte zu diesen Auseinandersetzungen keine Bemerkung; sie hörte nur zu. Darum fuhr Engelchen fort:

»Jetzt nun ist er auch im Gebirge aufgetaucht.«

»Um zu helfen?«

»Ja.«

»Wohl auch bei uns, in unserem Städtchen?«

»Ja. Und zwar seid Ihr die Ersten gewesen, denen er seine Hilfe gebracht hat.«

»Wir? Meine Geschwister?«

»Ja. Er ist am Sonntage in der Dämmerung zum Pfarrer gekommen und hat sich nach Euch erkundigt.«

»O, der kann nichts Übles von uns sagen!«

»Nein, und darum ist dieser fremde Herr auch gleich zur Hilfe bereit gewesen.«

»Wie will ich ihm dafür danken, wenn ich wieder frei bin.«

»Das wird Dir sehr schwer werden, denn er hüllt sich in das tiefste Geheimniß. Kein Mensch kennt ihn; kein Mensch hat erfahren, wer er eigentlich ist.«

»O, ich werde so lange forschen, bis ich es erfahren habe! Was hat er denn für die Geschwister gethan?«

»Zunächst hat er eine Summe Geldes zum Begräbnisse Deiner Mutter gegeben.«

»Gott sei Dank! Sie ist also nicht in einem Communsarge begraben worden?«

»Nein.«

»Das ist wenigstens ein kleiner Trost. Ein Communsarg! Das ist schrecklich! Man nennt diese Särge nur Nasenquetschen!«


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»Und sodann hat er Geld hergegeben für Hausers, damit Deine Geschwister keine Noth zu leiden brauchen.«

Gustel holte tief Athem.

»Das ist wieder ein Trost,« sagte sie. »Nun fallen sie also den armen Hausers nicht zur Last.«

»Nein. Und ferner ist er hierher gegangen und hat mit dem Untersuchungsrichter gesprochen, um Euch frei zu machen. Dich hat man nicht losgeben können; aber Deinen Vater hat man entlassen, weil der Fürst des Elendes eine Caution bezahlt hat.«

»Also deshalb! Ich dachte, der Vater sei freigesprochen worden. Wo befindet er sich denn jetzt? Daheim? Hat er die Geschwister wieder zu sich genommen?«

»Nein.«

»So sind sie auch jetzt noch bei Hausers?«

»Sie werden für immer dort bleiben.«

»Aber der Vater? Du sagtest vorhin, daß er keine Arbeit habe. Er muß doch leben!«

»Für ihn ist auch gesorgt, liebe Gustel.«

»Ohne Arbeit? Sagest Du denn nicht, daß er bei der Mutter sei?«

»Ja.«

»Aber diese ist ja todt. Wie kann er bei ihr sein?«

Engelchen schwieg. Sie wußte nicht, was sie antworten solle, und darum zog sie vor, lieber gar nichts zu sagen. Also entstand eine Stille, während welcher Gustel auf eine Antwort wartete. Als diese aber nicht erfolgte, kam es plötzlich über sie wie ein Verständniß dessen, was Engelchen eigentlich gesagt hatte.

»Herrgott!« sagte sie. »Verstehe ich Dich recht, Engelchen?«

»Was meinst Du?«

»Du sagst, daß für den Vater gesorgt sei?«

»Ja. Er hat keine Noth.«

»Er ist bei der Mutter?«

»Gustel, bitte, ergieb Dich darein.«

Da stieß das arme Mädchen einen Schrei aus, so schrill und laut, daß er in allen Corridoren des Gefängnisses zu hören war. Dann war es still, ganz still in der Zelle und draußen. Bald aber hörte man Schritte, Schlüssel und Riegel rasselten, und fragende Stimmen erklangen. Dann wurde die Thür geöffnet. Der Wachtmeister trat herein und ließ das Licht der Laterne auf die beiden Lager fallen.

Gustel lag regungslos, mit geschlossenen Augen auf dem ihrigen; Engelchen aber hatte sich in sitzende Stellung empor gerichtet.

»Haben Sie den Schrei gehört?« fragte er.

»Ja.«

»Ihre Nachbarn sagten, es war hier.«

»Ja, Herr Wachtmeister, es war hier.«


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»So! Wer war es denn?«

Engelchen deutete stumm nach ihrer Freundin.

»Die? Warum?«

»Sie erfuhr, daß ihr Vater und ihre Mutter gestorben sind.«

»Hm! Und Sie haben es ihr gesagt?«

»Ja.«

»Das hätten Sie unterlassen sollen!«

»Ich konnte nicht anders. Sie fragte nach den Eltern.«

»Die Hausordnung verbietet überhaupt solche Unterredungen zwischen den Gefangenen. Wenn sich solche Fälle wiederholen, muß ich Sie Beide auseinander nehmen.«

Er trat näher und leuchtete auf Gustel nieder. Sie behielt die Augen geschlossen und bewegte sich nicht.

»Fräulein Beyer!« sagte er.

Da öffnete sie langsam die Augen und richtete den starren Blick auf ihn.

»Fehlt Ihnen etwas?«

Es war, als ob sie sich erst besinnen müsse; dann schüttelte sie langsam den Kopf, doch ohne ein Wort zu sagen.

»Sie sind erschrocken. Wenn Sie etwas wünschen, so sagen Sie es mir!«

Sie schüttelte abermals mit dem Kopfe. Er wurde nun doch besorgt und fragte darum:

»Warum sprechen Sie nicht? Können Sie nicht reden?«

Da endlich richtete sie sich auf den Ellenbogen auf und antwortete:

»Ich danke, Herr Wachtmeister! Ich brauche nichts!«

»Gut! Wer wird denn so erschrecken! Wir müssen ja Alle sterben, und Ihren Eltern ist nun wohl. Trösten Sie sich also, und vermeiden Sie in Zukunft solche aufregende Gespräche!«

»Verzeihen Sie!«

»Dieses Mal mag es so hingehen, aber vergessen Sie nur nicht wieder, daß unsere Hausordnung eine sehr strenge ist!«

Er ging. Man hörte draußen, nachdem er wieder zugeschlossen hatte, seine Schritte verhallen, und dann trat die vorige Stille ein.

Engelchen bereute jetzt, Alles gesagt zu haben. Aber sie war gefragt worden. Hätte sie Lügen machen sollen? Was hätte sie denn sagen können? Sie hüllte sich in ihre Decke, schloß die Augen und versuchte einzuschlafen. Aber sie kam nicht dazu, denn nach einiger Zeit flüsterte Gustel:

»Engelchen!«

Die Angerufene antwortete nicht. Sie wollte lieber so thun, als ob sie eingeschlafen

»Engelchen, schläfst Du schon?«

Und als keine Antwort erfolgte, setzte sie sich auf und sagte:


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»So schnell kannst Du nicht eingeschlafen sein. Willst Du Dich verstellen? Da komme ich hinüber!«

»Wir dürfen doch nicht sprechen!«

»O doch!«

»Der Wachtmeister hat es ja verboten!«

»Nur nicht laut sollen wir reden!«

»Und nicht von diesen Dingen!«

»Aber ich muß nun auch das Weitere erfahren!«

»Jetzt nicht! Du erschrickst und wirst dann laut.«

»Nun nicht mehr. Es ist überwunden. Wir werden nur ganz leise flüstern, so daß uns Niemand hört.«

»Wird es nicht besser sein, wir schlafen?«

»Denkst Du, daß ich schlafen kann? Schlafen, nach Dem, was ich von Dir erfahren habe?«

»Versuche es, liebe Gustel!«

»Es geht nicht. Sei gut! Sei barmherzig! Sage mir, was weiter geschehen ist?«

»Magst Du nicht warten bis morgen früh, bis es wieder Tag geworden ist.«

»Das kann ich nicht; das ist ganz unmöglich! Engelchen, wenn Du wirklich meine Freundin bist, so laß Dich erbitten!«

»Du Ärmste! Wie dauerst Du mich! Aber ich habe Sorge, daß Du wieder laut sein wirst.«

»Nein; ich werde ganz leise sprechen. Was Du mir noch sagen wirst, das kann nicht so schrecklich sein wie das, was ich bereits gehört habe. Also, mein Vater ist wirklich auch todt?«

»Ja, er ist gestorben.«

»Aber er war ja gar nicht krank. Was ist denn die Ursache seines Todes gewesen?«

»Das kann ich Dir auch nicht sagen. Man hat ihn erst gefunden, als er bereits todt war.«

»Wo?«

»Auf dem Kirchhofe!«

»Auf dem Kirchhofe! Herr, mein Gott! Ist es wahr?«

»Ja. Deine Mutter lag im Leichenhause. Der Todtengräber kam früh, um das Grab zu graben, und da fand er Deinen Vater bei Deiner Mutter.«

»To-o-odt?« erklang es stockend.

»Ja. Denke Dir nur! Er war entlassen worden, hatte sich aber gar nicht sehen lassen. Er saß bei Deiner Mutter und hatte sie in den Armen.«

»Mein Vater! Mein lieber, lieber, armer Vater! Ich weiß nun, woran er gestorben ist!«

»Woran?«


- 792 -


»Vor Jammer und - vor Kälte!«

»Es ist so rührend gewesen. Sie haben Herz an Herz gelegen. Man hat da so recht deutlich sehen müssen, wie lieb sie einander gehabt haben!«

»Ja, lieb haben sie sich gehabt! Lieb haben wir uns Alle gehabt. Es hat bei uns Beides gegeben: Viel Liebe und viel Elend!«

Ihre Stimme erstarb in einem Schluchzen, dem man es anhörte, daß es nur mit allergrößter Anstrengung unterdrückt wurde. Sie hätte vor Herzeleid laut hinaus schreien mögen. Sie warf sich auf dem Lager hin und her; sie biß in die Decke, um ihren Kummer nicht laut werden zu lassen. So verging eine längere Zeit, bis sie fragte:

»Sind sie begraben?«

»Heute noch nicht.«

»Wenn denn!«

»Morgen am Vormittage. Die Mutter hätte nach dem Gesetze heute begraben werden müssen; aber weil die Zeit bei Deinem Vater erst morgen um ist, und weil Beide in ein und dasselbe Grab kommen sollen, wartet man bis morgen.«

»Morgen früh!« hauchte sie.

Engelchen bekam wieder Sorge. Sie bat:

»Sei ruhig! Fasse Dich! Es ist ein großes, großes Leid; aber Du wirst es mit Gottes Hilfe verwinden!«

»Morgen früh! Und ich stecke hier! Ich kann nicht mit!«

»Bete recht herzlich zu Gott, liebe Gustel! Das wird Dich ganz sicher beruhigen.«

»Morgen früh! Man wird sie einscharren! Man wird fragen, wo ihre Tochter ist, und man wird antworten: »Sie ist eine Diebin und steckt im Gefängnisse. Sie hat gestohlen, und darum mußten diese Beiden sterben, die Eine vor Schreck, und der Andere vor Seelenschmerz und Kälte!«

»Nein, nein! Das wird man nicht sagen! Bitte, mache Dir keine solchen entsetzlichen Gedanken!«

»Morgen früh! Und ich bin nicht dabei! Ich werde sie nicht wiedersehen, den Vater nicht und die Mutter nicht, niemals, niemals! Herr, mein Gott! Was habe ich denn gesündigt, daß Du das über mich schickst! Könnte ich noch einmal die Stimme der Eltern hören und ihnen noch einmal in das Gesicht sehen! Könnte ich noch einmal ihnen die kalten Hände drücken, nur noch ein einziges Mal, und ihnen eine Blume in das Grab nachwerfen, eine Blume, eine einzige, kleine, arme Blume! Aber ich liege hier, und morgen wirft man die Erde auf sie. Dann sind sie weg, fort; Herr, mein Heiland, wie soll ich das ertragen!«

Engelchen hielt es für das Beste, Nichts zu sagen. Von dem anderen Lager erklang ein herzbrechendes Stöhnen, leise, immer leiser - dann war es still.

Bald lag Engelchen im Schlafe; aber die Sterne, welche zu dem schmalen,


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