Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Dritter Band


Lieferung 42.

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»Hat er irgend eine Bemerkung gemacht?«

»Er zog die Augenlider der Patientin empor und meinte dann, daß dieser Fall vielleicht nicht nur vor den Arzt gehöre. Sie sehen, wie scharfsinnig er ist.«

»Hm! Er mag nur vorher beobachten, ehe er ein solches Urtheil fällt! Ich befand mich im Coupé bei ihm und fragte ihn nach seiner Ansicht.«

»Was antwortete er?«

»Daß es ihm jetzt noch an Kenntnissen fehle.«

»Das ist keineswegs der Fall. Übrigens bin ich ja, wie ich bereits sagte, ganz seiner Meinung.«

»Aber wie wollen Sie Beweise bringen? Sie können nur behaupten.«

»O,« lächelte der Arzt, »ich habe mich nach solchen Beweisen bereits umgesehen.«

»Aber jedenfalls ohne Erfolg.«

»Sie irren sich. Ich behaupte, daß man der Patientin irgend ein Mittel beigebracht hat. Dieses Mittel ist von einem Chemiker zubereitet worden; ein Laie bringt so Etwas nicht fertig. Und im ganzen Lande und weit über die Grenzen desselben hinaus giebt es nur einen Einzigen, der so in die Geheimnisse der Gifte eingedrungen ist, daß es ihm gelingen kann, eine solche Apathie hervorzubringen, ohne daß das Mittel nachzuweisen ist.«

»Wer ist das?«

»Der, welcher in unseren Fachkreisen seit langer Zeit als Giftvirtuos bekannt ist. Vielleicht haben Sie seinen Namen auch einmal gehört.«

Der Blick des Arztes wurde immer stechender und durchdringender. Der Baron fühlte, daß er auf seiner Hut sein müsse.

»Ich kenne keinen Chemiker,« antwortete er. »Unsereines steht diesen Kreisen viel zu fern, als daß man sich einen gleichgiltigen Namen, den man zufälliger Weise einmal hörte, merken sollte.«

»Und doch kehrt zuweilen ein solcher Name in das Gedächtniß zurück. Der Mann wohnt nämlich in der Residenz.«

»So, so!«

»Ihrem Ausdrucke nach scheint Ihnen das freilich nicht von Belang zu sein; mir aber und dem Strafrichter muß es auffallen, daß Beide, nämlich die Patientin und der alte Giftmischer, an demselben Orte wohnen. Ursache und Wirkung sind da viel leichter in Beziehung zu bringen, als wenn die Personen räumlich mehr getrennt wären.«

»Ihre Schlüsse scheinen mir sehr gewagt zu sein.«

»Nicht so sehr als Sie denken. Ich kenne den Betreffenden sogar persönlich. Er war Lehrer der Chemie an dem Gymnasium, welches ich besuchte.«

»Das interessirt mich nicht.«

»Aber mich. Und der vorliegende Fall berührt Sie persönlich ja weit mehr als mich. Der Mann war aus irgend einem für ihn nicht sehr ehrenvollen Grunde gezwungen, seine Lehrerstelle aufzugeben, und wurde Apotheker.


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Auch das ging nicht sehr lange Zeit; dann begann er, sich durch Quacksalberei zu ernähren. Er heißt Horn.«

So sehr der Baron bemüht war, sich in der Gewalt zu behalten, er fuhr doch höchst bestürzt zurück, als er diesen Namen hörte.

»Horn! Ah!« rief er aus.

»Ja, Horn. Ich sehe, daß der Name Ihnen also doch bekannt ist. Das ist mir höchst interessant!«

»Pah! Ich habe ihn vorübergehend gehört. Er ist mit der Krankheit meiner Frau unmöglich in Beziehung zu bringen.«

»Wir werden sehen. Sobald ich Anzeige erstatte, werde ich zugleich den Antrag stellen, diesen Horn zu arretiren. Man mag ihm die Kranke vor Augen führen.«

»Sie dichten, Herr Doctor!«

»O nein! Zufälliger Weise nämlich liegt ein zweiter Fall vor, welcher ganz geeignet ist, mich nachdenklich zu machen.«

»Welcher Fall?«

»Ist Ihnen der Name Bormann bekannt?«

Der Baron wurde immer unruhiger.

»Nein,« antwortete er.

»Das wundert mich!«

»Wieso?«

»Weil vor Kurzem die ganze Residenz durch diesen Menschen in Aufregung versetzt wurde. Man nennt ihn den Riesen Bormann. Er ist ein sehr gefährlicher Einbrecher und steht mit dem sogenannten Hauptmann in Verbindung. Von diesem Letzteren haben Sie doch gehört?«

»Allerdings.«

»Nun der Hauptmann hat sich alle Mühe gegeben, diesen Bormann zu retten, doch vergebens. Da plötzlich wurde der Riese wahnsinnig Man traute ihm nicht, sondern man nahm an, daß er simulire.«

»Das ist sehr wahrscheinlich.«

»O, man irrte sich dennoch. Der Riese wurde der hiesigen Landesirrenanstalt zur Beobachtung übergeben, und da hat sich denn herausgestellt, daß er irgendein Medicament erhalten hat, gerade so wie Ihre Frau Gemahlin. Es traten, je länger, desto mehr, bei ihm lichte Stunden ein. Er scheint Reue zu fühlen und gestand, daß eines Nachts Jemand mit Hilfe einer Leiter an sein Gefängnißfenster gekommen sei und ihm Branntwein zu trinken gegeben habe.«

»Sagte er, wer das gewesen sei?«

»Nein. Er behauptete, ihn nicht gekannt zu haben. Natürlich vermuthet man, daß es der Hauptmann gewesen sei. Man hat bereits da ein Auge auf den alten Apotheker Horn geworfen. Kommt meine Anzeige dazu, so wird dieser ganz sicher gefänglich eingezogen.«

»Welch ein Affront! Mein Name in Beziehung zu diesem alten Giftmischer!«

»Es thut mir leid, ist aber kaum zu ändern.«


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»Ist die Anzeige denn wirklich unmöglich zu vermeiden?«

»Hm! Es ist immerhin möglich, daß ich mich irre.«

»Nun, also -«

»Aber ich lade eine schwere Verantwortung auf mich. Ich riskire meine Stellung, meinen Ruf, meine Existenz!«

»Ich werde Ihnen für diese Rücksicht gern dankbar sein.«

»Sehr wohl! Aber dennoch kann ich mich kaum entschließen, mich noch einige Zeit wartend zu verhalten.«

»Warum?«

»Die Behandlung und Beobachtung einer solchen Patientin erfordert so außerordentlich geistige Anstrengung und auch so ungewöhnliche andere Opfer, daß -«

»Daß -? Bitte, sprechen Sie weiter!«

»Daß ich Ihnen lieber den Vorschlag machen möchte, mich von den Verpflichtungen, welche ich übernommen habe, zu entbinden.«

»Das heißt, ich soll meine Frau anderen Händen übergeben?«

»Aufrichtig gesagt, ja.«

»Dazu möchte ich mich denn doch nicht entschließen. Ich wiederhole, daß ich gern dankbar sein werde. Erlauben Sie mir, die Pension, welche ich zahle, zu verdoppeln!«

Der Arzt zuckte geringschätzig die Achseln.

»Oder zu verdreifachen!« fügte der Baron hinzu.

Doctor Mars vermochte doch nicht, ein siegreiches Lächeln zu unterdrücken. Er sagte:

»Ich erkenne Ihre Bereitwilligkeit ja gern an, Herr Baron; aber ich übernehme doch ein Risico, zu welchem die dreifache Pension in keinem befriedigenden Verhältnisse steht. Ich bin Irrenarzt aus Beruf, aber ich bin auch Anstaltsbesitzer aus Berechnung. Ich will nicht bloß heilen, sondern ich will auch verdienen.«

Der Baron durchschaute seinen Mann recht wohl. Er wurde von Minute zu Minute besorgter. Er vermochte zwar nicht, klar zu sehen, aber er bemerkte doch, daß der Arzt mehr wisse oder doch wenigstens mehr ahne, als er sich merken lasse. Daraus erwuchsen Gefahren für ihn, denen er nur mit der Waffe des Goldes entgegentreten konnte. Darum antwortete er:

»Was Sie da sagen, ist mir ganz begreiflich, und ich freue mich, daß Sie aufrichtig mit mir sind. Ich wünsche keineswegs, daß Sie Schaden von mir haben sollen. Sie wollen heilen und wollen auch verdienen. Gut, betrachten wir die Angelegenheit einmal nur vom geschäftlichen Standpuncte. Wieviel fordern Sie dafür, daß meine Frau Ihrer Behandlung noch weiter anvertraut bleibt.«

»Nun, Sie sprachen von der dreifachen Pension.«

»Ich zahle sie gern.«

»Natürlich glauben Sie, mich damit vollständig befriedigt zu haben?«


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»Nein. Sie wollen ein Geschäft machen. Ich bin bereit, mich zu einer Extragratification zu verstehen.«

»In welcher Höhe?«

»Bestimmen Sie!«

»Ich möchte doch lieber Ihnen überlassen, die Summe zu nennen, welche Sie sich denken.«

»Das würde mir peinlich sein. Bestimmen lieber Sie!«

»Ich denke, daß sich jetzt überhaupt noch nichts bestimmen läßt.«

»Ah! Wieso?«

»Weil wir Beide noch gar nicht wissen, was Sie für die Patientin thun werden.«

»Das ist allerdings der Fall. Aber -«

»O bitte, ich pflege Geschäfte coulant zu behandeln. Ich schreibe Ihnen jetzt eine Anweisung auf meinen Bankier.«

Der Arzt verbeugte sich.

»Ich lasse die Stelle, welche die Summe enthalten soll, offen, und Sie füllen dieselbe aus, sobald Sie ungefähr bestimmen können, wie hoch das Äquivalent Ihrer Mühe ungefähr zu sein hat. Sind Sie zufrieden?«

»Gewiß, Herr Baron! Befehlen Sie noch irgend eine Auskunft in Beziehung auf Ihre Frau Gemahlin?«

»Nein. Lassen Sie uns Ihre Expedition aufsuchen.«

Sie gingen. Im Zimmer des Arztes legte dieser Letztere dem Baron Papier vor, und Franz von Helfenstein fertigte die Anweisung aus. Als er damit fertig war, sagte er:

»Ich bin überzeugt, daß wir mit einander zufrieden sein werden, Herr Doctor!«

»Jedenfalls. Verweilen Sie diese Nacht in Rollenburg?«

»Nein. Ich fahre mit dem letzten Zuge zurück.«

»Sie wünschen doch, daß ich sie telegraphisch benachrichtige, falls im Zustande der Patientin eine Änderung eintritt?«

»Natürlich! Ich werde sofort kommen.«

»Und - - hm!«

Er stockte künstlich und hielt dabei sein Auge forschend auf den Baron gerichtet.

»Was noch?« fragte dieser.

»Etwas sehr Wesentliches. Es ist möglich, daß ich in ein unbequemes Dilemma gerathe. Ich setze den Fall, es tritt plötzlich eine Krisis ein, in welcher ich mich für ein Wagniß zu entscheiden habe.«

»Welches Wagniß meinen Sie?«

»Es kann möglich werden, das Leben der Patientin zu riskiren, um sie geistig gesund zu machen. Das soll heißen: Die Krise kann ein Mittel erfordern, welches das Leben Ihrer Frau Gemahlin gefährdet.«

»Erwarten Sie das?«


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»Ich erwarte und wünsche es nicht, aber möglich ist es doch. Wie habe ich mich in diesem Falle zu verhalten?«

»Thun Sie dann das, was Sie vor Ihrem Gewissen zu verantworten vermögen.«

»Hm! Das ist höchst unbestimmt ausgedrückt, Herr Baron.«

»Und ich glaube, ganz bestimmt geantwortet zu haben.«

»Doch nicht. Für uns giebt es zweierlei Gewissen, nämlich das rein menschliche oder moralische und das ärztliche. Welches nun haben Sie gemeint?«

»Das Letztere natürlich. Sie sollen thun, was Sie als Arzt für recht befinden und verantworten können.«

»Nun, als Arzt sage ich mir, daß ich einen Todten für glücklicher halte, als einen unheilbar Geisteskranken.«

»Ich stimme Ihnen bei.«

»Dann sind wir also einig?«

»Gewiß. Ich wiederhole, daß ich einsehe, die Kranke keinen besseren Händen als den Ihrigen anvertrauen zu können. Also leben Sie wohl, Herr Doctor, und - ah, da fällt mir noch Etwas ein! Kennen Sie einen Herrn Seidelmann?«

»Ja.«

»Er war bei Ihnen?«

»Einige Male.«

»Was wollte er?«

»Er sagte, er komme in Ihrem Auftrage, um sich nach dem Befinden Ihrer Frau Gemahlin zu erkundigen.«

»So, so! Hat er die Patientin gesehen?«

»Ich habe sie ihm gezeigt, da ich annehmen mußte, daß er das Recht habe, es zu wünschen.«

»Unterlassen Sie das von jetzt an. Ich werde diesen Mann nicht mehr schicken.«

»Ganz wie Sie wünschen. Seine Besuche sind mir, wie ich ganz aufrichtig gestehe, keineswegs willkommen gewesen. Anverwandte meiner Patientin kann ich nicht abweisen, aber es ist gegen mein Prinzip, die Kranken mit der Gegenwart ganz fremder Personen zu belästigen.«

»Ich gebe Ihnen vollständig Recht. Handeln Sie ganz nach Ihrem ärztlichen Ermessen.«

Er verabschiedete sich mit einem herablassenden Händedruck und ging. Als er fort war, stieß der Arzt ein kurzes, höhnisches Lachen aus und sagte zu sich selbst:

»Zehnfacher Schurke! Ich kann ihn zwar nicht ganz durchschauen, aber daß ich auf den Busch schlug, hat mir die dreifache Pension eingebracht und eine Gratification, die ich selbst bestimmen soll. Sie wird nicht dürftig ausfallen. Also, den Seidelmann schickt er nicht mehr? Nun, der wird wohl ganz von selbst wiederkommen, und ich bin nicht so dumm, ihm die Thür zu


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zeigen. Von ihm werde ich jedenfalls noch mehr hören, als ich bereits erfahren habe.«

Und der Baron, als er die Privatirrenanstalt hinter sich hatte und langsam die Straße hinschritt, murmelte:

»Verdammter Kerl! Er wird mir gefährlich, wenn ich ihn nicht spicke. Seine Vermuthungen hat er nicht aus sich selbst heraus. Ich werde ihn öfters besuchen müssen, um über ihn in's Reine zu kommen.«

Er wendete sich dem Bahnhofe zu, blieb aber unterwegs halten, zog unter einer Straßenlaterne die Uhr hervor, sah nach der Zeit und meinte dann überlegend:

»Noch zwei Stunden Zeit. Sollte ich nicht einmal nach dem Hause gehen, in welches diese Marie Bertram einquartirt worden ist? Zu sehen wird sie heute Abend noch nicht sein; erkannt werde ich also nicht. Das ist wieder so ein Schlich von Seidelmann! Gut, ich gehe hin!«

Er fand das Haus. Der Flur war hell erleuchtet. Ein Diener trat ihm entgegen.

»Sie wünschen?« fragte derselbe.

»Vergnügen.«

»Willkommen! Es ist hier Weinstube. Trinken Sie allein oder in Gesellschaft?«

»Natürlich in Gesellschaft.«

»So kommen Sie in den Salon.«

Er führte ihn nach der ersten Etage und öffnete eine Thür. Der Baron trat in einen hell erleuchteten, reizend ausgestatteten Salon, in welchem sich noch kein Gast befand. Aber auf den sammetnen Divans saßen und lagen mehrere Damen, welche sich bei seinem Eintritte grüßend erhoben. Sie gehörten derjenigen Classe an, welche Heinrich Heine als »verlorene schöne Kinder« bezeichnet.

Kaum hatte der Baron Platz genommen, so schaarten sie sich um ihn herum und verlangten zu trinken. Er bestellte Wein, und bald zeigte es sich, daß diese Vertreterinnen des schönen Geschlechtes wie die Küfer oder Kürassierwachtmeisters zu trinken verstanden,

»Wie viele Damen giebt es in diesem Hause?« fragte er.

»Acht,« wurde geantwortet.

Er zählte nach. Sieben saßen bei ihm, und eine achte war einsam in der fernsten Ecke geblieben.

»Das ist nicht wahr,« behauptete er.

»O doch!«

»Ihr seid zehn!«

»Nein.«

»Freilich. Zwei sind heute angekommen.«

»Ach, diese Beiden! Sie gehören noch nicht zu uns.«

»Kennt Ihr sie schon?«

»Nein.«


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»Aber gesehen habt Ihr sie doch?«

»Auch nicht.«

»Das ist doch sonderbar!«

»O nein! Die beiden dummen Mädels glauben nämlich, daß sie hier in Dienst gekommen sind. Sie werden heute noch bei dieser Meinung gelassen; darum durften sie uns noch nicht sehen. Morgen aber werden sie eingekleidet und mit in den Salon commandirt.«

»Und wenn sie sich weigern?«

»Weigern? Das hilft ihnen nichts. Wer einmal hier über die Schwelle getreten ist, der muß gehorchen. Nicht Alle sind so dumm wie die Wally.«

»Wer ist Wally?«

Wer ist Wally ? »Die dort hinten.«

Die Sprecherin zeigte auf dasjenige Mädchen, welches, als die anderen den Gast begrüßt hatten, bewegungslos auf seinem Platze sitzen geblieben war. Der Baron warf einen musternden Blick auf diese Gestalt.

Sie saß in die Ecke gedrückt und das Gesicht von der Gesellschaft abgewendet. Er sah nur ihren Hinterkopf, von welchem zwei lange, starke, schwere Zöpfe schwarzen Haares auf das seidene Kleid, welches sie trug, niederfielen. Unter dem Saume dieses Kleides lugte die Spitze eines zierlichen Füßchens hervor, und die Hände, welche er erblickte, waren klein, voll und weiß, so daß sie den Neid mancher vornehmen Dame erwecken konnten. Die Figur war schön gemeißelt und jugendlich voll. Schade, daß er das Gesicht nicht sehen konnte!

»Ihr nennt sie dumm?« fragte er. »Warum?«

»Sie hat auch gedacht, sie käme als Zimmermädchen oder als Zofe her. Und nun läßt sie sich von keinem einzigen Gast berühren.«

»Hm! Ist das wirklich dumm?«

»Was denn anders? Wir geben ihr gute Worte. Wir lachen sie aus. Doch Alles hilft nichts.«

»Also darum bleibt sie so fern?«

»Soll sie mit her?«

»Natürlich! Sie soll auch ein volles Glas erhalten!«

»Wally, geh' her!«

Die Angeredete blieb in ihrer Ecke sitzen.

»Wally, hörst Du?«

Sie that, als ob sie nichts gehört habe. Sie bewegte sich nicht; sie drehte nicht einmal den Kopf herum.

»So ist sie! Sie wird aber schon noch anders werden.«

»Ich will doch einmal versuchen, ob sie auch mir nicht antwortet,« sagte der Baron.

Er stand auf und trat zu der Schweigsamen. Er legte ihr die Hand auf die Schulter und sagte:

»Mädchen, komm und trinke mit!«


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Sie antwortete nur dadurch, daß sie durch eine rasche Bewegung seine Hand von der Schulter schleuderte.

»Sei nicht so ungezogen!« fuhr er fort. »Komm, ich gebe Dir für jeden Kuß einen Gulden.«

Er bog sich nieder und wollte den Arm um sie legen. Da aber fuhr sie empor und drehte ihm ihr Gesicht zu. Es war schön, sehr schön, aber leichenblaß. Ihre großen, dunklen Augen glühten ihm drohend entgegen, aber kein Wort kam zwischen ihren vollen, zusammengekniffenen Lippen hervor. So standen sie sich einige Augenblicke schweigend gegenüber. Dann begann er lachend:

»Das sieht ja ganz gefährlich aus! Aber Du machst mich doch nicht bange! Komm, gieb mir einen Kuß!«

Er streckte den Arm nach ihr aus. Sie wich so weit wie möglich zurück und stieß halblaut hervor.

»Fort! Nicht anrühren!«

»Meinst Du? Wozu ist die Schönheit da, als angebetet zu werden? Weigere Dich nicht; es hilft Dir doch nichts!«

Er wollte sie umfassen, erhielt aber in diesem Augenblicke einen Stoß von ihr, daß er zurücktaumelte.

»Donnerwetter!« rief er zornig. »Diese Katze beißt! Bezahlte ich Euch etwa den theuern Wein, um mißhandelt zu werden?«

Da wurde eine Glasthür geöffnet, welche in ein Nebenzimmer führte. Von dort aus war die Scene beobachtet worden. Ein Mann, der Besitzer des Hauses, trat ein.

»Warum zanken Sie, mein Herr,« fragte er den Gast. »Was ist geschehen?«

»Ich bat diese Dame um einen Kuß, erhielt aber anstatt desselben einen Faustschlag.«

»Sie wird das sofort gutmachen. Wally, gieb diesem Herrn einen Kuß!«

Sie hatte sich wieder in die Ecke gesetzt und that so, als ob sie den Befehl gar nicht gehört habe.

»Wally! Schnell! Verstanden?«

Sie regte sich nicht.

»Gut, Du renitentes Weibsbild, Dich werde ich curiren! Vorwärts! Heraus! Oder soll ich nachhelfen!«

Sie schien aus Erfahrung zu wissen, was ihrer wartete. Aber sie gönnte den Anderen die Genugthuung nicht, vor ihren Augen mit roher Gewalt aus dem Salon gestoßen zu werden. Sie stand auf und ging dem Manne in das Nebenzimmer nach. Sie blickte dabei keinen der Anwesenden an, aber auf ihrem bleichen Gesichte lag der Ausdruck einer ganz unbeschreiblichen Verachtung.

Die Anderen lachten.

»Horchen Sie!« sagte Eine zum Baron, als sich die Glasthüre hinter dem Manne und Wally geschlossen hatte.


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»Was?«

»Jetzt bekommt sie den Lohn.«

Wirklich, er hörte jenes Geräusch, welches gar nicht mißzudeuten war - das unglückliche Mädchen erhielt Ohrfeigen.

»Das ist ihr ganz recht,« lachte Eine. »Sie wird schon noch gescheidt werden.«

»Ist sie schon lange hier?« fragte der Baron.

»Zwei Monate.«

»Und ist stets so ungehorsam gewesen.«

»Ja. Erst weinte sie. Sie hat aber eingesehen, daß ihr das nichts hilft. Nun ist sie verbissen und bekommt Ohrfeigen. Das wird sie curiren.«

»Wo ist sie denn her?«

»Aus der Hauptstadt.«

»Was war sie denn dort?«

»Auch nichts Anderes als jetzt. Aber sie ist schon dort so sehr obstinat gewesen. Darum hat man sie zu uns gebracht. Das dumme Ding sieht uns über die Achsel an und spricht kein Wort mit uns. Sie hat aber gar keine Ursache, stolz zu thun. Wir wissen ja, wo ihr Vater ist.«

Wally hatte auf den Baron einen ungewöhnlichen Eindruck gemacht. Als sie so stolz und verächtlich an ihm vorübergeschritten war, um der entehrenden Strafe entgegen zu gehen, hatte er mit gierigen Augen ihre bewunderswerthe Gestalt umfaßt. Sie war eine Schönheit in der Gewalt der schlimmsten Menschen.

»Wo ist ihr Vater denn?« fragte er.

»Droben auf der Burg.«

»Auf Schloß Rollenburg? Also im Zuchthause?«

»Ja.«

»Was hat er denn verbrochen?«

»Diebstahl, Betrug, Fälschung, Unterschlagung, die allergemeinsten Verbrechen hat er begangen und dafür fünf Jahre Zuchthaus bekommen.«

»Was ist er denn gewesen?«

»Gutsinspector, glaube ich.«

»Und wie heißt er?«

»Petermann.«

»Hat er noch weitere Verwandte?«

»Nein. Diese Wally braucht sich also gar nichts einzubilden. Wer den Vater im Zuchthause hat, der kann froh sein, von so einem feinen Herrn, wie Sie sind, einen Kuß zu bekommen. Habe ich nicht Recht?«

Und dabei legte die Sprecherin dem Baron die Arme um den Hals und küßte ihn, was er sich wohl oder übel gefallen lassen mußte. -

Die Stadt Rollenburg hatte ihren Namen von dem Schlosse erhalten, welches sich über ihr auf dem Felsen erhob. Die Rollenburg war im dreizehnten Jahrhundert erbaut worden und lange Zeit von einem berühmten Raubrittergeschlecht bewohnt gewesen. Spätere Besitzer hatten sie vergrößert.


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Mehrere Flügel waren nach und nach angebaut worden, und als sie schließlich in fiscalischen Besitz überging, machte man aus den weiten Hallen und Sälen enge Zellen, in welche geistig und moralisch Kranke, Irrsinnige und Verbrecher untergebracht wurden. Die größere Hälfte des Schlosses wurde in ein Zucht= und die kleinere in ein Irrenhaus umgewandelt.

Seit dieser Zeit hieß, nach Rollenburg kommen, nichts Anderes als in's Zucht= oder in's Irrenhaus kommen.

Die Strafanstalt war nach dem gemischten Systeme eingerichtet. Es gab Zellen für Isolir= und Arbeitssäle für Collektivhaft. Der Director war ein Hauptmann außer Dienst, entstammte einem alten, adeligen Geschlechte und hatte für seine Verdienste um das Strafanstaltswesen den Titel Regierungsrath erhalten.

In den verschiedenen Arbeitssälen gab es verschiedene Beschäftigungen. Da arbeiteten Schmiede, Schlosser, Schreiner, Schneider, Schuster, Weber, Cigarrenmacher in eigenen, abgeschlossenen Visitationen.

Die Zellenhaft konnte entweder als eine Vergünstigung oder als eine Strafverschärfung betrachtet werden. Das Letztere war sie für gefährliche, unverbesserliche Subjecte, die man nicht mit ihren Mitgefangenen in Berührung kommen lassen wollte. Das Erstere aber war sie für Gefangene, denen man ein reges Ehrgefühl zutraute, so daß die Gemeinschaftshaft mit anderen Verbrechern eine Verdoppelung der Strafe für sie gewesen wäre.

Es war Abend geworden. In den Sälen brannte das Gas, und die Zellengefangenen hatten ihre Lämpchen erhalten, bei deren Scheine sie ihre Arbeit verrichteten.

In einem engen Eckthurme, welcher nur zwei kleine Zellen enthielt, die durch eine Thür mit einander in Verbindung standen, saß ein Gefangener am Tische und schrieb.

Trotz seiner niedergebückten Stellung war zu bemerken, daß er von hoher, breiter Figur sei. Er trug die Sträflingstracht - leinene Hose und Jacke und ein graues Halstuch. Ein Zeichen am Jackenärmel deutete an, daß er zur Disciplinarclasse gehöre, das heißt zu den wenigen Gefangenen, welche sich durch ein tadelloses Betragen das Vertrauen ihrer Vorgesetzten erworben haben.

Er mochte fünfzig Jahre alt sein, sah aber jetzt viel älter aus. Seine Wangen waren eingefallen, um seine bleichen Lippen lagerte sich ein Zug schmerzlicher Entsagung; seine hohe, breite Stirn war kahl geworden, und die Augen lagen tief in ihren Höhlen.

In einer solchen Anstalt giebt es viel und Mancherlei zu schreiben. Diese Beschäftigung erhalten nur Solche, welche durch ihren früheren Beruf dazu geeignet sind und sich durch gute Führung ausgezeichnet haben.

Vor der Zelle dieses Gefangenen hing die Nummer 306, und in dem Visitationsbuche des Aufsehers, der ihn zu bewachen hatte, stand:

»Nummer 306, fünf Jahre wegen Unterschlagung. Karl Petermann, Gutsinspector. Führung sehr gut.«

In diesem traurigen Hause wurde Keiner bei seinem Namen, sondern


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nur bei der Nummer gerufen, welche ihm bei seiner Einlieferung zugetheilt worden war.

Die Feder des Nummer 306 flog rastlos und ohne Pause über das Papier. Ihr Knirschen war das einzige Geräusch, welches sich hören ließ.

Das einzige? Nein, denn eben hob der Gefangene den Kopf und lauschte. Draußen ließen sich nahende Schritte vernehmen. Der Gefangene schrieb eifrig weiter.

Ein Riegel klirrte; ein Schlüssel kreischte im Schlosse, und der Aufseher erschien unter der Thür.

»Nummer 306,« sagte er.

»Hier!«

»Komm, schnell!«

Der Gefangene hatte sich erhoben und stand in Achtung vor dem Vorgesetzten.

»Bitte, wohin, Herr Aufseher?«

»Danach hast Du nichts zu fragen. Vorwärts!«

Der Gefangene legte die Feder weg und folgte dem Beamten aus der Zelle hinaus, die enge Treppe hinab, über mehrere Höfe bis in einen Corridor, in welchem bereits mehrere Gefangene in einer Reihe neben einander standen. Dieser Corridor führte zur Expedition des Directors. Nun wußte 306, zu wem er kommen sollte.

Sein Aufseher übergab ihn einem anderen Aufseher, welcher hier im Corridore die Jour hatte, und entfernte sich dann wieder. Der Gefangene wurde dann mit in Reih und Glied gestellt, um zu warten, bis er aufgerufen werde.

Dieser Corridor war allen Gefangenen sehr gut bekannt. Hier hatte mancher vor Angst geschwitzt oder gezittert, wenn er herbeigeführt worden war, um von dem Director eine Strafe dictirt zu erhalten. Der Corridor war der verhängnißvollste Ort des ganzen Gefängnisses.

Sie standen da neben einander, ohne sich anzusehen, ohne einen Laut von sich zu geben. Wer es gewagt hätte, dem Andern nur ein Wort zuzuflüstern, der wäre sofort einer harten Strafe verfallen. So oft von dem Aufseher eine Nummer aufgerufen wurde, trat der Träger derselben aus der Reihe, um im Zimmer des Directors zu verschwinden, aus welchem er später wiederkam, entweder traurig oder mit befriedigter Miene, je nachdem, was ihm von dem gestrengen Leiter der Anstalt zugedacht worden war.

Endlich kam auch Nummer 306 an die Reihe. Er trat ein und blieb in militärischer Haltung an der Thür stehen. Der Director saß in Uniform an seinem Schreibtische und notirte sich eine Bemerkung über den Gefangenen, der ihn soeben verlassen hatte. Sein Gesicht war streng und sein Auge blickte finster auf das Papier hernieder. Noch schreibend, fragte er:

»Wer jetzt?«

»Nummer 306, Herr Regierungsrath.«


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Da hob er den Kopf, und als sein Auge auf den Gefangenen fiel, erheiterten sich die strengen Züge.

»Dreihundertundsechs,« sagte er. »Nicht wahr, Dein Name ist Petermann?«

»Ja.«

»Wie lange hast Du?«

»Fünf Jahre.«

»Wie viel ist davon verbüßt?«

»Vier Jahre.«

»Bist Du hier einmal bestraft worden?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

Das Gesicht des Directors erheiterte sich immer mehr. Er langte neben sich und ergriff ein kleines Actenheft, in welchem er zu blättern begann. Er nickte mit dem Kopfe, als ob er sich erst besinne, weshalb er diese Nummer 306 zu sich berufen habe, und fragte dann:

»Weshalb wurdest Du bestraft?«

»Wegen Unterschlagung.«

»Du warst natürlich unschuldig?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

»Ah! Ganz dieselbe Antwort hast Du mir bereits bei Deiner Einlieferung gegeben. Das macht einen guten Eindruck. Wer seinen Fehler bekennt, ist besserungsfähig. Die Meisten aber sagen, sie seien unschuldig. Man behandelt sie mit Mißtrauen. Hier habe ich Deine Personalien. Ich lese, daß Du Gutsinspector gewesen bist. Hattest Du Familie?«

»Frau und eine Tochter.«

»Leben sie noch?«

Das Auge des Gefangenen füllte sich sofort mit Thränen. Er antwortete mit zitternder Stimme:

»Meine Frau ist während meiner Gefangenschaft gestorben. Sie hat es nicht verwinden können.«

»Ja, so kommt es. Jetzt hast Du ihren Tod auf dem Gewissen! Wieviel Gehalt hattest Du?«

»Fünfhundert Gulden.«

»Hm! Und nur Weib und Kind. Da konntest Du auskommen. Warum die Unterschlagung?«

Der Gefangene blickte vor sich nieder. Es ging wie ein schwerer Kampf über seine Züge, dann antwortete er:

»Ich hatte gespielt, Herr Regierungsrath.«

»Ach so! Wieder einmal der Spielteufel! Wie soll das später werden, wenn Du entlassen bist!«

»Ich bin kein leidenschaftlicher Spieler.«

»Hast Dich aber doch durch das Spiel unglücklich gemacht!«

»Ich kannte es nicht. Ich hatte überhaupt noch niemals gespielt. Darum verlor ich so viel.«


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»Du bist bestraft genug. Ich will Dir keine Vorwürfe machen. Bei wem warst Du denn angestellt? In den Einlieferungsacten steht nichts davon.«

»Bei dem Herrn Major von Scharfenberg.«

Der Director machte eine jähe Bewegung der Überraschung.

»Was? Wie?« fragte er. »Bei meinem Bruder?«

»Ja.«

»Das habe ich nicht gewußt. Ich entsinne mich allerdings, von diesem Falle gehört zu haben. Und nun fällt mir auch der Name auf. Eine Familie Petermann steht bereits seit Generationen in unserem Dienste. Der letzte Petermann, den ich kannte, war Schloßverwalter auf Scharfenstein, welches dann meinem Bruder zufiel.«

»Das war mein Vater.«

»So, so! Dich habe ich nie gekannt. Aber, Mensch, das thut mir herzlich leid. Einer unserer Petermänner im Zuchthause als mein Untergebener! Und das habe ich in diesen vier Jahren nicht gewußt! Es ist nicht meine Sache, auf das Verbrechen zurückzukommen, aber - hast Du Dich denn nicht an meinen Bruder gewandt?«

»Nein.«

»Warum nicht? Er hätte es sicherlich nicht bis zur Anzeige und Bestrafung kommen lassen!«

»Er selbst hat mich angezeigt und auf Bestrafung angetragen.«

»Hm! Wie lange hattest Du in seinem Dienst gestanden?«

»Über zwanzig Jahre.«

»Aber wohl nicht zu seiner Zufriedenheit?«

»Er hat mir nie ein tadelndes Wort gesagt.«

»Dann begreife ich erst recht nicht. Es muß seine eigene Bewandtniß damit haben. Nicht?«

Wieder suchte das Auge des Gefangenen den Boden, doch bald richtete es sich wieder klar und fest auf den Director.

»Es gab keinerlei Bewandtniß, Herr Regierungsrath. Ich brauchte das Geld und nahm es aus der Casse. Der Herr Major entdeckte das Deficit in eigener Person und ließ mich sofort arretiren. Es wäre ohne Erfolg gewesen, mich später noch an ihn zu wenden.«

Der Director stand von seinem Stuhle auf und schritt einige Male nachdenklich im Zimmer auf und ab, dann blickte er abermals in die Acten und sagte endlich:

»Hast Du eine Ahnung, weshalb ich Dich jetzt kommen ließ?«

»Nein.«

»Weißt Du, was für einen Tag wir morgen haben?«

Der Gefangene nannte das Datum.

»Nein, das meine ich nicht. Es giebt einen Freudentag.«

»Ah, Königs Geburtstag!«

»Ja. Nun rathe!«


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Über das vergrämte Gesicht des Gefangenen blitzte ein Strahl der Freude, der aber schnell wieder verschwand.

»Nun, warum sprichst Du nicht?« fragte der Director.

»Das, was ich rathen möchte, kann doch wohl nicht sein!«

»So! Hm! Seine Majestät pflegen sich kurz vor seinem Geburtstage die Namen einiger Gefangenen vorlegen zu lassen, die sich gut geführt haben. Ich erhielt heute das Verzeichniß zurück. Eine eigenhändige königliche Randbemerkung lautet folgendermaßen:

"Das letzte Jahr seiner Strafzeit erlassen!"«

Der Gefangene holte tief, tief Athem. Es wollte wie ein Jubel in ihm aufsteigen. Aber der Director hatte ja noch keinen Namen genannt. Jetzt aber fügte er hinzu:

»Das stand unter Deinem Namen.«

»Herr Gott! Ist's wahr? Ist's wahr?«

»Ja. Zufälliger Weise ist heute der Tag Deiner Einlieferung. Du wirst also morgen entlassen werden.«

Der Gefangene wollte sprechen, aber es übermannte ihn so, daß er kein Wort hervorbrachte. Er lehnte sich mit dem Kopfe gegen die Wand, schlug beide Hände vor das Gesicht und schluchzte und weinte bitterlich.

Der Director ließ ihn eine Weile gewähren und sagte dann in beruhigendem Tone:

»Ich glaube, daß Dich diese Nachricht ergreift, und gönne Dir diese Freude. Du hast Dich gut geführt und wirst hoffentlich nie wieder auf Abwege gerathen.«

»Niemals, nie!« betheuerte der Weinende.

»Was aber wirst Du draußen anfangen?«

»Das weiß ich noch nicht.«

»Hast Du Dir noch keinen Plan gemacht?«

»Ich dachte an die Möglichkeit, doch wieder irgendeine Anstellung zu erhalten.«

»Hm! Das ist schwer. Das Publikum hat gegen jeden entlassenen Sträfling ein scharfes Vorurtheil, welches leider nur zu oft begründet ist. Wo hast Du vor Deiner Einlieferung gewohnt?«

»In der Hauptstadt.«

»So mußt Du dahin zurück. Eigentlich muß ein jeder Entlassene eine bestimmte Zeit nach dem Orte zurück, wo er heimathsgehörig ist. Das ist in vielen Fällen mit großen Nachtheilen verbunden. Er ist gezwungen, jahrelang an einem Orte zu sein, wo man ihm weder Verzeihung noch Arbeit zu Theil werden läßt. Ich werde Dir doch ein Vertrauenszeugniß geben; das berechtigt Dich zum Aufenthalt an jedem beliebigen Ort. Auf diese Weise wird es Dir leichter, eine neue Zukunft zu gründen. Wieviel hast Du in den vier Jahren hier verdient?«

»Fünfzehn Gulden.«


- 999 -


»Das ist freilich wenig. Na, werden sehen! Wohin wirst Du Dich von hier aus wenden?«

»Nach der Residenz.«

»Dort befindet sich wohl Deine Tochter?«

»Ja.«

»Was thut sie dort?«

»Sie ist in Stellung.«

»Welche Stellung?«

»Wirthschafterin bei einem gewissen Herrn Seidelmann, wie sie mir vor fast Jahresfrist schrieb.«

Der Director schüttelte leicht den Kopf.

»Wirthschafterin bei einem einzelnen Herrn? Hm!«

»Er ist alt und soll sehr fromm und gottesfürchtig sein, wie sie mir schrieb.«

»So, so! Aber dennoch - wie alt ist sie jetzt?«

»Neunzehn.«

»So nimm sie lieber weg.«

»Das werde ich thun, sobald ich wieder festen Fuß gefaßt habe.«

»Schön! Auf alle Fälle aber erinnere Dich meiner. Ich will nicht haben, daß ein Petermann zu Grunde geht. Bedarfst Du der Hilfe oder auch nur eines Rathes, so wende Dich getrost an mich. Ich sollte Dir ob Deines Vergehens zürnen, aber Du hast gebüßt und bist, wenigstens mit mir, quitt geworden.«

»Dieses Wort vergelte Ihnen Gott, Herr Regierungsrath!«

Er nahm die Hand des Beamten und küßte sie. Dieser fuhr in freundlichem Tone fort:

»Ein Jeder, der durch seine Schuld dieses Haus betritt, verliert für die Zeit seines hiesigen Aufenthaltes seinen Namen und den Anspruch auf das gesellschaftliche Sie; er wird mit Du und bei seiner Nummer angerufen. Jetzt nun, wo ich Dich entlasse, gebe ich Dir zurück, was Dir nun wieder gehört, Namen und Anrede. Herr Petermann, ich wünsche von ganzem Herzen, daß Sie lauter aus der Prüfung hervorgehen mögen. Sie haben durch eine ausgezeichnete Führung sich mein Vertrauen erworben; arbeiten Sie von jetzt an auch daran, sich das Vertrauen ihrer Nebenmenschen zu erwerben. Hier meine Hand! Gehen Sie mit Gott, und vergessen Sie nicht, sich nöthigenfalls an mich zu wenden.«

Der Gefangene nahm die dargebotene Hand und taumelte dann, wie betrunken vor Freude, zur Thür hinaus.

Ein Anderer trat ein. Der Director nahm von diesem zunächst nicht Notiz. Er fertigte das Vertrauenszeugniß aus und schrieb dann eine Anweisung an den Anstaltsrendanten, welche folgendermaßen lautete:

»Dem morgen früh zu entlassenden Sträfling Karl Petermann sind vor seinem Fortgange hundert Gulden aus der Anstaltscasse auszuhändigen und mir in Anrechnung zu bringen.«


- 1000 -


Erst als er diesen Zettel unterschrieben hatte, wendete er sich an den eingetretenen Gefangenen.

»Welche Nummer?«

»Achthundertundsechzig.«

Der Director suchte unter den vor ihm liegenden Notizen nach dieser 860. Er hatte an der Jacke des Gefangenen gesehen, daß dieser wiederholten Disziplinarstrafen verfallen war. Das machte sein Gesicht wieder streng und finster.

»Wie heißt Du?«

»Heilmann.«

»Was warst Du?«

»Buchbinder.«

»Weshalb bestraft?«

Der Gefangene war ein junger Mensch von wenig über zwanzig Jahren. Bei der letzten Frage des Directors zögerte er mit der Antwort und blickte trotzig vor sich nieder.

»Nun, hast Du gehört? Weshalb bist Du bestraft worden?«

»Wegen Diebstahls,« stieß der Gefangene hervor.

»Wie lange?«

»Zwei Jahre.«

»Natürlich bist Du unschuldig?«

»Ja.«

Da fuhr der Director mit einem Rucke empor.

»Ah! Wirklich?« fragte er.

»Ja. Ich bin es nicht gewesen.«

»So, so! Warte einmal!«

Er hatte jetzt die Einlieferungsacten des Buchbinders gefunden und suchte darin nach. Dann sagte er:

»Ja, hier steht es: Ist ungeständig. Das ist keineswegs empfehlend. Ich werde -«

»Wenn ich unschuldig bin, kann ich nicht geständig sein!« fiel der Gefangene ein.

»Schweig! Du hast nur zu antworten, wenn ich frage! Übrigens lese ich hier, daß Du während Deiner Detention zwölfmal bestraft worden bist, und zwar wegen Faulheit und Widersetzlichkeit. Meinst Du vielleicht, daß Dir das zur Ehre gereicht?«

»Nein, Herr Regierungsrath.«

Er warf bei diesen Worten einen so eigenthümlichen Blick auf seinen Vorgesetzten, daß dieser sagte:

»Was ist das für ein Ton! Was hast Du noch?«

»Ich möchte bitten, mich aussprechen zu dürfen!«

»Ich habe keine Zeit!«

»Es ist ganz kurz.«

»Nun, so laß hören!«


- 1001 -


»Sie meinen es gut mit den Gefangenen, Herr Regierungsrath, das weiß ich, obgleich Sie mich zwölfmal bestraft haben. Viele sagen, sie seien unschuldig. Aber bitte, denken Sie einmal, daß Einer auch in Wirklichkeit unschuldig ist. Mit welchen Gefühlen wird er hier eintreten, sich den Namen rauben, das Haar scheeren und sich Du nennen lassen. Er wird behandelt wie jeder Spitzbube, nein, noch schlimmer, weil man ihm nicht glaubt und ihn doppelt streng hält. Er verbittert sich mehr und mehr. Er soll arbeiten für täglich einen Kreuzer und ist unschuldig; er soll - - ah, ich will lieber schweigen, denn Sie haben keine Zeit, und mir schadet das Sprechen nur. In zwei Jahren zwölfmal bestraft; das hat mir gegen zweihundert Tage Kostentziehung eingebracht, und doch bin und bin und bin ich unschuldig!«

Der Beamte blickte finster zu ihm hinüber und sagte nach einer Weile:

»Ich bin nicht Dein Untersuchungsrichter. Man hat Dich meiner Obhut anbefohlen, und darein hattest Du Dich zu fügen. Bist Du unschuldig, so stehen Dir noch jetzt die Wege offen, Deine Ehre zu retten. Du hast Dich schlecht geführt; ein gutes Zeugniß kann ich Dir also unmöglich geben.«

Die Augen des Gefangenen wurden feucht.

»Dann behalten Sie mich nur lieber gleich hier, Herr Regierungsrath,« sagte er.

»Warum?«

»Weil Sie mich doch bald genug wieder herbekommen werden.«

»Ach so! Du nimmst Dir also bereits vor, rückfällig zu werden! Willst Du Deine Unschuld so beweisen?«

»Das kann mir nicht einfallen. Aber ich bin gezwungen, zwei Jahre lang in der Hauptstadt zu bleiben. An jedem anderen Orte werde ich ausgewiesen. Wer giebt einem Zuchthäusler Arbeit? Kein Mensch. Was habe ich also zu erwarten? Verachtung, Hunger und Noth. Dazu kommt die Polizeiaufsicht. Wie kann ich gegen das Alles ankämpfen? Es wäre wirklich am Besten, ich könnte hier bleiben.«

Das war im Tone unverkennbaren Seelenschmerzes gesprochen. Der Director schien den Sprecher mit seinen Blicken durchdringen zu wollen; dann sagte er:

»Arbeit wenigstens wirst Du auf alle Fälle finden.«

»Bei wem? Selbst wenn mich ein Meister engagirte, so würde doch kein Geselle mit mir arbeiten wollen.«

»Der Staat hat die Verpflichtung, Dir Arbeit zu geben.«

»Ja, er wird mir welche geben, aber wo? Im Armen= oder Arbeitshause, oder man steckt mich unter die städtischen Gassenkehrer und Zwangsarbeiter.«

»Wieviel hast Du hier verdient?«

»Nichts.«

»Weil Du nicht gearbeitet hast.«

»Ich wollte auch hier arbeiten. Aber mir Buchbinderarbeit zu geben, das hielt der Herr Arbeitsinspector für eine Straferleichterung, die ein so


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renitenter Mensch wie ich nicht verdient. Er steckte mich also unter die Fournierschneider. Ich war diese Arbeit nicht gewohnt und brachte also das Pensum nicht. Ich wurde wegen Faulheit mit Kostentziehung bestraft. Ich bekam nichts zu essen und konnte also noch weniger arbeiten als vorher. So habe ich es bis zu zweihundert Hungertagen gebracht, aber verdienen konnte ich mir nichts, obgleich ich als Fournierschneider bei vollem Pensum täglich einen Kreuzer erhalten hätte.«

Es lag in der Art und Weise seiner Bemerkungen etwas, was still hinzunehmen sich der Director gezwungen sah. Er erkundigte sich noch:

»Hast Du Verwandte?«

»Keine Seele.«

»Oder Freunde?«

»Einen alten Pathen; der aber ist der Freund Dessen, der mich in's Unglück gestürzt hat.«

»Du hast also nur für Dich allein zu sorgen; das ist eine große Erleichterung. Übrigens will ich Dir Deine mehr als offene Auseinandersetzung verzeihen und Dir zum Beweise, daß es doch Menschen giebt, welche Deinen Untergang nicht wollen, zehn Gulden aus meiner Casse gutschreiben. Man wird sie Dir morgen früh bei Deiner Entlassung auszahlen.«

Das hatte der Buchbinder von dem sonst so strengen Manne nicht erwartet. Die Röthe der Freude ging über sein Gesicht, und er antwortete:

»Gott vergelte es Ihnen, Herr Regierungsrath! Nicht das Geld allein ist es, was er Ihnen vergelten möge, sondern vor allen Dingen die Hoffnung, welche Sie damit in mir erwecken. Vielleicht stößt man mich nicht überall hinaus. Vielleicht finde ich Arbeit und Vertrauen, und dann wird man erkennen, daß ich nicht der Spitzbube bin, für den man mich bis jetzt gehalten hat.«

»Ich will es Ihnen wünschen, Heilmann. Verzagen Sie nicht; werfen Sie die Verbitterung von sich fort. Treten Sie Ihren Mitmenschen mit einem offenen, freundlichen Gesicht entgegen, und man wird dann nicht hart und rücksichtslos mit Ihnen sein können. Ich entlasse Sie hiermit. Gehen Sie morgen früh mit Gott hier fort, und wenn ich Ihnen im Leben wieder begegne, so würde ich mich freuen, Sie als braven, selbständigen Meister zu sehen.«

Er reichte ihm die Hand.

»Herr Regierungsrath,« sagte der Buchbinder mit bebender Stimme, »hätte bei meiner Einlieferung hier nur ein einziger Beamter so ein theilnehmendes Wort zu mir gesagt, ich wäre nicht zwölfmal bestraft worden!«

Er ging und der Nächste trat ein. So expedirte der Director Einen nach dem Anderen, bis endlich der Letzte ihn verlassen hatte. Nun war auch er frei.

Eben als er seine Privatwohnung betrat, wurde mit der Glocke das Zeichen gegeben, daß die Gefangenen ihre Strohsäcke aufzusuchen hätten.

Er hatte Besuch. Sein Neffe befand sich bei ihm und hatte mit den


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Familienmitgliedern mit dem Souper auf ihn gewartet. Der brave Beamte war während des Essens ungewöhnlich schweigsam. Als man ihn darauf aufmerksam machte, sagte er:

»Ich habe heute Veranlassung zum Nachdenken erhalten. Morgen geht ein Gefangener fort, den ich bisher für einen frechen Leugner gehalten habe, weil er stets behauptete, unschuldig zu sein, und nun, in der letzten Stunde, bin ich in meinem Urtheile irre geworden.«

»Ist es denn überhaupt möglich, daß Jemand unschuldig verurtheilt werden kann?« fragte seine Frau.

»Ich muß zugeben, daß solche Fälle leider vorkommen, der Indicienbeweis läßt stets die Möglichkeit zu, daß der Richter sich irrt.«

Sein Neffe trug die Uniform eines Oberlieutenants. Er hatte ein intelligentes Gesicht und ganz das Aussehen eines lebenslustigen, schneidigen Officiers. Er schien sich für dieses Thema zu interessiren, denn er fiel jetzt mit einer wahrnehmbaren Wärme ein:

»Indicienbeweis, lieber Onkel? O, nicht blos das! Der Richter kann sich sogar selbst dann irren, wenn der Angeklagte sich zu der That bekennt!«

»Wohl kaum!«

»O doch!«

»Es wird doch kein Mensch ein Verbrechen eingestehen, welches er nicht begangen hat!«

»Warum nicht?«

»Welche Gründe sollten ihn leiten?«

»Zunächst Selbsttäuschung. Es ist vorgekommen, daß Einer glaubte, einen Anderen erschossen zu haben. Er wurde auf sein Geständniß hin verurtheilt, und doch stellte es sich später heraus, daß die Kugel nicht aus dem Laufe seines Gewehres gekommen war.«

»Das klingt sehr romantisch.«

»Ist aber trotzdem geschehen.«

»Und nun weiter?«

»Weiter kann sich ein Unschuldiger zu einer That bekennen, um sich für den Schuldigen aufzuopfern.«

»Dann ist der Schuldige entweder ein - - Feigling oder gar ein Schurke.«

Über die Stirn des Lieutenants flog eine feine, plötzliche Röthe. Er räusperte sich und sagte:

»Nein. Es ist entweder unendlich feig oder bodenlos schlecht, einem Andern aufbürden lassen, was man eigentlich selbst zu tragen hat.«

»Vielleicht sind hier noch Ausnahmen zulässig.«

»Ich kenne keine einzige. Doch, apropos, wie war denn damals eigentlich die Geschichte mit dem Petermann, dem Scharfensteiner Inspector?«

Der Lieutenant verfärbte sich so jäh, daß es dem Director auffiel.

»Du erschrickst ja förmlich!« sagte er. »Freilich muß es unangenehm


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sein, solche Beamte vor dem Strafrichter zu wissen. Konnte Dein Vater nicht Gnade walten lassen?«

»Er konnte es, that es aber leider nicht.«

»Ich begreife ihn nicht. War die Summe denn gar so sehr bedeutend?«

»Dreitausend Gulden.«

»Nur? Das ist doch nicht etwa ein Vermögen?«

»O nein! Übrigens wurde vollständig Ersatz geleistet.«

»So begreife ich die Härte des Bruders erst recht nicht. Es mögen da Dinge mitgespielt haben, welche wir vielleicht nicht kennen, lieber Bruno.«

»Höchst wahrscheinlich!«

Es war dem Lieutenant anzusehen, daß dieses Gespräch für ihn ganz und gar kein erquickliches sei, dennoch aber ließ er es nicht fallen, sondern fuhr fort:

»Aber dabei fällt mir ein, daß Petermann zu einer Zuchthausstrafe verurtheilt wurde. Nicht?«

»Freilich.«

»Ich glaube, es waren fünf Jahre.«

»Gerade so viel, ja.«

»Nun, da müßte er sich doch hier bei Dir befinden?«

»Er ist allerdings hier, wie ich heute entdeckt habe.«

»Entdeckt? Das klingt ja wunderbar!«

»Es ist auch wunderbar, aber nur für Denjenigen, der die Verhältnisse nicht kennt. Ich wußte, daß ein Petermann wegen Unterschlagung auf fünf Jahre die Nummer 306 bekommen habe; aber ich hatte keine Ahnung, daß es dieser Euer Petermann sei.«

»Kaum denkbar!«

»Nun, habe ich ihn jemals gesehen?«

»Allerdings wohl nicht.«

»Und sodann hörte ich zwar von der Sache, aber nur vorübergehend, die Einlieferungsacten enthalten zwar die Angabe des Verbrechens, weiter aber nichts darüber. So kam es, daß ich gar nicht wußte, daß der letzte der Petermänner ein Gefangener sei.«

»Wie lange ist er hier?«

»Heute gerade vier Jahre.«

»Hm, lieber Onkel, könntest Du denn da nicht -?«

»Was denn?«

»Hat er noch nicht um Gnade nachgesucht?«

»Nein.«

»Könntest Du nicht Etwas für ihn thun?«

»Gern. Überhaupt habe ich es bereits gethan.«

»Was?«

»Ich habe ihn der Gnade seiner Majestät vorgeschlagen.«

»Gott sei Dank! Denkst Du, daß es Erfolg haben wird?«

»Der Erfolg ist bereits da. Er ist begnadigt und wird morgen entlassen.«


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Der Lieutenant fuhr von seinem Sitze auf.

»Morgen? Ist's wahr?« fragte er.

»Ja. Ich habe es ihm vorhin publicirt.«

»Wie viel Uhr wird er entlassen?«

»Um acht Uhr kann er gehen.«

»Hat er Dir gesagt, wohin?«

»Er geht nach der Residenz.«

»Aber ohne Mittel, ohne feste Stellung in Aussicht.«

»Nun, ich habe ihm hundert Gulden überwiesen; da ist er wenigstens für's Erste sorgenfrei. Findet er keine Stellung, so sorge ich auch weiter.«

Da streckte der Neffe dem Onkel die Hand entgegen und sagte im wärmsten Tone:

»Habe Dank! Das hast Du brav gemacht! Er ist wohl nicht so schuldig wie es den Anschein hat.«

»Wieso?«

»Er hat lange Jahre die Kasse gehabt, ohne daß sie einmal revidirt worden wäre. Er war überzeugt, das, was er ihr entlehnte, in einigen Tagen wieder hineinlegen zu können. Er wollte keineswegs betrügen, sondern nur für ganz kurze Zeit eine Anleihe machen. Er hat ja auch wirklich Alles von Heller zu Pfennig ersetzt.«

»Wenn das so ist, so ist der Bruder geradezu unverantwortlich grausam gewesen.«

»Leider! Wie hat sich Petermann als Gefangener benommen?«

»Ausgezeichnet. Ich gebe ihm ein Vertrauenszeugniß mit, und ich sage Dir, daß ich dies nur sehr ausnahmsweise thue. Leider komme ich seit Langem mit dem Bruder nicht mehr zusammen; aber bist Du bei ihm, so fasse ihn doch einmal an. Er muß sich des Petermann annehmen!«

Der Lieutenant zuckte die Achseln.

»Ich darf mit ihm von dieser Angelegenheit gar nicht sprechen, werde aber doch noch einen Versuch machen.«

Damit war die Angelegenheit für heute erledigt; aber als am Morgen Petermann entlassen wurde und sich nach dem eine Strecke vor der Stadt gelegenen Bahnhof begab, hörte er eilige Schritte hinter sich. Sich umdrehend, gewahrte er den Lieutenant Bruno von Scharfenberg, welcher heute Civilkleidung trug.

Das Gesicht des entlassenen Gefangenen nahm schnell einen harten, abweisenden Ausdruck an. Er wollte den Weg fortsetzen, fühlte sich aber am Arme zurückgehalten.

»Petermann!« erklang es in bittendem Tone.

»Herr Baron!«

»Nicht so, nicht so! Sie ahnen nicht, was ich gelitten habe!«

»Aber Sie ahnen ungefähr, was ich leiden mußte?«

»Ich wollte ja zuspringen, aber Sie selbst hatten mir den Weg dazu versperrt.«


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»Womit denn?«

»Durch Ihr Geständniß.«

»Ach so! Nun, ich habe dieses Geständniß mit meiner Ehre, meiner Stellung und vier Jahren Zuchthaus bezahlt!«

»Ich werde Alles, Alles vergelten!«

Petermann musterte den Lieutenant vom Kopfe bis zu den Füßen.

»Wirklich?« fragte er. »Wollen Sie das?«

»Ja, gewiß!«

»So sagen Sie mir doch einmal, wie Sie das anzufangen gedenken!«

»Da sollen Sie mir rathen.«

»Nun, was meine Stelle werth war, daß läßt sich ja taxiren; aber was zahlen Sie mir für meine verlorene Ehre?«

»Petermann!«

»Und für die Tage der Gefangenschaft. Für den stillen Harm, der mich verzehrte, für die Knechtschaft und Erniedrigung, die ich zu tragen hatte, für Alles, Alles, was sich unmöglich beschreiben läßt?«

»Seien Sie nicht zu grausam!«

»Waren Sie weniger grausam? Ich habe Stunde für Stunde gewartet, daß Sie kommen würden. Ich gestand die That ein, aber ich war überzeugt, daß Sie kommen würden, um dieses Geständniß umzuwerfen - vergebens!«

»Ich muß Ihnen Alles sagen und erzählen. Vielleicht sehen Sie dann meine Unterlassungssünde nicht mehr so an wie jetzt. Aber dazu ist hier der Ort nicht. Kommen Sie nach der Stadt zurück; wir wollen -«

»Nein, nein! Ich habe keine Zeit. Wir sind geschiedene Leute, Herr Baron!«

»Und dennoch bleibe ich bei meiner Bitte! Sie dürfen nicht so hartherzig sein, mir die Erlaubniß, gut zu machen, zu versagen!«

»Ich danke! Ich selbst habe Alles gut gemacht. Was jetzt geschehen könnte, würde überflüssig sein.«

Er riß sich gewaltsam los und eilte fort. Der Lieutenant machte eine Bewegung, als ob er ihm schnell nachfolgen wolle, besann sich aber, drehte sich scharf auf dem Absatze um und ging nach der Stadt zurück.

Als Petermann den Bahnhof erreichte, war es noch zu früh zum Zuge. Er konnte noch kein Billett bekommen, suchte darum die Bahnrestauration auf und ließ sich ein Glas Bier geben - das erste seit vier Jahren.

Er hatte kaum einige Minuten da gesessen, so kam ein zweiter Gast, ein junger Mann, der höflich grüßte und bei seinem Anblicke zu stutzen schien. Auch Petermann kam es vor, als ob er ihn bereits einmal gesehen habe.

Der junge Mann kam näher und fragte:

»Würden Sie mir erlauben, bei Ihnen Platz zu nehmen?«

»Ich kann nichts dagegen haben. Hier setzt sich ein Jeder dahin, wo es ihm beliebt.«

»Das heißt, besser wäre es, ich suchte mir einen anderen Platz? Nicht wahr?«


- 1007 -


»Nehmen Sie es, wie Sie wollen!«

»Nun, ich gestehe Ihnen, daß ich zu Ihnen komme, weil ich mich für Sie interessire.«

»Ah! Warum?«

Der Andere setzte sich, ließ sich ein Glas Bier geben und sagte dann, als der Kellner sich wieder entfernt hatte:

»Bemerken Sie die Falten, welche Sie in Ihrem Anzuge haben, mein Herr?«

»Wozu diese eigenthümliche Frage?«

»Weil mein Anzug dieselben Falten hat. Wenn ein Rock Jahrelang in einem Sacke steckt, ohne nur einmal angezogen zu werden, so sollte er doch vorher wenigstens ausgebügelt werden. Daran denken aber diese hohen Herren Beamten nicht.«

»Ah, Sie wollen sagen -«

»Daß wir jedenfalls Leidensgefährten sind.«

»Sie wurden heute entlassen?«

»Ja, gerade wie Sie auch. Bitte, beurtheilen Sie mich nicht falsch. Es ist nicht gerathen, Zuchthausbekanntschaften zu schließen und zu pflegen. Ich werde Sie nie kennen, selbst wenn ich Sie wiedersehe. Aber heute, am ersten Tage der Freiheit, lacht Einem das Herz vor Glück. Man möchte dieses Glück theilen, und das kann man blos mit einem Schicksalsgenossen thun. Zudem habe ich Sie öfters gesehen. Sie waren Schreiber; das ist ein Vorzug, und ich ersehe daraus, daß ich es nicht mit einem Manne zu thun habe, der für das Haus, in welchem wir waren, geradezu bestimmt ist.«

»Nein, das ist allerdings nicht der Fall. Auch ich habe Sie gesehen. Wo waren Sie?«

»In der Fournierschneiderei.«

»Eine harte Arbeit.«

»Ich hab's empfunden. Ich fahre von hier nach der Hauptstadt.«

»Ich auch.«

»Wollen wir bis dahin beisammen bleiben?«

»Ich bin es zufrieden.«

»Schön! Und nun einen Schluck Bier! Prosit! Ah, wie das erquickt nach dem ewigen Wasser! Eigentlich darf ich mir das gar nicht bieten, denn ich habe da oben im Schlosse keinen Kreuzer verdient und bin auch sonst ein armer Teufel, aber -«

»Erlauben Sie mir, für Sie zu bezahlen?«

»Nein, nein! Halten Sie mich für keinen Lumpen! Ich bin zwar gefangen gewesen, aber auf Raub und Bettelei gehe ich nicht. Ich habe zehn Gulden geschenkt erhalten.«

»Von wem?«

»Vom Regierungsrath.«

»Ah, wirklich? Dieser Mann ist trotz seiner Strenge doch ein wahrer Menschenfreund.«


- 1008 -


»Das will ich meinen! Ich bin bis gestern zu meiner Entlassung schlimm auf ihn zu sprechen gewesen, aber er hat mich bekehrt, trotz der zweihundert Hungertage.«

»Kostentziehung?«

»Ja.«

»O weh! In welcher Zeit?«

»In zwei Jahren.«

»Hm! Sie sehen mir gar nicht wie ein Mensch aus, bei dem es solcher Gewaltmittel bedarf.«

»Bin es auch nicht. Aber wenn Sie nichts zu essen erhalten, weil Sie bei so schwerer, ungewohnter Arbeit das Pensum nicht bringen, so bringen Sie es zum zweiten Male erst recht nicht, und die Kostentziehung nimmt dann kein Ende. Übrigens war es mir unmöglich, mich in die aufgezwungene Willenslosigkeit zu fügen. Man ist nicht mehr Mensch, sondern Strafobject. Man ist ein Ding, an welchem ein Jeder seine vermeintlichen Besserungsexperimente macht. Bessern! Herrgott! Und wer sind diese Leute? Diese Aufseher sind ja selbst nichts Anderes gewesen, als Handwerker. Was verstehen Sie von Psychologie? Und Einen zu bessern, der nichts begangen hat, wie soll das wohl eigentlich angefangen werden?«

Das offene, zutrauliche Wesen des Sprechers war Petermann sympathisch, aber bei den letzten Worten lächelte er doch ein wenig sarkastisch und fragte:

»Sie gehören wohl auch zu den berühmten Unschuldigen?«

»Nein.«

»Ich dachte.«

»Nun, zu den "berühmten" Unschuldigen gehöre ich keineswegs, unschuldig bin ich aber doch.«

»Ach so! Richtig!«

»Ich glaube, Sie lachen!«

»Sie nehmen mir das doch wohl nicht übel!«

»Hm! Mir egal! Lachen Sie oder heulen Sie, ganz wie es Ihnen beliebt. Aber ein Spitzbube bin ich doch nicht.«

»Sie haben auch nicht das Aussehen eines solchen.«

»Und doch hat man mir wegen Diebstahles zwei Jahre Zuchthaus gegeben!«

Er preßte dabei die Zähne zusammen, daß es laut knirschte. Petermann fühlte sich doch versucht, ihm Glauben zu schenken.

»Dann wären Sie höchst unglücklich zu nennen!«

»Doppelt, doppelt, doppelt! Vielleicht habe ich noch mehr verloren, als Zeit, Freiheit und Ehre!«

»Wie ist denn das gekommen?«

»Nun, ich hatte eine Geliebte; ein Anderer wollte sie auch. Wir waren Beide Buchbinder und arbeiteten bei demselben Meister. Eines Tages wurde diesem der Kasten aufgebrochen und sein ganzes Geld gestohlen. Die Polizei kam und fand das Geld - ganz tief unten in meiner Lade versteckt.«


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