Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Dritter Band


Lieferung 44.

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»Du wirst aber doch mitgehen!«

»Nein! Ich fürchte mich!«

»Unsinn! Kein Todter thut Etwas! Übrigens können wir ihn nicht so liegen lassen.«

»Warum denn nicht?«

»Wir müssen den Tod melden. Der Tischler kommt, den Sarg anzumessen, die Leichenfrau und der Todtengräber kommen auch. Wenn sie ihn in diesen Betten und in diesem Schmutz finden, erheben sie ein Gerede, welches uns Schaden machen kann. Wir nehmen die Lappen weg, auf denen er liegt, und legen bessere Betten hinein. Das ist sehr nöthig.«

»Hm! Recht kannst Du haben.«

»Ganz gewiß! Also komm!«

Sie stiegen hinauf und hoben, so sehr die Frau sich auch scheute, die Leiche aus dem Bette, um ein besseres Lager zurecht zu machen. Dann wurde der Todte wieder hineingehoben. Als sie damit fertig waren, begann der Mann abermals nach der Uhr zu suchen, ohne sie jedoch zu finden.

»Das ist doch sonderbar!« sagte er. »Ich weiß ganz genau, daß sie gestern noch da war.«

»Ich auch. Ich sollte sie ihm aufziehen und dann an den Nagel hängen, hier am Balken, damit er sehen könne, welche Zeit es sei. Ich habe ihm aber den Gefallen gleich gar nicht gethan.«

»Es muß Jemand hier gewesen sein.«

»Von den Hausleuten?«

»Die bereichern sich nicht an so einer Uhr.«

»Wer sonst?«

»Wer weiß, was für ein Strolch sich eingeschlichen hat. Es giebt Leute, Bettler, Hausierer, die es sich - was war es? Was hast Du denn?«

Sie hatte ihn durch einen Ruf unterbrochen.

»Vielleicht weiß ich, wer der Spitzbube ist!« sagte sie.

»So? Wer denn?«

»Der Heilmann.«

»Der Heilmann? Was? Der ist ja gefangen!«

»Nein; er ist wieder los.«

»Donnerwetter! War er denn da?«

»Ja.«

»Und Du sagst mir nichts? Weib, Dein früherer Anbeter besucht Dich heimlich? Ich schlage Dir die Knochen im Leibe entzwei! Gleich gestehst Du, was er gewollt hat!«

»Na, sei nur nicht gar so patzig! Mit einem Zuchthäusler brauchst Du mich nicht zusammen zu bringen. Da kennst Du mich schlecht!«

»Er ist aber doch dagewesen!«

»Habe ich ihn gerufen?«

»Das fehlte auch noch! Was hatte er denn hier zu suchen?«

»Er ist heute freigelassen worden und wollte zu dem Alten da, der ja


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sein Pathe ist. Er dachte, dieser hätte das Geschäft noch, und wollte Arbeit von ihm haben.«

»Das soll er sich nur aus dem Kopfe schlagen!«

»Ich habe es ihm auch gesagt.«

»Aber mir hast Du es verschwiegen.«

»Du warst nicht zu Hause. Und als Du kamst, hattest Du so schlechte Laune, daß ich lieber warten wollte, bis morgen. Ich schickte ihn fort, und er ging. Ich dachte auch, daß er fort sei. Später aber traf ich ihn wieder im Hausflur.«

»Sapperment!«

»Ich fragte ihn, was er hier zu suchen habe. Er war da oben beim Alten gewesen und wurde grob.«

»Grob? Wieso denn?«

»Er sagte, wir ließen Den da verfaulen und verhungern; wir sollten uns besser um ihn kümmern.«

»Dieser freche Kerl! Also, oben ist er gewesen?«

»Ja.«

»Ohne uns zu fragen? Oder hast Du es ihm vielleicht erlaubt?«

»Fällt mir gar nicht ein!«

»So hat er sich denn also eingeschlichen!«

»Und ebenso wollte er sich fortschleichen. Ich sah es ihm an, wie er erschrak, als ich ihn ertappte.«

»Und die Uhr ist weg! Sapperlot! Keiner hat sie, als nur er! Soll ich Anzeige machen?«

»Thue, was Du willst!«

»Er dauert Dich wohl?«

»Die Uhr ist nichts werth; aber er hat gesagt, wir ließen Den da verfaulen und verhungern!«

»Das soll er büßen! Aber siehst Du, wie gut es ist, daß wir ein besseres Lager gemacht haben? Ich gehe jetzt noch auf die Polizei. Ich lasse ihn arretiren.«

Sie widersprach nicht, und so führte er seinen Vorsatz aus. Von den beiden Gulden sagte er nichts.

Heilmann saß in der Herberge. Er hatte sich für einige Kreuzer Kartoffeln und einen Hering geben lassen und hielt eben sein frugales Abendbrot, als zwei Gensd'arme eintraten. Sie sahen sich in der Stube um, welche voller Handwerksburschen war, gewahrten ihn und kamen auf ihn zu.

»Haben wir uns nicht heute bereits gesehen?« fragte der Eine.

»Wahrscheinlich,« antwortete er zwar höflich aber gleichmüthig. »Sie werden mich also wohl kennen?«

Er glaubte, es handle sich nur um einen Besuch, um nachzusehen, ob er sich hier befinde. Er stand ja unter Aufsicht.

»Sie sind der Buchbinder Heilmann?«

»Ja.«


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»Sie wollen heute hier schlafen?«

»Ja.«

»Wo haben Sie Ihr Eigenthum, Ihr Gepäck?«

»Ich habe kein Gepäck. Ich trage Alles, was ich besitze, in den Taschen bei mir.«

»So lassen Sie einmal sehen, was Sie besitzen.«

Das hatte er nicht erwartet.

»Aber, meine Herren,« fragte er, »geht Ihre Befugniß denn wirklich gar so weit?«

»Wie weit sie geht, das wissen wir sehr genau.«

»Auch, mich auszusuchen?«

»Auch das.«

»Glauben Sie etwa, weil ich heute entlassen worden bin, muß ich auch sofort stehlen?«

»Wir werden sehen, was wir zu glauben haben. Leeren Sie einmal Ihre Taschen!«

Er sah ein, daß er gehorchen müsse. Es bildete sich ein weiter Kreis von Zuschauern um den Tisch. Das erbitterte ihn. Er hätte vor Zorn weinen können und sagte:

»Ich muß thun, was Sie befehlen, aber dann werde ich mich erkundigen, ob Sie nicht zu weit gegangen sind.«

»Thun Sie das; vorher aber gehorchen Sie!«

»Hier haben Sie Alles!«

Er zog die wenigen Gegenstände, welche er bei sich führte, aus den Taschen und legte sie auf den Tisch. Die Uhr war auch dabei. Die Gensd'armen tauschten einen Blick mit einander aus, und dann sagte der Eine:

»Es genügt! Stecken Sie wieder ein!«

Er that es und fragte beinahe ein Wenig spöttisch:

»Nun darf ich wohl weiter essen?«

»Nein. Sie werden jetzt mit uns gehen.«

»Mit Ihnen? Wozu?«

»Um sich zu erkundigen, ob wir zu weit gegangen sind.«

»Das kann ich morgen auch.«

»Wir bestehen aber darauf, es heute zu thun. Sie sind unser Gefangener.«

Er wurde leichenblaß.

»Höre ich recht?« fragte er. »Sie arretiren mich?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Das werden Sie hören! Kommen Sie nur!«

»Mein Heiland! Ich kann nicht begreifen, warum Sie mich arretiren. Ich bin mir keiner strafbaren Handlung bewußt. Hängt das denn vielleicht mit dem Umstande zusammen, daß ich unter Polizeiaufsicht stehe?«

»Nein. Sie sind angezeigt.«


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»Weshalb?«

»Das werden Sie nachher hören.«

»Nun gut; das beruhigt mich. Ich habe nichts Unrechtes begangen und kann getrost mit Ihnen gehen. Kommen Sie, meine Herren! Ich bin überzeugt, daß es sich nur um einen Irrthum handelt.«

Sie nahmen ihn in ihre Mitte und führten ihn fort. Im Polizeigebäude angekommen, wurde er in dasselbe Zimmer geführt, in welchem er heute mit dem Commissar gesprochen hatte. Dieser war anwesend, obgleich die eigentliche Expeditionszeit vorüber war. Heilmann grüßte höflich. Der Commissar achtete nicht darauf und fragte nur kurz die Gensd'armen:

»Gefunden?«

»Ja.«

Er gab ihnen einen Wink, und sie verließen das Zimmer. Jetzt wendete er sich dem Buchbinder zu. Er musterte ihn mit finsteren Blicken, schüttelte den Kopf und sagte dann:

»Unbegreifliche Menschen, die es giebt! Man möchte da allen Glauben verlieren! Wie lange ist es wohl her, daß Sie mir versprachen, ich solle mit Ihnen zufrieden sein?«

»Das war heute Morgen, Herr Commissar.«

»Jawohl! Und jetzt? Glauben Sie wohl, daß ich mit Ihnen zufrieden bin?«

»Ich habe nichts gethan, daß das Gegentheil stattfinden könnte.«

»Ah, wirklich nicht?«

»Ganz sicher nicht.«

»Gut! Leeren Sie Ihre Taschen!«

Heilmann gehorchte. Der Commissar betrachtete die Gegenstände und klingelte dann. Auf dieses Zeichen trat Einer ein, den Heilmann nicht erwartet hätte; sein Nebenbuhler und Spezialfeind.

»Treten Sie näher!« sagte der Commissar zu ihm. »Sehen Sie sich die Uhr an! Ist es die Ihrige?«

Der Buchbinder betrachtete die Uhr und antwortete:

»Ja, sie ist es.«

»Können Sie es beschwören?«

»Ja.«

Jetzt begann Heilmann zu ahnen, um was es sich handle.

»Das ist gar nicht nöthig!« sagte er. »Er braucht es nicht zu beschwören!«

»Schweigen Sie!« fuhr ihn der Commissar an. »Sie haben nur dann zu sprechen, wenn Sie gefragt werden!«

Und sich an den Buchbinder wendend, fuhr er fort:

»Sie selbst haben ihn nicht bei sich gesehen?«

»Nein.«

»Aber mit Ihrer Frau hat er gesprochen?«


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»Zweimal. Er ist ganz erschrocken gewesen, als sie ihn beim Fortschleichen ertappte.«

»Schön! Jetzt Sie, Heilmann! Wem gehört diese Uhr?«

»Mir.«

»Das werden Sie nach Dem, was Sie gehört haben, mir doch nicht weiß machen.«

»Ich sage die Wahrheit.«

»Wie ist sie in Ihren Besitz gekommen?«

»Ich habe sie gekauft.«

»Von wem?«

»Von meinem Pathen, dem Vater dieses Mannes.«

»Wieviel haben Sie bezahlt?«

»Zwei Gulden.«

»Wenn Sie annehmen, bei mir Glauben für diese Ausrede zu finden, so irren Sie sich.«

»Ich bitte den Herrn Commissar dringend, den Vorgang sich erzählen zu lassen.«

»Gut, erzählen Sie!«

Heilmann berichtete über sein heutiges Erlebniß. Er verfehlte auch nicht, seine erste Beurtheilung zu erwähnen, um das heute Geschehene zu beleuchten. Der Beamte hörte ihm zu und sagte, als er geendet hatte:

»Das klingt allerdings so, daß man versucht wäre, es zu glauben.«

»Mein Pathe kann es mir bezeugen!«

»Der ist leider unterdessen gestorben.«

»So beschwöre ich es!«

»Ob Ihnen dazu Gelegenheit wird, ist sehr zu bezweifeln.«

»Man muß die zwei Gulden im Cigarrenkästchen unbedingt gefunden haben!«

Der Beamte wendete sich an den Buchbinder:

»Haben Sie das Geld gefunden?«

»Es lag kein Kreuzer darin.«

»Überlegen Sie sehr wohl, was Sie sagen! Ihre Aussage fällt hier einzig und schwer in's Gewicht.«

»Ich kann beschwören, was ich sage!«

»Das, was Heilmann erzählt, ist allerdings für Sie höchst gravirend. Sie haben Ihren Vater hungern lassen?«

»Das ist die größte Lüge, die es geben kann.«

»Er hat im halb verfaulten Bett gelegen?«

»Ich bitte, das Bett untersuchen zu lassen!«

»Das werde ich allerdings thun. Ich werde auch bei Bäcker, Fleischer und Kaufmann anfragen lassen, ob Heilmann bei ihnen gewesen ist.«

»Sie werden meine Aussage bestätigen!« sagte dieser.

»Das mag sein. Es bleibt immerhin die Annahme offen, daß Sie die Eßwaaren nur für sich gekauft haben. Der, welchen Sie als Entlastungszeuge


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angeben, ist todt. Die anderen Aussagen sind gegen Sie. Ich muß mich Ihrer Person versichern und die Angelegenheit dem Untersuchungsrichter übergeben!«

»Herrgott! So bleibe ich gefangen?«

»Ja, weil des Diebstahls im Rückfalle angezeigt.«

»Aber ich bin unschuldig!«

»Das muß die Untersuchung ergeben. Auf alle Fälle aber mache ich Sie darauf aufmerksam, daß die Uhr fast gar keinen Werth besitzt, die Strafe also nicht sehr hoch bemessen werden kann. Zu dieser Strafe aber kommt, falls Sie für schuldig erklärt werden, die Rückfallsquote, welche ein ganzes Jahr beträgt.«

»Herr Commissar, ich kann nur versichern, daß ich abermals unschuldig bin. Werde ich wieder verurtheilt, so kann es keinen gerechten Richter mehr geben. Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich habe als Mensch gegen meinen alten Pathen gehandelt. Wird mir dies mit abermaliger Zuchthausstrafe vergolten, so - ah, ich will still sein, denn je unglücklicher ich bin, desto größer ist die Freude Dessen, dem ich das zu verdanken habe.«

»Sind Sie wirklich unschuldig, so wäre es unrecht, zu verzweifeln. Sie erhalten Gelegenheit, sich zu verteidigen. Jetzt aber werde ich Sie abführen lassen. Ich hoffe, daß Sie sich ruhig in Ihr Schicksal fügen, anstatt sich dasselbe durch Renitenz zu verschlimmern!«

Der Commissar klingelte, und Heilmann wurde in eine Zelle des Polizeigefängnisses gebracht. Er hatte nicht einmal einen vollen Tag die wiedererlangte Freiheit genossen. - -

- An demselben Tage hatte sich auch für einen Anderen die Thür des Gefängnisses geöffnet. Nämlich kurz nach Mittag wurde der junge Mechanikus Wilhelm Fels, der Geliebte von Marie Bertram, nach verbüßter sechswöchentlicher Gefängnißhaft entlassen. Er hatte sich sehr gut geführt, so daß der Gefängnißinspector eine warme Theilnahme für ihn hegte. Als er sich von diesem verabschiedete, erkundigte er sich dringend:

»Herr Inspector, jetzt werden Sie mir vielleicht die Antwort geben, welche Sie mir bisher verweigert haben. Warum durfte ich nicht an meine Mutter schreiben?«

»Es hätte Ihnen nichts genützt. Sie hätten doch keine Antwort erhalten.«

»Warum nicht?«

»Sie ist krank.«

»Mein Gott! Ist's gefährlich?«

»Ich glaube nicht. Ich habe es Ihnen nicht mitgetheilt, damit Sie sich Ihre Haft nicht noch verschlimmern sollten. Lieber sagte ich, daß es verboten sei, Briefe zu schreiben.«

»Was fehlt ihr?«

»Die Krankheit ist wohl weniger eine körperliche, als vielmehr eine geistige.«


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»Ich errathe! Der Schreck, der Gram! Sie ist wohl tiefsinnig geworden?«

»So ähnlich wird es wohl sein, wenn auch nicht so schlimm, wie Sie es sich denken.«

»Befindet sie sich in ihrer Wohnung?«

»Nein. Sie ist im Bezirkshause untergebracht, wo sie die Pflege findet, welche ihr sonst gefehlt hätte.«

»Ich muß sofort hin zu ihr. Aber noch eine Frage: Hat sich denn Niemand, kein Mensch nach mir erkundigt?«

»O doch! Ein Herr Bertram war einige Male hier, um Sie zu sprechen. Doch hatte man Gründe, ihn abschlägig zu bescheiden.«

»Welche Gründe waren das?«

»Man befürchtete, wie gesagt, daß Sie in Ihrer Gemüthsruhe geschädigt würden.«

»Man scheint mir mehr Sorge gewidmet zu haben, als mir lieb sein könnte!«

Der Beamte zuckte die Achseln und antwortete:

»Ich selbst darf nicht handeln, wie es mir beliebt. Ich habe mich nach den mir gewordenen Instructionen zu richten. Jetzt sind Sie frei. Kann ich Ihnen vielleicht noch einen Dienst erweisen, Herr Fels?«

»Ich danke! Nun ich wieder frei bin, werde ich mich auf eigene Füße stellen.«

Er ging und begab sich sofort nach dem Bezirkshause. Obgleich man ihn da zunächst auf das Wiedersehen vorbereitete, war dasselbe doch viel trauriger, als er es geahnt hatte. Die Blinde erkannte ihn nicht und jammerte in unzusammenhängenden Ausdrücken über das Unglück, dessen sie nicht bewußt werden konnte. Er blieb längere Zeit bei ihr, konnte aber doch nichts thun, als blutenden Herzens sich wieder entfernen.

Nun begab er sich nach der Wasserstraße Nummer Elf. Er trat unten im Parterre bei dem Holzhacker Schubert ein. Dieser war nicht daheim. Sein Bein war heil geworden, so daß er wieder auf Arbeit zu gehen vermochte. Aber die Frau war anwesend, noch immer von Reißen an Händen und Füßen gelähmt.

»Herr Fels!« rief sie aus, als sie ihn erblickte. »Ist es möglich! Sie sind wieder frei!«

»Heut' wurde ich entlassen,« antwortete er. »Ich komme, um bei Ihnen einige Erkundigungen einzuziehen.«

»Ich stehe gern zu Diensten.«

»Sind Sie über Alles, was damals hier geschehen ist, unterrichtet, Frau Schubert?«

»Ich denke es.«

»Ich wurde unvermuthet arretirt; ich ahne, daß vieles Traurige passirt ist, aber ich weiß nichts davon, da ich nicht wieder nach Hause durfte und auch später ohne alle Nachricht blieb.«


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»Du lieber Gott, es ist allerdings viel, sehr viel geschehen, leider aber nichts Gutes.«

Sie erzählte, und er hörte ruhig zu. Diese Ruhe aber war nur eine rein äußerliche. Im Inneren wogte es schmerzlich auf und nieder. Als sie geendet hatte, sagte er:

»Das ist mehr und schlimmer als ich dachte. Eins aber freut mich, nämlich, daß Robert Bertram freigesprochen ist. Wo befindet er sich jetzt?«

»O, der hat ein großes Glück gemacht. Es ist entdeckt worden, daß er ein berühmter Dichter ist, und es hat sich ein großer Herr seiner angenommen.«

»Wer ist das?«

»Der Fürst von Befour, welcher in der Palaststraße wohnt. Er soll aus dem Lande stammen, in welchem die Indianer und Hottentotten wohnen, und unermeßlich reich sein.«

»Und Roberts Geschwister?«

»Die waren erst im Waisenhause untergebracht, befinden sich aber jetzt in der Siegesstraße bei alten, braven Leuten, welche, glaube ich, Brandt heißen. Auch Robert wohnt dort. Der Fürst bezahlt Alles.«

»Und Marie Bertram?«

»Die ist, so viel ich weiß, nicht mit dort.«

»Wo denn?«

»Ich weiß es nicht. Am besten ist es, Sie gehen einmal zu diesen Brandts. Die werden Ihnen Alles sagen.«

»Welche Straßennummer bewohnen sie?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur, daß es das kleinste Haus der Siegesstraße ist. Sonst stehen lauter Paläste da. Man getraut sich nicht, laut davon zu sprechen, aber es geht das Gerede, daß dieser fromme Herr Seidelmann damals seine Hand im Spiele gehabt habe.«

»Der soll sich sehr vor mir in Acht nehmen. Er ist ein Heuchler, der Gottes Wort im Munde führt, aber aller Ränke voll ist.«

Er verabschiedete sich und begab sich nach der Siegesstraße. Dort war das einzige kleine Häuschen sehr leicht zu finden. Die Thür war verschlossen. Sie wurde geöffnet, als er klingelte, und das wohlwollende Gesicht der guten Mutter Brandt blickte ihm entgegen.

»Wohnt hier Herr Brandt?« fragte er.

»Ja. Treten Sie ein, junger Herr!«

Sie führte ihn in die Wohnstube, in welcher sich die kleinen Geschwister Bertram befanden. Sie erkannten ihn sofort und sprangen jubelnd auf ihn zu.

»Ah, Sie sind ein Bekannter von ihnen?« fragte die alte Försterin.

»Ja. Ich heiße Fels.«

»Fels? Sie sind Mechanikus?«

»Ja.«

»Dann kenne ich Sie. Herr Bertram hat oft von Ihnen gesprochen. Er hat Sie besuchen wollen, ist aber leider immer abgewiesen worden.«


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»Ist er zu Hause?«

»Nein. Er ist nach dem Schloßteiche gegangen, Schlittschuh zu laufen.«

»Wann kommt er zurück?«

»Vor der Dunkelheit wohl nicht.«

»So werde ich ihn aufsuchen.«

»Wollen Sie ihn nicht lieber hier erwarten? Es giebt auf dem Teiche so viele Schlittschuhläufer, daß Sie ihn wohl kaum herausfinden können.«

»Ich finde ihn schon. Wissen Sie vielleicht den Aufenthalt seiner Schwester Marie?«

Dies lag ihm am Meisten am Herzen. Er sehnte sich, die Geliebte wieder zu sehen.

»O, die ist in sehr guten Händen. Sie befindet sich in Stellung bei einer Madame Groh in der Ufergasse.«

»Was ist diese Dame?«

»Sie ist Rentière, das heißt, sie lebt von ihren Zinsen, und Jedermann kennt sie als eine höchst achtbare und gottesfürchtige Dame.«

»Ich werde sie aufsuchen.«

»Das wird vergeblich sein. Herr Bertram war bereits mehrere Male dort, hat sie aber nicht angetroffen, weil sie verreist ist.«

»Hat sie Marie Bertram mitgenommen?«

»Ja. Herr Bertram hat diese Schwester, seit sein Vater gestorben ist, gar nicht wiedergesehen.«

Fels fühlte eine Beunruhigung, ohne den Grund derselben angeben zu können. Er ließ sich nicht halten und ging fort, um sich nach dem Schloßteiche zu begeben.

Dieser war ein vielbesuchter Vergnügungsort. Im Sommer wurde er von zahlreichen Gondeln belebt, und im Winter, wenn er seine Eisdecke hatte, glitten von früh an bis zum späten Abende die Freunde und Freundinnen des Schlittschuhlaufens über seine spiegelglatte Fläche. An seinen Ufern standen mehrere feine Restaurationen, nach den Anstrengungen des Sportes zur Erholung einladend.

Frau Brandt hatte Recht. Als Fels den Teich erreichte, erblickte er auf demselben eine solche Menge von Fahrern, daß er fast verzweifelte, den Freund unter einer solchen Zahl herauszufinden. Aber er war glücklich. Eben als er das Ufer erreichte, wollte Einer, in dem er Bertram erkannte, an ihm vorübersausen.

»Robert!« rief er laut.

Der Angerufene schlug, da er sofort nicht anzuhalten vermochte, einen Bogen und kehrte zurück.

»Wilhelm!« antwortete er dann, als er den am Ufer stehenden erblickte. »Gott sei Dank! Da bist Du ja!«

Er kam herbei, den Freund auf's herzlichste zu begrüßen.

»Ich war in Deiner Wohnung,« sagte dieser, »hatte aber nicht Ruhe genug, Deine Rückkehr zu erwarten.«


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»Das glaube ich. Es ist so Vieles geschehen, und es giebt so Außerordentliches zu erzählen. Komm, laß uns in die Restauration gehen. Ich kenne ein kleines, lauschiges Zimmerchen, in welchem wir uns ungestört unterhalten können.«

»Du scheinst da zu Hause zu sein?«

»Ich bin täglich hier. Ich arbeite sehr angestrengt, und das Eislaufen ist meine einzige Erholung. Komm!«

Er schnallte die Schlittschuhe ab und führte ihn in die Restauration. Ein Kellner verbeugte sich tief, fast ehrerbietig, und eilte ihnen voran, um die Thür des Cabinetes zu öffnen. Robert ließ Punsch kommen und wurde so schnell und aufmerksam bedient, daß Fels, als der Kellner sich entfernt hatte, zu ihm sagte:

»Es scheint, Du bist ein vornehmer Herr geworden!«

»Fast ist es so. Wenigstens bin ich eine allgemein bekannte Persönlichkeit.«

»Wie ist das gekommen?«

»Meine unschuldige Gefangenschaft hat sehr viel dazu beigetragen; der Hauptgrund aber ist, daß man mich für einen großen Dichter hält.«

»Du?!«

»Ja. Du erstaunst?«

»Freilich. Du, ein Dichter?«

»Davon habe ich Dir freilich nie etwas gesagt; aber ich habe unter dem arabischen Namen Hadschi Omanah ein Werkchen veröffentlicht, welches vielen Beifall gefunden hat. Nun will ein Jeder der Freund dieses großen Dichters sein, der aber von sich doch so wenig hält.«

Nun begannen die Mittheilungen alles Dessen, was während der Haft des Mechanikus geschehen war.

In dieser angeregten Unterhaltung wurden sie durch den Eintritt eines Fremden gestört, welcher höflich grüßend sich verbeugte und dann Platz nahm. Er ergriff ein daliegendes Zeitungsblatt und schien bald in den Inhalt desselben so vertieft zu sein, daß er auf ihr Gespräch gar nicht achtete. Dennoch aber ließ er sich kein Wort desselben entgehen.

Die Beiden sprachen jetzt nur noch halblaut mit einander. Sie waren bei Marie Bertram angekommen, und Robert erwähnte Madame Groh, bei welcher Marie sich in Stellung befände. Da horchte der Fremde auf, ließ das Blatt sinken, fixirte die Beiden schärfer und sagte dann in dem höflichsten Tone:

Entschuldigung ! »Entschuldigung, meine Herren, daß ich es wage, eine Bemerkung zu machen. Sie sprachen von einer Frau Groh?«

»Allerdings,« antwortete Bertram.

»Wohnt diese Dame in der Ufergasse?«

»Ja.«

»Da halte ich es für meine Schuldigkeit, Sie über einen Irrthum aufzuklären. Vorher aber darf ich mich Ihnen wohl vorstellen? Ich heiße


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Ankerkron, ein schwedischer Name, wie Sie bemerken werden. Ich bin ein Schwede.«

»Ich heiße Bertram, und der Name meines Freundes hier ist Fels.«

»Ich danke! Ich würde es wohl nicht unternehmen, mich Ihnen aufzudrängen, wenn mich nicht eine ganz eigenthümliche Bewandtniß dazu veranlaßte. Sie, Herr Bertram, besitzen nämlich eine ganz außerordentliche Ähnlichkeit mit einem Herrn, dem ich sehr verpflichtet bin, und welcher vor ungefähr zwanzig Jahren das Unglück hatte, einen Sohn zu verlieren.«

»Durch den Tod?«

»Nein, auf andere, noch unaufgeklärte Weise.«

»Wo ist das geschehen?«

»In der Nähe dieser Residenz.«

Bertram begann sich zu interessiren. Das klang ja g'rad', als ob es für ihn von Wichtigkeit sei, weiteres zu hören. Darum fragte er:

»In welcher Weise ging das Kind verloren?«

»Die Herrschaft befand sich für einige Tage in einem benachbarten Städtchen. Eine Bonne führte die specielle Aufsicht über den Knaben. Sie hatte einen Fehler begangen; man drohte ihr mit Strafe; da verschwand sie, und mit ihr das Kind. Man hat trotz aller Nachforschung keine Spur von Beiden zu entdecken vermocht.«

»Also wohl ein Racheact?«

»Jedenfalls. Nun ist der betreffenden Familie eine wunderbare Ähnlichkeit ihrer Glieder eigen, welche sich von Generation auf Generation fortpflanzt. Und als ich Sie hier sah, fielen mir Ihre Züge auf. Man könnte meinen, Sie müßten ein Holmström sein.«

»Holmström? Ah!«

»Fällt Ihnen der Name auf?«

»Der Anfangsbuchstabe desselben.«

»Warum?«

»Ich bin ein Findelkind.«

Ankerkron fuhr überrascht empor.

»Ein Findelkind? Wirklich?« fragte er.

»Ja. Das heißt, ich wurde als ungefähr einjähriger Knabe dem hiesigen Findelhause übergeben.«

»Eigenthümlich. Haben Sie keine Ahnung, wer Ihre Eltern sein mögen?«

»Nein. Sie scheinen jedoch von Adel zu sein.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Ich hatte eine goldene Kette mit einem Herz am Halse hängen gehabt. Auf diesem Herzen waren die Buchstaben R. v. H. eingegraben. Und auf einem beiliegenden Zettel hatte die Bemerkung gestanden, daß ich getauft sei und Robert heiße.«

»Mein Herr, Sie sehen mich im höchsten Grade betroffen. Robert hieß auch der kleine Holmström.«


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Dem jungen Dichter stieg eine glühende Röthe in das Gesicht. Sollte dies der Augenblick sein, in welchem der Vorhang gelüftet werden könnte?

»Sind Sie Ihrer Sache gewiß?« fragte er.

»O, wie gewiß! Ich habe ja selbst mit gesucht. Und ich bin auch jetzt hier, um möglicher Weise die scheinbar verwehte Spur dennoch aufzufinden. Ich bin nämlich seit langen Jahren Beamter der Familie Holmström. Es ist eine gräfliche Familie. Sagen Sie mir doch, ob die Kette noch vorhanden ist! Ich kenne sie.«

»Freilich ist sie vorhanden. Sie befindet sich hier an meiner Uhr.«

»Ah! Darf ich sie einmal sehen?«

»Gern! Bitte, hier ist sie!«

Er gab dem Fremden Uhr und Kette hin. Dieser betrachtete die letztere und das daran hängende Herz genau, schüttelte dann den Kopf und sagte:

»Das ist sie freilich nicht!«

»Aber die Buchstaben sind dieselben!«

»Nicht ganz. Zwischen den beiden großen Anfangsbuchstaben müßte sich ein kleines v anstatt eines u befinden. Auch ist dies Kettchen wohl kaum ächt, und das Herz ist von anderer Art. Aber eine große Ähnlichkeit zwischen dieser und der Kette, die ich meine, ist zu constatiren.«

Bertram bemerkte schnell:

»Sollte meine Befürchtung doch begründet sein?«

»Welche Befürchtung?«

»Ich habe nämlich einigen Grund zu der Annahme, daß man mir die Kette ausgetauscht hat.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Das kann ich allerdings nicht einsehen. Ich weiß ganz genau, daß auf dem goldenen Herzen stets ein v gestanden hat. Erst kürzlich war ein u daraus geworden.«

»Wie sollte das geschehen sein? Ist die Kette vielleicht einmal in fremden Händen gewesen?«

»Leider! Aber freilich nur kurze Zeit.«

»Wohl zur Reparatur?«

Robert erröthete. Er zögerte, ein Geständniß zu machen. Aber die Angelegenheit war für ihn von zu großer Wichtigkeit, als daß er sich nicht über sein Schamgefühl hätte wegsetzen sollen.

»Nein, nicht zur Reparatur. Waisen= oder Findelkinder pflegen nicht reich zu sein. Das ist auch bei mir der Fall. Ich kam vor Weihnachten in die Lage, eine kleine Summe Geldes zu brauchen, und wußte keinen anderen Ausweg, als die Kette zu versetzen.«

»O weh! Sie sind in die Hände eines Spitzbuben gerathen, welcher Ihnen eine unechte Kette untergeschoben hat, um einen pekuniären Provit zu machen. Kette und Herz werden wohl längst eingeschmolzen sein!«

Robert schüttelte nachdenklich den Kopf.

»Das glaube ich nicht,« sagte er.


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»Haben Sie Grund, etwas Anderes anzunehmen?«

»Vielleicht.«

»Ich möchte mir nicht den Anschein geben, als wolle ich mich in Ihr Vertrauen drängen; aber diese Angelegenheit ist mir von zu hoher Wichtigkeit, als daß ich mich beruhigen könnte. Weshalb sollte man den Umtausch vollzogen haben, wenn nicht in gewinnsüchtiger Absicht?«

»Diese Absicht war freilich da; aber der Gewinn sollte ein größerer sein als nur der höhere Goldwerth einer Kette.«

»Sie sprechen in Hieroglyphen!«

Bertram blickte vor sich nieder. Er ging mit sich zu Rathe, ob er sich diesem fremden Herrn noch weiter als wie bisher anvertrauen solle.

»Sage es ihm!« flüsterte Fels.

Robert zuckte leise die Achsel.

»Eine gräfliche Familie!«

Das wirkte, besonders da Ankerkron so klug war, nicht zu drängen. Bertram sagte:

»Der Mann, dem ich die Kette versetzte, hatte eine Tochter, welche sich für mich zu interessiren schien. Das Interesse war kein gegenseitiges. Sie hat, scheint es mir, die Buchstaben gelesen und daraus gefolgert, daß ich der Sohn einer vornehmen Familie sei. Um sich für die Zurückweisung ihrer Neigung zu rächen, hat sie die Kette unterschlagen, damit ich mich nicht zu legitimiren vermag.«

Der Fremde hatte aufmerksam zugehört.

»Oder,« sagte er, »will sie sich dadurch Erhörung erzwingen. Sie können sich ohne Kette nicht legitimiren, und sie wird die Kette nur gegen Liebe hergeben.«

»Auch möglich!«

»Haben Sie die Kette hier versetzt?«

»Ja.«

»Fast möchte man vermuthen, daß hier ein Jude die Hand im Spiele habe.«

»Das ist allerdings der Fall. Das Mädchen ist das einzige Kind der Eltern.«

»Ist sie häßlich?«

»Nein. Sie ist sogar im Gegentheile ungewöhnlich schön.«

Der Fremde nickte mit dem Kopfe.

»Sie müssen am Besten wissen, ob Ihre Vermuthung eine begründete ist. Ich rathe Ihnen, diesen Leuten kräftig vor den Zaun zu rücken.«

»Ich werde es versuchen.«

»Und dann erlauben Sie mir vielleicht, mich nach dem Erfolge zu erkundigen?«

»Gewiß. Darf ich um Ihre Adresse bitten?«

»Ich wohne jetzt im Hotel zum goldenen Engel. Und Sie, Herr Bertram?«


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»Ich wohne bei Seiner Durchlaucht, dem Fürsten von Befour.«

»Danke! In dieser Adresse liegt eine große Empfehlung. Er interessirt sich für Sie?«

»Ja.«

»Weshalb?«

»Man nennt mich einen Dichter.«

»Ach so! Jedenfalls ist dies auch der Grund, daß sich jene Jüdin so sehr für Sie interessirt?«

»Sie sind scharfsinnig. Sie liebte den Dichter, noch ehe sie mich persönlich kannte.«

»Weibliche Überspanntheit! Also, suchen Sie die Originalkette wieder zu erlangen, dann wird sich das Räthsel Ihrer Abstammung vielleicht aufklären!«

Er griff wieder zum Zeitungsblatte, als betrachte er die Unterhaltung als abgeschlossen. Da aber nahm jetzt Wilhelm Fels das Wort:

»Erlauben Sie, Herr Ankerkron! Wir sind ganz von dem Gegenstande abgekommen, welcher Ihnen Veranlassung gab, die Ehre Ihrer Bekanntschaft zu machen.«

»Wieso?«

»Wir sprachen von jener Madame Groh - - -«

»Ach so. Sie schienen dieselbe für eine sehr achtbare Dame zu halten?«

»Gewiß.«

»Nun, ich weiß das gerade Gegentheil von ihr und ergreife das Wort, um Sie vor ihr zu warnen.«

»Wirklich? Wissen Sie Nachtheiliges von ihr.«

»Mehr als genug, obgleich ich fremd hier bin. Sie handelt nämlich mit braven Mädchen, welche sie an sich zieht, um sie dann an berüchtigte Häuser zu verkaufen.«

»Alle Wetter! Das soll sie wohl bleiben lassen!«

»Sie thut es wirklich. Es steht ihr dabei ein Compagnon zur Seite, welcher ein raffinirter Teufel ist, ein gewisser August Seidelmann, der - -«

»Seidelmann? O, dem ist es freilich zuzutrauen!«

»Kennen Sie ihn?«

»Nur zu gut, nur zu gut!«

»Diese Madame Groh wohnt zwei Treppen hoch. Sie nimmt scheinbar die Mädchen in Dienst. Eine Treppe tiefer aber giebt es ein Local für intime Herrenbesuche, dahin verleiht die Groh nun ihre Mädchen, um sie in die Geheimnisse der Liebe einzuweihen. Ist dies erreicht worden, so haben solche Mädchen einen gewissen Kaufwerth erhalten und werden verschachert.«

»Herr, sagen Sie die Wahrheit?« fragte Fels.

»Ja.«

»Aber wie können Sie als Fremder in hiesige Verhältnisse eingeweiht sein, welche wir nicht kennen?«

Ankerkron lächelte überlegen und antwortete:


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»Erstens sind Sie noch zu jung, als daß ich annehmen möchte, als besäßen Sie auf diesem Gebiete Erfahrung und Scharfblick. Und zweitens wird gerade dem Fremden Das, wovon hier die Rede ist, viel bereitwilliger geboten, als dem Einheimischen.«

»Das mag sein.«

»Ich kann Ihnen, falls Sie zweifeln sollten, sogar Namen nennen, um Sie von der Wahrheit meiner Behauptung zu überzeugen. Ich hörte gestern von einem Mädchen, welches verkauft worden ist.«

»Von dieser Groh?«

»Von dieser Groh und ihrem Seidelmann. Dieses Mädchen hieß gerade so wie Sie, Herr Bertram.«

»Wie ich?«

»Ja. Sie wurde Marie Bertram genannt.«

Robert sprang empor und starrte den Sprecher an.

»Herr, ist's wahr? Ist's wahr?«

»Ja. Ich habe sie sogar gesehen.«

»Wo?«

»In Rollenburg, auf dem Bahnhofe.«

»Was will sie dort?«

»Das fragen Sie? Sie ist von Seidelmann und der Groh nach Rollenburg in ein Vergnügungshaus verkauft worden.«

»Unmöglich!«

»Warum unmöglich?«

»Das läßt Marie nicht mit sich thun!«

»Glauben Sie, man fragt sie? Man bemächtigt sich ihrer mit List oder Gewalt. Sie braucht ja gar nicht zu wissen, was man mit ihr beabsichtigt!«

»Das wäre so entsetzlich, daß ich es einfach nicht für möglich halte, Herr Ankerkron.«

»Ich versichere nochmals, daß ich die Wahrheit sage!«

»Und dennoch müssen Sie sich irren!«

»Ich bin meiner Sache zu gewiß. Aber, ich sehe Sie so ungewöhnlich aufgeregt. Kennen Sie das Mädchen?«

»Es ist ja meine Pflegeschwester!«

Da schlug der Fremde die Hände zusammen und fragte:

»Herr, scherzen Sie, oder ist es wahr?«

»Es fällt mir gar nicht ein, zu scherzen!«

»Ist die junge Dame bisher brav gewesen?«

»So brav wie nur irgend Eine!«

»Dann eilen Sie, eilen Sie, damit Sie sie noch retten!«

»Zuvor möchte ich Gewißheit haben, daß sie es ist.«

»Ich habe es ja gesagt!«

»Und dennoch glaube ich es nicht. Sie wollen das Mädchen auf dem Rollenburger Bahnhofe gesehen haben?«


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»Ja.«

»Wo kam sie her?«

»Aus der Residenz.«

»Gott sei Dank! Sie irren sich. Es kann meine Schwester nicht gewesen sein.«

»Das sollte mich herzlich freuen. Aber ich denke leider, daß der Irrthum auf Ihrer Seite ist.«

»Nein. Meine Schwester kann nämlich gar nicht von hier nach Rollenburg gefahren sein.«

»Warum nicht?«

»Weil sie sich nicht hier befindet.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ganz gewiß. Sie ist mit dieser Madame Groh auf Reisen.«

»Wer sagt das?«

»Man hat es mir wiederholt versichert, so oft ich kam, sie zu besuchen.«

Der Fremde blickte ihn ein Weilchen wortlos an, brach dann in ein lautes Lachen aus und fragte endlich:

»Und das haben Sie geglaubt?«

»Warum sollte ich nicht?«

»O weh! Ja, Sie sind jung, und Sie sind Dichter! Sie haben bei diesen Besuchen natürlich, als Sie sich anmelden ließen, gesagt, daß Sie der Bruder seien?«

»Ja.«

»Nun, denken Sie sich ein junges, unschuldiges Mädchen, welches in eine solche Falle gelockt wird. Glauben Sie, daß man den Bruder zu dieser Schwester lassen werde?«

»Herrgott im Himmel! Das wäre ja entsetzlich!«

»Man wird sagen, die Schwester sei verreist. Ich sage Ihnen, daß Seidelmann Ihre Schwester nach Rollenburg verkauft hat. Sie ist mit dem Zuge, welcher um fünf Uhr hier abgeht, transportirt worden. Wollen Sie sich überzeugen, daß die Groh nicht verreist ist? Aber dann dürfen nicht Sie, sondern Herr Fels muß hingehen.«

»Gut! Wir werden uns überzeugen!«

»Ich kann Ihnen sogar sagen, wo sich Ihre Schwester in Rollenburg befindet.«

»Wo? Schnell, schnell!«

»In dem berüchtigten Hause einer Dame, welche sich Fräulein Melitta nennen läßt.«

»Wissen Sie das genau?«

»Ich bin ja hinter ihnen hergegangen.«

»Bitte, beschreiben Sie meine Schwester.«

Der Fremde folgte dieser Aufforderung.

»Es stimmt; es stimmt!« rief Bertram. »Sie ist es! O, Melitta, Melitta, diesen Namen wird man sich merken!«


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Er befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung und schritt wie ein Besessener in dem kleinen Raume auf und ab. Fels dagegen hatte von da an, wo von Marie Bertram als in einer so großen Gefahr Befindlichen die Rede war, nicht ein Wort gesprochen. Er war zwar von seinem Sitze aufgefahren, stand aber da starr und steif, als ob er sich nicht bewegen könne. Aber seine Zähne knirschten auf einander, er stöhnte, als ob er ungeheure Qualen erdulde, und jetzt wendete er sich an Bertram:

»Robert, hast Du Geld bei Dir?«

Seine Stimme klang rauh und heiser.

»Warum?« fragte der junge Dichter.

»Du kennst meine jetzige Lage. Ich habe keinen Kreuzer bei mir, aber ich muß fort.«

»Wohin?«

»Nach Rollenburg. Soll Deine Schwester, meine Geliebte, zu Grunde gehen? Ich reiße diese Melitta in Stücke!«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch. Er bebte vor Wuth am ganzen Körper.

»Ja, fort sollst Du, fort!« antwortete Bertram. »Aber nicht allein. Ich gehe mit, ganz natürlich! Wir wenden dieses Rollenburg um und treten es zu Schanden wie einen Ameisenhaufen!«

»Aber Geld, Geld!«

»Geld habe ich bei mir mehr als genug, um in das Nest zu gelangen. Und sollte es nicht ausreichen, sollten wir dort mehr brauchen, so telegraphire ich an den Fürsten.«

Da bot sich der Fremde an:

»Meine Herren, ich stelle Ihnen gern meine Börse zur Verfügung. Ich interessire mich natürlich ganz ungemein für diesen eclatanten Fall!«

»Danke sehr, danke sehr, Herr Ankerkron!« antwortete Robert. »Ich bekomme, so viel ich haben will, telegraphisch nachgeschickt.«

»Und Sie wollen fort, wirklich fort?«

»Natürlich! Mit dem nächsten Zuge!«

»Dieser geht um fünf Uhr ab. Sie haben kaum noch eine halbe Stunde Zeit!«

»Dann fort, fort!« drängte Fels.

»Herr Ankerkron,« sagte Bertram, »Sie haben uns heute einen großen Dienst erwiesen, und vielleicht will es das Schicksal, daß ich Ihnen zu noch größerem Dank verpflichtet werde. Verzeihen Sie, daß wir uns Ihnen jetzt nicht länger widmen können! Wir müssen fort; aber wir kennen ja gegenseitig unsere Adressen und werden uns also ganz sicher wiedersehen!«

Er gab ihm die Hand, legte ein Geldstück für den Punsch auf den Tisch und ging. Fels war ihm bereits vorangestürmt, ohne Abschied von dem Schweden zu nehmen.

Draußen stiegen sie in eine Droschke. Auf dem Bahnhofe angekommen, löste Robert die Fahrkarten, und dann begaben sie sich in das Wartezimmer.


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Dort saß, auf denselben Zug wartend, Petermann. Sie sahen ihn, ohne ihn zu beachten. Sie hatten keine Ahnung, daß er von den gleichen Rachegefühlen wie sie ganz nach demselben Ziele getrieben werde. -

Als sie vorhin die Restauration verlassen hatten, war der Schwede mit lauschendem Ohre dem Geräusche ihrer Schritte gefolgt. Dann schnippste er mit dem Finger, klatschte in die Hände und sagte zu sich selbst:

»Gelungen! Prächtig gelungen! Diese Verkleidung ist excellent! Gut, daß ich erfuhr, in welchem Zimmer dieser Dichterling seinen Punsch trinkt, den der Fürst bezahlt! Und wie vortrefflich, daß dieser Fels bei ihm war! Jetzt sausen sie hin nach Rollenburg und rennen sich die Köpfe ein. Wehe diesem Seidelmann! Der Mechanikus sticht ihn nieder, wo er ihm begegnet!«

Er ging einige Male mit triumphirenden Schritten auf und ab; dann fuhr er fort:

»Also die Kette, die ich haben muß, hat er selbst nicht mehr! Sie ist ihm vertauscht worden. Aber von wem? Ich durfte natürlich nicht nach dem Namen fragen; das hätte Verdacht erregen können. Aber genug habe ich dennoch erfahren. Ein Jude ist's gewesen, der ein einziges Kind hat, ein Mädchen ungewöhnlich schön. Das ist sicherlich keine Andere als diese Judith, Salomon Levi's Tochter. Sie liest gern und hat sich in diesen Hadschi Omanah verliebt. Sie hat die echte Kette behalten, um sie ihm nur dann zurückzugeben, wenn er verspricht, sie zu heirathen. Das sieht dieser verteufelten Hexe vollständig ähnlich. Und dieser alte Graubart, ihr Vater, will sich im Ruhme eines Dichters sonnen; dafür giebt er bereitwilligst seine zusammengeraubten Goldstücke hin. So kenne ich ihn, und so beurtheile ich ihn. Aber noch bin ich da! Ohne Kette ist mir dieser Robert, der mein verstorbener Cousin ist, ganz ungefährlich. Ich muß sie haben; ich muß sie auf alle Fälle bekommen. Diese Judith muß sie mir geben, und zwar heute Abend noch, nicht gezwungener Weise, sondern ganz freiwillig. Wenigstens zeigen muß sie sie mir. Und dann wird sich finden, was ich weiter thue. Noch nie bin ich so vortrefflich verkleidet gewesen wie heute. Man kann mich unmöglich erkennen; ich thue am Besten, ich suche sofort den Juden auf!«

Er begab sich nach der Wasserstraße. Es war noch nicht ganz fünf Uhr, aber der Tag hatte sich doch bereits zur Rüste geneigt, und die Straßen und Gassen der Residenz wurden bereits von Laternen erleuchtet. Das Haus des Juden war, wie gewöhnlich, verschlossen. Er klopfte, und die alte Rebecca öffnete. Sie leuchtete ihn mit der Lampe an, und da sie einen fremden Menschen vor sich zu haben glaubte, fragte sie:

»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«

»Ist Salomon Levi zu Hause?«

»Salomon Levi, mein Mann? Ob er ist zu Hause? Das weiß ich nicht; das kommt darauf an, was für ein Geschäft will machen der Herr mit uns?«

»Das wird sich finden. Noch weiß ich selbst nicht, was ich für ein Geschäft machen werde.«


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»Der Herr muß aber doch wissen, was er kommt, wünschen und begehren zu kaufen von uns?«

»Ich bin Alterthümler.«

»Welche Art von Alterthum sucht der Herr bei uns?«

»Ich kaufe besonders gern alte Münzen, Schmuck und Geschmeide, vorausgesetzt, das es ächt ist.«

»Schmuck und Geschmeide ist zu haben bei uns stets nur ächt. Will der Herr haben die Güte, einzutreten?«

»Also Ihr Mann ist zu Hause?«

»Bei Schmuck und Geschmeide, wenn es sein soll ächt, ist er niemals ausgegangen. Kommen Sie!«

Sie öffnete die Thür zu dem Gewölbe und führte den Fremden sodann in das hintere Zimmer, in welchem sich der Jude befand. Dieser hörte den Wunsch des Käufers und begann ihm Allerlei vorzulegen.

Dieser Fremde war natürlich kein Anderer, als der Baron Franz von Helfenstein. Er kaufte einige Kleinigkeiten, ließ sich aber, um Zeit zu gewinnen, immer mehr und mehr zeigen.

Der Jude wurde neugierig, wer sein Besucher sei. Er konnte sich über ihn nicht klar werden. Darum fragte er:

»Der Herr sind wohl nicht von hier?«

»Nein.«

»Ich habe ihn auch noch nie gesehen. Sie waren noch nie hier?«

»Früher einige Male.«

»Sie sprechen die Sprache wie ein Ausländer.«

»Das bin ich auch. Ich bin ein Schwede.«

»Aus Schweden? Ich habe sehr gern dieses Land.«

»Warum?«

»Weil die Schweden haben Namen, welche genannt zu werden verdienen sehr poetisch.«

Der Jude glaubte, sehr geistreich gewesen zu sein, obgleich er eigentlich doch nur mit dem Zaunpfahl gewinkt hatte. Der Baron lächelte und antwortete:

»Zum Beispiel?«

»Löwenstierna.«

»Also Löwenstirn. Weiter!«

»Oxenstierna.«

»Also Ochsenstirn. Das nennen Sie poetisch?«

»Warum nicht? Ist ein Ochse nicht poetisch und sogar sehr lyrisch und dramatisch, wenn der Händler und Fleischer verdienen an ihm viel Geld?«

»Sie haben von Ihrem Standpunkte aus sehr Recht.«

Der Alte guckte den Fremden pfiffig von der Seite an und fragte, nach seiner Meinung sehr diplomatisch:

»Haben der Herr auch einen poetischen Namen?«

»Vielleicht.«


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»Dann möchte ich ihn sehr gern hören.«

»Ich heiße Ankerkron.«

»Ankerkron? Dieser Name ist auch poetisch. Er klingt sogar episch und wie ein Gedicht von Schiller oder Jean Paul. Sie haben große Kenntnisse der Steine, Perlen und Münzen. Sind Sie Alterthümler von Beruf?«

»Nein, mehr aus Liebhaberei.«

»So sind Sie eigentlich etwas Anderes?«

»Ich bin der Verwalter der großartigen Besitzungen des Grafen von Holmström.«

Der Jude fuhr vor lauter Respect empor.

»Habe ich doch noch nicht gehört, daß es in Schweden giebt so reiche Grafen, Herr Ankerkron.«

»O, es giebt dort ebenso große Grundbesitzer, wie in Rußland, Österreich, Ungarn oder Galizien. Mein Herr ist der größte des Landes. Schade, daß seine Reichthümer dem Fiskus anheimfallen werden.«

»Dem Fiskus? Ich habe nie geliebt diesen Fiskus. Er will haben Alles, mag aber geben Nichts. Warum fallen ihm diese Güter anheim?«

»Weil die Familie ausstirbt.«

»Sind nicht da Kinder oder Enkel, Neffen oder Nichten?«

»Nein.«

Der Jude gehörte zu denjenigen Leuten, welche vor Nichts so großen Respect zeigen, wie vor dem Reichthum. Dieser schwedische Graf Holmström ging ihm gar nichts an; aber er hörte, daß er reich sei, und so wollte er mehr von ihm hören. Außerdem glaubte er, den Fremden durch die Fortsetzung des Gespräches länger halten zu können. Vielleicht kaufte er in diesem Falle noch Etwas. Darum fuhr er fort:

»Hat der Graf nie gehabt Kinder?«

»O doch!«

»Wohl nur eine Tochter, bei der nichts gilt das Fideikommiß, oder wie genannt werden muß dieses Ding?«

»Nein,« antwortete der Baron einsilbig.

»Also einen Sohn?«

»Ja, einen einzigen.«

»Einen Erben! So ist er gestorben?«

»Nein.«

»Aber wenn er nicht ist gestorben, so muß er doch erben das Vermögen?«

»Er ist schlimmer als gestorben; nämlich er ist verloren gegangen.«

»Gott Abraham's! Ein Grafenkind verloren gegangen!«

Auch Rebecca schlug die Hände zusammen.

»Leider!« meinte der Baron, der den Alten auf dem Wege sah, auf welchen er ihn haben wollte.

»Das klingt gerade so, wie es zu lesen ist in Büchern oder zu sehen


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auf der Bühne, fünfzig Kreuzer den dritten Rang, Seitenloge! Hat sich verlaufen das Kind?«

»Wohl nicht!«

»So ist es geworden gestohlen?«

»Auch nicht.«

Der Baron antwortete mit Absicht so einsilbig. Dadurch wurde die Neugierde der beiden Alten nur noch mehr erregt.

»Weiter ein Fall ist doch gar nicht möglich,« sagte Salomon Levi.

»Nicht? Kann der Knabe nicht entführt worden sein?«

»Entführt? Ja, daran habe ich nicht gedacht. Einen Grafensohn entführt, welcher zu erben hat ein so ungeheures Vermögen! Wer doch dieses Kind finden könnte!«

»Es kann nie gefunden werden; es ist für immer verloren!«

»Man darf nie aufgeben ganz die Hoffnung.«

»O, es sind seit jener Zeit zwanzig Jahre vergangen!«

»Das ist eine lange Zeit. Hat man denn nachgeforscht im ganzen Lande Schweden?«

»Dort? Gar nicht.«

»Nicht? Man forscht nicht nach, wenn entführt worden ist ein Grafensohn?«

»Er ist ja nicht in Schweden entführt worden.«

»Nicht? Wo denn?«

»Während einer Reise.«

»In welchem Lande?«

»Hier. Der Graf hielt sich damals in einer kleinen Stadt in der Nähe der hiesigen Residenz auf.«

Der Alte öffnete die Augen und den Mund. Es kam ihm ein kühner, ein riesiger Gedanke.

»Hier?« fragte er. »Das ist interessant! Wie lange ist es her? Wie sagten Sie?«

»Zwanzig Jahre ungefähr.«

»Hatte der Sohn einen Namen?«

»Natürlich!« lachte der Baron.

»Wie hieß er?«

»Robert!«

»Robert! Robert von Holmström! Jehova Zebaoth! Gott aller Erzväter!«

»Was ist's? Was haben Sie?«

»Nichts, gar nichts! Ich freue mich nur über diese schöne Geschichte, Herr Ankerkron.«

»Wie? Sie freuen sich darüber, daß der Sohn meines Herrn entführt worden ist? Was soll ich da von Ihnen denken?«

»Nein, nein! Das meine ich nicht! Ich freue mich nicht! Ich wollte


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nur sagen, daß es eine sehr interessante Geschichte ist. Wer hat ihn denn entführt?«

»Die Bonne. Sie hatte sich an den Juwelen der gnädigen Gräfin vergriffen und sollte bestraft und entlassen werden. Aus Rache entfernte sie sich mit dem jungen Grafen.«

»Diese schlechte Person!«

»Man hat Jahrelang nachgeforscht, aber ohne Erfolg.«

»Wie schlimm! Gab es denn kein Erkennungszeichen?«

»O doch!«

»Was für eins?«

Seine Augen waren mit fast fieberhaftem Glanze auf den vermeintlichen Schweden gerichtet.

»Hm! Mehrere! Die Bonne nahm verschiedenes Geschmeide der Gräfin mit. Sie hat es jedenfalls verkaufen müssen. Darnach suchten wir. Und noch heute suche ich alte Schmucksachen, um vielleicht eine Spur zu finden.«

»So suchen Sie wohl auch bei mir? Heute, hier?«

»Natürlich!«

»Und wenn sich nun Etwas fände?«

»So wäre das ein großes Glück für Sie.«

»Für mich? - Wie soll ich das verstehen?«

»Der Graf zahlt Jedem, durch dessen Hilfe er seinen Sohn wiederfindet, eine halbe Million Kronenthaler aus.«

»Eine halbe Mil - -«

Das Wort blieb ihm vor Entzücken im Munde stecken.

»Million!« ergänzte seine Frau, die ebenso außer sich war, wie er. »Herr Zebaoth! Wer eine Spur hätte!«

»Ich wünsche es auch.«

»Haben Sie sich das gestohlene Geschmeide gemerkt?«

»Natürlich!«

»Gab es außerdem kein Erkennungszeichen?«

»Hm! Außer einer Kette wohl nicht.«

»Eine Kette? Was für eine?«

Er trank mit seinen gierigen Augen die Antwort förmlich von dem Munde des Barons.

»Eine dünne, goldene Kette,« antwortete dieser.

»Hatte sie kein Kennzeichen? Man bekommt sehr oft solche Ketten zu Gesicht und zum Kauf angeboten.«

»Es hing ein Herz daran.«

»Ein Herz? War es hohl? War es ein Medaillon?«

»Nein.«

»War denn nichts daran zu bemerken?«

»Es waren darauf die Anfangsbuchstaben des Namens des Kindes eingegraben.«

»Rebeccaleben! Rebeccaleben!« jubelte der Alte.


- 1055 -


»Was ist's? Was haben Sie?« fragte der Baron, der ein scheinbares Erstaunen zur Schau trug.

Der Jude faßte sich. Er sah ein, daß er klug, sehr klug handeln müsse. Darum antwortete er:

»Nichts ist, gar nichts! Ich interessire mich nur für diese Erzählung, welche wie ein Roman klingt. Sagten Sie nicht, daß der Knabe Robert geheißen habe?«

»Ja.«

»Robert von Holmström! Da müßte also auf dem Herzen ein R und ein H gestanden haben?«

»Ein R. v. H. ist's gewesen. Aber mir scheint, Sie fühlen mehr als ein gewöhnliches Interesse! Ist Ihnen vielleicht im Laufe der Zeit Etwas aufgefallen oder wohl gar in die Hände gekommen?«

»Nein. Ich weiß nichts. Ich kann mich auf gar nichts besinnen. Aber ich habe gekauft einige alte Geschmeide, welche ich nicht habe wieder verkauft, sondern ich habe sie geschenkt Judith, meiner Tochter. Ich werde einmal gehen, sie zu holen. Ein Wunder, wenn wäre Etwas dabei, was Sie suchen.«

»Ja, gehen Sie; holen Sie!«

Der Alte ging. Es war ihm, als ob seine Glieder sich verjüngt hätten. Er flog förmlich die Treppe empor und trat mit einer Schnelligkeit und Elasticität bei Judith ein, daß diese erschrocken von ihrem Sitze aufsprang.

»Was giebt's, Vater?« sagte sie. »Du erschreckst mich!«

»Er ist ein Graf!« stieß er athemlos hervor.

»Ein Graf!« fragte sie erstaunt. »Wer?«

»Robert von Holmström!«

»Ich verstehe Dich nicht!«

»Der Dichter!«

Sie sah ihn noch immer verständnißlos an.

»Robert Bertram!« brüllte er fast.

Jetzt wußte sie nun, wen er meine.

»Robert Bertram ein Graf?« fragte sie.

»Ja, ein schwedischer Graf.«

»Wer hat das gesagt?«

»Der Verwalter des Grafen.«

»Wo ist er?«

»Unten in meiner Stube.«

»Was will er bei uns?«

»Die Kette, welche ich gegeben habe Dir zum Aufheben.«

»Hat er sie verlangt?«

»Nein.«

»Aber Du hast ihm gesagt, daß wir sie haben?«

»Noch nicht, obgleich er versprochen hat eine halbe Million schwedische Kronenthaler.«


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Ihre Augen leuchteten auf, und ihre Wangen rötheten sich.

»Erzähle!« gebot sie ihm.

Er berichtete ihr seine ganze Unterredung mit dem vermeintlichen Schweden. Als er geendet hatte, preßte sie die Hände fest auf den hochgehenden Busen, stieß einen lauten Jubelruf aus und hauchte dann:

»Ein Graf!«

»Ja, ein Graf.«

»Robert von Holmström!«

»Robert von Holmström, welcher einst ausgehauen wird in Marmor mit goldenen Buchstaben.«

Da trat sie zum Vater heran und raunte ihm zu:

»Aber merke Dir, wir müssen klug sein.«

Er spreizte alle zehn Finger aus, nickte verständnißinnig mit dem Kopfe und stimmte bei:

»Klug, sehr klug!«

»Wir geben die Kette nicht her! Wir behalten sie!«

»Glaubst Du, daß ein Graf Holmström die Tochter eines jüdischen Händlers heirathen würde?«

»Nein.«

»Aber ich muß, ich muß ihn haben!«

»Ja. Er muß mein Eidam werden!«

»Darum darf er nicht eher erfahren, was er ist, als bis er Dein Eidam geworden ist.«

»Aber - -«

Er dehnte das Wort sehr lang hinaus und machte dabei eine sehr zweifelhafte Geberde und rief: »Wenn nur die Kette die richtige ist? Es ist doch besser, wir zeigen sie ihm.«

»Das ist gefährlich!«

»Warum?«

»Er wird sie behalten wollen.«

»Er bekommt sie nicht.«

»Aber wenn er zur Behörde geht?«

»Die Kette ist unser. Wir haben sie bezahlt.«

»Also willst Du sie ihm zeigen?«

»Wenn Du denkst, daß es besser ist, Vaterleben.«

»Ja. zeigen wir sie ihm.«

»Aber ich muß selbst dabei sein. Aus der Hand gebe ich sie nicht. Anrühren darf er sie nicht.«

»So nimm sie heraus und komm mit herunter, Tochterleben.«

Sie öffnete ein Etui, in welchem sich die Kette befand, steckte diese zu sich und folgte dem Vater hinab, wo der Baron sich bisher mit der Alten gelangweilt hatte.

Er wußte, daß Judith das Kleinod bringen würde. Er fühlte sich als Sieger, ließ es sich aber nicht merken.


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