Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Dritter Band


Lieferung 48.

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»Ja,« antwortete sie freudig. »Könnte ich etwas besseres thun?«

»Nein. Aber, bitte, darf ich mich einmal nach Ihnen erkundigen?«

Sie hielt erröthend den warmen Druck seiner Hand aus und antwortete:

»Thun Sie es, Herr Doctor!«

»Ich danke Ihnen! Es wird sehr bald geschehen!«

Man trennte sich. Der Fürst ging mit seinen Schutzbefohlenen. Vorher aber raunte er Doctor Zander zu:

»Kommen Sie langsam hinter uns her!«

Als sie den Gasthof erreichten, in welchem Petermann hatte logiren wollen, sagte der Fürst:

»Kehrt hier ein. Robert mag ein Abendessen nach meinem Geschmacke bestellen. Ich kehre bald zurück.«

Sie traten ein, und er wartete, bis der Arzt ihn einholte. Er nahm den Arm desselben in den seinigen und ging mit ihm einem dunklen Stadttheile zu.

»Herr Doctor,« sagte er, »ich habe Vertrauen zu Ihnen und will Ihnen ein Geheimniß mittheilen. Vielleicht sind Sie dann entschlossen, mir einen Dienst zu erweisen, der Ihnen hoch vergolten werden soll.«

Das leise geführte Gespräch dauerte eine ziemlich lange Zeit, bis sie in die Nähe der Wohnung des Arztes angekommen waren. Endlich fragte der Fürst noch:

»Würde es so gehen?«

»Ja.«

»Und wollen Sie?«

»Sehr gern. Gehen wir zur hinteren Pforte!«

Die Privatirrenanstalt des Doctor Mars war von einer hohen Mauer umgeben, in deren hinteren Seite sich ein Pförtchen befand. Dort verschwanden die Beiden.

Nach einiger Zeit kehrte der Fürst zurück, einen langen, schweren Gegenstand, welcher in ein dunkles Tuch gewickelt war, in den Armen. Er trug denselben um die Stadt herum bis nach dem Bahnhofe, den er von hinten erreichte. Dort erhob sich bei seinem Erscheinen eine Gestalt vom kalten Erdboden.

»Durchlaucht,« flüsterte sie.

»Ja. Hast lange warten müssen! Ist Alles recht?«

»Ja. Heizer und Maschinist sind im Zimmer. Dort wärmt sich auch der Bahnhofswächter. Das Coupee ist auf.«

»So komm!«

Der Diener faßte mit an. Sie schritten auf den Waggon zu, öffneten das Coupee und schoben den Gegenstand hinein, worauf das Coupee verschlossen wurde.

»Das ist gelungen,« sagte der Fürst. »Nun sorge dafür, daß der Schaffner nicht hineinsieht. In einer Stunde können wir abfahren.«

Er entfernte sich wieder nach der Stadt zu. Am folgenden Tage wurde


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von einem ebenso eigenthümlichen wie unerklärlichen Ereignisse gemunkelt, und dann erzählte man sich laut und deutlich, daß die Baronin Ella von Helfenstein auf mystische Art und völlig spurlos verschwunden sei. - - -


[Zweites Kapitel.]

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Eine Balletkönigin.

Der Chefredacteur des Residenzblattes saß an seinem Tische. Er schien nicht sehr beschäftigt zu sein, denn er schnitt gedankenvoll oder gedankenlos Splitter aus seinem neuen Lineal. Da trat der Redactionsdiener ein.

»Was schon wieder?« fuhr sein Herr auf.

»Etwas Feines!« erwiderte das kleine, bewegliche Männchen.

»Wirklich? Einmal etwas Feines?«

»Pickfein sogar!«

»Wer?«

»Mademoiselle Leda.«

Bei dem Klange dieses Namens sprang der Redacteur von seinem Stuhle auf.

»Mademoiselle Leda! Die Tänzerin? Sapperment! Sehen Sie mich einmal an! Ist meine Toilette in Ordnung?«

Der Kleine beliebäugelte seinen hohen Gebieter vom Kopfe bis zu den Füßen herab und antwortete:

»Unübertrefflich, Herr Doctor.«

»So laß die Dame eintreten!«

Er stellte sich in Positur und erwartete die Tänzerin , welche im nächsten Augenblicke eintrat und sich mit fast unnachahmlicher Grazie vor ihm verbeugte.

Sein Kennerauge musterte ihre Gestalt, was sie ruhig mit lächelndem Munde aushielt. Dann ertönte eine gedämpfte, einschmeichelnde Stimme:

»Nun, gefalle ich Ihnen, Herr Doctor?«

Er war fast frappirt über diese Frage einer Dame, welche er zum ersten Male erblickte, antwortete aber sehr schnell:

»Sie sind kostbar, Mademoiselle!«

Sie hatte draußen den Pelz abgelegt und stand vor ihm in tiefausgeschnittener Seide, welche auch den ganzen vollen, üppigen Arm sehen ließ.

»Das freut mich, weil wir doch Freunde werden müssen!« gestand sie.

Er lächelte ihr schalkhaft überlegen zu und fragte:

»Ist das so gewiß, daß wir Freunde sein werden?«

»Ja, denn ich werde mir alle mögliche Mühe geben, Sie für mich zu gewinnen.«

»Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen!«

»Also wünschen Sie mir Erfolge?«

»So viele Sie wollen. Kommen Sie, setzen Sie sich!«

Er wünschte auch sich Erfolge, darum zog er sie neben sich auf das Sopha nieder und ergriff ihre Hand. Er sagte sich, diese Tänzerin sei zwar


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noch recht schön, aber nicht mehr ganz jung. Sie neigte bereits zu einer Corpulenz, welche ihrer Kunst nicht vortheilhaft sein konnte.

Sie ließ, als er ihre Hand an seine Lippen zog, einen tiefen Seufzer hören; dann sagte sie:

»Herr Doctor, wissen Sie, was es heißt, fremd im fremden Lande zu sein?«

»Oh, sehr, sehr gut!«

»So geht es mir. Ich soll hier gastiren, ich soll mit einer Rivalin auftreten; eine von uns Beiden soll dann die hiesige Vacanz ausfüllen. Ich bin in meiner Kunst zu Hause; aber hier bin ich fremd. Ich bedarf der Stütze, der Führung und - und - Sie sind natürlich der Erste, dem ich mich vorstelle.«

Sie spielte ein meisterhaftes Erröthen und senkte den Blick verschämt zur Erde.

»Mademoiselle, Sie bedürfen der Führung und kommen zu mir. Das heißt - nun, was heißt das?«

»Daß ich mich Ihnen anvertrauen möchte. Sie sind die bedeutendste, literarische und journalistische Kraft des Landes; wen Sie halten, der steht, und wen Sie fallen lassen, der erhebt sich nicht wieder. Ich möchte Ihre Freundin werden!«

Er fühlte sich hingerissen, wenigstens für den Moment. Er antwortete nicht sogleich, darum fügte sie nach einer Pause, die Augen schmachtend aufschlagend, hinzu:

Könnten Sie mich fallen lassen ? »Könnten Sie mich fallen lassen?«

»Wünschen Sie denn, daß ich Sie halte?«

Seine Augen begannen, begierig zu funkeln.

»Von ganzem Herzen!«

»Nur in meinen Recensionen oder auch so?«

Er legte ihr den Arm um die Taille.

»Auch so, auf alle mögliche Art und Weise.«

»Dann werde ich Sie allerdings nicht fallen lassen, denn Sie sind ein Engel!«

Er drückte sie fest an sich und wagte es, seinen Mund auf ihre Lippen zu legen, und sie duldete es lange, lange Zeit. Es begann ein leises, leises Kosen und Flüstern. Dann erhob sie sich.

»Also ich darf mich auf Sie verlassen?«

»Vollständig!«

»Und die Andere?«

»Wird durchfallen.«

»Denken Sie, übermorgen bereits! Aber ich werde siegen, denn ich bin Ihrer Hilfe gewiß. Werden Sie mich oft besuchen, wenn ich mich hier eingerichtet habe?«

»Zweifeln Sie, süße Leda?«


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»Nein. Das ist mein Trost, da ich Sie jetzt so bald verlassen muß. Adieu, Herr Doctor!«

»Adieu!«

Er umarmte und küßte sie nochmals; dann ging sie. Er nickte leise vor sich hin.

»Eine überreife Erscheinung, welche im ersten Augenblicke blendet und erhitzt, dann aber mehr und mehr erkältet. Hm! Bin doch neugierig, was für ein Wesen ihre Rivalin ist. Sie wird sich mir jedenfalls vorstellen.«

Am Redactionsschlusse verließ er sein Bureau. Indem er durch das Parterre des Gebäudes schritt, in welchem sich die Expeditionen für Annahme der Annoncen befanden, bemerkte er eine Dame, welche im Begriffe stand, wegen einer solchen mit dem Expedienten zu verhandeln. Sein Auge blieb an der herrlichen Gestalt haften, welche in ein einfaches Gewand gekleidet war. Er hörte den tiefen, sonoren Klang ihrer Stimme und den reizenden Accent ihres fremden Dialectes. Sie war schön, doch nicht zu voll gebaut und besaß ein Füßchen und ein Händchen von bewundernswerther Niedlichkeit. Jetzt drehte sie sich um. Er erblickte ein Gesicht von meisterhaftem Schnitt und eine Büste, die eine Lais beschämt haben würde.

Es brannte in seinem Innern. Wer war dieses herrliche, göttliche Wesen?

Er war an eine der ausgehängten Beilagen getreten, scheinbar, um dieselbe zu lesen, in Wirklichkeit aber, um das entzückende Bild unbeachteter in sich aufnehmen zu können. Da ging sie. Schon war sie unter der Thür. Da mochte ihr noch etwas einfallen. Sie wollte zu dem Expedienten zurück, aber da erblickte sie ihn und blieb vor ihm stehen, um ihn mit ihrer Glockenstimme zu fragen:

»Verzeihung, mein Herr! Gehören Sie vielleicht zum Personale dieser Zeitung?«

»Ja, mein Fräulein.«

»Wo befindet sich die Redaction?«

»Eine Treppe hoch.«

»Zu welchen Zeiten ist der Herr Chefredacteur zu sprechen?«

»Für Sie zu jeder Zeit!«

Sie wollte zornig erröthen, doch brachte sie es nur zu einem verächtlichen Achselzucken. Dann sagte sie:

»Ich meine, ob dieser Herr jetzt zu sprechen sei?«

»Ja, sogleich!«

»Danke!«

Sie schritt zur Treppe, stieg dieselbe empor und erblickte das Schild an der betreffenden Thür. Nach leichtem Anklopfen trat sie in das kleine Vorzimmer. Dort war der kleine Redactionsdiener noch vorhanden.

»Der Herr Chefredacteur?« fragte sie.

»Ist bereits fort,« antwortete er, sie mit seinen kleinen, lüsternen Augen fast verschlingend.


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»Man sagte mir ganz bestimmt, daß er noch zu sprechen sei!«

»Wer sagte das?«

»Ein Herr mit goldener Brille, grauem Anzuge und breitem, schwarzem Filzhute.«

Der Diener erkannte seinen Herrn. Er kannte ihn auch als enthusiastischen Bewunderer weiblicher Schönheit und ahnte, was geschehen sei.

»Wirklich?« sagte er. »So werde ich den Herrn Doctor sofort benachrichtigen. Bitte, treten Sie indessen hier ein, gnädiges Fräulein!«

»Geben Sie ihm diese Karte!«

Sie trat in das Redactionszimmer, und der Diener suchte, mit der Karte in der Hand, seinen Herrn. Er brauchte nicht lange suchen, denn dieser trat ihm schon unter der Thür entgegen.

»Donnerwetter, Herr Doctor, ist die aber fein! So habe ich noch keine gesehen!«

»Halt das Maul! Die Karte!«

Auf derselben stand der Name Ellen Starton.

»Alle Teufel!« jubelte der Chef halblaut. »Die andere Tänzerin! Diese ist die Sonne, Jene aber der Irrwisch. Diese die Rose und jene die Fackeldistel! Schnell hinein zu ihr!«

Er nahm den Hut ab, trat ein und verbeugte sich. Sie stand vom Sessel auf, auf welchem sie Platz genommen hatte und sagte, ohne seinen Gruß zu erwidern:

»Ich fragte nach dem Herrn Redacteur.«

»Ich bin es selbst, Miß Ellen!«

Jetzt trat die vorhin zurückgehaltene Röthe ihres Gesichtes zornig hervor.

»Mein Herr,« sagte sie, »man pflegt fremde Damen nur dann beim Vornamen zu nennen, wenn diese Damen und der sie Nennende noch in die Schule gehen!«

Er erbleichte. Er war zu weit gegangen, aber so Etwas war ihm auch noch nicht gesagt worden.

»Mein Fräulein!« brauste er auf.

»Mein Herr,« antwortete sie unter einer tiefen, glanzvollen, ironischen Verbeugung, »wir kennen uns nun. Ich kann gehen!«

Und ohne ihn nur eines Blickes zu würdigen, verließ sie das Zimmer.

Am anderen Morgen war im redactionellen Theil seines Blattes unter der Rubrik »Theater« Folgendes zu lesen:

»Nachdem die unvergleichliche Diva unseres Ballettcorps durch ihre Vermählung mit einem fürstlichen Prinzen ihren Bewunderern entzogen wurde, hat die Intendanz zur Ausfüllung der schmerzlich empfundenen Vacanz zwei Damen in Concurrenz genommen, welche man gewohnt war, zu den ersten Sternen zu zählen.

Diese Schätzung ist, was Mademoiselle Leda anbetrifft, in jeder Beziehung eine richtige. Ein einziges Wort über ihre für alle Zeit unerreichbaren Leistungen zu sagen, wäre ein Verbrechen an der Kunst.


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Die andere Tänzerin jedoch - einem on dit zu Folge soll sie Ellen Starton heißen oder so ähnlich - wird wohl selbst kaum wissen, wie sie zu der für sie geradezu unfaßbaren Ehre kommt, für unsere Bühne und zwar gegen Mademoiselle Leda in Wahl zu treten. Man weiß nicht, was man sagen soll. Diese sogenannte Starton ist nirgends aufgetreten als auf einigen obscuren Wanderbühnen des nordamerikanischen Hinterwaldes, wo sie von Indianern ausgepfiffen wurde. Einmal will man sie in Missouri und vielleicht zweimal in Ohio gesehen haben. Bei diesen Gelegenheiten soll sie einige Bewegungen ausgeführt haben, welche sie Tanz genannt hat, die aber leider denjenigen Evolutionen, welche eine Bauernmagd beim Butterfasse macht, sehr genau geglichen haben sollen. Es scheint also, daß Mademoiselle Leda diese Rivalin nicht sehr zu fürchten haben wird.

Im Interesse des Rufes unserer Bühne aber ließe sich jedenfalls wünschen, für die Stelle einer Diva nicht Personen aufzustellen, welche, selbst wenn man die Höflichkeit auf die Spitze treiben will, doch nur Dilettantinnen genannt werden können. Hier aber scheint nicht einmal von einem Dilettantismus die Rede sein zu dürfen. -«

Zur frühesten Zeit, in welcher der Chefredacteur überhaupt zu sprechen war, wurde ihm Mademoiselle Leda gemeldet. Sofort nach ihrem Eintritte flog sie auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und sagte im Tone der Begeisterung:

»Vortrefflich! Sogar unübertrefflich! Das haben Sie ganz unvergleichlich zu Stande gebracht. Dafür muß ich Sie augenblicklich belohnen, mein lieber, mein liebster, mein allerliebster Herr Doctor!«

Sie ließ seine Hände den ihrigen entgleiten, legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn. Er ließ sich diese Liebkosungen gefallen, machte ein etwas überraschtes Gesicht, schüttelte den Kopf und fragte:

»Vortrefflich soll ich es gemacht haben? Sogar unübertrefflich? Was denn?«

»Nun, Ihre Kritik über die Starton.«

»Ach so! Nun, ich habe da jedenfalls die Wahrheit gesagt. Geistreich braucht man da nicht zu sein. Jedenfalls ist aber nicht das mindeste Verdienst meinerseits dabei.«

»Die Wahrheit?« sagte sie, ihn verständnißinnig anlächelnd. »Sollten Sie wirklich falsch unterrichtet sein?«

»Wieso?«

»Kommen Sie auf das Sopha!«

Sie zog ihn neben sich auf den weichen Sitz. Er legte den Arm um ihre üppige Gestalt und fragte:

»Also warum denken Sie, daß ich falsch unterrichtet bin?«

»Die Starton ist eine ausgezeichnete Tänzerin.«

»Ich bin stets gut informirt!«

»Aber dann müßten Sie doch auch wissen, daß sie -«

»Daß sie ausgezeichnet tanzt? Ja, das weiß ich allerdings.«


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»Man sagt, sie tanze weniger des Erwerbes wegen, als weil sie gradezu von ihrem Genie zu dieser Kunst getrieben wird.«

»Ich hörte davon.«

»Sie soll sehr reich sein, so daß sie also dieser Kunst eigentlich gar nicht bedarf.«

»Auch das weiß ich.«

»Aber, Herr Doctor -!«

»Was denn? Sie machen ein ganz verwundertes Gesicht!«

»Nun, wie können Sie, da Sie das Alles wissen, heute diesen Artikel in Ihrem Blatte bringen!«

»Das errathen Sie nicht?«

»Nein.«

»Ich brachte ihn Ihnen zu Liebe.«

»Wirklich? Wirklich?«

»Ganz gewiß!«

»Dann bin ich Ihnen allerdings den größten Dank schuldig, den es nur geben kann!«

»Darf ich mir diesen Dank nehmen?«

»Ich wüßte nicht, woher?«

»O, von Ihren schönen, süßen Lippen. Kommen Sie!«

Er zog sie an sich und küßte sie wiederholt auf den Mund. Sie gab sich dieser Zärtlichkeit für einige Augenblicke hin; dann entwand sie sich ihm, drohte ihm mit dem Finger und sagte:

»Herr Doctor, Sie bringen mich in Verlegenheit!«

»Das bezweifle ich!«

»O, gewiß!«

»Den Grund möchte ich wissen.«

»Sie sind - verheirathet!«

»Ich? Ah, sie haben nach mir gefragt?«

»Nein.«

»Wie können Sie da behaupten, daß ich verheirathet bin?«

»Ich vermuthe es.«

»Ach so! Wäre das ein Unglück?«

»Ein Unglück nun wohl nicht. Aber ich muß mich vor Ihnen in Acht nehmen!«

»Warum?«

»Sie werden mir gefährlich.«

Bei diesen Worten rückte sie von ihm ab.

»O weh!« lachte er. »Ich Ihnen gefährlich! Ich bin kein Jüngling, und ein Adonis war ich auch niemals, selbst während meiner Jugendzeit nicht.«

»Dann wissen Sie wohl nicht, daß der Geist einer gebildeten Dame mehr imponirt als die Gestalt?«

»Das soll wohl heißen, Sie halten mich für geistreich?«

»Natürlich!«


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»Sie kleine, liebe Lügnerin! Kommen Sie her. Das muß unbedingt mit einem Kusse bestraft werden!«

Er streckte die Hände nach ihr aus. Sie aber wehrte ihn ab und sagte zurückhaltend:

»Nein, nicht mehr küssen! Sie dürfen Ihre Pflichten gegen Ihre Frau nicht verletzen!«

»Pah! Ich dachte nicht, daß Sie so penibel sind.«

»O, auch eine Tänzerin hat ein Gewissen!«

»Aber ein sehr nachsichtiges!«

»Sie irren. Ist Ihre Frau jung?«

»Nein.«

»Schön?«

»Noch weniger.«

»Aber liebenswürdig?«

»Das am Allerwenigsten!«

»Dann bedaure ich Sie und entschuldige Sie zu gleicher Zeit.«

»Herzlichen Dank! Wenn Sie mich entschuldigen, darf ich wohl hoffen, daß Sie mir ein liebebedürftiges Herz zutrauen?«

»Warum nicht?«

»Nun, Liebe will Erhörung finden. Soll ich mich umsonst nach einem Kusse von Ihnen sehnen?«

»Nein. Hier ist meine Hand!«

»Ein Handkuß? Hm! Mit dem nimmt nur ein Kutscher fürlieb, der froh ist, wenn er zum Neujahr seiner Gnädigen den Handschuh küssen darf.«

»Nun gut. Also hier!«

»Die Wange? Sie sind eine allerliebste Schelmin. Ich muß Sie wirklich für diese Ironie bestrafen.«

Er zog sie an sich; sie ließ es geschehen. Sie wechselten Kuß um Kuß, bis sie es doch für genug hielt.

»Also Sie haben mir zu Liebe den heutigen Artikel verfaßt,« begann sie von Neuem. »Sie schwören also zu meiner Fahne?«

»Mit Leib und Seele!«

»Werden Sie derselben auch treu bleiben?«

»Bis an mein Ende!«

»Nun, so leisten Sie mir jetzt den Fahneneid! Sagen Sie mir also wörtlich nach: Ich schwöre -«

»Ich schwöre -«

»Bei meiner Ehre -«

»Bei meiner Ehre -«

»Daß ich Dich für meine Gottheit erkläre und -«

»Daß ich Dich für einen kleinen Satan erkläre, dem ich mich aber doch verschreibe mit Haut und Haar.«

»Falsch! Aber, lassen wir es auch in dieser Façon gelten! Wir sind also treue Verbündete und können Kriegsrath halten!«


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»Kriegsrath? Worüber?«

»Nun, Sie ahnen doch, daß wir uns bereits in nächster Zeit auf dem Kriegspfade befinden werden!«

»Nein. Ich gestehe, daß ich keine Ahnung habe!«

»Wirklich nicht? Und doch läßt es sich so sehr leicht denken, daß diese Amerikanerin Ellen Starton das Kriegsbeil und das Bowiemesser ausgraben wird, um sich für Ihre heutige Veröffentlichung zu rächen.«

»Na, sie wird mich nicht sogleich scalpiren!«

»Das nicht; aber sie wird eine öffentliche Entgegnung loslassen. Das ist sicher.«

»Da wäre sie dumm. Wir Journalisten sind es, welche die öffentliche Meinung fabriziren. Wer sich mit uns verfeindet, der ist abgethan.«

»Ja. Sie sind die Herren der geistigen Welt! Aber, im Vertrauen, mein lieber Doctor - hat die Amerikanerin sich Ihnen vorgestellt?«

»Nein.«

»Wirklich nicht? Wirklich?«

»Nein, sage ich Ihnen!«

»Hm! Ich dachte -«

»Was dachten Sie?«

»Ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich Sie in einem gewissen Verdachte hatte.«

»Darf ich mich nach der Natur und nach dem Grunde dieses Verdachtes erkundigen, meine schöne Mißtrauische?«

»Gewiß! Man sagt, die Ellen Starton sei außerordentlich tugendhaft.«

»Wohl nur zum Scheine!«

»O nein. Diese Tugendstrenge soll ihre eigentliche Natur sein.«

»Ich glaube nicht daran. Prüderie ist noch nicht Tugend.«

»Das mag sein. Ferner soll diese Amerikanerin von einer wahrhaft bezaubernden, hinreißenden Schönheit sein.«

»Geht mich nichts an!«

»Wirklich? Ich dachte, sie hätte sich Ihnen vorgestellt; Sie wären von ihrer Schönheit hingerissen, von ihr aber -«

»Was?«

»Von ihr aber abgeblitzt worden.«

»Sapperment, haben Sie Phantasie!«

»Nun, ich dachte es mir so, und daraus erkläre ich mir die Schärfe Ihres heutigen Artikels.«

»Freilich eine sehr unbegründete Vermuthung!«

»Wirklich?«

»Ich kann es beschwören.«

»Daß sie nicht bei Ihnen gewesen ist?«

»Ja.«

»Dann begreife ich dieses unvorsichtige Frauenzimmer nicht. Sie mußten doch der Erste sein, dem gegenüber sie sich aufmerksam zeigte.«


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»Pah! Was liegt mir an ihr! Aber wissen Sie, daß Sie mich mit Ihrem Verdachte beleidigt haben?«

»Das thut mir leid. Verzeihung also!«

»Ich verzeihe nur nach vorhergegangener Sühne.«

»Welche Sühne verlangen Sie?«

»Zehn Küsse!«

»Hier sind sie!«

Sie umarmten sich. Gerade als sie ihre Küsse am Innigsten austauschten, wurde die Thür geöffnet und der kleine Redactionsdiener trat herein.

»Wetter noch einmal! Entschuldigung!« sagte er erschrocken, indem er sich eiligst zurückziehen wollte.

Aber seinem listigen und jetzt befriedigten Gesichtsausdrucke nach war sehr leicht zu vermuthen, daß dieser Überfall mit vollem Vorbedacht unternommen worden sei.

Der Chefredacteur war zwar schnell, aber doch zu spät aufgesprungen. Sein Gesicht glühte vor Zorn.

»Was willst Du?« fragte er.

Der Diener hatte bereits die Thür zum Gehen wieder geöffnet. Jetzt wendete er sich um und meldete:

»Herr Holm bat, angemeldet zu werden.«

»Sapperment! Ist das so eilig?«

»Ich weiß es nicht.«

»Mag warten!«

Der Diener entfernte sich. Der Redacteur befand sich in einer sichtlichen Verlegenheit.

»Ich werde den Kerl fortjagen,« sagte er.

»Warum denn?« fragte sie verwundert.

Ihrer Miene nach schien es ihr sogar lieb zu sein, in diesem tête-à-tête überrascht worden zu sein.

»Was hat er hereinzukommen!«

»Seine Pflicht, mein lieber Doctor!«

»Unsinn! Neugierig ist der Mensch.«

»Schwerlich! Wenn Sie auf meine Fürbitte etwas geben, so denken Sie nicht weiter daran. Diese Bureaumenschen sind die reinen Automaten. Sie denken nichts und sehen nichts. Und haben sie ausnahmsweise ja einmal Etwas bemerkt, so ist es in fünf Minuten bereits vergessen. Nun aber werde ich mich empfehlen müssen. Sechs Küsse hatten Sie bereits. Was thun wir mit den übrigen vier?«

Er mußte doch lachen.

»Heben wir sie auf für das nächste Mal!«

»Gut; sie werden dann desto delicater sein. Soll ich draußen sagen, daß dieser Herr Holm eintreten darf?«

»Ja, ich bitte!«

Sie ging. Draußen im Vorzimmer stand beim Diener ein junger Mann


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von hoher, angenehmer Figur. Seine Züge waren intelligent, aber leidend, und sein schwarzer Anzug hatte die Werkstatt des Schneiders jedenfalls bereits vor langer Zeit verlassen.

»Sie sollen kommen!« sagte sie.

Er verbeugte sich dankend und gehorchte. Als er die Thür hinter sich zugezogen hatte, zog die Tänzerin ein Geldstück aus der Tasche, drückte es dem Diener in die Hand und fragte halblaut:

»Wie lange bedienen Sie den Doctor schon?«

»Seit beinahe zehn Jahren.«

»Natürlich sind Sie ihm treu?«

»Außerordentlich!«

»Und verschwiegen sind Sie ebenso?«

»Ganz und gar. Ich bin überhaupt leider sehr kurzsichtig.«

»Das freut mich. Kennen Sie die Ellen Starton?«

»Ja.«

»Also Sie haben diese Dame gesehen?«

»Gewiß.«

»War sie hier?«

»Gestern.«

»Vor mir, oder nach mir?«

»Nach Ihnen. Der Doctor befand sich bereits im Gehen, kehrte aber ihretwegen noch einmal um.«

»War sie lange bei ihm?«

»Keine Minute.«

»Lügen Sie nicht!«

»Es ist die Wahrheit!« betheuerte er, indem er die Hand auf das Herz legte.

»Das ist doch kaum zu glauben!«

»Warum?«

»Sie soll sehr schön sein!«

»Ungeheuer! Es ist sogar mir aufgefallen, trotz meiner Kurzsichtigkeit,« kicherte er.

»Und Ihr Herr ist ein Bewunderer der Schönheit!«

»Ja, aber nur dann, wenn ihm diese Bewunderung nichts kostet. Er knausert fürchterlich.«

»Also kann ich nicht glauben, daß bei ihrer Schönheit und seiner Bewunderung die gestrige Unterredung nur eine einzige Minute gewährt haben soll.«

»Nicht einmal eine ganze Minute.«

»Unerklärlich!«

Da trat er näher an sie heran und flüsterte:

»Es muß Etwas vorgekommen sein.«

»Wie so?«

»Sie rauschte ab, und wie?«

»Wie denn?«


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»So ungefähr wie auf dem Theater, wenn die erste Liebhaberin Einen nicht haben mag und mit so einem verachtungsvollen Hohnlächeln hinter die Coulissen fährt.«

»Ach so! Und der Doctor?«

»War ganz wütend.«

»Wirklich?«

»Er war ganz bleich vor Zorn. Wie gesagt, es muß irgend Etwas gegeben haben.«

»Hm! Ich möchte wohl wissen, was es gewesen ist!«

»Na, das läßt sich denken.«

»Meinen Sie?«

»Gewiß.«

»Nun, was denn?«

Da blinzelte der Kleine mit seinen Augen, hielt seine Hände wie ein Sprachrohr vor den Mund und raunte ihr zu:

»Sie hat das Küssen nicht so gern wie Sie!«

»Verräther!« sagte sie, indem sie ihm einen leisen, liebenswürdigen Klaps versetzte. »Aber, die Beiden da drinnen werden ja recht laut. Wer war der junge Mann?«

»Herr Holm ist Reporter.«

»Ach so! Wenn es so weiter klingt, wird er jedenfalls herausgeworfen. Ich werde also gehen. Aber pst!«

Sie legte dabei warnend den Finger auf den Mund.

»Pst!« machte auch er, indem er die gleiche Pantomime machte und ihr verständnißinnig zunickte.

»Kein Wort! Er darf nicht erfahren, daß ich mit Ihnen gesprochen habe!«

»Keine Sylbe! Ich bin nicht nur kurzsichtig, sondern auch stumm!«

Und als sich die Thür hinter ihr geschlossen hatte, fuhr er fort:

»Eine eigenthümliche Geschichte, diese Küsse. Der da drinn bekommt sie zu Dutzenden, und Unsereiner soll nicht einmal zusehen. Die Güter dieser Welt sind doch gar zu verschieden vertheilt!«

Und sie dachte, als sie die Treppe hinabstieg:

»Also er hat mich doch belogen. Meine Vermuthung war ganz richtig. Sie ist dagewesen. Er ist von ihr abgeblitzt worden. Mir kommt diese Dummheit sehr zu statten. Jedenfalls ist sie bei den Andern ebenso zurückhaltend gewesen. Dann hat sie verloren!«

Sie hatte vorhin ganz richtig gehört. In dem Redactionszimmer ging es mehr als lebhaft zu.

Der Chefredacteur war sehr zornig, von seinem Diener überrascht worden zu sein. Er befand sich also beim Eintritte des Reporters bei schlechter Laune.

»Was wollen Sie?« herrschte er ihn an.

Der junge Mann war von ihm niemals sehr höflich oder gar sympathisch behandelt worden; aber diesen Ton hatte er denn doch noch nicht gehört; darum fuhr er mit dem Kopfe empor und zeigte ein verwundertes Gesicht.


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»Was Sie wollen, habe ich gefragt!«

Über das Gesicht des Reporters glitt ein stilles Lächeln, doch antwortete er in höflichem Tone:

»Zunächst grüßen wollte ich, Herr Doctor. Guten Morgen!«

Dies schien nicht das rechte Mittel zu sein, die üble Laune des Redacteurs zu zerstreuen.

»Was soll das?« sagte er. »Ich frage nun zum dritten Male, was Sie wollen!«

»Eine Erkundigung möchte ich mir gestatten.«

»Erkundigung? Ich denke, Sie bringen eine Neuigkeit?«

»Das für jetzt noch nicht.«

»Nun, einer Erkundigung wegen brauchen Sie mich nicht am Vormittage zu incommodiren.«

»Verzeihung! Ich bin mir nicht bewußt, einen Grund zu dieser Erzürnung gegeben zu haben. Und, streng genommen, ist es allerdings eine Neuigkeit, welche mich veranlaßt hat, Sie aufzusuchen.«

»Also, heraus damit!«

»Ich meine nämlich den Artikel betreffs der amerikanischen Tänzerin.«

»Ah! Was soll's mit diesem?«

»Er ist von Ihnen selbst verfaßt?«

»Ja.«

»Auf welche Information hin?«

»Was geht Sie das an? Hier bin überhaupt ich es, der zu fragen hat. Was wollen Sie also betreffs dieses Artikels?«

»Er enthält die Unwahrheit.«

»Da dürften Sie sich wohl ganz gewaltig irren!«

»O nein. Die Quelle, aus welcher Sie da geschöpft haben, ist eine sehr unklare.«

»Ich denke doch nicht, daß Sie mich schulmeistern wollen!«

»Das kann mir nicht einfallen. Aber ich möchte Ihnen die Daten zu einer Berichtigung, welche morgen zu erscheinen hätte, in die Hand geben.«

Die Brauen des Redacteurs zogen sich drohend zusammen.

»Ah!« stieß er hervor. »Eine Berichtigung?«

»Ja.«

»Welche morgen zu erscheinen hätte?«

»Ja.«

»Das ist hübsch, sehr hübsch! Mir scheint, Sie halten sich für Denjenigen, der hier zu disponiren hat!«

»Durchaus nicht. Aber die Ehre unseres Blattes erfordert diese Berichtigung.«

»Davon haben Sie gar nicht zu sprechen. Ich bin es, der diese Ehre zu wahren hat. Was verstehen Sie überhaupt von der Ehre eines Journals! Sie sind Reporter und erhalten für jede brauchbare Neuigkeit fünfzig Kreuzer ausgezahlt. Zwischen Redacteur und Reporter, zwischen mir und Ihnen ist ein himmelweiter Unterschied, dessen Sie sich aber gar nicht bewußt zu sein scheinen.«


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»O bitte! Es kann Niemand so sehr wie ich einsehen, welcher moralische Unterschied zwischen uns Beiden besteht. Ob auch einer in Beziehung auf die beiderseitige Intelligenz vorhanden ist, das wäre noch zu untersuchen.«

Der Redacteur trat einen Schritt zurück, stemmte die Hand auf den Schreibtisch und sagte funkelnden Auges:

»Alle Wetter! Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich als Reporter unter Ihnen stehe, als Mensch aber jedenfalls nicht. Vielleicht weiß ich besser als Sie, was es mit der Ehre eines Blattes für eine Bewandtniß hat.«

»Das - das - - das bieten Sie mir!« brauste der Redacteur auf.

»Allerdings.«

»Mir, dem Chefredacteur, dem Doctor der Philosophie!«

»Beides vermag nicht, mir zu imponiren! Ich bin ebenso, wie Sie, Doctor dieser Fakultät.«

»Sie? Sie?« fragte der Redacteur, indem er vor Erstaunen den Mund offen stehen ließ.

»Ja, ich.«

»Sie, Doctor der Philosophie! Hahaha!«

»Es steht Ihnen frei, zu lachen oder zu weinen, ganz wie es Ihnen beliebt!«

»Doctor Holm! Herr Reporter Doctor Holm! Das ist allerdings klassisch! Aber welchen Zweck hat denn diese Comödie eigentlich?«

»Es ist keine Comödie. Sie empfingen mich in einer Art und Weise, welche mich um so mehr befremden muß, je weniger ich mir bewußt bin, Ihnen eine Veranlassung gegeben zu haben. Sie stützten sich auf Ihren Titel, und so theilte ich Ihnen mit, daß ich mir denselben ebenfalls erworben habe, um Ihnen zu beweisen, daß ich Ihnen geistig wenigstens ebenbürtig bin.«

»Ich muß Sie für krank halten, und daher will ich Sie mit der ruhigen, kalten Objectivität eines Arztes behandeln, Herr Doctor Holm.«

Dabei legte er auf das Wort Doctor einen doppelten Druck. Holm ignorirte die Ironie und antwortete:

»Diese Objectivität ist mir sehr willkommen. Vorhin sind Sie mir höchst subjectiv vorgekommen.«

»Herr Holm! Soll dieses Wort vielleicht einen Beigeschmack für mich haben?«

»Nein. Dazu habe ich nicht genug Mangel an Umgangsform.«

»Das wollte ich Ihnen auch nicht rathen. Also, wie kommt es, daß Sie heute in einer ganz anderen Weise sprechen als sonst?«

»Zunächst weil Sie mich gleich bei meinem Eintritte zornig anfuhren, und sodann, weil ich mich über diesen heutigen Artikel ergrimme.«

»Zu diesem Grimm haben sie keine Veranlassung. Was ich schreibe, das darf ich schreiben; es ist die Wahrheit.«

»Es ist nicht die Wahrheit. Miß Starton ist auf eine Weise lächerlich gemacht worden, welche die Indignation aller Gebildeten herausfordert.«


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»So zählen Sie mich also nicht zu den Gebildeten?«

»Um diese Frage beantworten zu können, müßte ich vorher wissen, ob Sie überhaupt aus einer Quelle geschöpft haben, oder ob diese Lügen aus Ihrer eigenen Phantasie entsprungen sind. Das Talent Miß Startons ist über jeden Zweifel erhaben. Sie ist niemals anders als die Königin des Balletes genannt worden.«

»Natürlich nur ironisch!«

»Nein. Sie müssen als Redacteur ja auch mit den Vorkommnissen jenseits des Oceans vertraut sein. Sie müssen gelesen haben, welchen Enthusiasmus jedes Auftreten dieser Dame hervorgebracht hat. Sie wurde ja geradezu ein Meteor genannt.«

»Kein Wort weiß ich davon!«

»Das ist sehr zum Verwundern. Ich bitte Sie um die Erlaubniß, Ihnen die Quellen, aus denen Sie sich eines Besseren unterrichten können, an die Hand zu geben.«

Er griff in die Tasche und zog ein Päcktchen hervor, welches er dem Redacteur entgegenstreckte. Dieser jedoch wehrte mit beiden Händen ab und sagte:

»Danke, danke! Mein Urtheil über diese Tänzerin ist gefällt. Ich habe nur die Wahrheit gesagt, und dabei muß es bleiben!«

»Aber ich kann es Ihnen beweisen, daß man Sie gänzlich falsch unterrichtet hat!«

»Das ist nicht wahr. Sprechen Sie kein Wort mehr über diese Angelegenheit, welche ich für abgethan halte!«

Er wendete sich ab und machte die Bewegung der Entlassung. Holm aber blieb dennoch und bemerkte:

»Sie ist noch nicht abgethan, Herr Doctor. Wenn Sie dem heutigen lügenhaften Artikel keine Berichtigung folgen lassen wollen, werde ich diese Berichtigung fordern.«

»Fordern!« rief der andere zornig.

»Ja.«

»Sie wären der Kerl darnach!«

»Ja, ich bin der Kerl darnach!«

»Gewiß! Doctor Holm! Hahaha!«

»Höhnen Sie jetzt! Aber ich warne Sie!«

»Sie mich? Schön! Ganz wie Sie wollen! Sie sind natürlich aus unserm Verhältnisse entlassen. Einen solchen Reporter kann ich nicht gebrauchen. Suchen Sie Ihr Brod an anderer Stelle!«

»Ich werde es finden.«

»Oho! Wer bezahlt Sie so gut wie wir? Anderwärts erhalten Sie dreißig Kreuzer für die Neuigkeit. Jedenfalls werden Sie sich noch mehr auf die Geige legen müssen.«

Holm erbleichte.

»Auf die Geige?« wiederholte er unwillkürlich.


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»Ja,« höhnte der Redacteur. »Oder denken Sie etwa, daß ich nicht wisse, daß Sie in dem obscursten Tanzsaale der Residenz der Hefe des Volkes aufspielen. Pfui Teufel!«

Das vorher so bleiche Gesicht Holms röthete sich wieder.

»Herr Doctor!« rief er drohend.

»Oho! Kommen Sie mir nicht in diesem Tone! Ein Reporter, welcher nebenbei ein ganz gewöhnlicher Bierfiedler ist, erdreistet sich, den Doctortitel für sich in Anspruch zu nehmen. Das ist mehr als lächerlich; das ist verrückt!«

Er war in einen wahren Grimm gerathen. Holm hatte seine Ruhe bewahrt. Er sagte unter einem selbstbewußten, überlegenen Lächeln:

»Ihre Ausbrüche strotzen von Beleidigungen gegen mich. Wie nun, wenn ich Sie fordere?«

»Sie? Mich? Die reine Tollheit! Sie bilden sich doch nicht etwa ein, satisfactionsfähig zu sein!«

»Pah! Ich werde Ihnen mein Diplom vor Augen führen!«

»Bringen Sie mir tausend Diplome, und ich werfe den Secundanten, welchen Sie mir schicken, doch zur Thür hinaus! Das merken Sie sich ja!«

»Schön, ich will mich Ihnen accomodiren.«

»Was soll das heißen?«

»Wenn Sie sich fürchten, einen Gang mit blanker Waffe zu machen, werde ich eine Waffe wählen, welche Ihren so außerordentlich wichtigen und werthvollen Leib nicht zu schädigen vermag: die Feder.«

»Die Feder? Mensch! Ah, es ist lächerlich, daß ich mich ärgere. Die Sache ist doch eigentlich nur lustig oder vielmehr tragikomisch. Sie dauern mich. Gehen Sie, mein Bester. Legen Sie sich in's Bett und schlafen Sie aus. Vielleicht legt sich dann der Blutandrang nach dem Kopfe. Vor allen Dingen aber lassen Sie es sich nicht wieder einfallen, sich bei mir sehen zu lassen. In diesem Falle bliebe mir nichts Anderes übrig, als Sie hinauswerfen zu lassen!«

»Schön. Ich füge mich diesem Rathschlusse aus dem Munde eines Gottes. Adieu, Herr Doctor!«

»Adieu, Herr Bierfiedler!«

Der Reporter nickte dem Diener freundlich zu, als er durch das Vorzimmer ging. Drunten vor der Hausthür blieb er überlegend stehen.

»Böse, böse Geschichte!« murmelte er vor sich hin. »Ich büße einen Theil der mir so nothwendigen Einnahme ein. Wie soll ich diesen Ausfall decken? Aber was frage ich nach dem Hunger und der Entbehrung, wenn es gilt, die Göttliche in Schutz zu nehmen! Sie muß bereits angekommen sein. Wo sie nur abgestiegen sein mag? Ich werde mich erkundigen.« -

Als Miß Ellen Starton gestern von dem Chefredacteur fortgegangen war, hatte sie eine Droschke genommen, um sich nach der Wohnung des Intendanten fahren zu lassen.


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Dieser saß bei Caviar und Wein in seinem fast wie ein Damenboudoir ausgestatteten Schreibzimmer. Parfums und Odeurs dufteten, und auch der alte Herr sah aus, als ob er sich zu Tode duften wolle.

Seine dünne, hagere Gestalt steckte in einem weichen, seidenen Schlafrocke. Er griff die Caviarsemmel mit dem feinsten Handschuh an. Das Gesicht war höchst glatt rasirt; die Zähne, welche sich beim Kauen zeigten, waren zu schön, als daß sie hätten echt sein sollen, und das Haar zeigte jene eigenthümliche Façon, welche schließen läßt, daß es um guten Preis vom Friseur gekauft worden ist.

Ein Diener in Livree ging ab und zu. Draußen hörte man die leise Silberstimme einer Glocke.

»Jean, schon wieder Jemand!« sagte der Herr. »Ich bin nicht zu Hause. Auf keinen Fall zu Hause!«

Jean ging. Es dauerte eine kleine Weile, bis er zurückkehrte. Er machte ein höchst pfiffiges Gesicht.

»Fortgewiesen natürlich?« fragte der Intendant.

»Nein, gnädiger Herr.«

»Nicht? Aber ich bin ja nicht zu Hause!«

»Der gnädige Herr werden sehr gern zu Hause sein.«

Jean sagte dies in einer Art und Weise, welche verrathen ließ, daß er seiner Sache sicher sei und seinen Herrn sehr genau kenne.

»Sehr gern?« fragte dieser. »Du weißt, daß ich mich zur jetzigen Zeit nie stören lasse.«

»Oh, eine solche charmante, höchst charmante Störung!«

»Wie so?«

»Eine Dame, gnädiger Herr!«

Da legte der Intendant das Messer zur Seite. Auch er kannte seinen Jean. Dieser hätte es sicher nicht gewagt, ihn mit einem uninteressanten Besucher zu belästigen.

»Ach so, eine Dame!« sagte er.

»Wer ist sie?«

»Eine gewisse Miß Ellen Starton.«

Da fuhr der Intendant von seinem Sessel empor und zupfte unwillkürlich an dem weißseidenen Halstuche, um zu fühlen, ob es tadellos sitze.

»Die Starton?« fragte er. »Die Tänzerin?«

»Ja.«

»Alle Himmel! Komm her, Jean, komm!«

Der Diener trat bis an den Tisch heran. Sein Herr raunte ihm zu:

»Du hast sie betrachtet?«

»Sehr genau.«

»Mit ihr gesprochen?«

»Einige Höflichkeiten gewechselt.«

Die beiden alten Männer machten ganz den Eindruck, als ob zwei lüsterne Faune im Begriffe ständen, irgend einen verliebten Streich auszuführen.


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»Entspricht sie ihrem Rufe?« fragte der Herr.

»Mehr als das.«

»Das sagst Du? Der Kenner? Das macht mich mehr als neugierig. Wie ist die Figur?«

»Etwas über mittel.«

»Schmächtig?«

»Prächtig rund ohne voll zu sein. Ein Meisterstück.«

»Hat sie Büste?«

»Zum Meiseln!«

»Hände, Füße?«

»Wie ein Kind.«

»Das Haar?«

»Dunkel, voll, herrlich! Griechischer Knoten.«

»Also klassisch. Die Augen?«

»Schwarze Karfunkel.«

»Mund?«

»Zum Todtküssen.«

»Stimme?«

»Wie eine Glocke.«

»Herein mit ihr! Aber, Jean, ich - ich warne Dich!«

»Bitte, bitte! Ich verstehe nicht, gnädiger Herr.«

»Du störst uns nicht!«

»Nein, nein!«

»Du trittst auf keinen Fall eher ein, als bis ich Dir das Zeichen dazu mit der Glocke gegeben habe!«

»Sehr wohl!«

»Schön! Hole sie! Doch, vorher noch Eins! Wie ist der Eindruck, den sie macht, he? Wird sie zartfühlend, weichherzig, gefügig sein?«

Der alte erfahrene Diener zuckte die Achsel, zog die dünnen Brauen empor und antwortete:

»Glaube es kaum.«

»Also nicht?«

»Scheint mir kalt und spröde zu sein.«

»Will es nicht hoffen!«

»Vielleicht nicht nur kalt, sondern gar streng.«

»Werde sie dennoch besiegen.«

»Das wird nicht leicht sein.«

»Pah! Bestrickende Liebenswürdigkeit!«

Jean ließ einen schnellen Blick über seinen Herrn, dessen Äußeres einer neu angestrichenen Ruine glich, laufen, zuckte abermals die Achseln und sagte:

»Wird wohl kaum wirken.«

»Dann giebt es den anderen Weg: Präsente! Ich bin reich.«

»Das lasse ich eher gelten.«

»Na werden sehen. Laß' Sie also ein!«


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»Aber Sie tragen Schlafrock.«

»Pah! Eine Tänzerin nimmt das nicht so difficil.«

Der Diener huschte über den spiegelblanken Parquettboden nach der Thür, riß die beiden Flügel derselben auf und meldete unter einer sehr devoten Verbeugung:

Miss Starton ist willkommen ! »Miß Starton ist willkommen!«

Die Tänzerin folgte dieser Aufforderung in ruhiger und selbstbewußter Haltung. Sie verneigte sich leicht und erwartete dann die Anrede.

Der Intendant ließ seinen Blick über die prachtvolle Erscheinung gleiten und sagte sich im Stillen, daß Jean noch viel, viel zu wenig gesagt habe.

»Willkommen, Miß,« grüßte er, jedoch ohne sich zu erheben. »Wollen Sie nicht Platz nehmen!«

Er zeigte dabei auf den Sitz neben sich. Sie verbeugte sich abermals, trat näher und nahm auf einem Sessel Platz, welcher den Tisch zwischen ihr und dem alten Herrn ließ.

»Warum so fern?« fragte dieser. »Ich habe noch nicht gehört, daß Amerikanerinnen schüchtern sind.«

»Ich ebenso wenig!« antwortete sie.

Diese Antwort frappirte ihn, doch fuhr er fort:

»Sie sind beherzt? Nun, das ist mir lieb. Es freut mich, Sie bei mir zu sehen, ehe Ihre Rivalin, Mademoiselle Leda, sich vorgestellt hat. Was halten Sie von dieser Dame?«

»Ich kenne sie nicht.«

»Aber Sie haben von ihr gelesen?«

»Einiges.«

»So müssen Sie doch ein Urtheil haben!«

»Der Tanz will gesehen sein. Ein Gemälde zu taxiren, ohne es vor Augen zu haben, ist unmöglich. Ich pflege nur aus eigener Anschauung zu urtheilen.«

»Selbst sehen? Ja, Sie haben Recht! Auch die glühendste Schilderung kann noch so wenig sagen, wie ich in diesem Augenblick deutlich fühle.«

Er hielt inne, um zu beobachten, welchen Eindruck diese genügend deutlichen Worte hervorbringen würden. Leider bemerkte er nicht die mindeste Wirkung. Die Tänzerin musterte mit ruhigem Blicke die Tapeten des Zimmers, ohne seine Worte einer Antwort zu würdigen. Dann richtete sie ihr Auge ebenso kalt forschend auf ihn und bemerkte dann:

»Sie erwähnten soeben eine Kollegin von mir, Herr Intendant. Wie kommt es, daß Sie sich zu dem befremdlichen Arrangement entschlossen haben, zwei Rivalinnen an einem Abende und in derselben Production auftreten zu lassen?«

»Die Gründe sind gewichtig, theure Miß, doch kann ich sie Ihnen erst später mittheilen, wenn wir uns besser kennen. Ich hoffe, daß dies in nicht sehr langer Zeit der Fall sein wird!«

Sie sagte nichts; sie verbeugte sich nur; dann fuhr er fort:


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»Ich gehöre nämlich nicht zu denjenigen Bühnenleitern, welche zu ihren Untergebenen wie vom hohen Olymp herab sprechen. Ich trete gern in näheren Verkehr mit ihnen; ich zeige ihnen, daß ich Mensch bin, daß ich menschlich denke und menschlich fühle - - -«

Der Blick, welchen er jetzt auf sie warf, zeigte, daß er jetzt eine Antwort erwarte, aus der er ersehen könne, ob er in Beziehung auf sein »menschliches Fühlen« verstanden worden sei. Sie nickte ihm langsam zu und sagte unter einem Lächeln, von welchem er nicht unterscheiden konnte, ob es schalkhaft oder ironisch sei:

»Ja, Herr Intendant, ein Gott sind Sie allerdings nicht.«

»Ah! Wieso?«

»Sie sind in diesem Augenblicke sogar höchst menschlich. Caviar ist kein Ambrosia.«

»Wie? Sie machen auch Witze? Sie schießen Calembourg's? Das liebe ich. Sie haben Recht. Ich bin ein Mensch, aber nicht allein wegen des Caviars. Ich wünsche auch in Beziehung auf Sie Mensch sein zu dürfen!«

»Dieser Wunsch ist bereits erfüllt.«

Er gab diesen Worten eine sanguinische Bedeutung.

»Danke, danke! Wollen wir also Beide in diesem Augenblicke einmal recht menschlich sein?«

»Gewiß, Herr Intendant.«

»So, bitte, setzen Sie sich hier neben mich.«

»Meinen Sie, daß ich hier weniger menschlich sei?«

»Ja. Aus so weiter Entfernung kommen Sie mir wie ein übermenschliches, überirdisches Wesen vor. Sie bezaubern; sie bethören wie eine Fee, welche verschwindet, sobald man einen Wunsch ausspricht. Ich liebe solche Entfernungen nicht. Ich will mich überzeugen, ob diese Feen nicht Gebilde der Phantasie sind. Ich will fühlen, ob ich Menschen vor mir habe.«

»Das Sehen ist auch ein Fühlen. Ich glaube, Sie sind überzeugt, daß eine Amerikanerin zu den sterblichen Bewohnern der Erde gehört.«

»Ja. Aber dennoch stehen die Lady's uns Bewohnern des Continents so fern, daß man beim Anblicke einer solchen Dame eine unbesiegbare Wißbegierde empfindet, ob sie auch Fleisch und Blut ist. Wollen Sie mich das untersuchen lassen?«

Er hatte sich erhoben und zwei Schritte hinter dem Tische hervor gethan. Seine Augen waren mit sichtlicher Gier auf sie gerichtet.

Ihr Blick hielt dem seinigen kalt und ruhig stand.

»Das bedarf jedenfalls nicht erst einer Untersuchung, da es bereits genugsam constatirt ist.«

»O nein. Eine Schönheit wie die Ihrige kann unmöglich eine irdische sein. Nur die Überzeugung kann zum Glauben führen. Gestatten Sie, Miß, mich zu überzeugen, daß Sie nicht die aus Walhalla herabgestiegene Göttin der Liebe sind, sondern eine wirkliche Tochter staubgeborener Eltern.«


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Er streckte den Arm nach ihr aus, griff aber in die Luft. Sie hatte sich gedankenschnell erhoben und war um einige Schritte zurückgewichen.

»Herr Intendant!«

In dem Tone dieser Worte lag eine Zurechtweisung, welche förmlich drohend klang. Sie stand aber in so stolzer Schönheit vor ihm, daß er sich kaum zu beherrschen vermochte. Er antwortete:

»Nicht diesen Ton, nicht diesen! Ihr Händchen müssen Sie mich ergreifen lassen. Wir wollen neben einander sitzen und berathen, auf welche Weise wir Ihre hiesige Stellung am Schönsten und Vortheilhaftesten zu gestalten vermögen. Kommen Sie, Miß!«

»Ich danke! Habe ich erst die Stellung, so weiß ich sie schon selbst nach meinem Geschmacke zu gestalten!«

»Aber Sie haben sie noch nicht!«

»Das muß ich freilich zugeben!«

»Und wissen Sie, wessen Einfluß da am maßgebendsten ist, Miß Starton?«

»Jedenfalls der Ihrige.«

»Allerdings! Ich denke, daß es Ihnen nicht unlieb sein würde, diesen Einfluß für sich zu gewinnen.«

»Es würde mich freuen, ihn zu besitzen«

»Nun, so suchen Sie, ihn zu verdienen.«

»Das ist meine Absicht.«

»Jedenfalls haben Sie Lebenserfahrung genug, um zu wissen, in welcher Weise eine liebenswürdige Dame sich eine solche Protection erwirbt.«

»Gewiß!«

»Nun?«

»Indem sie ihren Pflichten in jeder Beziehung Genüge leistet. Sie können überzeugt sein, daß ich mir Mühe geben werde, Ihren Beifall zu erwerben.«

»Gut! Doch hoffe ich, Sie meinen nicht nur meinen künstlerischen Beifall. Im Theater bin ich Kritiker; hier in meinem Heim aber bin ich Mensch. Dort entzückt mich eine künstlerische Leistung, und hier kann mich ein Kuß zu jedem Zugeständniß veranlassen.«

»Daraus schließe ich, daß Sie jedenfalls glücklich verheirathet sind.«

»Wie? Was? Wie meinen Sie?«

»Wenn Sie sich durch eine solche Familienzärtlichkeit zu jedem Zugeständniß veranlaßt sehen, so müssen Sie ein sehr guter Gatte, Vater und Großvater sein.«

Er griff mit beiden Händen nach dem weißseidenen Halstuche und fragte im Tone unendlichen Erstaunens:

»Vater? Großvater? Meinen sie wirklich?«

»Ja,« nickte sie ihm vertraulich zu.

»Sehe ich denn wie ein Großvater aus?«

»Sogar wie ein recht erfahrener und ehrwürdiger!«

Das war ihm noch nicht vorgekommen; das hätte er für unmöglich ge=


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halten. Er kratzte sich hinter den Ohren; er griff wieder an das Halstuch. Großvater, das war ihm zu bunt; das hatte ihn ganz aus der Contenance gebracht. Endlich stieß er hervor:

»Vielleicht halten sie mich sogar für einen Urgroßvater!«

»Eine Unmöglichkeit würde es nicht sein. Man kann doch bereits mit sechzig Jahren oder gar noch früher Urgroßvater sein.«

»Mit sechzig? Bereits? Das klingt ja gerade, als ob Sie mich für älter hielten?«

»Allerdings!«

»Älter? Himmel! Wie alt bin ich denn Ihrer freundlichen Ansicht nach ungefähr?«

»Neunundsechzig und ein halb.«

»Herr des Himmels! Miß, wo denken Sie hin?«

»Ich denke an den Bühnenalmanach.«

»Was ist's mit dem?«

»Da sind Sie im Verzeichnisse der Bühnenvorstände natürlich auch vorhanden. Ihr Geburtsjahr und auch der Tag sind angegeben.«

»Das ist verdruckt, vollständig verdruckt! Ich werde den Herausgeber zur Rede stellen.«

»Das würde ich allerdings auch thun. Solche Angaben müssen auf völliger Wahrheit beruhen, und es kann Ihrem Rufe nur Nutzen bringen, wenn man erfährt, daß Sie noch um einige Jahre betagter sind, als angegeben worden ist. Je höher das Alter, desto größer die Erfahrung, geehrtester Herr!«

Er starrte sie an, als ob er ein Todesurtheil höre.

»Was sagen Sie?« rief er aus. »Noch um einige Jahre betagter soll ich sein?«

»Das haben Sie doch wohl gemeint?«

»Wenn denn?«

»Als Sie vorhin sagten, daß die Angabe über Ihr Alter nicht richtig sei.«

»Sie sind des Teufels! Es fällt mir gar nicht ein, älter sein zu wollen als ich bin. Ich zähle einundfünfzig.«

»Wirklich? Wirklich?«

»Gewiß! Sehe ich etwa älter aus?«

»Sie würden vielleicht jünger aussehen, aber -«

»Was denn? Was meinen Sie?«

»Wenn nicht diese falsche Haartour, diese Perrücke -«

»Perrücke? Sie Unglückskind! Das sind ja meine eigenen Haare!«

»Dann ist es zu bewundern, wie mobil diese Haare sind. Sie haben sich das Vordertoupet ganz auf die linke Seite gedreht.«

»Wie? Was? Auf die linke Seite? Ich werde so fort Jean rufen. Der muß -«

»O bitte, das kann ich ebenso. Kommen Sie! Ich werde Ihnen dieses natürliche Haar wieder zurecht rücken. So, mein bester, mein liebster Großpapa!«


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Sie faßte ohne Zaudern seinen Kopf und schob ihm das Toupet wieder nach vorn.

Er war ganz starr vor Entsetzen. Seine Augen nahmen fast einen gläsernen Ausdruck an. Er seufzte zum Erschrecken, holte tief, tief Athem und sagte dann matt:

»Erlauben Sie, daß ich mich setze?«

»Gewiß! Thun Sie das! Das Alter bedarf der Pflege.«

Er stieß einen Ton aus, von welchem nicht zu sagen war, ob er der Ausdruck des Grimmes sei oder ob er nur als Folge vollständiger Rathlosigkeit gelten könne.

»Fühlen Sie sich unwohl?« fragte sie in freundlicher Besorgniß.

»Unwohl? O nein! Dazu bin ich zu jung und kräftig. Aber alterirt bin ich einigermaßen.«

»Worüber?«

»Über Sie natürlich!«

»Doch nicht! Ich bin mir ja gar nicht bewußt, Ihnen Veranlassung dazu gegeben zu haben!«

»Nicht? Da sehe Einer an! Ihre Altersschätzung!«

»War freilich zu niedrig gegriffen.«

»Auch noch! Die Perrücke!«

»Ist Ihr echtes Haar.«

»Sie nennen mich Großvater, sogar Urgroßvater!«

»Aus theilnehmender Ehrfurcht.«

»Was thue ich mit Ihrer Ehrfurcht! Ich kann sie ganz und gar nicht gebrauchen! Ein Bischen Liebe wäre mir tausendmal lieber!«

»Wenn Sie gestatten, will ich Sie lieben, wie eine Enkelin den Vater ihrer Mama liebt.«

Da schlug er die Hände zusammen und fragte kopfschüttelnd:

»Sagen Sie, Miß, sind alle Amerikanerinnen so wie Sie?«

»Ich hoffe es!«

»Dann haben die Vertreterinnen Ihrer Nation, wenn sie Tänzerinnen sind, aber ganz und gar keine Chance, bei uns Anstellungen zu finden.«

»Warum?«

»Wir verlangen von einer Tänzerin, daß sie nicht nach dem Alter frägt.«

»Das braucht sich auch nicht, denn es ist ja im Almanach ganz genau angegeben.«

»Ferner soll sie liebesbedürftig sein und diese Eigenschaft ganz besonders gegen ihren obersten Vorgesetzten bethätigen. Man kann die Jünglingsjahre hinter sich haben und doch ein jugendliches Herz besitzen! Wie ich Sie heute kennen lerne, können sie unmöglich eine gute Tänzerin sein.«

»Würden Sie diese Behauptung beweisen können?«

»Ja. Der Tanz hat die Aufgabe, alle möglichen menschlichen Gefühle durch körperliche Bewegungen zur Darstellung zu bringen. Ist das richtig?«

»So ziemlich.«


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»Eine Tänzerin muß also Zweierlei besitzen. Erstens die Fertigkeit in diesen Bewegungen und zweitens die Gefühle, welche sie darstellen soll!«

»Ganz richtig!«

»Sie haben aber solche Gefühle nicht.«

»Das ist eine sehr kühne Behauptung.«

»Sie haben kein Herz. Ich sage Ihnen aufrichtig, daß ich sehr besorgt um Sie bin. Jetzt habe ich leider keine Zeit, sonst fänden sie vielleicht Gelegenheit, mir zu beweisen, daß Sie doch zärtliche Regungen besitzen. Vielleicht beliebt es Ihnen, morgen nochmals vorzusprechen.«

»Ich glaube kaum, daß ich es nochmals wage, Altersstudien anzustellen. Sollte ich hier Engagement finden, so werden Sie bald die Erfahrung machen, daß ich nicht herzlos bin. Nur darf das Menschenherz nicht einer Wolke gleichen, welche Alt und Jung, Schön und Häßlich, Kluge und Unfähige, Gerechte und Ungerechte mit ihrem Regen beträufelt.«

»So sind Sie also die Wolke, von welcher ich niemals einen Tropfen Thau erwarten kann? Ich glaube nicht. Es giebt Wolken, welche mildthätiger sind.«

Er machte eine Verbeugung; sie erwiderte dieselbe und zog sich dann zurück. Kaum war sie fort, so griff der Intendant zur Klingel, um seinen Jean herbeizurufen. Dieser richtete einen forschen Blick auf seinen Gebieter und gab sich Mühe, ein schadenfrohes Lächeln zu unterdrücken.

Der Intendant hatte sich ganz matt in die Polster geworfen und sagte mit halber Stimme:

»Jean, gieb mir Eau de mille fleures! Ich bin wie zerschlagen!«

Der Diener reichte ihm das Flaçon und fragte:

»Zerschlagen. War der Kampf so heftig?«

»O, es ist gar nicht zum Kampfe gekommen!«

»So hat sie sofort capitulirt?«

»Ist ihr nicht eingefallen. Ich habe sie nicht angerührt.«

»Unglaublich!«

»Ja, ja! Und weißt Du, wer die Schuld trägt?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Du!«

»Ich?«

»Ja. Was ich niemals für möglich gehalten hätte, das ist geschehen. Ich bin blamirt! Diese Amerikanerin weiß, daß ich falsches Haar trage.«

»Sie haben es ihr doch nicht etwa mitgetheilt?«

»Ist mir nicht eingefallen. Aber Du hast mir die Perrücke ganz verkehrt aufgesetzt.«

»Das ist nicht wahr.«

»Und doch! Diese Miß Ellen Starton hat sie mir dann wieder zurecht gerückt.«

Da konnte sich Jean nicht beherrschen. Er lachte laut auf.

»Mensch!« rief sein Herr. »Was fällt Dir ein?«


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