Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Dritter Band


Lieferung 54.

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»Ja. Sollte er irgend welche Bedenken hegen, Ihnen zu Willen zu sein, so werde ich dieselben zerstreuen.«

»Ich will nämlich zunächst erfahren, ob er bereits weiß, daß Herr Léon Staudigel morgen Abend kommen wird.«

»So heißt dieser Chef der Claqueurs?«

»Ja.«

»Wunderbarer Name! Wenn der Mann so ist wie sein Name, dann ist er jedenfalls ein sonderlicher Kauz. Doch, da ist das Bellevue. Gehen wir hinein!«

Das genannte Etablissement lag auf einer vor der Hauptstadt befindlichen Anhöhe, von welcher sich eine sehr hübsche Aussicht über die Residenz bot. Daher der Name Bellevue. Es gab hier Restaurant, Tanzsaal und Fremdenzimmer. In das Erstere traten die Beiden.

Sie befanden sich noch nicht lange da, so kam der Wirth in die Restauration, in welcher sie von einem Kellner bedient worden waren. Er erblickte die zwei Gäste und stutzte. Der arme Reporter und Bierfiedler neben dem Fürsten von Befour an einem und demselben Tische, das war ihm unerklärlich. Max Holm winkte ihm, und er folgte dieser Aufforderung. Er machte dem Fürsten eine außerordentliche tiefe Verbeugung.

»Haben Sie für einige Augenblicke Zeit?« fragte Holm.

»Ja, für Sie stets, wie Sie wissen.«

»Wollen Sie sich einmal zu uns setzen?«

»Zu Ihnen?« fragte er erstaunt. »Kennen sich die Herren denn?«

»Ja,« antwortete der Fürst. »Setzen Sie sich immerhin zu uns. Auch ich ersuche Sie darum.«

»Nun, wenn Durchlaucht befehlen, muß ich gehorchen.«

Er ließ sich auf einen Stuhl nieder.

»Kennen Sie Herrn Staudigel?« fragte Holm.

»Den Chef der Claqueurs?«

»Ja.«

»Den kenne ich.«

»Ist Ihnen auch eine Mademoiselle Leda bekannt?«

»Die Tänzerin, welche morgen Abend in der Königin der Nacht auftreten wird?«

»Dieselbe.«

»Gehört habe ich von ihr. Aber gesehen habe ich sie noch nicht.«

»Ich denke, daß Sie sie morgen sehen werden?«

»Leider nicht!«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Ich möchte diese interessante Vorstellung sehr gern besuchen, aber ich muß leider daheim bleiben. Ich darf meine Gäste nicht vernachlässigen.«

»Das meinte ich nicht.«

»Was denn, Herr Holm?«

»Ich glaubte, Sie würden die Tänzerin hier bei sich sehen?«


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»Als Gast etwa?«

»Ja.«

»Davon weiß ich kein Wort! Will sie denn herkommen?«

»Ja.«

»Das freut mich. Ich möchte sie gern sehen. Da kommt sie wohl am Nachmittage?«

»Nein, sondern des Abends.«

»Da muß sie doch auftreten?«

»Ich meine nach der Vorstellung.«

Der Wirth schüttelte den Kopf.

»Sie sind Reporter, Herr Holm,« sagte er; »Sie wissen also wohl Manches, was Unsereiner nicht erfährt. Aber die Vorstellung wird morgen jedenfalls erst gegen elf Uhr geschlossen sein, und daß dann die genannte Dame noch meine so entlegene Restauration aufsuchen werde, das möchte ich wenigstens bezweifeln.«

»Schlauberger!«

»Was?« fragte der Wirth, über dieses Wort verwundert.

»Sie sind um Verschwiegenheit angegangen worden!«

»Ich?«

»Ja. Sie haben versprechen müssen, nichts zu verrathen.«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen!«

»Pah! Verstellen Sie sich nicht!«

»Aber, Herr Holm, ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich keine Ahnung von einem Besuche dieser Leda habe!«

»Wirklich?«

»Auf Ehre!«

»Und von Herrn Léon Staudigel wissen Sie auch nichts?«

»Kein Wort! Was ist es denn mit diesem?«

»Er kommt auch.«

»Mit der Leda?«

»Ja.«

»Ah! Sapperment!«

Der Wirth schnippste mit den Fingern und stieß dann einen leisen, scharfen Pfiff aus.

»Nun, Sie besinnen sich wohl?« fragte Holm.

»Hm! Ich weiß nicht, ob das im Zusammenhange steht.«

»Was?«

»Ich soll nicht davon sprechen.«

»Sie haben doch nicht etwa einen Eid abgelegt, daß Sie schweigen werden?«

»Das allerdings nicht.«

»Nun, so denke ich, daß Sie sich wohl nicht um Ihre Seligkeit bringen werden, wenn Sie uns eine kleine Andeutung geben, was das ist, woran Sie jetzt dachten.«


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»Ich habe allerdings einen Besuch angemeldet erhalten.«

»Zwei Personen?«

»Ja.«

»Ein Herr und eine Dame?«

»Ja.«

»Für wann?«

»Für morgen Abend zwischen elf und zwölf Uhr.«

»Wer machte die Meldung?«

»Ein Mann, den ich nicht kannte. Es wurde ein feines Souper für unter Zweien bestellt.«

»Separates Zimmer?«

»Ja.«

»Wenn keine Namen genannt worden sind, so haben Sie doch gewissermaßen ein Risico übernommen.«

»Wieso?«

»So ein Souper kostet Geld.«

»Billig freilich ist es nicht.«

»Sie haben sich auf die beiden Angemeldeten vorzubereiten. Wie aber, wenn sie nicht kommen?«

»O, ich habe mich vorgesehen?«

»In wiefern?«

»Ich habe Garantie verlangt.«

»Hat man sie geleistet?«

»Ja. Der Mann, welcher die Bestellung machte, hatte für mich zwanzig Gulden eingehändigt bekommen.«

»Das ist etwas Anderes.«

»Sie meinen also, daß es Staudigel mit der Leda ist?«

»Ja.«

»Hm! Ich dachte mir so etwas Ähnliches. Geheimnißvoll war es, da sie nicht erkannt sein wollen.«

»Sie werden sie doch sehen!«

»Nein.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Es wurde mir gesagt, ich solle mich nicht wundern, wenn die Herrschaften eine Maske vor dem Gesichte tragen würden. Sie würden sich sofort auf ihr Zimmer begeben, und sie wünschten, von mir bedient zu werden. Nach dem Souper hätte ich mich zu entfernen. Die zwanzig Gulden seien zu meiner Sicherheit. Es verstehe sich aber ganz von selbst, daß das Souper nicht für diesen Preis verlangt werde.«

»Dann macht sich dieser Herr Staudigel einmal nobel. Würden Sie mir einen Gefallen thun?«

»Welchen?«

»Ich möchte die Beiden belauschen.«

»Ist das nicht zu viel verlangt?«


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»Wohl nicht.«

»Ich habe auf meine Gäste zu sehen.«

»Auch ich bin Ihr Gast.«

»Sie verlangen einen Vertrauensbruch.«

»Besitzen etwa Sie das Vertrauen dieser Beiden, welche Ihnen nicht einmal wissen lassen, wer sie sind?«

»Hm!«

»Ist es nicht auch für Sie besser, wenn ich sie belausche? Was können die Beiden im Schilde führen? Vielleicht ist das Souper nur ein Vorwand. Übrigens wissen Sie, daß wir Reporter so halb und halb als Polizisten betrachtet werden müssen.«

»Ich weiß sehr wohl, daß Sie mit der Polizei in fleißiger Beziehung stehen.«

»Wie nun, wenn ich gerade in diesem Falle einen höchst triftigen Grund hätte, zu erfahren, wer die Beiden sind und was sie sprechen.«

»Ja, wenn ich wüßte, daß sie nichts davon erfahren, daß sie belauscht werden.«

»Dafür zu sorgen, das ist Ihre Sache.«

»Sie selbst werden nichts verrathen?«

»Nein.«

»Nun gut, ich will Ihnen zu Willen sein. Bitte, bemühen Sie sich mit herauf nach dem Zimmer, in welchem die Beiden speisen werden. Wenn Sie die Localität kennen, werden sie leichter sagen können, in welcher Weise wir uns zu arrangiren haben.« - -


Drittes Kapitel.

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Eine Tau=ma.

Als Werner, der Theaterdiener, Max Holm verlassen hatte, war er zu dem Theaterarchivar gegangen, um sich von ihm die Partitur zur »Königin der Nacht« geben zu lassen, und hatte diese zu dem Capellmeister getragen. Dann war er nach Hause zurückgekehrt, freudigen Herzens über die Summe, welche er von Holm geliehen erhalten hatte.

Auch er wohnte in einem Hinterhause. Sein ärmliches Logis lag gar vier Treppen hoch, und zwar so, daß die Fenster desselben nach dem Hofe gingen.

Er hatte unterwegs einige Nahrungsmittel eingekauft und freute sich über die frohen Gesichter, welche beim Anblicke des Brodes und der Wurst zu erwarten waren.

Aber als er die letzte Stiege hinter sich hatte, tönte ihm ein lautes mehrstimmiges Jammern und Klagen entgegen. Er blieb stehen und horchte.


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Es war kein Zweifel, die Töne, welche er hörte, kamen aus seiner eigenen Wohnung.

»Herrgott, was ist da los! Was wird da einmal wieder geschehen sein!« flüsterte er erschrocken. »Nimmt denn das Elend nie ein Ende?« fügte er bestürzt hinzu.

Er öffnete die Thür. Das kleine Zimmer war voller Menschen, welche, außer Zweien, aber Alle zur Familie gehörten. Ein fürchterlicher Duft, ja geradezu Gestank herrschte in dem Raume. Er war so stark, daß man trotz der Kälte ein Fenster geöffnet hatte, und kam von der weiblichen Gestalt, welche mit vollständig verhülltem Gesichte auf einem hölzernen Schemel in der Ecke hockte.

Die Zwei, welche nicht zur Familie gehörten, standen in der Mitte der Stube. Sie trugen Uniformen. Der Eine hatte einen langen Zettel in der Hand und der Andere einen kleinen Blechkasten, dessen Inhalt man nicht sehen konnte.

Die kleineren Kinder weinten laut. Eine erwachsene Tochter verhandelte mit den zwei Beamten.

Sie hatte ein bleiches aber sehr regelmäßig geschnittenes Gesicht und eine hohe, volle Gestalt. Hätte nicht die Sorge in der armen Wohnung ihre Hütte aufgeschlagen gehabt, so wäre dieses Mädchen jedenfalls eine große, sogar eine üppige Schönheit gewesen.

Als der Theaterdiener eintrat und die Beiden erblickte, blieb er erschrocken stehen.

»Guten Tag, meine Herren,« stammelte er.

»Guten Tag,« antwortete der Eine. »Wer sind Sie?«

»Ich heiße Werner.«

»Also Derjenige, zu dem wir wollen. Hier, lesen Sie!«

Er gab ihm den Zettel. Werner versuchte, zu lesen, aber die Augen gingen ihm über.

»Zweiunddreißig Gulden,« sagte der Beamte.

»Mein Gott! So viel!« stammelte Werner.

»Ja, es summirt sich.«

»Das hätte ich nicht gedacht.«

»Nicht? Na, mein Bester, Einkommensteuer, Kirchen= und Schulanlagen, städtische Abgaben, da sind bald zweiunddreißig Gulden fertig, wenn man mehrere Termine nicht bezahlt!«

»Wann soll ich denn zahlen?«

»Sofort natürlich!«

»So viel habe ich nicht.«

»Dann müssen wir pfänden.«

»Herrgott! Ich habe doch um Nachsicht gebeten!«

»Ja. Sie waren beim Herrn Oberbürgermeister.«

»Er versprach mir, ein gutes Wort für mich einzulegen.«

»Das hat er auch gethan.«


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»So wird man mich doch nicht auspfänden?«

»Das Fürwort hat nichts geholfen. Es ist in der Rathssitzung über sämmtliche Restanten entschieden worden. Sie beziehen ein festes Gehalt und wissen also ganz genau, wie Sie zu rechnen haben.«

»Aber sehen Sie diese zahlreiche Familie!«

Der Mann zuckte die Achseln.

»Und diese Kranke!«

»Es ist freilich schlimm! Aber wie soll die Stadt bestehen, wenn Niemand die Steuern bezahlt?«

»Man könnte doch Geduld haben.«

»Dann wird die Schuld immer größer. Können Sie später bezahlen?« Werner blickte düster zu Boden und schwieg.

»Sehen Sie, Sie haben keine Antwort. Es ist Ihnen die Entscheidung des Rathes zugegangen. Sie mußten wissen, daß es nur noch Zweierlei gab: Zahlung oder Pfändung.«

»Ich konnte diese Summe nicht zusammenbringen.«

»Dann dürfen Sie sich nur an den Vorsteher des Armenwesens wenden.«

»Gott bewahre mich!«

»Warum denn?«

»Der würde mich in's Armenhaus schicken.«

»Sie haben es hier noch schlimmer wie im Armenhaus. Ist das dort Ihre Frau?«

»Ja.«

»Was fehlt ihr?«

»Sie hat Gesichtskrebs.«

»Donnerwetter! Warum thun Sie sie nicht in eine Klinik?«

»Das kostet Geld.«

»Dann in das städtische Krankenhaus, Abtheilung für Stadtarme.«

»Sie will nicht. Sie fürchtet sich vor dem Armenarzt.«

»Bezahlen Sie denn den Hauszins?«

»Ja,« antwortete Werner unsicher.

»Hm! Duldet denn der Wirth diese Krankheit in seinem Hause? Eigentlich muß die Kranke fort. Ich sage muß, muß! Die Angelegenheit ist der Wohlfahrtspolizei zu melden, welche das Weitere zu verfügen hat.«

»Ich bitte Sie, um Gottes willen, das nicht zu thun, meine Herren!«

»Nun, ich wollte Ihnen nur einige Andeutungen geben, damit Sie Ihre Lage nicht verkennen. Eine solche Krankheit kann nur dann ignorirt werden, wenn Sie Ihre Steuern bezahlen und auch allen Ihren anderen Verpflichtungen pünctlich nachkommen. Anderenfalls aber hat das Armencomitee die Angelegenheit in die Hand zu nehmen. Für heute habe ich Sie zu fragen, ob Sie die hier angegebene Summe bezahlen können.«

»Nein.«

»Dann müssen wir pfänden.«


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Die Kinder verfielen abermals in ein lautes Weinen. Der Vater beruhigte sie durch einige Worte und sagte dann zu den Beamten:

»Meine Herren, nehmen Sie, was Sie nehmen können!«

»Zeigen Sie uns Alles, was Sie haben.«

Dies geschah. Die Beamten hatten ein Herz für die Armuth, welche ihnen hier aus allen Winkeln engegengrinste. Sie hätten wohl Einiges gefunden, welches mitzunehmen war; aber der Eine sagte:

»Wir haben einen schweren Beruf, Herr Werner. Wir müssen unsere Pflicht thun und wollen doch nicht gern den Elenden noch elender machen. Zu sagen, daß sie gar nichts haben, das geht absolut nicht. Etwas müssen wir pfänden; aber was denn?«

Er blickte sich abermals in der Stube um. Dann sagte er:

»Da hängt die alte Wanduhr. Die wollen wir nehmen.«

»0 nein, nein!« bat Werner.

»Warum nicht?«

»Es ist ein Andenken an meine Eltern, das Einzige, was ich noch von ihnen habe.«

»Sie ist nicht zwanzig Kreuzer werth.«

»Das weiß ich; aber dennoch ist sie uns Allen an das Herz gewachsen. Dürfen Sie denn die Uhr pfänden?«

»Das Gesetz sagt, daß jede Familie eine Uhr haben darf. Aber Sie haben ja die Thurmuhr da grad vor dem Fenster.«

»Die sehen wir des Abends nicht.«

»Ich sagte bereits, daß wir unbedingt Etwas pfänden müssen. Sonst kommen Sie in die Gefahr, daß man Sie in das Armenhaus schickt.«

»Welch ein Elend!«

»Na, ich meine es gut mit Ihnen. Geben Sie mir die Uhr mit. Sie wird verauctionirt, und da bietet sicher Niemand darauf. Sie können sie dann leicht erstehen.«

»Muß es denn sein?«

»Wollen Sie in's Armenhaus?«

»Gut, nehmen Sie die Uhr! Ich trenne mich schwer von ihr, aber es muß ja sein.«

»Ich verspreche Ihnen, Sie zu benachrichtigen, wenn die Auction stattfinden wird.«

Er nahm die Uhr von der Wand und entfernte sich dann mit seinem Collegen.

»Wir erstehen sie wieder,« tröstete Werner seine Kinder, denen die Anwesenheit der Uniformen Angst gemacht hatte.

»Es ist gut abgelaufen,« sagte das vorhin beschriebene Mädchen. »Das waren zwei brave Menschen. Ich dachte, sie würden Alles, Alles nehmen!«

»Das geht nicht, liebe Emilie. Es giebt auch zum Schutze der Armuth Gesetze. Nicht Alles darf gepfändet werden.«

»Sie fragten nach Geld. Wie gut, daß wir keins haben.«


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»Du lächelst dabei so trübe. Emilie, wir haben Geld.«

»Geld? Wo denn?«

»Hier.«

Er griff in die Tasche und leerte seinen Beutel. Sämmtliche Glieder der Familie kamen herbei, um sich an diesem Anblicke zu weiden.

»Und hier habt Ihr zu essen.«

Er hatte das Päcktchen, welches die Eßwaaren enthielt, bei seinem Eintritte auf einen neben der Thür stehenden Stuhl gelegt. Jetzt holte er es herbei. Beim Anblicke des Brodes jubelten die Kleinen laut auf. Er nahm das Messer und begann, auszutheilen.

Alle aßen, nur Emilie nicht. Sie hatte sich wieder an ihre Arbeit gesetzt.

»Hast Du keinen Hunger?« fragte er.

»Nein,« antwortete sie.

Er wußte, seit wann sie nichts gegessen hatte; er war überzeugt. daß sie hungere.

»Emilie!« bat er.

Sie hob den feuchten Blick zu ihm auf und sagte halblaut:

»Vater, woher nehmen wir zweiunddreißig Gulden?«

»Denke jetzt nicht daran. Iß lieber!«

»Ich kann nicht, von wem hast Du das Geld?«

»Von Herrn Holm.«

»Er hat es Dir geborgt?«

»Ja.«

»Der Gute! Du warst ihm doch noch schuldig!«

»Er bot mir dennoch das Geld an, anstatt mich zu mahnen.«

»Wie lange wird es reichen! Und dann -!«

Sie wendete sich ab, um zu verbergen, daß einige Tropfen aus ihren Augen niederfielen.

»Gott wird helfen!«

»Meinst Du, daß Gulden vom Himmel fallen? Gott, wenn nur meine Arbeit besser lohnte! Das Armenhaus!«

Sie schüttelte sich.

Da klopfte es an die Thür, und ohne abzuwarten, bis er dazu aufgefordert werde, trat ein langer, hagerer Mann herein. Sein Gesicht war voller Falten, und sein Blick war scharf, spitz und unstät wie derjenige eines Raubvogels.

»Guten Tag!« grüßte er.

»Guten Tag!« antwortete Werner, während Emilie sich abwendete, ohne zu danken.

»Wie geht's? Wie steht's?« fragte der Mann. »Puh, welch ein Geruch! Macht doch noch ein Fenster auf!«

»Es ist zu kalt, Herr Solbrig.«

»Aber der Geruch infiscirt mir die ganze Wohnung!«

»Wir werden räuchern!«


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»Wohl mit Weihrauch und Myrrhen?« fragte Solbrig mit schlecht verhehlter Ironie.

»Nein, sondern mit Wacholderbeeren. Zu Weihrauch und Myrrhen haben wir kein Geld.«

»Nicht? Das bringt mich auf die Ursache, welche mich zu Ihnen führt. Ich stand vorhin oben an meinem Fenster und sah Jemand über den Hof gehen. Es waren zwei Männer. Sie hatten Besuch, Herr Werner?«

»Ja. Die beiden Steueramtsdiener?«

»Was wollten sie?«

»Ich hatte einige Abgaben zu bezahlen.«

»Haben Sie bezahlt?«

Werner hustete verlegen vor sich hin.

»Nicht?« fuhr Solbrig fort. »Ich dachte es, weil sie Ihnen die Uhr genommen hatten.«

»Ich löse sie wieder ein.«

»Schön! Ein solch altes Erbstück läßt man nicht gern fahren. Aber, bester Herr Werner, gestern schrieb mir der Herr Rath. Er fragte mich, ob ich mich denn gar nicht auf meine Pflicht besinne.«

Er hielt inne und blickte Werner lauernd an. Als dieser nichts erwiderte, fuhr er fort:

»Wissen Sie, was er meinte?«

»Nein.«

»Das wundert mich. Sie sollten es doch am allerbesten wissen!«

»Sie meinen die rückständige Miethe?«

»Ja. Der Herr Rath ist Besitzer des Hauses. Ich bin sein Administrator. Ich habe den Hauszins zu cassiren und einzusenden. Von Ihnen erhielt ich seit zwei Vierteljahren nichts. Wissen Sie, was der Herr Rath weiter schreibt?«

»Nein.«

»Er sagt, daß er mir die Administration entziehen werde, wenn ich nicht binnen drei Tagen diese rückständige Miethe einsende.«

»Er wird gescherzt haben!«

»Gescherzt? Wo denken Sie hin! Es ist sein Ernst. Nun sah ich, daß Sie ausgepfändet worden sind. Natürlich mußte ich sogleich zu Ihnen gehen. Sie haben doch den Steueramtsdienern kein Geld gegeben?«

»Nein.«

»Das freut mich, denn da können Sie mich bezahlen. Miethzins geht noch über Einkommens= und städtische Steuer. Ich habe die Quittung gleich mitgebracht. Hier ist sie, lieber Herr Werner!«

Er hielt ihm das Papier hin. Aus den Falten seines Gesichtes glänzte geheuchelte Freundlichkeit hervor. Er wußte sehr gut, daß er kein Geld erhalten werde. Er hatte vom Wirthe keinen Brief erhalten. Er wollte nur den Zweck erreichen, den er bereits seit langer Zeit verfolgte.

»Nun, greifen Sie zu!« sagte er, als Werner zögerte.


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»Ich kann nicht, Herr Solbrig.«

»Warum nicht?«

»Ich kann die Quittung nicht nehmen, weil ich heute nicht bei Gelde bin.«

»Nicht?« fragte der Administrator im Tone des Erstaunens.

»Nein.«

Solbrig blickte ihn forschend an, lachte dann kurz auf, schüttelte den Kopf und sagte:

»Ich dachte nicht, daß Sie so ein Spaßvogel sind!«

»O, ich scherze leider nicht!«

»Papperlapapp! Sie und kein Geld! Das kann doch gar nicht vorkommen! Ich hätte Ihnen sonst ja gar keinen Credit geben dürfen!«

»Dann bedaure ich, daß Sie sich in meinen Verhältnissen so sehr geirrt haben!«

»Sie fahren fort, zu spaßen? Mein bester Herr Werner, Sie beziehen doch Ihr Fixum!«

»Aber was für eins!«

»Diese massigen Trinkgelder!«

»Wirklich massig!«

»Bezahlung der Theaterzettel, Leihgelder für Operngucker!«

»Das beziehen die Logenschließer.«

»Ihr Einkommen ist ein gutes!«

»Bitte, bitte, Herr Solbrig, verhöhnen Sie mich nicht!«

»Verhöhnen? Ich spreche ja in aller Aufrichtigkeit!«

Werner runzelte die Stirn und entgegnete:

»Ich weiß, daß Sie meine Lage kennen. Sie wissen, wie zahlreich meine Familie ist und welche Opfer die Krankheit meiner Frau erfordert.«

Da zog der Administrator die Brauen empor, trat einen Schritt zurück und sagte:

»O weh! Also ist es wahr, was ich gehört habe!«

»Was haben Sie gehört?«

»Daß Sie nichts, gar nichts besitzen!«

»Man hat Ihnen so ziemlich die Wahrheit gesagt. Ich besitze nichts als diese vielen Köpfe, diese wenigen Sachen und ein gutes Gewissen.«

»Aber der Hauszins, der Hauszins!«

»Ich kann nicht anders; ich muß Sie noch für einige Zeit um Nachsicht ersuchen.«

»Das geht nicht. Ich habe Ihnen ja gesagt, was der Herr Rath mir geschrieben hat!«

»Ich bin überzeugt, daß er sich noch gedulden wird, wenn Sie ihm meine Lage richtig vorstellen.«

»Das darf ich gar nicht wagen! Sie haben ja gehört, daß er mir die Administration entziehen wird. Ich habe bereits mehr gethan, als ich verantworten kann. Wüßte er, daß sich eine Krebskranke in seinem Hause be=


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findet, es ginge mir schlecht. Eigentlich muß ich es der Wohlfahrtspolizei melden.«

»Das werden Sie uns doch nicht anthun, Herr Solbrig.«

»Hm! Es ist meine Pflicht! Was habe ich denn davon, wenn ich Nachsicht übe? Nur Schaden!«

»Vielleicht glückt es mir, Ihnen einmal dankbar sein zu können!«

»Sie? Mir?«

»Ja. Ich würde es sehr gern thun.«

»Hm! Wenn ich wüßte, daß dies Ihr Ernst ist -«

»Er ist es.«

»Nun, dann läßt sich diese Angelegenheit vielleicht arrangiren, mein bester Herr Werner.«

»Sie meinen, daß mir der Miethzins noch gestundet würde?«

»Gestundet nicht. Einschicken muß ich ihn. Aber ich könnte Ihnen den Betrag vorschießen.«

»Sie? Mir vorschießen?« entfuhr es Werner.

Er wußte, daß der Administrator ein ausgesprochener Geizhals war. Alle Bewohner des Hauses wußten dasselbe.

»Ja, ich borge Ihnen das Geld, und zwar ohne Zinsen.«

Werner streckte ihm die Hand entgegen und sagte mit einer in freudiger Bewegung erzitternden Stimme:

»Das vergelte Ihnen Gott, Herr Solbrig! Ich werde es Ihnen niemals vergessen!«

»Schon gut!« lächelte der Administrator. »Ich werde auch mit dafür sorgen, daß Ihre Frau in gute ärztliche Behandlung kommt. Das ist ihr so nöthig.«

Diese große Güte kam dem Theaterdiener doch etwas verdächtig vor. Er sah Solbrig fragend an.

»Zweifeln Sie daran?« fragte dieser.

»Ich weiß nicht, womit ich diese Freundlichkeit verdiene.«

»Na, verdient haben Sie dieselbe wohl noch nicht, aber ich denke, daß Sie mir einen Wunsch erfüllen werden.«

»Gern wenn ich kann.«

»Geben Sie mir die Hand darauf!«

Er streckte Werner die Hand entgegen; dieser aber sagte:

»Erst muß ich wissen, ob ich wirklich kann.«

»Sie können!«

»Was ist es?«

»Nun, Sie wissen, daß mir meine Frau gestorben ist -«

»Das war vor drei Jahren.«

»Ich habe bisher als Junggeselle gelebt. Das ist höchst unbequem und unbehaglich.«

»Sie müssen wieder heirathen.«

»Heirathen? O nein. Das ist nicht gerade nothwendig. Aber ich


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will mir eine Person hinnehmen, welche mir die Wirthschaft versorgt und in Ordnung hält.«

»Also eine Wirthschafterin?«

»Ja.«

»Man muß sich sehr bedenken, ehe man seine Wirthschaft einer fremden Person anvertraut!«

»Oh, sie ist nicht fremd.«

»Ah, Sie haben bereits Jemand im Sinne?«

»Ja.«

»Jedenfalls eine Wittfrau, Ihrem Alter angemessen?«

»Was nennen Sie überhaupt alt? Und was hat das Alter mit dieser Angelegenheit zu thun? Wollte ich heirathen, so kämen die Jahre in Betracht. Da ich aber nur eine Haushälterin brauche, so werde ich doch nicht etwa eine alte und gar schwächliche Person auswählen. Nein, die ich meine, ist ein junges Mädchen.«

»Ach so!«

»Ja. Und Ihnen kann das auch lieb sein.«

»Mir? Wieso?«

»Sie haben dann einen Esser weniger.«

Werner machte ein sehr überraschtes Gesicht.

»Sapperlot!« sagte er. »Verstehe ich Sie recht?«

»Jedenfalls. Meine Haushälterin habe ich mir aus Ihrer Familie ausgewählt.«

»So, so! Wer ist es denn?«

»Die Emilie da.«

»Die Emilie! Ihre Haushälterin!« meinte Werner, der diesen Gedanken ebenso sonderbar wie bedenklich fand.

»Ja.«

»Wie kommen Sie denn auf diesen Gedanken?«

»Sehr einfach: Die Emilie ist jung, gesund und arbeitsam. Das ist es gerade, was ich verlange.«

»Das thut mir leid. Ich kann sie nicht entbehren.«

»Warum nicht?«

»Sie muß arbeiten und verdienen.«

»Bei mir würde sie mehr verdienen. Ich gebe ihr einen sehr guten Lohn. Und was sie nebenbei verdient, das ist ja auch ihre.«

»Hm! Sie meinen, daß sie täglich zu gewisser Zeit zu Ihnen komme, also, daß sie Ihre Aufwartung sein solle?«

»Nein. Sie soll bei mir wohnen.«

»Sapperment! Das geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Meine Tochter bei einem ledigen Manne? Wo denken Sie hin!«

»Unsinn! Kein Mensch fragt darnach, ob ich ledig bin oder nicht. Sie


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geben mir die Emilie, ich zahle ihr den Lohn und borge Ihnen die Miethe. Hier meine Hand! Abgemacht! Schlagen Sie ein!«

»Geduld, Geduld! Ich weiß doch gar nicht, was Emilie dazu sagt.«

»Was soll sie dazu sagen? Sie wird natürlich mit der Veränderung ihrer Lage sehr zufrieden sein. Nicht wahr?«

Er richtete diese letztere Frage an Werners Tochter.

Er näherte sich ihr dabei und legte ihr die Hand wie liebkosend auf die Schulter. Sie bewegte schnell die Achsel, um diese Hand von sich abzuwehren, antwortete aber nicht.

»Nun, Emilie?« fragte ihr Vater.

»Ich bleibe bei Dir,« antwortete sie.

»Du willst Dich nicht vermiethen?«

»Nein.«

»Halt! Nicht so schnell!« warnte Solbrig. »Eine so wichtige Angelegenheit will reiflich überlegt sein. Sie werden es bei mir sehr gut haben!«

»Ich danke,« sagte Emilie.

»Ich werde Ihnen Bedenkzeit geben!«

»Ich brauche keine Bedenkzeit. Meine Ansicht kennen Sie bereits, Herr Solbrig. Ich vermiethe mich nicht, wenigstens nicht an Sie!«

Sie sagte ihm das ernst und offen in das Gesicht. Ihr Vater stand dabei und wußte nicht, wie er sich das zu erklären habe. Solbrig aber zeigte ein kaltes, selbstbewußtes und überlegenes Lächeln. Er sagte:

»Sprechen Sie nicht so rasch, Emilie. Ich bin überzeugt, daß Sie doch zu mir ziehen werden.«

»Niemals!«

Da schoß aus seinem Auge ein drohender Blitz auf sie hernieder. Er sagte in warnendem Tone:

»Ich denke, daß Sie sich das überlegen werden.«

»Es ist bereits überlegt!«

»Seien Sie doch vernünftig, liebes Kind!«

Er legte dabei seine Hand vertraulich abermals auf ihre Schulter und fuhr fort:

»Ich biete Ihnen doch einen hohen Lohn. Sie können Ihre Eltern unterstützen und -«

Er sprach nicht weiter. Sie war von ihrem Sitze aufgestanden, hatte sein Hand mit einer sehr energischen Bewegung von sich abgeschüttelt und sich dann in die Kammer geflüchtet, welche neben der Stube lag.

»Sapperment! Ist die resolut!« sagte ihr Vater.

»Viel Geld scheint sie zu haben, da sie meinen Vorschlag zurückweist.«

»Sie hält zu sehr auf ihre Eltern. Sie will uns nicht verlassen. Rechnen Sie ihr das nicht an, Herr Solbrig!«

»Nein, ich rechne ihr das nicht an,« antwortete der Genannte. »Aber rechnen muß ich dennoch!«

Er zog dabei ein so bedenkliches Gesicht, daß Werner fragte:


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»Über was müssen Sie rechnen?«

»Nun, ich hatte Ihnen meine Hilfe angeboten -!«

»Ja. Ich bin Ihnen höchst dankbar dafür und hoffe, daß Sie mir sie nicht entziehen werden.«

Solbrig zuckte die Achseln und meinte:

»Diese Hoffnung ist sehr naiv.«

»Wieso?«

»Sie würden mir das Geld nicht so bald wiedergeben können. Ich hatte gerechnet, daß ich es nach und nach von dem Lohne Ihrer Tochter abziehen könnte. Sicherheit muß man haben, und in diesem Falle wäre ich sicher gewesen!«

»Sie meinen, daß Sie mir jetzt nun den Betrag nicht vorschießen können?« fragte Werner erschrocken.

»Ja, das meine ich allerdings.«

»Herr Solbrig! Das werden Sie nicht thun!«

»Gewiß werde ich es thun. Wäre Emilie auf meinen Vorschlag eingegangen, so hätte ich Ihnen helfen können. So aber ist es mir nicht möglich. Ich hätte mich auch beim Wirthe verantworten können. Erfährt er von der Krankheit Ihrer Frau, so würde er aus Rücksicht für mich Nachsicht haben. Er würde die Mutter meiner Haushälterin nicht fortjagen. Nun aber sehe ich mich gezwungen, meine Pflicht zu thun.«

»Du lieber Gott! Seien Sie doch nur nicht so hart mit uns, Herr Solbrig!«.

»Ich habe Ihnen gezeigt, daß ich ein gutes Herz habe, aber Pflicht geht über Gefühl. Ich muß ihnen kündigen.«

»Herrgott!«

»Ja, und zwar gerichtlich.«

»Das werden Sie mir doch nicht anthun!«

»Ich muß es der Sicherheit halber thun. Ich muß Ihnen wegen des rückständigen Miethzinses, wegen ansteckender und abstoßender Krankheit gerichtlich kündigen. Zugleich muß ich aber auch die Wohlfahrtspolizei auf Ihre Frau aufmerksam machen. Ich werde freilich einen tüchtigen Verweis erhalten, denn ich hätte es bereits längst schon thun sollen.«

Werner erschrak. Es traten ihm die Thränen in die Augen, und als seine Kinder dies bemerkten, weinten sie sofort mit.

»Sie wollen mich ruiniren!« stieß er hervor.

»Nein, Ihre Tochter will Sie ruiniren!«

»Dann kann ich nur gleich in das Wasser gehen!«

»Ihre Tochter würde es zu verantworten haben. Sie nimmt ja die Hilfe nicht an, die ich Ihnen biete!«

»Bitte, warten Sie einen Augenblick! Ich werde einmal mit ihr sprechen!«

»Ja, thun Sie das. Vielleicht nimmt sie Verstand an.«


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Werner ging in die Kammer. Dort saß Emilie auf dem Rande eines ärmlichen Bettes, den Kopf in die Hand gestützt.

»Ist er fort?« fragte sie.

»Nein. Er hat mir gedroht, daß er gerichtlich kündigen will. Ich habe nie daran gedacht, Dich zu vermiethen, aber wenn Du seinen Vorschlag angenommen hättest, so wäre uns geholfen gewesen.«

»Ich kann nicht.«

»Warum nicht.«

»Ich soll nicht seine Haushälterin sein.«

»Was denn sonst?«

Sie erröthete tief und antwortete stockend:

»Das kannst Du Dir doch denken!«

»Ah! So! Hast Du denn auch einen triftigen Grund, dies zu vermuthen?«

»Nicht nur einen, sondern viele Gründe habe ich.«

»Kann ich sie erfahren?«

»Ich brauche gar nichts Einzelnes zu sagen. Ich habe noch nie davon gesprochen; aber er hat es auf mich abgesehen. Er lauert mir auf, er geht mir nach, er macht mir Anträge -«

»Anträge? Wie? Doch nicht etwa schlechte?«

»Er hat es sogar gewagt, mir Geld zu bieten.«

»Wirklich?«

»Bereits einige Male.«

»Dann thust Du recht, daß Du nicht zu ihm ziehst. Lieber will ich zu Grunde gehen. Der liebe Gott wird helfen.«

Er kehrte nach der Stube zurück.

»Nun?« fragte Solbrig, indem seine siegessichere Miene zeigte, welche Antwort er erwarte.

»Sie will nicht.«

»Sapperment! Wirklich nicht?«

»Um keinen Preis!«

»Aber Ihr Wort muß doch auch Etwas gelten! Sie sind doch der Vater, und sie hat zu gehorchen.«

»In diesem Falle wäre es sehr unvernünftig von mir, ihr einen Zwang anzuthun.«

»Unvernünftig? Warum?«

»Weil ich ihr Recht geben muß.«

»Ah so!« dehnte Solbrig. »Vorhin noch schienen Sie ja zu wünschen, daß sie auf meinen Vorschlag eingehe!«

»Vorhin wußte ich noch nicht, was ich jetzt weiß.«

»Nun, was wissen Sie denn jetzt?«

»Das brauche ich Ihnen doch nicht erst zu erklären. Meine Tochter ist ein braves Mädchen. Sie verkauft sich nicht.«


- 1288 -


»Sapperlot, nehmen Sie auf einmal eine stolze Sprache an! Sie vergessen wohl ganz, daß Sie soeben erst ausgepfändet worden sind?«

»Das kann auch dem bravsten Manne passiren, wenn er arm ist und Unglück hat.«

»Und daß Sie den Miethzins schuldig sind?«

»Ich werde ihn seiner Zeit bezahlen.«

Haben Sie Geld ? »Seiner Zeit? Diese Zeit kenne ich nicht. Ich kenne nur die Zeit, welche im Contracte stipulirt ist, und diese Zeit ist bereits verstrichen. Machen wir die Sache kurz. Haben Sie Geld?«

»Nein.«

»Gut. Ich gehe sofort auf das Amt, um Ihnen gerichtlich kündigen zu lassen, und dann melde ich auf der Polizei, daß Ihre Frau fort muß, weil sie an einer abscheulichen Krankheit leidet. Haben Sie Etwas dagegen?«

»Was ich davon denke oder dazu sagen könnte, das wissen Sie genau. Thun Sie, was Sie dereinst vor Gott verantworten können.«

»Gehen Sie mit diesen frommen Redensarten! Zunächst habe ich zu thun, was ich vor dem Besitzer dieses Hauses verantworten kann. Also, Sie geben Ihre Tochter nicht als Wirthschafterin zu mir?«

»Nein.«

»Dann hole Sie der Teufel!«

Er stürmte hinaus und warf die Thür laut hinter sich in das Schloß. Er war so im Zorne, daß er draußen gar nicht Acht hatte und mit einem Manne zusammenrannte, welcher soeben zur Treppe heraufkam.

»Tölpel!« schnauzte er diesen an.

»Rüpel!« antwortete der Andere.

»Grobian!«

»Flegel!«

»Esel!« brüllte er noch zurück, als er bereits auf der untersten Stufe angekommen war.

»Schafskopf!« schallte es von der obersten Stufe herab.

Und Der, welcher dieses Schmeichelwort ausgesprochen hatte, brummte für sich weiter:

»Famoses Haus! Vier Treppen hoch steigen, den Athem verlieren, sich anrempeln lassen und dann auch noch Tölpel, Grobian und Esel geschimpft werden, das ist wirklich Alles, was Einem zugetraut werden kann!«

In seinem Ärger vergaß er, anzuklopfen. Er öffnete die Thür und erblickte in Mitten der zahlreichen Familie den Vater und Emilie in einer herzlichen Umarmung. Die Tochter weinte und sagte sodann in tröstendem Tone:

»Ich konnte nicht, lieber Vater. Es war unmöglich.«

»Und ich hätte es nicht zugegeben, selbst wenn Du es gewollt hättest. Die Folgen müssen wir abwarten.«

»Ich vertraue auf den lieben Gott!«

»Das ist das Einzige und zugleich das Beste, was wir thun können, denn - ah, Monsieur Jean!«


- 1289 -


Er hatte den an der Thür Stehenden erblickt. Es war der Diener des Intendanten.

»Ein familiäres tête à tête!« sagte dieser. »Thut mir leid, daß ich Sie störe!«

»Entschuldigung! Treten Sie näher!«

»Puh, puh!« pustete Jean, indem er das Taschentuch hervorzog und an die Nase hielt. »Was für ein Parfüm ist das? Wonach duftet denn Ihr Zimmer? Ah, dort! Wer ist dieses menschliche Wesen?«

»Meine Frau.«

»Was fehlt ihr? Warum hat sie den Kopf verhüllt?«

Der Intendant durfte auf keinen Fall erfahren, daß die Frau seines Theaterdieners am Krebse leide. Was aber sollte Werner antworten? Es mußte glaubhaft sein und den im Zimmer wahrnehmbaren üblen Geruch erklären. Es wollte ihm nichts Anderes einfallen; er sagte:

»Sie leidet augenblicklich am Ohrenzwang.«

»Aber warum stinkt sie so?«

»Der Arzt hat verordnet, sie mit asa foëdita einzureiben.«

»Pfui Teufel! Asa foëdita ist doch Teufelsdreck?«

»Ja.«

»Habe auch noch nicht gehört, daß Teufelsdreck in die Ohren gerieben wird, ist aber immerhin noch besser als in die Nase! Will machen, daß ich fortkomme! Der Herr Intendant wünscht, Sie augenblicklich bei sich zu sehen. Adieu, Werner, wünsche baldige Besserung und dann angenehmere Einreibung! Asa foëdita, Teufelsdreck, verflucht miserable Ohrencur!«

Er zog sich schleunigst zurück und turnte sich die vier Treppen hinab. Unten im Hofe stand - Solbrig. Er hatte sich über den Menschen geärgert, mit welchem er zusammengerannt war und der es gewagt hatte, ihm, dem Hausverwalter, in so kräftiger Weise zu antworten. Er sagte sich, daß der Betreffende bald wieder herabkommen werde; darum wartete er.

Als Jean jetzt erschien, machte selbst die betreßte Livree desselben keinen mildernden Eindruck auf den Grimm des Wartenden. Dieser warf vielmehr dem Lakaien einen wüthenden Blick entgegen und sagte, aber aus Vorsicht wie zu sich selbst:

»Impertinent!«

Jean errieth sofort, daß er den Menschen vor sich habe, mit dem er carambolirt war, und antwortete:

»Gemein!«

»Ungezogen!« meinte Solbrig, als Jean eben an ihm vorüberging.

»Jungenhaft!« entgegnete der Letztere.

»Hundsföttisch!« grollte der Hausverwalter, jetzt mit sehr vernehmbarer Stimme.

Da drehte Jean sich unter dem Hofthore um und antwortete in dem verächtlichsten Tone, der ihm möglich war:

»Asafoeditadreckig!«


- 1290 -


Dann ging er stolzen Schrittes weiter.

Daß er von seinem Herrn zu dem Theaterdiener gesandt worden war, das hatte nämlich einen eigenthümlichen Grund. Der Regisseur war bei dem Intendanten erschienen und hatte ihm gemeldet, daß die Ida Bellmann ganz plötzlich krank geworden sei. Der Intendant hatte den Kopf geschüttelt und gesagt:

»Und um mir diese an sich bereits ganz interesselose Meldung zu machen, kommen Sie selbst zu mir!«

»Interesselos, Herr Intendant?«

»Nun ja! Diese Ida Bellmann ist doch nur Statistin! Ihr Unwohlsein berührt uns gar nicht und vermag noch viel weniger, uns in Verlegenheit zu bringen.«

»Ich gestatte mir ganz im Gegentheile zu gestehen, daß es mich in die größte Verlegenheit bringt!«

»Das begreife ich nicht.«

»Gnädiger Herr vergessen, daß heute abend das Zauberstück "Der Stern des Harems" gegeben wird!«

»Das habe ich nicht vergessen. Was hat dieses Stück mit der Ida Bellmann zu thun?«

»Sehr viel sogar. Die Bellmann hat in diesem Stücke eine sehr bedeutende Rolle.«

»Die Bellmann, eine Statistin eine bedeutende Rolle?«

»Ja. Sie giebt die Lieblingsfrau des Sultans.«

Erst jetzt schien der Intendant sich der Einzelheiten des Stückes zu entsinnen. Er richtete sich in seinem Stuhle empor und sagte:

»Die Lieblingsfrau des Sultans? Ah, ich erinnere mich!«

»Sie hat allerdings nicht zu sprechen und auch sonst nicht activ in den Gang der Handlung einzugreifen, aber sie ist trotzdem eine Hauptperson des Stückes, weil -«

»Weil sie schön sein muß!« fiel der Intendant ein.

»Ja. Und leider muß diese Schönheit eine solche sein, wie sie der Orientale liebt.«

»Das heißt, schwellend, kräftig, üppig. Sie liegt in der dunklen Ottomane, fast ganz entblößt, nur stellenweise von einem halbdurchsichtigen Schleier bedeckt. Hm, ein reizendes Bild! Die Bellmann paßt außerordentlich gut dazu.«

»Hat aber in letzter Zeit auch abgenommen, Herr Intendant. Ich glaube, sie zehrt an einer unglücklichen Neigung; ihre Formen haben an Fülle verloren. Nun dieses unerwartete Unwohlsein!«

»Ist's denn so schlimm, daß sie partout nicht kann?«

»Freilich!«

»Was hat sie denn?«

»Zahnschmerzen.«

»Ah pah! Wegen ein wenig Zahnschmerz braucht sie doch nicht wegzubleiben! Das Publicum guckt ihr nicht in den Mund!«


- 1291 -


»Entschuldigung, Herr Intendant! Das Publicum guckt ihr allerdings nicht in den Mund, aber doch in das Gesicht.«

»Nun, ist dasselbe denn entstellt?«

»Die Backe ist so geschwollen, als wenn man ihr einen halben Kürbis in das Gesicht geklebt hätte.«

»0 weh!«

»Ich habe mich überzeugt; ich war bei ihr.«

»Nun, so tritt eine Andere an ihre Stelle.«

»Aber wer?«

»Hm! Wir haben doch Statistinnen genug!«

»Doch keine Einzige, welche die erforderlichen Formen besitzt. Das Publicum kennt das Stück. Tausend Augen werden an der Lieblingssultanin hängen. Wir können die Rolle keinem schwindsüchtigen Frauenzimmer geben.«

»Dann ist guter Rath allerdings theuer. Was sagt der Director? Waren Sie bei ihm?«

»Ja. Er wußte, wie immer, sofort Rath.«

»Nun, da ist ja geholfen! Warum schickt er Sie noch zu mir?«

»Weil es Ihrer Erlaubniß und vielleicht auch Ihres Machtspruches bedarf.«

»Wieso?«

»Es ist uns bereits einmal ähnlich ergangen. Erinnern der Herr Intendant sich vielleicht an das Effectstück "Die Macht der Schönheit"?«

»Freilich, freilich! Ein Prachtstück! Es hat uns damals Geld eingebracht.«

»Damals erkrankte die Bellmann ebenso!«

»Richtig, richtig! Ah, ich verstehe! Ich wurde da auf die Werner aufmerksam gemacht.«

»Emilie Werner, die Tochter des Theaterdieners.«

»Ja. Sie war allerdings prächtig, entzückend. So ein Bild überwältigender Weiblichkeit hatte man allerdings noch nicht auf unseren Brettern gesehen!«

Der Intendant war infolge der Erinnerung in Begeisterung gerathen. Der Regisseur fuhr fort:

»Aus diesem Grunde meinte der Herr Director -«

»Daß man die Werner jetzt abermals herbeiziehen müsse?«

»Ja.«

»Gut! Gehen Sie zu Werner und melden Sie es ihm!«

Der Regisseur zuckte bedenklich die Achsel und meinte:

»Ich erinnere mich, daß Werner damals betheuerte, seine Tochter niemals wieder zur Verfügung zu stellen. Auch der Herr Director wußte das und rieth mir, zu Ihnen zu gehen, da es vielleicht nöthig sein werde, eine Art von Zwang auszuüben.«

»Sie denken, daß Werner sich weigern werde?«

»Ja.«


- 1292 -


»Das wäre lächerlich!«

»Ist ihm aber zuzutrauen. Es selbst wird eine Weigerung keineswegs lächerlich finden.«

»Wollen sehen. Ich werde ihn jetzt kommen lassen.«

»So bitte ich ergebenst, mir das Mädchen zur Probe zu senden.«

»Sie haben doch heute Vormittag geprobt?«

»Aber ohne sie. Sie muß doch Attidute nehmen.«

»Wann soll sie kommen?«

»So bald sie kann.«

»Werde es besorgen. Adieu!«

Der Regisseur ging. Eben wollte der Intendant seinem Diener klingeln, als derselbe eintrat.

»Habe Besuch zu melden, Herr Intendant«. sagte er.

»Wen?«

»Der Herr Bruder ist soeben angekommen.«

Man sah es dem Theaterleiter an, daß er sich über diese Botschaft freute.

»Wo ist er?« fragte er.

»Da der Regisseur bei Ihnen war, habe ich den Herrn Bruder in das Gastzimmer geführt. Er wird aber sofort erscheinen.«

»Schön! Weißt Du, wo der Theaterdiener Werner wohnt?«

»Straße und Hausnummer weiß ich, wenn ich auch noch nicht dort gewesen bin.«

»Gehe zu ihm! Er soll sofort zu mir kommen. Natürlich aber hat er zu warten, falls mein Bruder sich bei mir befinden sollte.«

Jean ging. Bald darauf ließen sich draußen dröhnende Schritte hören, und dann trat ein Mann ein, welchem man den Kunstreiter von Weitem ansehen konnte. Er besaß Ähnlichkeit mit dem Intendanten, war aber bei Weitem jünger und kräftiger als dieser. Er trug Frack, weiße Reithosen, hohe Sporenstiefel und die unvermeidlichen Stulpenhandschuhe.

Die Brüder begrüßten sich herzlich. Auf einem Seitenbuffet stand Wein. Der Intendant füllte zwei Gläser, welche geleert wurden, und sagte dann:

»Du überraschest mich in freudiger Weise, zumal Du mir Deine Ankunft nicht gemeldet hast. Willst Du hier arbeiten?«

»Nein. Ich darf Dir nicht in das Gehege kommen.«

»Das ist sehr vernünftig von Dir gedacht. Vielleicht bist Du mit Deiner Truppe auf der Durchreise?«

Ich habe einen Circus erworben. »Ja. Wir wollen in Rollenburg Vorstellungen geben. Hast Du gehört, daß ich einen Circus erworben habe?«

»Ja. Nun endlich bist Du Director geworden! Wie lange bleibst Du hier?«

»Nur bis morgen. Meine Truppe ist noch nicht eine eng geschlossene, also ist meine Gegenwart sehr nöthig.«

»Hast Du gute Kräfte?«

»Ich bin sehr zufrieden.«


- 1293 -


»Höhere Reitkunst? Pferdedressur?«

»Von Allem Etwas. Besonders vorzügliche Clowns habe ich; sogar eine Riesendame.«

»Wie? Was? Mit Riesendamen giebt Du Dich ab?«

»Warum nicht?«

»Ist das nicht ordinär?«

»Ganz und gar nicht. Das Publicum ist ein vielköpfiges Wesen, und jeder Kopf will befriedigt sein. Ein tüchtiger Restaurateur muß Austern und Caviar für Feinschmecker und Schnaps und Käse für den Tagelöhner haben. So muß auch ich für alle Geschmacksrichtungen sorgen. Übrigens ist meine Riesin wirklich sehenswerth.«

»Wie heißt sie?«

»Aurora.«

»Ein sehr morgenröthlicher Name! Wie heißt sie aber denn eigentlich?«

»Aurora ist ihr wirklicher Name. Vollständig aber heißt sie Aurora Bormann.«

»Sapperment! Ist sie etwa mit dem sogenannten Riesen Bormann verwandt?«

»Ja. Er ist ihr Bruder. Ein zweiter Bruder ist auch Künstler; Seiltänzer und Kraftmensch, glaube ich. Diese Bormanns gehören eigentlich in frühere Jahrhunderte zurück, in welchen die Riesen sich noch Berge an die Köpfe warfen und Flüsse austranken. Diese Aurora arbeitet sehr gut. Sie hat mir fast ebensoviel Geld eingebracht wie meine Tau=ma.«

»Tau=ma? Was ist das?«

»Das weißt Du nicht?«

»Nein.«

Der Kunstreiter goß sich ein Glas voll Wein ein, trank es langsam aus und sagte dann:

»Bruder, Du dauerst mich!«

»Warum denn?«

»Du willst ein Stern am Himmel der Kunst sein und weißt doch nicht einmal, welche Künste es giebt?«

»Pah! Ich habe dieses fremde Wort noch nie gehört.«

»Ich weiß auch nicht, welcher Sprache es entstammt.«

»Was aber hat man darunter zu verstehen?«

Der Kunstreiter erhob sich, nahm die Stellung eines Ausrufers an und antwortete:

»Meine Herrrrrschaften, immerrrr herrrran, herrrran! Hierrrr ist zu sehen Tau=ma, das grrrößte Wunderrrr derrrr Welt, eine junge, bildschöne Dame, welche nurrr aus dem Oberrrkörrrrperrrr besteht und wederrrr Unterrrleib noch Beine besitzt!«

»Pst! Pst! Nicht so laut!« warnte der Intendant. »Wir befinden uns nicht auf einem Jahrmarkte oder Vogelschießen! Natürlich ist die Sache Schwindel?«


- 1294 -


»Schwindel? Wie meinst Du das?«

»Nun, diese Dame existirt überhaupt nicht?«

»Oho! Sie existirt!«

»Mit Oberleib?«

»Mit Oberleib!« nickte der Bruder.

»Und ohne Unterleib und Beine?«

»Ohne, ganz ohne.«

»So ist's ein Bild oder ein Torso, gemalt oder von Holz, Gips oder sonst einem Stoffe?«

»Nein. Die Tau=ma ist lebendig.«

»Unsinn!«

»Ich sage Dir, daß sie lebt!«

»Sie sieht und hört?«

»Ja.«

»Und spricht?«

»Natürlich!«

»Ißt und trinkt?«

»Sogar mit großem Appetite, wenn sie nämlich Etwas hat!«

»Dann ist sie allerdings das größte Wunder der Welt.«

»Ja, das ist sie. Sie hat mir mehr Geld eingebracht, als alle meine dressirten Pferde und Hunde!«

»Aber wie kann sie leben ohne Unterleib?«

»Das ist ja eben das Wunder!«

»Wie kann sie essen und trinken?«

»Das gehört ja zum Leben! Sie kann doch nicht verhungern und verdursten!«

»Aber wenn sie ißt und trinkt, muß sie doch auch verdauen?«

»Das thut sie auch?«

»Womit denn? Sie hat doch keinen Magen?«

»Oho! Der Oberleib reicht bis dahin, wo die Taille in die Hüften übergeht.«

»Das Übrige fehlt?«

»Ja.«

»So hat sie aber doch weder Gedärme, noch Milz, Niere und sonstiges Eingeweide?«

»Ja, das ist freilich schrecklich!« lachte der Kunstreiter.

»Wie also kann sie verdauen?«

»Nun, den ersten Theil der Verdauung, so weit es den Oberkörper betrifft, kann man beobachten. Man sieht sie essen, trinken, kauen und verschlingen. Den zweiten Theil aber macht sie privatim ab.«

»Unbegreiflich!«

»Das sagen alle Zuschauer, obgleich ich es einem Jedem erlaube, sie zu begreifen.«


- 1295 -


»Wie? Man darf sie untersuchen, sich nicht bloß mit den Augen, sondern auch mit den Händen überzeugen, daß der Unterkörper wirklich fehlt?«

»Gewiß!«

»Ja, Bruder, wenn Du wirklich im Besitze dieses Wunders bist, so wirst Du Millionär. Wo hast Du dieses Wesen gefunden?«

»Es ist zu mir gekommen. Ich habe riesige Einnahmen erzielt. Dann wurde die Tau=ma stolz und anspruchsvoll. Sie wollte gar mit mir theilen, und als ich mich weigerte, darauf einzugehen, ist sie mir durchgebrannt, bei Nacht und Nebel davongelaufen.«

»Gelaufen?«

»Buchstäblich davongelaufen, da keine Fahrgelegenheit vorhanden war.«

»Hole Dich der Teufel! Ich denke, sie hat keinen Unterleib?«

»Der fehlt allerdings vollständig.«

»Und dennoch ist sie davongelaufen?«

»Ja, über alle Berge!«

»Aber zum Laufen muß man doch Beine haben?«

»Das brauchst Du gar nicht zu erwähnen; das weiß ja jedes Kind, mein bester Bruder!«

»Jetzt werfe ich Dich zur Thüre hinaus, trotzdem Du mir willkommen bist! Wenn Deine Tau=ma davongelaufen ist, so muß sie doch Beine gehabt haben!«

»Natürlich hat sie die!«

»Und vorhin hatte sie keine?«

»Nicht eine Spur davon!«

»So wachsen sie ihr wohl?«

»Ja. Beine hat sie, und Beine hat sie nicht. Zwischen diesen beiden Thatsachen liegt immer nur die Zeit von wenigen Minuten oder gar nur Secunden. Wie ich sage, ist sie mir ausgerissen. Nun muß ich sie durch eine neue, durch eine andere Tau=ma ersetzen.«

»Du meinst, daß es mehr solche Wesen giebt?«

»Millionen!«

Der Intendant war wirklich verblüfft. Er sperrte den Mund auf und blickte seinen Bruder starr an. Dieser lachte laut auf und fragte:

»Dir will wohl der Verstand durchbrennen, gerade wie mir mein größtes Wunder der Welt?«

»Fast möchte ich Ja sagen.«

»Nun, halte ihn nur fest, sonst kannst Du dieses Wunder nicht begreifen, trotzdem ich bereit bin, es Dir zu erklären.«

»Ich weiß in Wahrheit nicht, woran ich bin. Wenn diese Tau=ma in Wirklichkeit existirt und nicht bloß in Deiner Phantasie, so bist Du der beneidenswertheste Mann, den es nur geben kann. Das Geld muß Dir nur so zufließen. Ist sie denn sonst wohlgebildet?«

»Ich sage ja, daß sie eine Schönheit ist!«

»Wie aber steht es mit dem Geist, dem Verstand?«


- 1296 -


»Vollständig befriedigend! Sie schreibt Alles, liest Alles und giebt auf jede Frage die rechte Antwort.«

»Ohne alle Beihilfe?«

»Ohne Beihilfe, denn sie ist ein geistig sehr gut veranlagtes und ausgebildetes Wesen.«

Da schüttelte der Intendant den Kopf und sagte:

»Jetzt nun steht er still!«

»Wer? Dein Verstand?«

»Ja.«

»Na, ich will ihm zu Hilfe kommen. Ich gestehe, daß bei der Geschichte ein Wenig Raffinerie vorhanden ist.«

»Ah, also doch ein Schwindel?«

»Das nicht. Es darf sich ja ein Jeder überzeugen, daß der Unterleib fehlt. Freilich scheinen alle diese Leute nicht zu wissen, wo man den Unterleib zu suchen hat.«

»Nun, wo denn anders als unterhalb des Oberleibes?«

»Da ist er aber nicht.«

»Doch nicht etwa oberhalb des Kopfes!«

»Nein.«

»Oder auf dem Rücken!«

»Auch nicht. Nämlich die Tau=ma sitzt - oder vielmehr sitzen kann sie ja nicht, da der Unterleib fehlt - sie steht auf einer Schaukel.«

»Mit der Taille?«

»Ja. Schneide einen Menschen in der Mitte des Körpers durch und setze die obere Hälfte auf die Schaukel. So, ganz so ist es.«

»Hm! Jetzt errathe ich, wie es ist.«

»Nun, wie?«

»Die Schaukel ist vingirt?«

»0 nein. Die Schaukel hängt wirklich an der Decke. Jeder Zuschauer kann sie betrachten und befühlen.«

»Und sie bewegt sich auch?«

»Ja. Sie hängt still, oder sie bewegt sich, ganz wie es vom Publikum verlangt wird.«

»Und dieser Oberleib bewegt sich mit? Das heißt, er schaukelt hin und her?«

»Natürlich! Jeder Zuschauer kann unter die Schaukel sehen oder greifen, um sich zu überzeugen, daß wirklich nur der Oberleib vorhanden ist.«

»Der Unterleib fehlt unter der Schaukel?«

»Ja.«

»Nicht menschenmöglich!«

»O, Ihr klugen, gelehrten Leute, wie seid Ihr doch so dumm, so dumm! Es ist allerdings nicht Das dabei, was man Schwindel nennen könnte, aber eine Täuschung ist vorhanden, und zwar eine optische.«

»Das möchte ich bestreiten.«

»Warum?«


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