Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Vierter Band


Lieferung 62.

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»Also hätte außer Ihnen nur Doctor Zander zu der Patientin gekonnt, nämlich an jenem Abende?«

»Ja.«

»Und das Schloß der Zellenthür war unbeschädigt?«

»Vollständig. Man hatte mit dem Schlüssel geöffnet.«

»Nun, zum Teufel, so weiß man ja, woran man ist!«

»Wirklich? Woran denn?«

»Wenn Sie die Patientin nicht selbst fortgeschafft haben, so hat es eben Doctor Zander gethan.«

Der Arzt zeigte sich nicht etwa frappirt von diesen Worten, sondern er nickte im Gegentheile leise vor sich hin und sagte dann in vorsichtig gedämpftem Tone:

»Was Sie da sagen, ist einigermaßen plausibel.«

»Finden Sie das auch?«

»Ja!«

»Haben Sie diesen Gedanken noch nicht gehabt?«

»Er ist mir gleich ganz anfangs gekommen.«

»Nun, warum haben Sie die Idee nicht weiter verfolgt?«

»Ich habe sie verfolgt.«

»In welcher Weise?«

»Indem ich meinen Assistenzarzt einer unausgesetzten und scharfen Beobachtung unterworfen habe. Es hat sich aber nicht der leiseste Hauch an ihm entdecken lassen, daß er der Schuldige ist. Übrigens müßte er ja ein Interesse an dem Verschwinden Ihrer Frau Gemahlin haben, und das ist sicher nicht der Fall.«

»Kann man das beschwören?«

»Er kannte sie nicht; er war erst seit Kurzem da. Wollte er sich eingehender als gewöhnlich mit ihr beschäftigen, so wäre dies jedenfalls nur in der Absicht, sie zu heilen geschehen.«

»Hat er nicht vielleicht Bekannte, für die er den Streich hätte unternehmen können?«

»Nein. Er verkehrt nur mit den beiden Lieutenants von Randau und von Hagenau.«

»Die haben mit der Sache sicher nichts zu thun!«

»Das denke ich auch. Übrigens hat Niemand so wie er sich Mühe gegeben, eine Spur zu entdecken.«

»Das überzeugt nicht; das könnte auch Verstellung sein.«

»Auffällig war mir allerdings auch der Umstand, daß Niemand außer ihm und mir des Nachts im Stande war, das Hausthor und die Pforte zu öffnen. Die dazu vorhandenen Hauptschlüssel hat kein Anderer. Und sodann erfuhr ich, daß er an jenem Abende abwesend gewesen war.«

»Sapperment! Das ist von Bedeutung! Man sollte ihn ins Gebet nehmen, Herr Director.«


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»Er würde, selbst für den Fall, daß er der Schuldige ist, nichts gestehen, wie sich ja voraussehen läßt.«

»Man müßte ihn überraschen.«

»Hm! Ja. Aber wie?«

»Indem man ihm mit einer Frage wie mit einer Pistole auf das Leder rückt.«

»Das ist zu gewagt.«

»Warum?«

»Weil er es sehr übel nehmen würde.«

»Was mache ich mir daraus, wenn mir dieser kleine Doctor Etwas übelnimmt!«

»Also, Sie selbst wollten die betreffende Frage stellen?«

»Wenn es nicht anders sein kann, ja. Besser freilich wäre es, Sie könnten es übernehmen.«

»Danke sehr! Ich thue es nicht.«

»Fürchten Sie sich vor ihm?«

»Fällt mir nicht ein. Aber er wäre im Stande, mir zu kündigen und ich sage Ihnen, daß ich ihn nicht einbüßen möchte.«

»O, haben Sie keine Sorge! Er wird sehr froh sein, bei Ihnen Anstellung zu haben. Diese jungen Ärzte dürfen noch keine gar so große Ansprüche machen.«

»Hm! Er ist ein höchst brauchbarer College!«

»Das mag sein.«

»Er würde wohl bald anderweit Beschäftigung erhalten.«

»Und Sie noch viel eher einen andern Assistenten! Also, wollen wir diese Überrumpelung versuchen?«

»Es ist eine heikle Angelegenheit!« meinte Mars zögernd.

»Aber vielleicht die einzige Art und Weise, zum Ziele zu gelangen. Entschließen Sie sich!«

»Na, meinetwegen! Ihnen zu Gefallen!«

»Aber Sie müssen dabei sein!«

»Natürlich!«

»Wo ist Zander?«

»Wir werden ihn, wenn er nicht in den Zellen ist, jedenfalls in seiner Wohnung finden. Aber ich bitte, ihn unter allen Umständen zu schonen!«

»Schonen? Unter allen Umständen? Auch in dem Falle, daß er uns meine Frau entführt hat?«

»Ja.«

»Warum?«

»Weil ich - na, aufrichtig gestanden, weil ich es mit ihm doch nicht ganz verderben kann.«

»Welche Befürchtungen haben Sie denn?«

»Nun, es ist eine eigenthümliche Sache um so eine Privatirrenheilanstalt. Es kommen da so viele und so verschiedene - wie sage ich doch gleich -


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familiäre Rücksichtlichkeiten zur Geltung, daß Niemand so sehr verschwiegen sein muß wie ein Privatirrenarzt.«

»Ach so! Und Doctor Zander hat ihnen trotz der kurzen Zeit, welche er hier ist, bereits in die Karten geguckt?«

»Ja.«

»Und Sie haben das Ausplaudern zu befürchten?«

»Gewiß. Denken Sie an Ihren eigenen Fall. Wie nun, wenn Zander öffentlich behauptete, Sie hätten Ihre Frau absichtlich wahnsinnig gemacht?«

»Das wäre allerdings verteufelt fatal, besonders in dem Falle, daß er seine Behauptung beweisen könnte.«

»Hm! Was das betrifft, so ist er ein ausgezeichneter Chemiker, welcher gar nicht leicht zu täuschen sein würde.«

»Na so wollen wir also so vorsichtig sein, wie es die Umstände uns erlauben. Kommen Sie!«

Sie erfuhren von den Wärtern, daß Doctor Zander seinen gewöhnlichen Umgang beendet habe, und begaben sich also in seine Privatwohnung. Er empfing den Director mit achtungsvoller Freundlichkeit, den Baron aber mit einer höflich kalten Verbeugung.

»Bitte, wollen die Herren Platz nehmen!« sagte er.

»Das wird nicht nothwendig sein,« antwortete der Baron. »Wir gehen gleich wieder, nachdem wir eine ganz kurze Frage an Sie gerichtet haben, Herr Doctor.«

»Hoffentlich kann ich sie zur Genüge beantworten.«

»Ich bin überzeugt davon.«

»Dann bitte!«

Da legte der Baron ihm in pfiffiger Vertraulichkeit die Hand auf die Achsel und sagte:

»Spaß beiseite, Herr Baron, wo haben Sie meine Frau einstweilen hingebracht?«

Zander trat sofort einen Schritt zurück. Seine Miene drückte nicht den mindesten Schreck, sondern nur Erstaunen aus.

»Habe ich Sie recht verstanden?« fragte er.

»Jedenfalls.«

»Sie wollen wissen, wohin ich Ihre Frau geschafft habe?«

»Ja.«

»Herr Doctor Mars hat natürlich gewußt, daß Sie die Frage an mich richten wollen?«

»Gewiß.«

»Nun, dann haben Sie die Güte, hier in meinem Zimmer und unter meinen Effecten nachzusehen, wo ich die Vermißte versteckt habe. Ich will Ihnen dabei die nöthige Freiheit lassen, indem ich mich einstweilen entferne.«

Und ehe sie ihn aufhalten konnten, war er zur Thür hinaus. »Abgeblitzt!« meinte der Baron.

»Dachte es mir!«


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»Nun wissen wir gerade soviel wie vorher!«

»Er ist unschuldig.«

»Vielleicht nur ein Schlaukopf, der auf eine so überraschende Frage seither gefaßt gewesen ist.«

»Ich werde von ihm um Genugthuung angegangen werden. Das ist das Einzige, was ich davon habe.«

»Pah! Sagen Sie ihm, daß es sich um ein Mißverständniß handle; so giebt er sich zufrieden.«

»Schwerlich. Er würde von mir verlangen, ihm dieses Mißverständniß des Näheren auseinander zu setzen.«

»Nun, so sagen Sie ihm meinetwegen ganz aufrichtig, daß ich ihn in Verdacht gehabt habe, und daß Sie nur in mein Verfahren gewilligt hätten, um ihm Gelegenheit zu geben, mich gehörig ablaufen zu lassen. Das ist das Beste.«

»Ja, das ist die einzige Art und Weise, meinen Kopf ohne Blamage aus der Schlinge zu ziehen.«

»Wohin wird er sein?«

»Jedenfalls hinab in den Garten, um seinen Ärger im Freien auszuathmen.«

»Warten wir, bis er zurückgekehrt ist.«

Sie begaben sich wieder nach der Wohnung des Directors, wo sie bei einer Flasche Wein den Gegenstand weiter besprachen. Da trat einer der Zellenwärter ein und überreichte dem Arzte ein Couvert.

»Von wem?«

»Von Herrn Doctor Zander.«

»Wo ist er?«

»Zum Thore hinaus.«

»Warten.«

Er öffnete das Couvert. Es enthielt eine Karte, auf welcher folgende Zeilen zu lesen waren:

»Geehrter Herr!

Nachdem Sie in eine Beleidigung willigten, die eben so unverzeihlich wie lächerlich ist, sehe ich ein, daß mir von Ihrer Seite keineswegs das Vertrauen entgegengebracht wird, ohne welches mein Wirken in Ihrer Anstalt nur schädlich anstatt heilsam sein muß. Ich halte es also für das Beste, Ihnen schnellstens Gelegenheit zu geben, sich einen anderen Assistenten zu engagiren, welcher würdiger ist, an Ihrer Seite zum Wohle der Ihnen anvertrauten Unglücklichen zu wirken. Da ich in dem vorliegenden Falle eine Kündigung nicht für nöthig halte, reise ich sofort ab und werde meine Effecten, welche schnell gepackt sind, abholen lassen
 Alfred Zander, Dr. med.«

Der Irrenarzt erschrak auf das Heftigste.

»Wie lange ist er fort?« fragte er den Wärter.

»Seit fünf Minuten.«


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»Eile ihm nach, daß Du ihn noch erwischest! Ich lasse ihn ersuchen, doch freundlichst zu mir zu kommen.«

Der Mann entfernte sich schnell.

»Sie sehen ja ganz erschrocken aus!« meinte der Baron.

»Ich bin auch wirklich erschrocken!«

»Was schreibt er denn?«

»Er ist fort!«

»Nicht doch!«

»Ja. Da, lesen Sie!«

Der Baron überflog die Zeilen und sagte dann:

»Ein resoluter Kerl! Der hat Rasse!«

»Und ich habe das Nachsehen!«

»Es wird nicht so ernstlich gemeint sein. Er wird sich von Ihrem Boten finden lassen und gern bleiben, wenn Sie eine Kleinigkeit zu seinem Gehalte legen. Die Mehrausgabe will ich tragen, da ich einmal die Schuld auf mich nehme.«

»Täuschen Sie sich nicht! Dieser Zander hat Grundsätze. Zudem ist er so vermögend, daß er sogar sehr fein von seinen Zinsen leben kann. Er braucht also keine Anstellung.«

»Fatal! Doch warten wir es ab!«

Der Bote hatte aber Zander nicht getroffen, denn derselbe hatte, ahnend, daß man ihm Jemand nachsenden werde, seine Schritte so beschleunigt, daß er gar nicht einzuholen gewesen war, zumal der Zellenwärter gar nicht gewußt hatte, welche Richtung er einschlagen solle.

Zunächst begab Zander sich in ein Café, wo er gewohnt war, ungefähr um diese Tageszeit seine beiden Freunde, die Lieutenants von Hagenau und von Randau, zu treffen. Besonders hatte er sich dem Letzteren eng angeschlossen, und darum freute er sich, ihn bereits an seinem Tische vorzufinden.

Das Zimmer hatte eine sehr hervorspringende Ecke, an welcher der Ofen stand. An der anderen Ecke, also hinter dem Ofen, befand sich der Tisch, an welchem die drei Bekannten ihren Morgentrunk zu sich zu nehmen pflegten. Saßen sie einmal da, so waren sie von den anderen Tischen aus gar nicht zu sehen.

»So früh schon da?« fragte Randau, dem jungen Arzte die Hand entgegenstreckend.

»Und Sie noch früher!«

»Ich habe heute nicht Dienst; darum war ich ein Wenig überpünktlich, mein Lieber.«

Die Kellnerin kannte bereits den Geschmack des Doctors. Sie brachte ihm, nachdem er geklingelt hatte, die bereit gehaltene Portion und kehrte dann in die Küche zurück, wo sie beschäftigt war.

»Sie kommen mir heute ein Wenig verändert vor, mein bester Doctor,« bemerkte der Lieutenant.

»In wiefern?«


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»So feierlich oder vielmehr so entschieden, als ob Sie irgend etwas Wohlüberlegtes im Schilde führten.«

»Das ist auch in Wirklichkeit der Fall.«

»Also errathen! Darf man neugierig sein? Oder ist es Berufsgeheimniß?«

»O, Sie können es immerhin wissen. Ich beabsichtige nämlich, mich in der Residenz zu etabliren.«

»Was Sie sagen! Sie sind ja hier kaum angetreten!«

»So fällt mir das Abtreten um so leichter.«

»Haben Sie sich mit Mars überworfen?«

»So ungefähr. Wir waren in einer wichtigen Angelegenheit so verschiedener Ansicht, daß ich es für das beste hielt, in Zukunft solche Gegensätze zu vermeiden.«

»Wann reisen Sie ab?«

»Noch heute.«

»Sapperlot! Das geht ja ungeheuer schnell!«

»Ich kündige gar nicht erst.«

»Nun, ich kann sehr zufrieden mit Ihrem Fortgehen sein. Ich werde Ihnen nachfolgen.«

»Das wäre mir außerordentlich lieb. Aber der Dienst hält Sie. Sie sind nicht in dem Besitze einer so glücklichen und freien Selbstbestimmung wie ich.«

»O, ich bin um meine Versetzung eingekommen und weiß aus bester Hand, daß man dies Gesuch gern berücksichtigen und meine Translocation möglichst beschleunigen wird.«

»Gratulire!«

»Danke!«

»Es gefiel Ihnen natürlich in dieser Provinzialstadt nicht.«

»Hm! Was das betrifft, so ließ es sich ja immerhin hier ziemlich leben; aber seit jener Affaire bei der Melitta, wissen Sie, ist mir Rollenburg verleidet. Ich mußte und muß auch noch als Zeuge dienen, leider gegen Kameraden. Das hat meiner hiesigen Stellung eine einigermaßen schiefe Richtung gegeben. Ich will fort.«

»Bin doch neugierig, welches Resultat die Untersuchung ergeben wird. Man scheint sich Zeit nehmen zu wollen.«

»Sehr leicht erklärlich, da ja Herren des Officiercorps verwickelt sind. Eine verteufelt fatale Angelegenheit!«

Der Doctor wollte eine Bemerkung machen, hielt dieselbe aber zurück, weil vorn die Thür geöfffnet wurde und dabei auch sogleich eine laute Stimme erklang.

»Keine Seele anwesend. Das ist schön! Da können Sie mir die lustige Geschichte erzählen, Herr Director.«

Zander glaubte wirklich in diesem Augenblicke, daß sein Director, Doctor Mars, mit eingetreten sei; er winkte also dem Lieutenant Schweigen zu.

»Ja, lustig war's,« antwortete eine zweite Stimme. »So eine richtige


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Mädchenentführung, zwar nicht mit Gewalt, sondern durch List, aber doch eine Entführung. Jetzt hängt das dumme Ding, das sich gewehrt hat wie ein Teufel, bereits in der Dressur. Ja wirklich, kein Mensch da. Klingle einmal, Dicker!«

Die Glocke erscholl, und die beiden Eingetretenen, welche vorn Platz genommen hatten, ließen sich Wein geben.

Doctor Zander hatte nun zwar an der Stimme gehört, daß es nicht Mars sei, der Director genannt worden war. Doch ließen die gehörten Worte so deutlich auf etwas Verdächtiges oder wohl gar Gesetzwidriges schließen, daß die beiden Freunde durch leises Zunicken sich verständigten, ihre Anwesenheit nicht merken zu lassen.

Das Mädchen kam und brachte den Wein. Als sie sich wieder entfernt hatte, sagte die zweite Stimme:

»Hat sie die Thür fest zugemacht, Dicker?«

»Ja, Herr Director.«

»Schön. Was ich erzähle, braucht Niemand zu hören. Man wäre im Stande, mich zur Verantwortung zu ziehen!«

»Also prosit, und dann los! Ich bin neugierig, auf welche Weise Sie zu diesem prachtvollen Mädchen gekommen sind.«

»Hat Sie Dir also gefallen?«

»Ausgezeichnet! Verdammt appetitlich! Wäre ich nicht so ein alter Kerl, so müßte dieser Bissen mein werden. Das Wasser ist mir im Munde zusammengelaufen.«

»Ja, das hat noch Kraft und Kern. Das greift sich noch gesund und fest an. So etwas findet man beim Comödiantenvolke nicht.«

»Also aus einer Privatfamilie?«

»Ja, ihr Vater war Theaterdiener in der Residenz.«

»Und sie ist nicht Schauspielerin?«

»Nein.«

»Aber wie haben Sie es angefangen, sie als Tau=ma zu engagiren? Oder hatte sie sofort eingewilligt?«

»Als Tau=ma? Närrischer Kerl! Da wäre ich wohl schlecht angekommen. Als Cassirerin habe ich sie engagirt.«

»Als Cassirerin? Sapperment! Und ich bin Cassirer!«

»Habe keine Sorge! Du bleibst im Amte.«

»Aber was wird sie dazu sagen?«

»Nichts. Es wird eben gar nicht gelitten, daß sie Etwas sagt. Höre, wie ich es angefangen habe!«

Er erzählte von seinem Besuche bei seinem Bruder, von seinem Gange mit diesem in das Theater, von der Weigerung Emiliens, sich in Tricots sehen zu lassen, von seiner Unterredung mit ihr und ihrem Vater im Büdchen und von dem endlichen Engagement. Als er erwähnt hatte, daß sich Beide, sowohl der Vater wie auch die Tochter, unterschrieben hätten, sagte der Cassirer:

»Ah, da sitzt sie also fest!«


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»Ganz und gar. Sie kann nicht wieder fort.«

»Die Quittung gilt ja als Wechsel, weil das Wort Wechsel darin vorkommt. So steht es im Gesetz.«

»Freilich. Fügt sie sich nicht, so ist das eine gute Waffe. Diese Weibsen haben vor dem Worte Wechsel eine heillose Angst, obgleich es gar nicht so gefährlich ist.«

»Wie ging es unterwegs?«

»Sehr gut. Der Himmel hing ihr voller Pauken, Trompeten und Geigen; das war ihr anzusehen. Als wir dann hier ankamen, hatte der Geschäftsführer bereits Logis und Stallungen besorgt und empfing mich am Bahnhofe.«

»Er sagte mir, daß er nicht kleine Augen gemacht habe, als er das Mädchen erblickte.«

»Ja, das ist wahr. So eine Acquisition hatte er freilich nicht erwartet. Nun gab es aber ein großes Bedenken. Nämlich es durfte Niemand das Mädchen sehen.«

»Natürlich! Wer sie dann als Tau=ma ohne Unterleib erblickte, der ahnt sofort den Schwindel.«

»Da war es vortrefflich, daß der Geschäftsführer das kleine, leere Haus draußen vor der Stadt gemiethet hatte. Es wohnt kein Mensch darin. Dahin haben wir sie gebracht. Und dort wird sie versteckt bleiben bis zu ihrem ersten Auftreten. Kein Mensch kennt sie dann.«

»Wieviel Zeit wird bis dahin vergehen?«

»Hm! Eine Woche wenigstens.«

»Warum so lange?«

»Mensch, das mußt Du doch einsehen! Sie schämt sich jetzt beinahe, wenn man nur ihre Hände ansieht, bloß weil diese nicht bedeckt sind. Wenn sie auftritt, muß sie aber oben ganz entblößt gehen. Man muß ihr Schamgefühl abstumpfen oder ganz todt machen.«

»Das geht am Schnellsten mit der Peitsche.«

»Allerdings. Aber Du darfst nicht vergessen, daß ich sie nicht eher produciren kann, als bis sie es gern thut. Sonst braucht sie ja nur das Publikum um Hilfe anzurufen, und ich kann dann nur gleich zusammenpacken.«

»Ja, eine verdammt kitzliche Sache.«

»Ich hoffe, es fertig zu bringen.«

»Wann fangen wir denn an?«

»Habe schon angefangen.«

»Sapperlot! In welcher Weise denn?«

»Gestern Abend, gleich nachdem ich sie in das Quartier gebracht hatte. Die Andern, welche auch dort wohnen, waren mit dabei und haben nach Kräften geholfen. Zuerst sagte ich ihr, daß sie sich den Cassirerposten aus dem Sinn schlagen müsse, weil ich schon einen Cassirer habe.«

»Was sagte sie dazu?«


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»Sie war ganz starr vor Erstaunen. Dann sagte ich ihr, daß sie meine Tau=ma sein werde. Sie kannte das Wort nicht und fragte nach der Bedeutung desselben. Als ich es ihr erklärte, da ging es los.«

»Was?«

»Zunächst die Vorwürfe; dann das Jammern und Klagen. Sie wollte augenblicklich fort. Ich ließ sie natürlich festhalten. Sie schrie um Hilfe. Da pfiff ich ihr mit der Peitsche so ein paar scharfe Schnelzer über, daß sie vor Schmerz ordentlich in die Luft ging. Von da an weinte sie nur noch leise vor sich hin.«

»Ja, probates Mittel!«

»So eine Person verkennt ihr eigenes Glück. Sie drohte freilich selbst nachher noch mit dem Gesetz und der Polizei; aber ich machte sie auf die Bedeutung ihrer Unterschrift aufmerksam. Ich drohte, ihren Eltern Strumpf und Stiel abzupfänden, wenn sie nicht fügsam sei. Da endlich wurde sie still.«

»Da hat sie schnell Verstand angenommen!«

»Juble nicht zu früh! Ich holte die Tau=ma=Schaukel her und zeigte ihr, wie es gemacht wird. Aber da ging es von Neuem los. Sie erklärte, sie werde lieber sterben, als Arme, Hals und Brust nackt sehen zu lassen.«

»Wie dumm!«

»Na, ich habe es ihr sofort bewiesen, daß sie nicht daran stirbt, wenn sie nackend ist.«

»Wieso?«

»Ihre Kleider mußten herunter.«

»Hat sie es gelitten?«

»Pah! Ich half mit der Peitsche nach!«

»Hat sie nicht geschrieen?«

»Ja; aber dem machte ich schnell ein Ende. Ich ließ ihr einen Knebel in den Mund schieben. Dann haben wir sie an einen Balken gebunden und die ganze Nacht stehen lassen, hüben und drüben ein Laterne.«

»Ohne Kleider?«

»Das versteht sich. Man glaubt gar nicht, wie rasch sich diese dumme Schaam verliert, wenn die Kleider einmal weg sind. Sie wird es schon lernen.«

»Aber in dieser Kälte?«

»Desto besser. Das merkt sie sich und wird also gehorchen.«

»War denn Jemand bei ihr?«

»Das ganze Chor. Es war ja in der Bodenkammer, in welcher sie Alle schlafen.«

»Auch die Mannspersonen waren dabei?«

»Ja freilich.«

»Alle Teufel! Was wird das Mädel gedacht haben!«

»Sie stand an ihrem Balken wie todt. Sie hatte die Augen zu und sagte kein Wort, regte und rührte sich auch nicht. Erst heute Morgen zeigte sie Leben, als sie eine Tasse Kaffee angeboten bekam.«


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»Den trank sie?«

»Ja.«

»Hat sie Etwas gesagt?«

»Bis jetzt kein einziges Wort.«

»Ist sie denn immer noch angebunden?«

»Ja. Ich lasse sie nicht eher los, als bis sie mir heilig und theuer verspricht, unbedingt zu gehorchen.«

»Und doch sind Sie keineswegs sicher!«

»Wieso?«

»Sie kann sich verstellen und dann beim öffentlichen Auftreten die Dummheit begehen, um Hilfe zu rufen.«

»Dagegen giebt es zwei Mittel.«

»Welche?«

»Ich stelle zwei Personen unsichtbar hinter die Coulissen, welche, sobald sie sich nur muxt, den Vorhang fallen lassen und ihr sofort die Gurgel zuschnüren müssen. Dem Publicum wird irgend Etwas weiß gemacht.«

»Und das andere Mittel?«

»Das erstere Mittel bestand aus Strenge, das zweite aber besteht in Liebe. Sie hat jetzt Zeit, sich unter unseren Leuten umzusehen. Es sind hübsche Kerls dabei. Der Geschäftsführer zum Beispiel ist ein Bild von einem Burschen. Geschick haben die Hallunken auch, und so dauert es sicher kaum drei oder vier Tage, so hat sie sich in den Einen oder den Anderen vergafft. Na, und wenn sie dann einmal weiß, wie angenehm die Liebe ist, und daß bei uns derselben nichts in den Weg gelegt wird, dann adieu Schamgefühl und Widerstand.«

»Das läßt sich hören. Und geben Sie ihr Gelegenheit, ihren Eltern zuweilen einige Gulden schicken zu können, so müßte es mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht von ganzem Herzen gern bei uns bliebe!«

»So ist es! Jetzt nun will ich hinaus, um die Dressur fortzusetzen. Gehst Du mit?«

»Hm! Warum nicht? Bekomme ich sie zu sehen?«

»Natürlich.«

»Im Evahabit?«

»Ja. Sie muß sich daran gewöhnen, sich ansehen zu lassen.«

»Da bin ich neugierig. Trinken wir also aus!«

Der Director klingelte, und die Kellnerin erschien. Er bezahlte und wendete sich mit dem Cassirer bereits dem Ausgange zu, als er eine Hand auf seiner Achsel fühlte.

»Bitte, auf ein Wort, meine Herren!«

Beide drehten sich schnell um. Vor ihnen stand Doctor Zander, welcher diese Worte gesagt hatte, und neben ihm der Lieutenant von Randau. Sie erschraken außerordentlich, denn nun erkannten sie, daß sie nicht allein gewesen seien, sondern belauscht worden waren.

»Darf ich fragen, wen ich die Ehre habe -?« meinte der junge


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Arzt, indem auf seinem Gesichte sich ein höchst unternehmendes Lächeln bemerken ließ.

Der Director faßte sich schnell und antwortete:

»Ich bin der Director Baumgarten vom Circus Réal.«

»Und dieser Herr?«

»Mein Cassirer.«

Wollen Sie die Freundlichkeit haben, noch einige Augenblicke zu verweilen? »Danke! Wollen Sie die Freundlichkeit haben, noch einige Augenblicke zu verweilen? Bitte nehmen Sie Platz!«

Er zeigte nach dem Tische, welcher hinter dem Ofen stand. Unterdessen raunte der Lieutenant, von den Beiden unbemerkt, der Kellnerin zu:

»Schnell, Polizei holen!«

Im Nu war das Mädchen verschwunden.

»Wir standen im Begriff, aufzubrechen,« warf der Director jetzt abwehrend ein.

»O, vielleicht haben Sie doch einige Minuten für uns übrig. Ihr interessantes Gespräch -«

»Sie haben es gehört?« fragte der Director schnell.

»Ja. Wir saßen dort am Tische und wollten Sie nicht stören. Also, Ihr interessantes Gespräch läßt uns annehmen, daß Ihr Circus überhaupt viel Interessantes bietet, und da haben wir den Wunsch, uns ein Wenig zu orientiren.«

Dem Cassirer merkte man an, daß er noch gern geblieben wäre. Er mochte meinen, einen guten Gratistrunk thun zu können. Aber dem Director kam das Lächeln des Arztes nicht recht geheuer vor. Er antwortete:

»Bitte, bitte, ein anderes Mal, meine Herren!«

»Ist uns leider unmöglich, da wir die Stadt verlassen. Also, nehmen Sie immerhin gefälligst Platz!«

Er nahm den Director am Arme, um ihn nach dem Tische zu führen, erhielt aber die Weigerung:

»Ich muß allen Ernstes bemerken, daß wir keine Zeit mehr haben, meine Herren.«

»Und ich muß bemerken, daß wir Sie nicht fortlassen werden. Wir sind nun einmal darauf versessen, Ihre nähere Bekanntschaft zu machen.«

»Wollen Sie uns pressen wie englische Matrosen?«

»Nötigenfalls, ja!« lachte Zander gemüthlich.

»Da protestire ich denn doch allen Ernstes! Es ist doch wohl nicht gesellschaftliche Sitte, einen Menschen mit Gewalt zum Bleiben zu nöthigen.«

»O, in gewissen Kreisen der Gesellschaft wird dies sogar sehr oft und mit Erfolg angewendet. Besonders hier in Rollenburg, wo gar Mancher gegen seinen Willen zu einem ungewöhnlich langen und äußerst unangenehmen Verweilen gezwungen gewesen ist.«

»Mein Herr, Sie führen eine eigenthümliche Sprache!«

»Weil Sie eine so eigenthümliche Geschichte erzählten.«

»Was geht Sie meine Erzählung an! Lassen Sie uns fort!«


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»Nein, Sie bleiben!« sagte Zander in seinem ernsthaftesten Tone.

»Oho! Wer sind Sie!«

»Mein Name ist Zander; ich bin Arzt. Die Uniform dieses anderen Herrn sagt Ihnen, was er ist.«

»Was Sie sind, das ist mir sehr gleichgiltig. Ich brauche weder einen Arzt noch einen Exerciermeister. Machen Sie Platz, sonst bin ich gezwungen, nachzuhelfen!«

»Nicht so hitzig, Herr Director! Sie befinden sich weder in der Manege noch bei der Dressur eines armen, schwachen und wehrlosen Frauenzimmers!«

»Donnerwetter! Was soll das heißen? Etwa gar eine Drohung? Was kümmern Sie sich um meine Angelegenheiten? Sehen Sie erst mich an und dann sich! Sie werden erkennen, daß ich keinen Grund habe, mich zu fürchten!«

Er fuchtelte mit seiner Reitpeitsche vor sich herum und wendete sich nach Thür. Dort aber hatte der Lieutenant nach ein paar schnellen Schritten Posto gefaßt.

»Sie werden bleiben, Herr Baumgarten!« befahl er in kurzem, gebieterischem Tone.

»Fällt mir nicht ein! Platz gemacht!«

»Nun, da Sie uns nicht zu verstehen scheinen, erkläre ich Ihnen, daß wir Sie mit Arretur belegen!«

»Arretiren! Uns arretiren?«

»Ja, wie Sie sehen!«

»O, ich sehe noch gar nichts! Ich sehe nur, daß da die Thüre ist, und daß Sie uns im Wege sind. Weg mit Ihnen!«

»Halt! Keinen Schritt weiter. Sie sind unser Gefangener! Etwaigem Widerstande werde ich mit blanker Waffe zu begegnen wissen. Ich spreche im Ernste!«

Er hatte dabei den Degen gezogen und hielt die Klinge wirklich zum Stoße bereit.

»Himmeldonnerwetter! Das ist mir noch nicht begegnet, in meinem ganzen Leben noch nicht!« rief der Director.

»Mir auch nicht!« stimmte der Cassirer bei.

»Nun, so machen Sie eben heute diese Erfahrung zum ersten Male,« bemerkte Zander. »Vielleicht lassen Sie es sich zur Warnung dienen und recognosciren die Orte, an welchen Sie von Ihren Geschäftsgeheimnissen sprechen, vorher genau.«

Noch war der kräftig, ja stämmig gebaute Director unentschlossen, ob er sich fügen oder Widerstand leisten solle. Er sah ein, wieviel von ihm davon abhänge, seine neue Tau=ma verbergen oder doch wenigstens ihre nackte Gestalt in die Kleidung bringen zu können; aber - da wurde es auch schon zum Handeln zu spät, denn es öffnete sich die Thür, um zwei Stadtgensd'armen einzulassen, welche, als sie den Offizier erblickten, ihr Honneur machten.


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»Bringen Sie augenblicklich diese beiden Männer in Gewahrsam!« befahl der Lieutenant.

»Oho! So schnell geht das denn doch nicht!« rief der Director. »Hat man etwa gesehen, daß wir uns etwas Gesetzwidriges zu Schulden kommen ließen?«

»Haben Sie keine Sorge! Wir werden es bald sehen!«

»Ich lasse mich nicht eher arretiren, als bis man mir beweisen kann, daß es nothwendig ist!«

»Darf ich gehorsamst fragen, was diesen beiden Leuten vorgeworfen wird?« fragte der eine Gensd'arm.

»Wir haben keine Zeit zu langer Auseinandersetzung,« antwortete der Lieutenant. »Sie arretiren diese Männer auf meine Verantwortung, bringen sie auf die Polizeiwache und sorgen dafür, daß sie nicht entfliehen!«

»Das soll Ihnen denn doch schwer werden!« rief der Director.

Er trat blitzschnell auf den Lieutenant zu und faßte ihn bei der Brust, um sich den Weg zu bahnen. Aber er hatte sich in dem jungen Offizier getäuscht, denn dieser versetzte ihm ebenso schnell einen solchen Fausthieb unter das Kinn, daß er nach hinten und zur Erde flog.

»Widerstand, wie Sie sehen,« sagte er zu den Polizisten. »Jetzt verlange ich, daß beide gefesselt werden.«

Diesem Befehle wurde augenblicklich Gehorsam geleistet, wie sehr sich auch die Gefangenen sträubten. Noch ehe sie abgeführt wurden, verließen Randau und Zander mit einander das Café, um nach der Polizei vorauszueilen. Dort bedurfte es nur weniger Worte, um einen Polizeisergeanten mit der nöthigen Mannschaft zu erhalten. Dann wurde schnell aufgebrochen.

»Kennen Sie denn das betreffende Haus?« fragte der Arzt den Lieutenant.

»Ja. Es liegt am Ende der Stadt und war eine Garnbleiche. Es ist zu luftig, als daß es perennirend bewohnt werden könnte.«

»Kann man uns von Weitem bemerken?«

»Warum?«

»In diesem Falle steht ja zu befürchten, daß man, bevor wir wirklich ankommen, Vorsichtsmaßregeln treffen werde.«

»Das wird nicht geschehen. Wir müssen zwischen Gärten hindurch, und das Haus selbst liegt auch in einem Garten.«

Sie schlichen sich wie Plänkler während eines Gefechtes vorwärts, um ja nicht bemerkt zu werden. In der Nähe des betreffenden Gebäudes angekommen, scholl ihnen ein lautes Lachen und Schreien, ein wüster Lärm entgegen.

»Nicht zögern, sondern so schnell wie möglich eintreten!« meinte der Lieutenant, »damit Niemand vorzeitig gewarnt werde!«

Einige Augenblicke später standen sie im Innern des Parterres, welches einen einzigen großen Raum bildete.

Da sah es bunt genug aus. Altes Geröll von hunderterlei Namen und Bedeutung, wie es bei fahrenden Künstlern vorkommt, bedeckte den Boden oder


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war an den Mauern aufgestapelt. Dazwischen krochen schreiende, pfeifende und lachende Kinder, ungekämmt und ungewaschen und mit zerrissenen Flicken und Fetzen bedeckt. Männer und Frauen, Burschen und Mädchen waren da, in allerlei, oft räthselhafter Weise beschäftigt. Es war ein Chaos von Sachen und Personen.

Kaum wurden die Eingedrungenen erblickt, so rief ein geistesgegenwärtiger Bursche mit lauter Stimme:

»Die Polizei! Schnell losbinden, schnell!«

Und zu gleicher Zeit nahm er an der morschen Treppe Platz, welche nach oben führte. Zander sah ein, daß es sehr nothwendig sei, Zeugen zu haben, welche das arme Mädchen in gefesseltem Zustande gesehen hatten. Darum stieß er dem Menschen die Faust in die Magengrube, daß er ächzend zur Seite flog, und sprang rasch die Treppe empor. Der Lieutenant folgte auf dem Fuße, hinter ihm die Polizisten. Nur zwei der Letzteren blieben unten, um mit blankem Seitengewehr die überraschten Künstler am Entfliehen zu verhindern.

Oben angekommen, erblickte man einen weiten, öden Raum, dessen Wände nur aus dünnen Brettern bestanden, welche so schlecht zusammengefügt waren, daß der Wind und der Schnee den Durchgang fand.

Auch hier lag eine Menge Zeug umher, wie es von dieser Sorte Menschen gebraucht wird. Einige Weiber hockten auf altem Stroh, und zwei halb erwachsene Burschen waren damit beschäftigt, in aller Eile die Stricke zu lösen, mit denen die völlig unbekleidete Gestalt von Emilie Werner an einen der senkrechten Balken befestigt war.

Nur einen kurzen Blick warfen Beide, der Offizier und der Arzt, auf das unglückliche Mädchen; dann drehten sie sich um, und der Erstere sagte zu den Polizisten:

»Hier, mein Mantel! Werfen Sie ihn ihr über! Was wir als Zeugen wissen müssen, das haben wir gesehen. Wenn sie angekleidet ist, so bringen Sie die junge Dame nach dem Hotel Schweizerhaus, wo wir unterdessen alles für sie Nöthige bestellen werde.«

Sie gingen.

»Gräßlich!« knirschte Randau vor sich hin. »Sind das Menschen, oder sind es Teufel!«

»Beides! Denken Sie an Das, was wir bei der Melitta erlebten. Wie viel Elend und Jammer mag sich doch hinter dem Flittertand verstecken, in welchen diese sogenannten Künstler der Wahrheit hohnlachen! Kommen Sie! Mir wird ganz unwohl, wenn ich daran denke!«

Sie begaben sich zunächst nach dem angegebenen Hotel, welches an ihrem Wege lag, und sodann nach der Polizei, um da Bericht zu erstatten und ihre Anzeige und Aussage zu Protocoll zu geben.

Dann kehrten sie wieder in das Hotel zurück, wo sie erfuhren, daß man die junge Dame in einer Droschke gebracht und in ein geheiztes Zimmer geführt habe.


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»War ein Arzt da?«

»Nein. Wir wußten, daß Sie wiederkommen würden.«

Er ließ sich die Nummer des Zimmers nennen und ging, um nach der Geretteten zu sehen. Es dauerte eine ziemlich lange Zeit, ehe er zurückkehrte.

»Nun?« fragte der Lieutenant. »Ist Besorgniß nöthig?«

»Sie lieg im Weinkrampf und giebt keine Antworten. Das so schwer verletzte Schamgefühl tritt in Reaction. Ich habe Schlaf und Schwitzmittel verordnet. Man muß der Erkältung begegnen und dann abwarten, bis das empörte Gemüth sich beruhigt hat. Jedenfalls gehe ich nicht eher fort, als bis das arme Kind transportfähig ist, und dann bringe ich es selbst zu seinen Eltern zurück.«

Im Laufe des Nachmittags wurde seitens der Polizei angefragt, ob es möglich sei, Fräulein Werner zu vernehmen. Der Arzt verneinte diese Frage und konnte erst am anderen Morgen die Erlaubniß dazu ertheilen.

Die Vernehmung wurde aus Rücksicht auf Emilie im Hotel vorgenommen. Bei dieser Gelegenheit erfuhr sie, daß der Director mit allen Mitgliedern, deren Mitschuld sich herausgestellt hatte, sich in Untersuchungshaft befinde.

Sie gab ihre Aussage zu Protocoll und erhielt dann von Seiten des Einzelrichters die Versicherung, daß das an ihr begangene Verbrechen die allerstrengste Ahndung erfahren werde.

Als der Beamte sich entfernt hatte, bat Doctor Zander, sie nach der Residenz begleiten zu dürfen, ein Anerbieten, welches ihr natürlich in hohem Grade willkommen war.

Auf dem Bahnhof angekommen, fanden sie, daß sie noch genugsam Zeit hatten. Bevor der Zug abging, mußte erst der aus der Residenz kommende erwartet werden. Und als dieser dann eintraf, und die Passagiere den Wagen entstiegen, bemerkte der Arzt unter den Ausgestiegenen zu seiner Überraschung - den Fürsten von Befour und den Reporter Doctor Max Holm.

Er eilte sofort auf die Beiden zu, indem er seine Begleiterin einstweilen stehen ließ.

»Durchlaucht hier in Rollenburg?« fragte er. »Handelt es sich vielleicht abermals um die Rettung irgend eines armen, sich in schlimmer Lage befindenden Menschenkindes?«

Diese Frage war im Scherz ausgesprochen; aber der Fürst antwortete in einem sehr ernsten Tone:

»Sie haben es errathen, lieber Doctor.«

»Ah! Wirklich?«

»Ja.«

»Nun, ich dachte an die arme Wally Petermann. Aber aus Ihrem Tone höre ich, daß es sich wirklich um etwas Ernstes handelt. Dieses Rollenburg scheint bestimmt zu sein, als Schauplatz von Rettungsepisoden zu dienen. Auch ich bin der Held einer solchen gewesen.«

»Eben bei jener Wally Petermann, ja.«

»Oh nein! Bei dieser Angelegenheit war meine Rolle eine sehr unter=


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geordnete. Es handelt sich hier um einen ganz anderen Fall; aber, eigenthümlich, die betreffende Person ist abermals ein Mädchen aus der Residenz.«

»Die sich in ähnlicher Lage befand?«

»Ähnlich, wenn auch nicht ganz so. Sie war einem Circusdirector in die Hände gerathen und -«

»Meinen Sie etwa gar Emilie Werner?« wurde er schnell von Holm unterbrochen.

»Ja. Kennen Sie das Mädchen?«

»Ja. Was ist mit ihr? Sagen Sie schnell, schnell!«

»Nun, haben Sie keine Sorge! Sie ist gerettet. Dort neben der Thüre steht sie.«

Holm wendete sich nach der angegebenen Richtung und sagte:

»Wirklich, das ist sie. Aber was ist mit ihr geschehen?«

»Sie wurde scheinbar als Cassirerin engagirt -«

»Ich weiß das,« fiel Holm ein. »Ihr Vater erzählte es mir.«

»Sollte aber gezwungen werden, sich als Tau=ma vor dem Publikum zu produciren.«

»Herrgott! Weiter, weiter!«

Der Arzt erzählte in kurzen Worten, was geschehen war. Als er geendet hatte, sagte der Fürst:

»Das ist wirklich gräßlich! Welch ein Glück, daß Sie zufällig jene Unterredung belauschten. Das Interessanteste aber ist, daß wir Beide wegen einer Schwester von ihr nach Rollenburg kommen. Sie wollen mit dem nächsten Zuge mit ihr zurück?«

»Ja. Er geht in einer Viertelstunde ab.«

»Können Sie nicht noch um einen Zug länger warten?«

»Wenn Sie es wünschen, Durchlaucht, ja.«

»Ich will Ihnen den Grund jetzt noch nicht angeben, denn, wenn es sich um ein gutes Werk handelt, soll man keine Minute verlieren. Bitte, bleiben Sie hier im Wartezimmer. Wir fahren dann mit einander nach der Residenz.«

Er verließ mit Doctor Holm den Bahnhof und begab sich direct nach der Gefangenenanstalt, wo er sich zum Director melden ließ. Natürlich wurden Beide sofort von dem Beamten vorgelassen.

»Sie haben unter Ihren weiblichen Gefangenen eine gewisse Laura Werner?« fragte der Fürst.

»Allerdings, Durchlaucht!«

»Wie hat sie sich geführt?«

»Ausgezeichnet, so daß ich selbst ihr wiederholt gerathen habe, ein Gesuch um Begnadigung an Seine Majestät abgehen zu lassen. Eigenthümlicher Weise aber ist sie nicht darauf eingegangen. Und das ist das Einzige, was ich an ihr zu rügen habe.«

»Zu rügen?«


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»Ja. Sie behauptet nämlich, daß sie nicht ihre Begnadigung, sondern ihr Recht zu verlangen habe.«

»Und das rügen Sie?«

»Natürlich. Sie ist nämlich bis heute ungeständig. Sie hält an der Fabel fest, welche sie bereits während ihrer Untersuchung vorgebracht hat. Ihr Vater, welcher sie besuchte, glaubte an das Märchen, ich aber ebenso wenig wie ihre einstigen Richter. Doch will ich zu ihrer Entschuldigung gelten lassen, daß sie nicht aus Verhärtung und Bosheit, sondern nur aus falscher Scham leugnet.«

»Und doch befinden Sie sich im Irrthume, Herr Regierungsrath. Sie leugnet weder aus Scham, noch aus Bosheit. Sie leugnet überhaupt gar nicht.«

»Ah! Wie soll ich das verstehen, Durchlaucht?«

»Nun, leugnen kann man doch nur das, was man wirklich gethan hat. Sie aber ist unschuldig.«

»Wie? Was?« fragte der Beamte erstaunt.

»Ja, vollständig unschuldig. Es ist ganz in aller Wahrheit und ganz wörtlich so, wie sie es beschrieben hat. Die Schuldigen sind entdeckt, und ich bin hier, Sie um die unschuldig Bestrafte zu bitten.«

»Sie soll entlassen werden?«

»Ja. Die Untersuchung wird wieder aufgenommen.«

»Dann hat sie aber in Gewahrsam zu bleiben, bis ihre Unschuld durch Richterspruch entschieden ist.«

»Eigentlich, ja. Aber einestheils liegen die Verhältnisse so, daß gar kein Zweifel mehr möglich ist, und anderntheils habe ich mich veranlaßt gesehen, für das arme Mädchen zu bürgen. Hier Herr Doctor Holm ist der Entdecker ihrer Unschuld; auch ich bin ein Wenig dabei thätig gewesen, und so ist uns von Seiten Seiner Excellenz des Ministers der Justiz die Genugthuung geworden, daß man von dem gewöhnlichen Wege gewichen ist und uns die Erlaubniß gegeben hat, der Gefangenen ihre Freiheit zu verkünden und sie ihrer Familie wiederzugeben.«

»Ah! Ah! Ah!« machte der Director, noch immer nicht ganz Herr seines Erstaunens. »Aber, Verzeihung, Durchlaucht, gewissen Formalitäten muß doch immer Genüge geschehen.«

»Natürlich! Ich war am frühen Morgen bei Excellenz und habe da den Befehl an Sie erhalten, Laura Werner sofort zu entlassen. Hier ist er.«

Er zog ein mit dem Ministerialsiegel versehenes Schreiben hervor und reichte es dem Director hin. Dieser las die wenigen Zeilen und sagte dann:

»So, so kann man sich irren!«

»Sie haben die Gefangene also doch für schuldig gehalten?«

»Ja. Es kommt ja leider so häufig vor, daß der Detinirte bei der Behauptung seiner sogenannten Unschuld bleibt, obgleich seine Schuld klar am Tage liegt.«

»Nun, hier schien sie allerdings klar am Tage zu liegen; aber diese


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Klarheit war doch eine Täuschung. Bitte, wollen Sie die Unglückliche holen lassen?«

»Oder die Glückliche, Durchlaucht!«

»Bezweifle sehr!«

»O, es ist doch jedenfalls ein Glück, seine Unschuld erkannt und bestätigt zu wissen!«

»Nachdem man Jahre lang Zuchthäuslerin gewesen ist und die unglückseligen Folgen der Verurtheilung getragen hat? Wer zählt die Thränen, welche so ein armes Wesen im Stillen weinte? Wer vermag die Summe der Seufzer anzugeben? Wer kann die Verbitterung nachfühlen, welche sich in das Herz einer Unschuldigen einfrißt? Jeden, jeden Augenblick sagt sich so ein beklagenswerthes Geschöpf, daß es unschuldig sei und doch von seiner Unschuld nicht sprechen darf. Ich kann mir sehr leicht denken, daß der Geist eines unschuldig Verurtheilten mit dem fürchterlichen Gespenste des Wahnsinnes zu kämpfen habe.«

»Ja, schrecklich muß es sein, Durchlaucht. Aber Unsereiner ist erstens nicht allwissend und zweitens Beamter.«

»O, es kann Sie ja nicht der leiseste Vorwurf treffen, Herr Regierungsrath! Doch möchte ich Ihnen immerhin die Bemerkung machen, daß es keineswegs unmöglich ist, unschuldig verurtheilt zu werden. Es ist sogar ganz kürzlich der Fall gewesen, daß Einer unschuldig im Zuchthause saß, der sich zu der That bekannt hatte.«

»Kaum denkbar! Kam es hier zu Lande vor?«

»Ja.«

»Nun, dann müßte ich ihn ja kennen!«

»Gewiß. Er war jener Petermann, welcher gleich nach seiner Begnadigung das bekannte Rencontre im Hause der Melitta hatte.«

»Petermann! Ah! Sollte er wirklich nicht der Thäter sein?«

»Nein.«

»Ist der Schuldige bekannt?«

»Ja, aber noch nicht vom Gericht. Der Fall Petermann aber hängt innig mit dem Falle Laura Werner zusammen, wie sehr bald bewiesen sein wird.«

»Durchlaucht, darf ich um Näheres bitten?«

»Ich bedaure! Ich darf dem Richterspruche nicht vorgreifen.«

»Aber Sie kennen meinen Namen?«

»Gewiß.«

»So wissen Sie jedenfalls auch, daß Petermann der Beamte meines Bruders war?«

»Auch das weiß ich.«

»Nun, so bitte ich, mir wenigstens zu sagen, ob hier vielleicht mein Neffe mit zur Nennung kommt!«

»Das wird allerdings kaum zu vermeiden sein.«

»Der Unglückliche!«


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Er blickte finster vor sich nieder. Der Fürst konnte die Gefühle des braven Mannes begreifen. Seine Theilnahme bewog ihn daher zu der Bemerkung:

»Ich glaube, es verantworten zu können, wenn ich Ihnen sage, daß Ihr Neffe nicht etwa der Schuldige ist.«

»Nicht? Gott sei Dank!«

Er athmete tief und laut auf.

»Nein, nein; so etwas brauchen Sie allerdings nicht zu denken. Er war jung und ist mit einer Person bekannt geworden, welche dieser Bekanntschaft nicht würdig war. Das ist Alles, was er sich vorzuwerfen hat.«

»Also kein Makel an dem alten Namen Scharfenberg?«

»Nein, Herr Regierungsrath. Aber, bitte, die Gefangene! Sie soll keinen Augenblick zu lange in ihrer unverdienten Lage zu verharren haben.«

Der Director klingelte und befahl, nachdem er ein Verzeichniß nachgeschlagen hatte, dem eintretenden Aufseher, die Gefangene Nummer 160 vorzuführen.

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Laura Werner erschien. Sie besaß eine große Ähnlichkeit mit ihrer Schwester Emilie; aber ihre Wangen waren eingefallen, und ihr Gesicht hatte alle Farbe verloren. Ihr Kopf, dessen Haar verschnitten worden war, steckte in einer unförmlichen, verunstaltenden Tuchhaube, und die Sträflingskleidung, welche sie trug, ließ die Linien ihres Körpers nicht erkennen.

»Hundertsechszig,« sagte der Director zu ihr. »Dieser Herr will mit Dir sprechen.«

Sie erhob den müden, gleichgiltigen Blick zu dem Fürsten. Es war ihr anzusehen, daß sie der zu erwartenden Mittheilung alle Indifferenz entgegenbrachte.

»Es ist Seine Durchlaucht, der allergnädigste Fürst von Befour,« fügte der Director bei. »Du hast den Herrn also Durchlaucht zu tituliren.«

Diese Bemerkung brachte keine Veränderung ihres Gesichtsausdruckes hervor. Der Fürst sagte in mildem Tone:

»Ich höre, daß Sie kein Gnadengesuch machen wollen?«

Sie schüttelte still mit dem Kopfe.

»Wollen Sie denn nicht frei sein?«

Sie faltete die Hände und senkte den Blick. Das war ihre ganze Antwort. Der Fürst fuhr fort:

»Ich verstehe Sie. Von Ihrer Unschuld wollen Sie nicht sprechen, weil man Ihnen nicht glaubt. Darum schweigen Sie lieber. Aber bitte, beantworten Sie mir wenigstens die eine Frage: Haben Sie sich das Gesicht jenes Frauenzimmers, von welchem Sie auf dem Kirchhofe überrascht wurden, angesehen?«

»Ja,« antwortete sie in gleichgiltigem Tone.

»Aber wohl nicht sehr genau?«


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»Ich konnte mich während der Untersuchung nicht darauf besinnen. Ich war so erschrocken gewesen.«

»So würden Sie es wohl nicht wieder erkennen?«

»O, sofort! Später, als ich innerlich ruhiger wurde, kehrte auch die Erinnerung zurück. Und nun werde ich dieses Gesicht wohl nie wieder vergessen.«

»Und wie steht es mit der Stimme?«

»Ich würde sie an dieser erkennen.«

»Das ist sehr gut, denn Sie werden dieses Frauenzimmer zu sehen bekommen.«

Sie sah ihn starr und ausdruckslos an. Ihr Gesicht blieb bleich und ihr Blick leer; aber ihr Kopf neigte sich auf die Seite, als ob sie etwas gehört habe, worauf sie länger lauschen müsse, um es zu verstehen. Und jetzt, jetzt hob sie den Kopf mit einem raschen Rucke; ihr Blick flammte auf, und ihre Wangen rötheten sich.

»Ich soll sie sehen?« stieß sie hastig hervor.

»Ja.«

»So hat man sie? Sie ist aufgefunden worden?«

»Ja.«

Sie breitete die Hände aus, als ob sie nach einem festen Halt suchen wolle, drehte sich langsam um sich selbst, wie von einem plötzlichen Schwindel erfaßt, und - wäre zu Boden gesunken, wenn Holm sie nicht rechtzeitig ergriffen hätte.

Er ließ sie in einen Stuhl nieder. Aber kaum berührte sie den Sitz desselben, so schnellte sie wieder empor.

»Gott, mein Gott!« rief sie. »Ich darf nicht ohnmächtig werden; ich will nicht, ich will nicht! Also, sie ist entdeckt, entdeckt, entdeckt?«

»Ja, mein Kind.«

»So muß sie auch sagen, daß sie die Kinder verwechselt hat?«

»Man wird sie dazu zwingen.«

»Und daß ich unschuldig bin?«

»Das wird sie wohl nicht leugnen können, denn wir haben Ihren Knaben endlich gefunden, und die Mörderin befindet sich bereits hinter Schloß und Riegel!«

Da sank sie auf ihre Kniee nieder, faltete die Hände und rief unter einem gewaltsam hervorbrechenden Schluchzen:

»O, Du lieber, lieber Gott, wie danke ich Dir! Wie oft habe ich an Deiner Gerechtigkeit gezweifelt, nun aber weiß ich, daß ich wieder an Dich glauben darf.«

Dann erhob sie sich und fragte den Director:

»Herr Regierungsrath, glauben Sie jetzt, daß ich keine Lügnerin bin?«

Er streckte ihr die Hand entgegen und antwortete:

»Ich habe mich geirrt und will darum thun, was ich für meine Schuldigkeit halte: Ich bitte Sie um Verzeihung!«


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»Sie nennen Sie mich? Sie? O, wie unglücklich bin ich über dieses "Du" und über diese "Hundertsechzig" gewesen! Nun lassen Sie mich in meine Zelle zurückschaffen! Ich will gern warten, Monate lang warten, bis meine Unschuld an den Tag gebracht worden ist. Denn ich kann mir denken, daß die Untersuchung wieder aufgenommen wird.«

»Das ist allerdings der Fall,« bestätigte der Fürst. »Aber warum wollen Sie das Resultat derselben denn gerade in der Zelle erwarten?«

»Das muß ich ja!«

»Nein. Wenn Sie wollen, so können Sie zu den Ihrigen zurückkehren, Fräulein Werner.«

Da richtete sich ihre Gestalt empor, und jubelnd erklang es:

»Zu den Eltern, zu den Geschwistern dürfte ich?«

»Ja.«

»Wann?«

»Sogleich. Ich bin gekommen, Sie abzuholen.«

»O mein Gott und mein Heiland! Welche Freude, welches Glück und welche Seligkeit! Ist's wahr, ist's wahr?«

»Ja. Der Herr Regierungsrath wird es Ihnen bestätigen.«

Sie blickte den Genannten fragend an, und dieser sagte:

»Sie brauchen nur noch einmal in Ihre Zelle zurückgehen, um diese Sträflingssachen mit dem Anzuge zu vertauschen, in welchem Sie eingeliefert worden sind. Diese Herren werden so lange warten, um Sie sodann hinaus in die Freiheit zu begleiten.«

Da ergriff sie seine Hand, um sie zu küssen; sie that dasselbe auch beim Fürsten und wollte dann auch diejenige Holms ergreifen; dieser aber wehrte ihr lächelnd ab und sagte:

»Nicht so, Fräulein Werner. Heben Sie die Liebkosungen für die Ihrigen auf, und beeilen Sie sich lieber, Toilette zu machen, damit Sie diese traurigen Mauern möglichst bald hinter sich bekommen.«

Sie wurde abgeführt und kam nach einiger Zeit in ihrem eigenen Anzuge zurück. Dieser hatte während ihrer langen Untersuchungshaft und der vierjährigen Strafgefangenschaft allerdings bedeutend gelitten, und doch ließ er erkennen, daß sie ein schönes Mädchen gewesen sei und jedenfalls auch wieder sein werde, wenn die Folgen der Gefangenschaft sich verwischt haben würden.

Sie nahm weinend von dem Director Abschied. Dieser war ebenso gerührt wie der Fürst und Holm, denen sie nun hinaus vor das Thor folgte. Dort blieb sie stehen, athmete tief, tief auf und sagte:

»Frei, frei, frei! Wie schön ist Gottes Erde!«

Holm glaubte, daß man sich nun sogleich nach dem Bahnhofe wenden werde; aber der Fürst lenkte nach der Stadt ein und führte dann Laura Werner in einen Confectionsladen, wo er sagte, daß er diese Dame vollständig neu zu kleiden wünsche.

Sie erschrak beinahe, als sie diese Worte hörte; er aber machte dem


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Besitzer noch einige leise Bemerkungen und sagte ihr dann, daß er sie in der gegenüberliegenden Restauration erwarten werde.

Als sie später, von einer Verkäuferin, welche die Rechnung brachte und von dem Fürsten bezahlt wurde, begleitet, dort eintrat, machte sie freilich einen ganz anderen Eindruck, als vorher in ihrem ärmlichen Anzuge.

Nun erst begaben sie sich nach dem Bahnhofe, wo der Fürst sogleich den Inspector aufsuchte, um ihn zu fragen, ob er nicht ein Zimmerchen zur Verfügung habe, in welchem ein unerwartetes Wiedersehen stattfinden könne, ohne von zudringlichen Augen und Ohren beobachtet und belauscht zu werden.

Laura, welche diese Frage natürlich nicht zu hören bekommen hatte, wurde von dem freundlichen Inspector in eins seiner Privatzimmer geführt, ohne zu wissen, weshalb. Ihre beiden Beschützer aber begaben sich nach dem Wartesaale, in welchem Doctor Zander mit Emilie Werner saß. Holm reichte der Letzteren die Hand zum Gruße und sagte ihr:

»Fräulein Werner, die Frau Inspector möchte Sie einmal bei sich sehen. Darf ich Sie zu ihr führen?«

»Mich sehen, warum?«

»Sie hat mir weiter keine Mittheilung gemacht; aber bitte, kommen Sie nur!«

Sie folgte ihm, einigermaßen verwundert, daß sie zu der Frau des Bahnbeamten, die sie jedenfalls doch gar nicht kenne, kommen solle. Dort an der Thür angelangt, klopfte Holm an.

»Herein,« sagte eine halblaute, zaghafte Stimme.

»So, gehen Sie hinein!« meinte Holm. »Wenn Sie fertig sind, kommen Sie Beide wieder zu uns hinüber.«

Er öffnete, schob sie hinein und drückte hinter ihr die Thüre wieder in das Schloß. Einen Augenblick lang war es still; dann aber ertönte ein doppelter Schrei:

»Laura! Ist's wahr?«

»Emilie! Du?«

Ein schluchzendes Jauchzen folgte, dann schlich Holm sich fort. Im Wartesaale fand er den Fürsten mit dem Arzte bereits im angeregten Gespräch. Ersterer fragte gerade:

»Aber einen positiven Grund hat dieser Baron zu seiner impertinenten Frage wohl nicht gehabt?«

»Nein; davon bin ich überzeugt.«

»Er hat also nur auf den Strauch geschlagen?«

»Jedenfalls.«

»Und was gedenken Sie nun zu thun?«

»Ich komme natürlich nicht mehr zurück, werde vielmehr sehen, ob es mir möglich ist, in der Residenz mein Zelt aufzuschlagen.«

»Natürlich, natürlich! Sie können sich auf meine Beihilfe jedenfalls verlassen, und ich denke, daß Sie bald in Kundschaft kommen werden. Einen Patienten haben Sie ja bereits dort.«


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Er deutete dabei lächelnd auf Holm, welcher ja seine linke Hand in der Binde trug.

»Wie geht es? Haben Sie Schmerzen?« fragte Zander.

»Nein, gar nicht.«

»Nun, so bin ich überzeugt, daß Sie den vollständigen Gebrauch der Hand wieder erhalten werden.«

Da kam Holm ein Gedanke. Er fragte:

»Sagen Sie, Herr Doctor, ist der Krebs heilbar?«

»Er wird für unheilbar ausgegeben; aber ich halte ihn im Gegentheile für heilbar. Es handelt sich freilich um seine Ursachen, ferner wie alt er ist und unter welchen Umständen er auftritt. Kennen Sie vielleicht einen Krebskranken?«

»Ja, die Mutter der beiden Schwestern, welche jetzt ihr Wiedersehen feiern!«

»Nun, da wir uns so angelegentlich mit den Töchtern beschäftigen, kann man sich auch für die Mutter interessiren. Ich werde diese also noch heute besuchen.«

»Danke! Aber bitte, erzählen Sie uns doch ausführlicher, was mit dieser armen Emilie hier geschehen ist.«

»Ja. Vorhin konnte ich nur kurze Andeutungen geben. Hören Sie!«

Er gab nun einen umständlichen Bericht. Den beiden Zuhörern graute es, als sie hörten, wie das arme Mädchen behandelt worden sei.

»Und ihr Vater freute sich so über dieses Engagement,« sagte Holm. »Wird er das Geld herausgeben müssen?«

»Man wird es so einzurichten wissen, daß er es behalten kann,« meinte der Fürst.

»Aber ich hörte von ihm, daß er sich ebenso wie seine Tochter habe unterschreiben müssen. Ich vermuthe da irgendeine Infamität.«

»Nun, dieser Director Baumgarten ist ein Schurke. Er hat Emilie Werner in sein Netz gelockt, und die Mittel, deren er sich hierzu bediente, haben keine rechtliche Geltung. Die Unterschrift des Vaters und der Tochter wird für diesen Menschen von keinem Vortheile sein. Er hat die beklagenswerthe Person angebunden, also ihrer Freiheit beraubt, und zwar zu unzüchtigen Zwecken. Darauf ist eine sehr hohe Zuchthausstrafe gesetzt, der er gar nicht entgehen kann.«

»Hm! Darüber wird sich sein Herr Bruder wohl nicht sehr freuen,« bemerkte Doctor Zander.

»Sein Bruder? Wer ist das?« fragte Holm.

»Der Intendant des Residenztheaters.«

»Donnerwetter! Entschuldigung, meine Herren, daß dieser Fluch mir entschlüpft. Aber das ist mir hoch, hoch interessant. Sie irren sich doch nicht etwa, Herr Doctor?«

»Nein. Emilie Werner selbst sagte es mir.«

»Sie selbst? Ah, dann ist es mir unbegreiflich, daß sie dieses En=


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gagement eingegangen ist, nachdem sie den Intendanten auf eine ganz armselige Weise kennen gelernt hat.«

»Sie hat es ja gar nicht gewußt! Sie hat es erst erfahren, als die Mitglieder dieser Künstlerbande in ihrer Gegenwart davon gesprochen haben.«

»Ah! Jetzt geht mir ein Licht auf, und was für eins. Warten Sie, mein bester Herr Intendant, wie ich Sie fassen werde! Dieser Mensch hat das arme Mädchen seinem Bruder in die Krallen gespielt.«

»Wieso?« fragte der Arzt.

Holm erklärte seine Combinationen und war damit gerade zu Ende, als die beiden Schwestern eintraten. Ihre Gesichter glänzten vor Glück, obgleich man ihnen ansah, wie viele Thränen sie vergossen hatten. Es waren ja Thränen der Freude gewesen. Beide wußten nicht, wie sie den drei Beschützern ihre Dankbarkeit erweisen sollten, und ganz besonders wurde ihr Glück durch Zanders Zusicherung erhöht, daß er noch im Laufe des heutigen Tages ihre Mutter besuchen werde, um zu sehen, ob noch Hoffnung sei, sie zu retten und der schrecklichen Krankheit Einhalt zu thun.

Natürlich fuhren die fünf Personen in einem gemeinschaftlichen Coupé nach der Residenz. Dort angekommen, trennten sie sich. Der Arzt begab sich direct nach der Wohnung des Fürsten, um da auf ihn zu warten, welcher zunächst in's Bezirksgericht ging, um dem Gerichtsrathe seinen Bericht zu erstatten. Holm hingegen begleitete die beiden Schwestern nach Hause.

»Bitte, machen Sie mir die Freude, vor der Thür zu warten,« bat er sie, und sie willigten gern ein.

Er klopfte an und trat ein. Der abgesetzte Theaterdiener war daheim und freute sich über Holms Besuch. Er gab ihm die Hand und schob ihm einen Stuhl zu..

»Nun, haben Sie geschwiegen?« fragte der Reporter.

»Wegen Laura meinen Sie doch?«

»Ja.«

»Kein Wort habe ich gesagt.«

»Das ist recht, sehr recht!«

»Aber - hm, lieber Herr Holm, darf ich Sie darauf aufmerksam machen?«

»Worauf?«

»Daß Sie mir sagten, ich brauche nur bis morgen oder übermorgen zu schweigen?«

»Ja, das habe ich freilich gesagt.«

»Wenn kann ich davon reden?«

»Heute, jetzt.«

»Wirklich? Wirklich? So ist es also wahr, daß die Unschuld Laura's nachgewiesen werden kann?«

»Sie wird gerichtlich nachgewiesen werden, denn die eigentliche Mörderin ist entdeckt!«

»Herrgott! Entdeckt?«


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