Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 74.

- 1753 -


»Desto besser verstehe ich Sie! Wenn der Baron gefangen ist, sind Sie nicht verreist, sondern Sie stecken im Loche.«

»Unsinn!«

»Das ist kein Unsinn. Ich durchschaue den ganzen Kram. Sie sind der Hauptmann, aber Sie sind zugleich auch der Herr Baron von Helfenstein.«

»Was fällt Ihnen ein!«

»Na, daß der Hauptmann kein gewöhnlicher, ordinärer Bürger sein kann, das ist leicht zu denken. Ich habe vorhin von dem Apotheker gehört, daß man Ihnen an den Kragen will, und so ist es gar nicht schwer, Das zu errathen, was Sie mir nicht sagen wollen.«

»Sie arbeiten mit der Phantasie!«

»Aber meine Phantasie trifft die Wahrheit. Herr Hauptmann, Sie haben mir stets Arbeit gegeben und mich nie im Stiche gelassen. Sie versprechen mir jetzt wieder eine bedeutende Summe; ich werde nicht zum Schurken an Ihnen werden. Darauf dürfen Sie sich ruhig verlassen. Es ist wirklich besser, Sie sagen mir Alles. Ich gehe für Sie durch's Feuer. Um den Baron zu befreien, werde ich mir Mühe geben, denn er bezahlt mich gut. Um aber Sie zu befreien, würde ich mein Leben wagen. Das ist der Unterschied!«

»Hm! Fast möchte ich glauben, was Sie sagen!«

»Glauben Sie es! Ich durchschaue jetzt Ihre Lage. Sie sind in Bedrängniß. Sie spielen Ihren letzten und größten Trumpf aus. Ist es so oder nicht?«

»Ja.«

»Also richtig! Gelingt es diesem Trumpfe, so ist Alles gut. Gelingt es nicht, so steckt man Sie ein und macht Ihnen den Prozeß. Dann giebt es für Sie nur Zweierlei: den Tod oder die Flucht. Das Letztere ist natürlich das Bessere.«

Der Hauptmann blickte sinnend vor sich nieder. Er wollte sein Geheimniß nicht preisgeben und sagte sich doch, daß es wohl besser sei, mit diesem Manne aufrichtig zu sein.

»Übrigens,« fuhr Bormann fort, »würde ich doch jedenfalls erfahren, daß Sie der Baron sind!«

»Ja, Sie haben recht!«

»Also Aufrichtigkeit!«

»Gut! Aber Sie schwören mir, verschwiegen zu sein!«

»Ich schwöre es!«

»So will ich Ihnen zugestehen, daß ich der Baron bin.«

»Das freut mich. Nun können Sie doppelt und zehnfach auf mich rechnen. Gehe es, wie es gehe, hier meine Hand: Ich werde Sie auf keinen Fall sitzen lassen!«

»Ich glaube es. Es ist so, wie Sie vermuthen. Ich spiele va banque; - das heißt, ich setze Alles auf einen Trumpf. Man vermuthet, wer ich bin; man will mir an den Kragen. Ich habe einen Plan, die Feinde zu verderben. Gelingt es, so ist es gut, gelingt es nicht, so ist es aus, so oder so. Es ist


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die Möglichkeit, daß ich ergriffen werde, und in diesem Falle verlasse ich mich auf Sie.«

»Ich hole Sie heraus.«

»Gut! Ich zahle Ihnen mehr als Fünftausend!«

»Das spornt doppelt an! Also die Schlüssel bekomme ich heute?«

»Ja.«

»Sind Sie denn bei Kasse?«

»Gewiß!«

»Die wird man Ihnen nehmen.«

»Die bekommt man nicht. Ich verstecke sie heute.«

»Doch nicht in Ihrem Palais?«

»Fällt mir nicht ein! Übrigens werden wir, sobald Sie mich herausgeangelt haben, einen Streich ausführen, der uns Millionen einbringt.«

»Donnerwetter!«

»Es handelt sich um Juwelen.«

»Da mache ich mit. Hier in der Residenz?«

»Ja.«

»Bei einem Juwelier?«

»Nein. Bei einer Dame, welche vorübergehend in einem hiesigen Hotel wohnt.«

»Dann ist's ja kinderleicht!«

»Freilich! Die Schlüssel habe ich bereits.«

»Da möchte man vor Freude gleich "Hurra" rufen! Doch, damit wir die Hauptsache nicht vergessen: Glauben Sie, daß man, wenn man Sie arretirt, Sie in ein hiesiges Gefängniß steckt?«

»Ganz gewiß! Wohin sonst?«

»Aber in welche Zelle?«

»Das ist die Schwierigkeit. Ich müßte Ihnen ein Zeichen geben!«

»Das geht schwer an.«

»O nein. Wenn wir ein bestimmtes Zeichen besprechen und eine genaue Zeit, so ist's sehr leicht.«

»Wie zum Beispiel?«

»Wenn es Mittags zwölf Uhr vom Dome den letzten Schlag thut, halte ich die beiden Hände an das Gitter.«

»Wie nun, wenn man Sie fesselt?«

»Man wird doch nicht!«

»Oder Sie in ein Gefängniß steckt, über dessen Fenster ein sogenannter Kasten ist.«

»So wäre mein Zeichen freilich nicht zu sehen.«

»Auch darf ich mich am Tage nicht auf die Straße wagen.«

»Das ist dumm! Vielleicht aber finden Sie einen Helfer?«

»Das ist möglich.«

»Ihr Falschmünzer vielleicht?«

»Ich werde sehen.«


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»Auf alle Fälle aber sehen Sie sich vor! Wenn Sie einmal an die Arbeit gehen, muß sie auch gelingen, sonst ist dann Alles verloren.«

»Ich werde möglichst vorsichtig sein. Bin ich aber einmal drinnen im Gefängnisse, so gehe ich auch nicht ohne Sie fort, und sollte ich Krethi und Plethi umbringen.«

»Nicht zu toll, Bormann. Ist's hier in der Hauptstadt zu schwer, so geht es anderswo.«

»Kommen Sie auch an andere Orte?«

»Ganz gewiß. Natürlich immer den Fall angenommen, daß man mich wirklich arretirt. Der Gang der Untersuchung erfordert es, daß man mich an verschiedene Orte transportirt, zum Beispiel nach Tannenstein und Brückenau. Wenn Sie das erfahren könnten!«

»Ich werde sehen. Lieber aber wollen wir hoffen, daß dies Alles nicht nöthig ist.«

»Besser wäre es! Also wir sind einig?«

»Ja. Aber hundert Gulden heute.«

»Das versteht sich. Ich habe sie zwar nicht mit; aber ich werde sie holen.«

»Und hierher bringen?«

»Nein. Sie gehen mit. Haben Sie noch eine Frage?«

»Nein. Die Sache liegt ja so, daß wir jetzt noch gar nichts bestimmen können. Wie nun aber, wenn Ihr Trumpf, den Sie ausspielen, zum Gelingen kommt? Haben Sie in diesem Falle auch Arbeit für mich?«

»Erst recht; erst recht!«

»Dann gut; so sind wir einig. Sind Sie des Apothekers sicher?«

»Ich traue ihm nicht mehr recht; aber er hat ja nichts gehört.«

»Er weiß aber, daß ich da bin. Wenn er es verräth, wird man an allen Enden nach mir suchen.«

»Aber Sie doch nicht finden. Dieser Rentier Wunderlich wird Sie doch nicht verrathen!«

»Das soll er sehr bleiben lassen! Er selbst würde mit verloren sein.«

»So kommen Sie jetzt!«

Sie verließen den Keller. Droben an der Hausthür stand der Jude, welcher gewissenhaft Wache gehalten hatte. Der Hauptmann gab ihm ein Geldstück, und dann traten die Beiden auf die Straße, wo das Wetter jetzt fast noch ärger tobte als vorher.

»Halten wir uns auf verschiedenen Seiten!« sagte der Baron.

»Wohin gehen wir?«

»Altmarkt!«

Mehr konnten sie nicht miteinander sprechen. Sie hatten mit allen Kräften gegen den Sturm anzukämpfen und erreichten den Altmarkt, ohne einem Menschen begegnet zu sein.

»Stecken Sie sich dort hinter die Bäume!« rieth der Baron dem riesigen Verbündeten.


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Dieser gehorchte. Er sah den Baron in den strömenden Regen verschwinden. Nach einiger Zeit kehrte derselbe zu ihm an den Brunnen zurück.

»Hier sind die hundert Gulden,« sagte er, ihm ein volles Portemonnaie in die Hand drückend. »Und hier ist der Hauptschlüssel. Er schließt Alles, nur die Thüren der einzelnen Zellen nicht.«

»Das ist auch nicht nöthig. Bin ich einmal darin, so ist der Zellenschlüssel schon zu bekommen.«

»So sind wir also jetzt fertig.«

»Nicht ganz. Wenn nichts passirt, wie treffe ich Sie da?«

»Es wird besser sein, ich suche Sie auf.«

»Bei Wunderlich?«

»Ja. Machen wir ein Zeichen aus.«

»Das ist nicht nothwendig. Sagen Sie ihm meinen Namen, so wird er Sie zu mir lassen.«

»Gut. Ein Anderer wird doch nicht erfahren, wo Sie stecken?«

»Nein. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Bormann schlug die Richtung nach dem Neumarkte ein, suchte aber, ehe er diesen erreichte, ein kleines Seitengäßchen auf. Die eine Seite desselben wurde von Häusern, die andere aber von einer Mauer gebildet.

Diese Letztere war bald hoch, bald niedriger. An einer Stelle, welche ihm bekannt zu sein schien, stieg er über und befand sich nun in einem kleinen Gärtchen, welches zu dem Hause Neumarkt Zwölf gehörte.

Er trat aus dem Garten in den Hof und musterte die Reihe der dort erleuchteten Fenster. Dann hob er einige Sandkörnchen auf und warf sie an eines derselben. Der rasende Sturm übertönte das Klingen des Sandes an dem Glase. Bormann mußte das Experiment wiederholen.

Endlich öffnete sich oben ein Fensterflügel, und der Kopf eines Mannes erschien. Der unten Stehende schlug die Hände dreimal in eigenthümlicher Weise zusammen, und sofort zog sich der Kopf zurück.

Bereits nach kurzer Zeit wurde die Hinterthür geöffnet, und es kam Jemand in den Hof, ergriff ihn bei der Hand und zog ihn nach einem Schuppen, in welchem Holz und Kohlen aufgespeichert lagen. »Bormann, Du bist's?« fragte der Mann.

»Ja. Wer sonst? Hast Du noch Andere mit demselben Zeichen?«

»Nein. Aber Mann, Du wagst viel!«

»Nicht so viel, wie Du denkst.«

»Was willst Du in der Residenz?«

»Geld.«

»Ah! Von wem?«

»Keine Sorge! Von Dir nicht!«

»Ich hätte auch keins.«

»Aber etwas Anderes hast Du, was ich nothwendig brauche.«

»Was?«


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»Logis.«

»Bist Du des Teufels?« fragte Wunderlich erschrocken.

»Des Teufels nicht; aber müde und hungrig bin ich.«

»Ich habe keinen Platz für Dich!«

»In Deiner ganzen Etage nicht?«

»Nein.«

»Hast Du etwa Einquartierung?«

»Das nicht; aber Du kennst Deine Lage.«

»Die kenne ich. Sie ist sehr unangenehm. Ich bin naß bis auf die Haut. Deine Gaststube würde mir sehr gut thun!«

»Daran denke ja nicht!«

»O, ich denke eben an weiter nichts als nur daran!«

»So schlage es Dir getrost aus dem Sinne!«

»Das kannst Du mir nicht zumuthen!«

»Und Du kannst mir nicht zumuthen, daß ich mich Deinetwegen in so große Gefahr begebe.«

»Diese Gefahr ist sehr gering. Wer sieht mich bei Dir?«

»Jeder, welcher kommt!«

»So laß' mich nicht sehen.«

»Kann ich Dich denn verleugnen?«

»Ja doch!«

»Vor meiner Frau?«

»Wir machen eine Ausrede!«

»Vor dem Dienstmädchen?«

»Sie wird an dieselbe Ausrede glauben.«

»Es geht nicht; es geht nicht! Ich kann es nicht wagen!«

»Du wagst mehr, wenn Du mich fortjagst!«

»Wieso?«

»Nimmst Du mich nicht auf, so habe ich Niemanden und kann leicht ergriffen werden!«

»Geh' zu Deiner Schwägerin!«

»Zu der? Zu dieser Duckmäuserin? Die würde mich sofort bei der Polizei melden! Nein, ich bleibe bei Dir!«

»Zum Sapperment! Nimm Verstand an! Ich kann Dich nicht gebrauchen, ganz und gar nicht!«

»Ich Dich desto besser.«

»Das geht mich nichts an.«

»Also, Du willst nicht, Wunderlich?«

»Nein.«

»Trotzdem wir so gute Freunde waren?«

»Das ist vorüber! Wir dürfen uns nicht kennen.«

»Höre, Schatz, das Letztere ist überflüssig, denn wie mir scheint, kennen wir uns überhaupt noch nicht.«

»Wieso?«


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»Wenigstens kennst Du mich noch nicht.«

»O, sehr gut!«

»Nein, sonst würdest Du mich nicht fortjagen!«

»Es ist die Pflicht der Selbsterhaltung.«

»Ich handle nach derselben Pflicht und bleibe hier!«

»Was fällt Dir ein?«

»Ja. Ich komme hinauf und klingele bei Dir. Das Übrige wird sich finden.«

»Mensch, das wirst Du unterlassen! Was soll meine Frau dazu sagen?«

»Sie wird mir sehr recht geben, wenn ich ihr sage, in welcher Weise Du mir verpflichtet bist.«

»Donnerwetter! Das wolltest Du?«

»Du zwingst mich dazu.«

»Nimm Verstand an!«

»Ich habe welchen, Du aber hast keinen. Ich sage Dir, daß ich bei Dir bleibe, mag ich Dir willkommen sein oder nicht!«

»Du bist wirklich des Teufels!«

»Nein. Ich fordere von Dir, was ich an Deiner Stelle ganz ohne alles Bedenken gewähren würde.«

»Wie lange willst Du bleiben?«

»Höchstens drei Tage.«

»Wie steht es mit Deinem Äußeren; es ist hier dunkel, ich kann nichts sehen.«

»Ich bin zerlumpt.«

»Und soll ich Dich zu meiner Frau bringen?«

»Nein. Ich gebe Dir Geld, und Du holst, was ich brauche. Du kennst meine Figur. Ich bleibe indessen hier.«

»Verdammte Geschichte!«

»O nein! Es ist der reine Freundschaftsdienst!«

»Was suchst Du denn eigentlich in der Residenz?«

»Das ist mein Geheimniß. Ich fordere von Dir nur Dreierlei, was sehr, sehr leicht ist.«

»Was wäre das?«

»Erstens Unterkunft. Ich falle Dir gar nicht schwer. Ich komme nicht zur Gaststube hinaus.«

»Das würde meiner Frau auffallen.«

»Nein. Ich bin unwohl!«

»Zweitens?«

»Zweitens sagst Du es mir, wenn irgend ein vornehmer Herr arretirt werden sollte.«

»Wer ist das?«

»Ich weiß es nicht.«

»Geheimnißkrämerei! Und drittens?«


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»Drittens wird ein Herr kommen und Dich nach Bormann fragen; den läßt Du zu mir.«

»Sapperment! Welche Unvorsichtigkeit! Man weiß also bereits, daß Du bei mir bist?«

»Nur Einer weiß es, und Den hast Du nicht zu fürchten. Unter Umständen verlasse ich Dich bereits morgen wieder.«

»Geht es wirklich nicht anders?«

»Nein.«

»So will ich Dich wenigstens einstweilen hier einschließen, damit Du nicht ertappt wirst. Welche Sachen brauchst Du?«

»Überzieher, Hut, Hose und Stiefel. Das Andere kann ich von Dir bekommen.«

»So muß ich in den sauren Apfel beißen. Ich werde Dich meiner Frau als alten Bekannten vorstellen, den ich ganz zufälliger Weise getroffen habe.«

»Gut! Einen anderen Namen will ich mir indessen aussinnen; mache jetzt, daß Du fortkommst! Ich sehne mich nach einem ordentlichen Bette.«

Wunderlich schloß ihn ein und ging. Am liebsten hätte er den früheren Complicen umgebracht.

Nach einiger Zeit - es fehlte vielleicht noch eine Stunde an Mitternacht, drängten sich zwei Männer dem Sturme entgegen, in der Richtung, in welcher die verlassene Eisengießerei lag. Es waren natürlich der Fürst und sein Diener Anton.

Auf der Wanderung durch den ganzen Stadttheil begegnete ihnen kein Mensch. Sie erreichten ihr Ziel, ohne von einem Auge bemerkt zu werden.

Im Innern des Gebäudes angekommen, zogen sie zwei brennende Blendlaternen aus ihren Taschen und untersuchten ihre Umgebung. Sie überzeugten sich zu ihrer Befriedigung, daß sich noch kein Mensch hier befand.

»Steigen wir hinab!« meinte der Fürst.

Sie begaben sich in die Vertiefung, in welcher die Dampfkessel gestanden hatten. Hier konnten sie ihre Laternen ungenirt anbrennen, ohne befürchten zu müssen, draußen auf der Straße gesehen zu werden.

»Nun bin ich neugierig auf das Versteck,« meinte der Fürst.

»Bitte, es zu suchen!« lächelte Anton.

Der Fürst leuchtete umher und sagte befriedigt:

»Das ist sehr gut! Nicht die geringste Spur davon, daß heute hier gearbeitet worden ist!«

»Und doch haben wir höllisch zugreifen und uns ganz außerordentlich sputen müssen, um noch zu guter Zeit fertig zu werden. Ich bin neugierig, ob Sie den Ort finden werden.«

Der Fürst leuchtete aufmerksam an der Mauer hin und sagte dann: »Hier! Nicht wahr?«

»Warum hier?«

»Hier ist scheinbar der Mörtel zwischen den Steinen herausgebröckelt; das sind die Stellen, durch welche wir sehen und hören werden, wie ich vermuthe.«


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»Errathen! Bitte, Durchlaucht! Sehen Sie?«

Er drückte einige Ziegelsteine nach innen. Es entstand eine Öffnung, groß genug, daß ein Mann hindurch kriechen konnte.

Der Diener kroch hinein, und der Fürst folgte.

Anton brachte die Ziegel wieder in die vorige Lage. Fürst und Diener waren jetzt lebendig eingemauert.

»Hier liegen zwei Quadersteine, welche wir als Sessel benutzen können,« sagte Anton. »Kein Mensch wird uns bemerken oder auch nur unsere Gegenwart ahnen.«

»Ja, das habt Ihr sehr gut gemacht. Es soll an einer Gratification nicht fehlen.«

»Darauf haben sich die arbeitenden Collegen auch fest verlassen,« lachte der Polizist. »Lassen wir die Laternen brennen?«

»Es ist besser, wir löschen aus. Das Licht würde uns blenden, sodaß wir durch die Spalten nicht gut bemerken, was draußen vorgeht. Anbrennen können wir sofort wieder.«

Sie bliesen die Laternen aus und harrten nun in großer Spannung, was geschehen werde.

Kurze Zeit vorher war Adolf in die Kellerrestauration gegangen. Er fand den Agenten anwesend, an dessen Fenster, wie er sich vorher überzeugt hatte, bereits seit längerer Weile zwei Kerzen brannten.

Er setzte sich zu ihm, doch brachte das Gespräch, welches sie mit einander führten, keinen interessanten Gegenstand zur Verhandlung. Ungefähr eine halbe Stunde vor Mitternacht entfernte sich der Agent, und eine Viertelstunde später verließ dann auch Adolf das Local, um sich nach dem Rendez=vous zu begeben.

Er war noch nicht längst dort angelangt, so schlug es zwölf Uhr. Beim letzten Schlage der Glocke begann er mit dem Stocke zu rasseln und das Gaudeamus zu pfeifen.

Der Sturm heulte jetzt so laut, daß Adolf nicht glaubte, gehört zu werden, aber dennoch huschte eine in einen langen Mantel gehüllte Gestalt zu ihm heran, ergriff ihn am Arme und zog ihn fort.

»Kommen Sie dort hinüber,« sagte der Mann, welcher natürlich kein anderer als der Hauptmann gewesen war. »Unter jenem dunklen Portale sind wir wenigstens vor dem strömenden Regen sicher.«

Sie erreichten den Ort und drückten sich so weit zurück, daß sie selbst von einem Vorübergehenden schwerlich bemerkt werden konnten.

»Ich habe Sie gestern bestellt,« sagte der Hauptmann. »Es ist recht, daß Sie gekommen sind.«

Adolf that so, als ob er wirklich keine Ahnung habe, daß er von dem Agenten, nicht aber von dem Hauptmanne bestellt worden sei. Er antwortete:

»Ich bin gewöhnt, pünktlich zu sein.«

»Das freut mich, denn in diesem Falle darf ich hoffen, daß unsere Bekanntschaft eine fruchtbringende sein werde.«

»Gestern war sie es leider nicht.«


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»Wir kamen zu spät; das war nicht zu ändern.«

»Mich aber ärgert es. Ich hatte den Schmieden einmal mein Wort gegeben. Sie konnten warten.«

»Na, es ist Ihnen ja doch gelungen.«

»Aber für wie lange?«

»Wie? Sie wissen - -?«

»Daß sie wieder gefangen sind, natürlich!«

»Wer hat es Ihnen gesagt?«

»Alle Welt spricht davon. Dieser Fürst des Elendes muß ein verteufelter Kerl sein. Nicht?«

»Ein alberner Mensch ist er, der sich in Alles mischt, was ihm gar nichts angeht. Ich werde ihn bei den Haaren nehmen.«

»Wer holt die beiden dummen Kerls denn nun heraus! Hätten sie in Brückenau gewartet, bis ich kam, so wären sie jetzt frei und nicht wieder gefangen.«

»Vielleicht gelingt es ihnen abermals!«

»Meinetwegen! Mich aber geht die Sache nichts mehr an. Das Allerdümmste ist, daß ich nun nichts mehr verdient habe!«

»Vielleicht gebe ich Ihnen eine bessere Gelegenheit, eine hinreichende Summe zu verdienen.«

»Das wäre mir recht! Ich habe heute ein Pech gehabt, welches mir meine gute Laune genommen hat.«

»Welches Pech?«

»Diese dumme Liese ist bös auf mich.«

»Wer ist das?«

»Na, die Sängerin!«

»Ach so, Ihre Herrin?«

»Ja.«

»Weshalb denn böse? Sie sagten doch, daß Sie beiderseits sehr zufrieden seien.«

»Ich dachte es. Aber heute kam es anders.«

»Weshalb?«

»Wegen gestern. Sie hatte mich unvermuthet sehr nöthig gebraucht, und ich kam sehr spät; das hat sie geärgert. Sodann hat sie eine schwarze Negerin bei sich, die ich auch bedienen soll, obgleich sie doch nichts anderes ist, als eine dienende Person. Das gab Veranlassung zu einer Differenz. Bei dem Zanke hatte ich das Unglück, ein Service fallen zu lassen. Hurrjeh, donnerte da die Amerikanerin los!«

»War es denn werthvoll?«

»Sie sprach von über hundert Gulden.«

»War es denn ihr Eigenthum? Sie wohnt doch im Hotel!«

»Ach, die ist so eigen und eckel! Die ißt und trinkt nur aus ihrem eigenen Geschirre.«

»Will sie Ersatz?«


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»Natürlich. Ich aber sagte ihr, daß ich keinen Kreuzer mein eigen nennen könne. Da kam es denn zu Redensarten, wie Tölpel, Esel und noch bessere Worte. Ich wollte das nicht leiden, und so kam es endlich so weit, daß sie mir sagte, ich solle sie nur noch hier bedienen, mitnehmen aber werde sie mich auf keinen Fall.«

Das hörte der Hauptmann gern. Adolf that, als ob er sich im Zorne befinde. In einer solchen Stimmung ist man für die Verführung viel empfänglicher, als bei ruhigem Blute.

»Das ist allerdings so eine Art von Blitzschlag für Sie!« meinte der Hauptmann.

»Natürlich! Ich brauche so sehr nothwendig Geld, woher aber welches nehmen?«

»Borgen!«

»Pah! Wer borgt mir einen einzigen Gulden!«

»Müssen Sie das Geld denn unbedingt haben?«

»Freilich! Das ist ja das Elend!«

»Sprechen Sie mit Ihrem Gläubiger.«

»Donnerwetter! Das geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Der weiß ja gar nichts davon.«

»Auch so! Ja, ja! Der Wechsel ist ja falsch!«

»Eine verfluchte Geschichte!«

»Sie sind leichtsinnig gewesen.«

»Das sehe ich wohl ein; aber ich brauchte Geld; ich glaubte, bald besser bei Casse zu sein und den Wechsel einlösen zu können. Leider aber gerieth ich immer tiefer in Schulden. Jetzt nun habe ich nicht zehn Gulden, um den Wechsel an mich bringen zu können.«

»Wann verfällt er?«

»In einigen Tagen.«

»O weh! Wissen Sie was mit Ihnen geschieht, wenn der Verfalltag kommt?«

»Ich muß zahlen!«

»Pah! Sie haben doch nichts!«

»Sapperment! So bekomme ich Gefängniß!«

»Nicht bloß Gefängniß. Auf Wechselfälschung steht Zuchthaus und außerdem jahrelanger Verlust der Ehrenrechte.«

Adolf schwieg, als sei er von dieser Bemerkung ganz und gar niedergeschmettert.

»Haben Sie es gehört?«

»Leider!« seufzte er.

»Aber selbst wenn Sie Geld hätten, wäre Ihnen nicht zu helfen. Nicht Sie, sondern der Acceptant hat ihn einzulösen. Der bekommt ihn präsentirt, weiß gar nichts davon und wird also sofort Anzeige machen.«

»O nein. Wenn ich Geld hätte, wäre mir geholfen. Der, welchem ich


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ihn gegeben habe, hat ihn gar nicht weiter gegeben, sondern noch bei sich liegen. Ich brauchte nur das Geld zu bringen, so würde ich ihn zurück erhalten.«

»So kann ich Ihnen nur rathen, das Geld zu schaffen!«

»Ich wiederhole: Woher nehmen -«

»Und nicht stehlen!«

»Der Teufel hole diese Sprichwörter! Wer sie gemacht hat, der hat sich gewiß niemals in solcher Noth befunden! Wenn ich jetzt wüßte, wo ein solcher Betrag recht hübsch und bequem zur Hand läge, so würde ich zugreifen, ohne zu fragen, wem er gehört!«

»Das ist Diebstahl, mein Bester!«

»Das weiß ich!«

»Vom Gesetz verboten!«

Adolf hustete unmuthig und sagte dann:

»Wollen etwa Sie mir die Moral lesen? Sie, der Hauptmann einer Diebesgesellschaft!«

»Fällt mir nicht ein!«

»Das wäre auch ganz und gar am unrechten Platze. Wird mein gefälschter Wechsel entdeckt, so erhalte ich Zuchthaus. Warum sollte ich einen Diebstahl scheuen, der davor mich retten kann? Ein Jeder ist sich selbst der Nächste!«

»Da haben Sie Recht. Ich dürfte nicht an Ihrer Stelle sein.«

»Was thäten Sie?«

»Ich würde mir helfen, wo ich könnte.«

»Aber wo kann ich?«

»Überall da, wo Geld liegt.«

»Sie haben gut reden. Ich sehe keins liegen!«

»Wirklich nicht?«

»Nein.«

»Aber, Mensch, sind Sie denn blind?«

»Blind? Ich? Ich glaube im Gegentheile sehr gute Augen zu besitzen!«

»Und doch sehen Sie nicht, was sich in Ihrer nächsten Nähe befindet!«

»Was denn?«

»Nun, Ihre Herrin!«

»Ach so!«

»Die ist ja unendlich reich!«

»Das ist wahr. Aber mir nützt es nichts.«

»So machen Sie es sich doch zum Nutzen!«

»Sie meinen, ich soll zugreifen?«

»Ja doch!«

»Danke sehr! Diese Trauben sind mir zu sauer!«

»Dummheit! Das angeführte Bild ist hier gar nicht zutreffend. Diese


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Trauben hängen für Sie nicht etwa zu hoch, sondern sie wachsen Ihnen geradezu in den Mund.«

»Nur scheinbar. Es ist wahr, ich brauchte bloß zuzugreifen; aber ich bin der Diener; auf mich würde sich ja der Verdacht zu allererst lenken.«

»Da haben Sie freilich nicht so ganz Unrecht. Aber ist denn die Sache nicht besser zu arrangiren?«

»Wie denn?«

»Denken Sie nach!«

»Da hilft kein Nachdenken; ich muß eben die Hand davon lassen.«

»Das ist noch kein Grund zum Verzichten.«

»O gewiß.«

»Nein. Sie brauchen sich ja nur anderer Hände zu bedienen.«

Da stieß Adolf einen halblauten Pfiff aus, als sei jetzt ein Gedanke in ihm erweckt worden, auf welchen er von selbst nie gekommen wäre.

»Alle Teufel!« sagte er nachdenklich.

»Nun, habe ich Unrecht?«

»Hm! Dieser Gedanke ist nicht ganz übel!«

»Denken Sie weiter nach!«

»Ich soll mich anderer Hände bedienen? Aber, hätte ich denn etwas davon?«

»Natürlich! Man theilt!«

»Aber der Verdacht fiele doch auf mich!«

»Pah! Sie richten es so ein, daß Sie es eben gar nicht gewesen sein können.«

»Wie sollte ich das anfangen?«

»Hören Sie, mein Lieber, Sie fälschen Wechsel und sind doch so unendlich unbeholfen. Das paßt nicht zusammen! Der Beweis Ihrer Unschuld ist sehr leicht zu führen.«

»Bitte, geben Sie mir wenigstens eine Andeutung!«

»Nun , zum Beispiel: Ihre Herrin legt sich schlafen. Sie gehen in das Gastzimmer, Billard spielen. Als sie hinaufkommen, stehen die Thüren auf und die Sängerin ist bestohlen. Sie wecken, machen Lärm - können Sie es gewesen sein?«

»Nein, da nicht!«

»Oder Sie gehen aus, mit Ihrer Herrin vielleicht, oder auch allein. Wenn Sie nach Hause kommen, ist eingebrochen worden. Kann der Verdacht auf Sie kommen?«

»Da auch nicht!«

»Na also! Nur klug anfangen.«

»Aber wer soll die That ausführen?«

»Hm! Dazu finden sich sofort passende Leute.«

»Wie wollen sie in die Zimmer kommen?«

»Das wäre das Leichteste.«

»Mir aber würde man doch wohl nichts davon geben!«


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»Warum nicht?«

»Weil ich nicht mit geholfen habe.«

»O, Sie haben freilich mit zu helfen!«

»Wieso?«

»Das kann auf mehrerlei Weise geschehen. Vor allen Dingen hätten Sie die Zeit anzugeben, wenn es paßt, also zum Beispiel, wenn Ihre Herrin ausgeht.«

»Nur das? Weiter nichts?«

»Weiter nichts, guten Falls.«

»Wem hätte ich das zu sagen?«

»Einem fremden Herrn, welcher im Hotel wohnen würde.«

»Ach so! Ich beginne zu begreifen. Es würden wohl mehrere fremde Herren da wohnen?«

»Natürlich.«

»Diese Herren gehören zu Ihren Leuten?«

»Hm! Davon spricht man nicht.«

»O, davon spricht man im Gegentheile sehr! Ich müßte doch wissen, von wem ich meinen Antheil zu bekommen hätte.«

»Von mir natürlich.«

»Wer garantirt mir dafür?«

»Ich! Mißtrauen Sie mir etwa?«

»Nein, gar nicht, obgleich ich nicht wüßte, wo ich Sie zu treffen hätte.«

»Hier, wo Sie mich heute gefunden haben.«

»Schön! Es läßt sich wenigstens über die Sache sprechen.«

»Das denke ich auch. Es können für Sie zehntausend Gulden abfallen, und vielleicht noch mehr.«

»Herr meines Lebens!«

»So viel ganz gewiß!«

»Wann würde ich sie bekommen?«

»Gleich denselben Abend noch.«

»Und der Coup würde am Tage geschehen?«

»Ja.«

»Wäre das nicht zu gefährlich?«

»Gar nicht. Am Tage operirt man sicherer, als des Nachts.«

»Wenn Jemand dazu käme!«

»Das wird leicht zu verhüten sein. Vier fremde Reisende treffen ein. Zwei operiren und Zwei halten das Personal ab, sich um die Sache zu bekümmern. Wollen Sie mitmachen?«

»Sapperment! Es sticht mir in die Augen; aber es kommt mir wirklich zu - zu - es überrumpelt mich!«

»Na, es ist auch nur so ein Vorschlag, ein Gedanke, so eine Idee. Ob ich es thun würde, das ist sehr die Frage. Man hat andere Engagements.«

»Aber Geld bringt es ein, horrentes Geld!« sagte Adolf, indem er sich ganz begeistert stellte.


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»Natürlich! Das ist wahr.«

»Und ich wäre gerettet!«

»Sie hätten sogar noch Tausende übrig.«

»Das ist wahr; das stimmt!«

»Sie brauchten nicht mehr zu dienen. Sie könnten sich eine Restauration oder ein kleines Hotel pachten.«

»Himmeldonnerwetter! Dieser Gedanke ist gar nicht so übel! Wenn es nur auch so einträfe!«

»Sie haben es in der Hand!«

»Ja. Wenn man nur gewiß wüßte, daß man nicht dabei in neues Unglück käme!«

»Ich habe es Ihnen ja gesagt und erklärt, daß auf Sie gar kein Verdacht fallen kann. Sie geben nur den betreffenden Wink, daß es passend ist. Dann ziehen Sie sich zurück. Das Übrige ist dann unsere Sache.«

»Sie machen mir es wirklich wie Honigkuchen vor,.«

»Es ist auch wirklich nicht anders. Sie werden im Handumdrehen ein reicher Mann, ohne alles Risico, ohne alle Gefahr. Wollen Sie? Schlagen Sie ein!«

Er hielt ihm die Hand entgegen. Adolf that, als ob er einschlagen wolle, zog aber die Hand wieder zurück und sagte:

»Hm! Es ist doch ein eigenthümliches Gefühl, welches Einem dabei über die Haut läuft. Wenn ich es mir wenigstens vorher noch einmal überlegen könnte!«

»Warum? Wer schnell handelt, der handelt gut!«

»Schnell, aber nicht vorschnell!«

»Wie lange wollen Sie denn überlegen?«

»Nur bis morgen.«

»Bedenken Sie, wie nothwendig Sie Geld brauchen!«

»Das weiß ich eben, sonst fiel es mir gar nicht ein, an so Etwas zu denken!«

»Also bis morgen Abend?«

»Ja.«

»Zwölf Uhr?«

»Wie Sie befehlen. Sind Sie wieder hier?«

»Ich werde Sie erwarten. Aber ich sage Ihnen Eins: Von Dem, was wir hier besprochen haben, darf nicht ein einziges Wort über Ihre Lippen kommen!«

»Das versteht sich von selbst. Es würde ja mein eigener Schade sein. Schweigen kann ich.«

»Ich hoffe es. Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Sie trennten sich. Der Hauptmann murmelte vor sich hin.

»Die Angel ist gut; der Fisch beißt an. Ich bin überzeugt, daß er mir morgen Abend mit Freuden seine Zustimmung geben wird. Alle Teufel! Heute


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räumen wir beim Fürsten auf und sodann bei der Tänzerin! Ich bin eigentlich ein Esel, mir solche Sorgen zu machen!«

Der Fürst hatte mit Anton wohl gegen eine Stunde in dem Versteck gesessen und sich leise mit ihm unterhalten, ohne daß sie etwas Ungewöhnliches bemerkten. Das Heulen des Windes drang bis herab zu ihnen, so daß es schwer war, die leisen Schritte eines Mannes zu vernehmen.

Da aber stieß Anton den Fürsten an.

»Pst!« machte er es.

»Was giebt es?«

»Licht!«

Jetzt hielt der Fürst das Auge an eine der Lücken, welche zwischen den Ziegelsteinen gelassen worden waren, und erblickte nun wirklich zwei Männer, welche sich bei einer brennenden Laterne auf die draußen liegenden Sandsteine niedergesetzt hatten.

»Ich habe sie nicht kommen hören,« flüsterte der Fürst.

»Ich auch nicht. Der Sturm heult zu stark, und sie treten zu leise und zu vorsichtig auf.«

Die beiden Lauscher beobachteten nun mehr mit dem Auge als mit den Ohren. Es kamen mehrere Leute und immer Mehrere, Einer nach dem Anderen. Die Gesichter konnte man nicht sehen, da sie mit schwarzen Binden verhüllt waren. Es waren endlich beinahe dreißig Personen geworden.

Sie hatten sich Alle niedergesetzt, aber Keiner sprach ein Wort zu irgend einem Anderen.

Da plötzlich erhoben sich Alle von ihren Sitzen. Es kam abermals Einer, der einen weiten Mantel trug und das Gesicht verhüllt hatte wie die Anderen.

»Der Hauptmann!« flüsterte Anton.

»Setzen!« hörte man jetzt die Stimme des Hauptmannes deutlich befehlen. »Sind alle da?«

»Einer fehlt,« antwortete eine Stimme.

»Wer? Zählt vor!«

Es wurden die Ordnungsnummern von Eins an aufgerufen, und bei einer jeden antwortete einer der Männer.

»Der Schlosser fehlt jedenfalls,« sagte der Fürst leise zu Anton. »Ich habe ihn gewarnt.«

Es stellte sich heraus, daß Nummer zwanzig fehlte.

»Hat Jemand einen Auftrag erhalten?« fragte der Hauptmann in einem Tone, welchem der Unmuth deutlich anzuhören war.

»Ich,« antwortete Einer, indem er sich erhob.

»Heute kam eine Frau zu mir, sagte die Parole und brachte einige Schlüssel. Ich soll sagen, Der, welcher sie schicke, sei an einer Lungenentzündung erkrankt.«

»Gut. Er hat wenigstens Wort gehalten. Euch Andern habe ich zu


- 1768 -


sagen, daß es heute einen Streich gilt, der uns große Schätze bringt. Wir gehen zum Fürsten von Befour.«

»Ah!« erklang es rundum.

»Wir haben einen Mißerfolg bei ihm gehabt; dieses Mal aber soll es anders werden. Er ist der Fürst des Elendes.«

Es ließen sich verschiedene Ausrufe des Erstaunens, des Zornes hören; dann fuhr der Hauptmann fort:

»Er ist unser Erzfeind gewesen, ohne daß wir es ahnten. Heute werden wir ihn bestrafen. Ich habe einen Späher zu ihm gesandt. Er trete vor!«

Der Goldarbeiter Jacob Simeon erhob sich, freilich unerkannt von den Anderen.

»Was hast Du gefunden?« fragte der Hauptmann.

»Einer der Diener hat mich durch das ganze Palais geführt. Ich war in allen Räumen, nur in dem Zimmer des Fürsten und in dem der Baronin nicht.«

»Ah! Ist sie dort?«

»Ja.«

»Irrst Du nicht?«

»Nein. Ich habe sie gesehen; sie sprach mit uns.«

»Kennst Du das Zimmer genau?«

»Ganz genau.«

»Und dasjenige, in welchem der Fürst schläft?«

»Ja.«

»Weiter! Hast Du vom Gelde und von den Kleinodien etwas erfahren können?«

»Ich habe Alles erfahren. Die Schatzkammer ist unter dem Dache. Der Fürst hält seine Reichthümer dort für am Sichersten.«

»Hat man Dich etwa belogen?«

»Nein. Ich habe die Kästen und Schränke gesehen und weiß auch, wo die Schlüssel liegen.«

»Weiter!«

»Das ist für jetzt Alles.«

»Für jetzt? Gut! Nachher bleibst Du hier zurück, Du und auch der Andere.«

Er schwieg einige Augenblicke, wie überlegend; dann wendete er sich an die ganze Versammlung:

»Punkt drei Uhr erscheint Ihr einzeln im Garten des fürstlichen Palais, ein Jeder mit dem Gegenstande, den er mitzubringen hat. Das Übrige erfahrt ihr dann! Jetzt könnt Ihr gehen!«

Sie entfernten sich im Gänsemarsche und nur Zwei blieben bei dem Hauptmanne zurück. Er hatte Diejenigen, mit denen er sprach, »Du« genannt, jetzt aber wendete er die Höflichkeitsform an:

»Jetzt können Sie die Masken fortnehmen. Wir sind nun wieder unter uns.«


- 1769 -


Sie gehorchten und der Fürst erkannte den Agenten und den Goldarbeiter. Der Letztere wurde gefragt:

»Sie hatten mir noch mehr zu sagen?«

»Ja.«

»Was? Wie kam es, daß Ihnen die Lösung Ihrer Aufgabe so leicht geworden ist?«

»Der Fürst besuchte mich.«

»Donnerwetter! Warum?«

»Es handelte sich um die Kette mit dem Medaillon. Er wollte wissen, ob ich ein Falsificat für Salomon Levi angefertigt habe.«

»Sie konnten nicht leugnen?«

»Nein; aber ich gestand auch nicht. Um nach seiner Wohnung kommen zu können, sagte ich, daß ich erst nachschlagen müsse, und das Buch sei beim Buchbinder.«

»Recht so! Dann gingen Sie zu ihm?«

»Ja.«

»Was sagte er?«

»Er zeigte mir beide Ketten.«

»Satan! Er hat sie also doch erhalten!«

»Ja. Er fragte, ob ich vor Gericht beschwören könne, daß ich das eine Medaillon nach dem anderen gemacht habe, und ich mußte natürlich bejahend antworten.«

»Dann?«

»Dann entließ er mich, und ich kam mit einem Diener in's Gespräch, welcher mich fragte, ob ich das Palais betrachten wolle. Ich gab einen Gulden und wurde von ihm durch das Gebäude geführt.«

»Giebt es noch etwas Besonderes?«

»Nein.«

»So ist die Disposition leicht zu treffen. Ist jetzt das an der Veranda liegende Zimmer, in welchem die Baronin lag, bewohnt?«

»Nein.«

»So steigen wir dort ein. Sie führen die Leute sofort nach dem Bodenraume, wo sich die erwähnten Schränke und Kästen befinden; ich aber suche mir mit einigen Männern den Fürsten auf. Bin ich mit ihm fertig, so komme ich nach. In welchem Stockwerke befindet sich die Baronin?«

»Im zweiten.«

»Ich werde auch sie besuchen, ich ganz allein. Übrigens giebt es heute keine Rücksichtnahme. Wer sich vor uns sehen läßt, der wird niedergestoßen; das ist Alles, was ich zu sagen habe. Sie können jetzt gehen, Jacob Simeon. Treffen Sie pünktlich ein!«

Der Goldarbeiter entfernte sich. Nun war nur noch der Andere vorhanden.

»Nun, Bauer, wie weit sind Sie heute gekommen?« fragte ihn der Hauptmann.


- 1770 -


»Nicht weiter als bis zur Recognition.«

»Am Gefängnisse?«

»Ja. Ich habe erfahren, in welchen Zellen die Beiden stecken, Herr Hauptmann.«

»Das ist kaum glaublich. Von wem?«

»Von einem höchst albernen Menschen, welcher erst seit Kurzem im Gericht arbeitet und wahrhaftig die Zellenliste mit sich herumtrug.«

»Es ist doch nicht etwa eine Falle? Wo trafen Sie ihn?«

»Eine Falle? O, das ist unmöglich; dazu war der Mensch ja viel, viel zu dumm!«

Er erzählte nun sein scheinbar zufälliges Zusammentreffen und seine Unterredung mit dem Fürsten.

»Also Zelle Nummer Zwölf und Einundzwanzig?« meinte der Baron. »Kennen Sie die Lage dieser Nummern?«

»Ganz genau.«

»Wie kommen Sie an die Fenster?«

»Auf einer Steigleiter.«

»Mit welcher Waffe?«

»Ich werde doch die Windbüchse nehmen. Sie ist sicherer.«

»Aber ja in Acht nehmen.«

»O, was das betrifft, so braucht man ja gar keine Sorge zu haben. Bei dem heutigen Wetter jagt man keinen Hund heraus. Ich werde nicht erwischt.«

»Wann werden Sie dort sein?«

»Halb zwei Uhr ungefähr.«

»So können wir Sie beim Fürsten nicht mit Bestimmtheit erwarten.«

»O doch. Ich werde doch wohl nicht anderthalb Stunden brauchen, um den beiden Schmieden je eine Kugel zu geben.«

»Hm! Es giebt manchmal unvorhergesehene Hindernisse. Haben Sie sich nicht auch nach diesem Robert Bertram umgesehen?«

»Ich war zweimal dort.«

»Also nicht angetroffen?«

»Nein.«

»Schade!«

»Ich wollte ihn zunächst nur kennen lernen. Da wurde ich wieder bestellt.«

»Und Sie gingen auch wieder hin?«

»Ja. Man führte mich in ein Zimmer und ich fand dort den Fürsten von Befour.«

»Donnerwetter!«

»Und noch Einen, den ich erst für Bertram hielt.«

»War das Zufall?«

»Nein, ganz sicher nicht, sondern die richtige Verabredung.«

»Was sagte man Ihnen?«


- 1771 -


Der Agent erzählte Alles und fügte dann hinzu:

»Ich hatte von einigen Schülern in einer Kneipe gehört, daß Bertram ein Dichter sei. Ich kehrte zu ihnen zurück und ließ ihn mir beschreiben. Da merkte ich nun, daß der Andere, welcher beim Fürsten gesessen hatte, nicht Bertram, sondern ein Anderer gewesen war.«

»Also hat man Comödie gespielt?«

»Gewiß!«

»Verflucht! Ist denn dieser Fürst allwissend! Er scheint jeden meiner Gedanken eher zu haben als ich. Aber er soll dies nicht mehr lange Zeit thun. Heute ist seine letzte Stunde gekommen. Erst die beiden Schmiede, dann der Fürst und die Baronin. Bertram kommt nach. Gehen wir an das Werk!«

Er ging. Der Agent löschte die Laterne aus und folgte ihm mit derselben.

»Also Ihre letzte Stunde ist gekommen!« lachte Anton leise vor sich hin.

»Schade, daß ich auch hierin seinen Gedanken eher gehabt habe! Ich muß sofort nach dem Gefängnisse. Du aber, Anton, gehst auf die Hauptwache und läßt Dir die nöthige Mannschaft geben. Ich bin zur rechten Zeit wieder daheim.«

Sie verließen ihr Versteck und begaben sich vorsichtig hinaus auf die Straße, da es ja möglich war, daß der Hauptmann oder der Agent sich noch in der Nähe befanden.

Als der Fürst am Gefängnißtore klingelte, wurde sofort geöffnet, ein Zeichen, daß er erwartet worden sei.

»Ist der Herr Staatsanwalt anwesend?« fragte er den Schließer.

»Bereits seit längerer Zeit.«

»Gehen Sie auf die Bezirkswache und holen Sie drei bis vier Mann Polizei, mit Todtschlägern bewaffnet!«

Nach diesem Befehle begab er sich zum Staatsanwalt, welcher bei dem Gefängnißwachtmeister in dessen Zimmer sich befand.

»Ah, Durchlaucht! Endlich! Also ist Ihre Combination doch eine richtige gewesen?«

»Ja. Ich habe soeben nach Schutzmannschaft geschickt.«

»Der Tausend! Warum?«

»Die beiden Schmiede sollen ermordet werden.«

»Von wem?«

»Vom Lieutenant des Hauptmannes.«

»Aber wie?«

»Von einer Leiter aus mit der Windbüchse.«

»Das soll dem Kerl vergehen. Kommt er allein?«

»Ja.«

»Desto besser. Wir werden ihn sofort empfangen.«

»Das würde, wie bereits erwähnt, ein Fehler sein. Er mag schießen, auf alle Beide schießen, scheinbar natürlich. Erst wenn er nach dem zweiten


- 1772 -


Schusse von der Leiter steigt, werden wir ihn mit Liebenswürdigkeit empfangen. Ich schlage vor, wir lassen die beiden Schmiede hierher kommen.«

»Ah! Wozu?«

»Um ihnen zu zeigen, was sie von dem Hauptmanne zu erwarten haben. Vielleicht bringen wir sie dadurch zu einem offenen Geständnisse.«

»Dieser Gedanke ist sehr rationell. Ich stimme ihm bei. Nur erscheint es mir nicht ungefährlich, zu so später Stunde diese beiden Menschen hierzu haben.«

»Pah! Wir sind zu Dreien!«

»Sie zwar nur Zwei, aber verzweifelte Menschen.«

»Ich fürchte sie nicht.«

»Sie haben nach Polizei geschickt. Könnten wir nicht einige dieser Leute hier eintreten lassen?«

»Nein. Ich muß als Brandt mit den Schmieden sprechen; ich kann das Geheimniß nicht so Vielen preisgeben.«

Die Polizisten kamen. Der Fürst führte sie in den Gefängnißhof und erklärte ihnen:

»Es wird ein einzelner Mensch auf einer Leiter über die Mauer kommen und erst da an Nummer Zwölf und dann dort an Nummer Einundzwanzig emporsteigen, um die Insassen der beiden Zellen mit dem Windgewehr zu erschießen. Sie lassen ihn gewähren. Ich sorge dafür, daß er kein Unheil anrichtet. Aber sobald er zum zweiten Male von der Leiter steigt, fassen Sie ihn ab und bringen ihn herein. Bis dahin halten Sie sich versteckt. Aber nehmen Sie sich vor seiner Waffe in Acht.«

Nach diesen Worten kehrte er in das Zimmer zurück und legte seinen Bart und das Übrige ab. Der Wachtmeister öffnete vor Erstaunen den Mund. Der Fürst sagte ihm lächelnd:

»Sie sehen, daß in der Welt manches anders ist, als es scheint. Was Sie sehen, werden Sie mit tiefstem Schweigen bewahren. Es hat Alles seine Gründe. Jetzt senden Sie die beiden Schließer zu den Schmieden.«

Aber der Wachtmeister konnte sich doch nicht beruhigen. Er kratzte sich den Kopf und sagte:

»Jetzt weiß ich wahrhaftig nicht, ob ich träume oder wache. Diesem Gesichte nach sind Sie ja -«

»Nun, was oder wer denn?«

»Donnerwetter! Sie sind aber doch eine Durchlaucht!«

»Sprechen Sie nur getrost!«

»Sie haben eine außerordentliche Ähnlichkeit mit einem Schulkameraden von mir. Er müßte jetzt genauso aussehen wie Sie!«

»Wie hieß er?«

»Er hieß - ah, Sie haben ja den Namen vorhin genannt! Brandt hieß er, Gustav Brandt.«

»Was war er denn?«


- 1773 -


»Polizeibeamter oder vielmehr Criminalist. Ein gescheidter und braver Mensch. Leider aber wurde er -«

Er brach schnell ab.

»Nun, was wurde er?«

»Gnädiger Herr, ich beleidige Sie!«

»O nein! Sprechen Sie nur immer weiter.«

»Er wurde wegen Mordes zum Tode verurtheilt.«

»Ah! Und dem sehe ich ähnlich?«

»Außerordentlich. Aber es ist nicht die Ähnlichkeit mit einem Verbrecher. Brandt war kein Mörder.«

»Das sagen Sie, und noch dazu als Gefängnißbeamter?«

»O, ich habe ihn gekannt. Ich war damals Schließer. Ich habe nie an seine Schuld geglaubt. Und nun diese frappante Ähnlichkeit. Sie tragen falsches Haar, falschen Bart und eine falsche Wunde im Gesicht. Ich werde ganz irre. Ich weiß nicht, was ich denken soll!«

Da streckte er dem braven Wachtmeister die Hand entgegen und sagte gerührt:

»Schäme Dich Deiner Gedanken nicht, lieber Christian . Es ist Dein Schulkamerad, der vor Dir steht.«

Da ergriff der Wachtmeister Uhlig die dargebotene Rechte mit seinen beiden Händen und rief:

»Gott, ist's wahr? Brandt, Gustav, Du bist's wirklich?«

»Ja, ich bin es. Heute wird meine Unschuld endlich, endlich an den Tag kommen!«

»Da muß ich doch sofort laufen und meinen Vater wecken. Er muß erfahren, was -«

»Halt!« unterbrach ihn der Fürst. »Das müssen wir noch unterlassen. Wir haben Anderes zu thun. Ich bin Deinem Vater großen Dank schuldig. Durch ihn bin ich den Schmieden und dem Mörder auf die Fährte gerathen; aber jetzt können wir ihn nicht gebrauchen. Laß die beiden Schmiede kommen; das ist jetzt das Nöthigste!«

Dieser Weisung wurde sofort Folge geleistet.

Die Beiden, Vater und Sohn, wunderten sich nicht wenig, als sie bemerkten, daß sie mitten in der Nacht von ihrem Lager weg zu Brandt und dem Staatsanwalt geholt worden waren. Der Alte nahm das nicht so ruhig hin. Er sagte:

»Herr Staatsanwalt, was will man von uns? Ich denke, daß man einem armen Gefangenen sein Bischen Nachtruhe nicht noch zu verkümmern braucht.«

»Wir haben sehr guten Grund dazu,« antwortete der Angeredete. »Sie sind sogar diesem Herrn den größten Dank schuldig, daß er Sie geweckt hat.«

»Herrn Brandt? Das möchte ich wissen.«

»Es handelt sich um Ihr Leben.«

»Um unser Leben? Ist es wahr, Herr Brandt?«


- 1774 -


»Ja,« nickte dieser. »Sie sollten ermordet werden.«

»Wir Beide?«

»Ja.«

»Von wem?«

»Im Auftrage des Hauptmanns von einem seiner Leute.«

»Wann?«

»In wenigen Minuten.«

»Das ist nicht wahr!«

»Glauben Sie wirklich, daß ich Ihnen eine Unwahrheit sage?«

»Ja. Es ist ein juristischer Kniff von Ihnen.«

»Zu welchem Zwecke?«

»Sie wollen uns gegen den Hauptmann aufhetzen, damit wir gegen ihn aussagen sollen.«

»Das fällt mir nicht ein. Der Hauptmann ist auch ohne Ihr Zeugniß verloren. Nein. Ich belauschte ihn vor ungefähr einer halben Stunde. Einer seiner Leute hat zu erfahren gewußt, in welchen Zellen Sie liegen. Nun soll dieser Mann auf einer Leiter an Ihre Fenster kommen und Sie mit der Windbüchse erschießen.«

»Was? Wirklich?«

»Wirklich.«

»Ah, wenn Sie uns das beweisen könnten!«

»Das will ich ja. Deshalb bin ich gekommen. Wir werden jetzt in Ihre Zellen gehen und das Kommen dieses Menschen abwarten. Sie sprechen mit ihm -«

»Und lasse mich erschießen?«

»Nein. Wir machen aus irgend welchem Zeuge einen Kopf fertig und halten diesen hin.«

»Wenn er mich nun vorher befühlen will?«

»Das geht nicht. Ihr Zellenfenster kann nicht geöffnet werden. Es ist doch nur eine kleine Scheibe desselben beweglich.«

»Gut! Thun wir es, Herr Brandt! Wehe ihm, wenn es wahr ist, was Sie sagen!«

»Es ist wahr!«

»Ich fürchte den Tod nicht, ja, ich werde Ihnen beweisen, daß ich ihn nicht fürchte. Ich habe lange genug gelebt. Aber ich will mich nicht von Dem morden lassen, für den ich gearbeitet habe und in dessen Dienste ich zum Verbrecher geworden bin.«

»Sie sollen den Beweis haben. Herr Wachtmeister, haben Sie nicht einen wollenen oder leinenen Stoff, um einen Kopf zu formen?«

»Gleich, gleich will ich's besorgen!«

Er ging und brachte nach einigen Augenblicken einen von Tüchern gebildeten, topfgroßen Knäuel, welchem mittels Tinte Augen, Nase und Mund angezeichnet wurden. Dieser Kopf wurde an einen Stock gebunden, und dann wurden die Gefangenen wieder in ihre Zellen geführt. Den Sohn schloß man


- 1775 -


ein, bei dem Vater aber traten der Fürst, der Staatsanwalt und der Wachtmeister mit ein.

Der Schmied befand sich in einer außerordentlichen Erregung. Er bat um die Erlaubniß, sich den Wasser= und Abfallkübel an das Fenster rücken zu dürfen, was ihm auch gewährt wurde. Er stieg darauf und blickte nun durch das schmale, niedrige Fenster in die Nacht hinaus, um das Nahen des Mörders zu bemerken.

Der Regen schlug prasselnd an die Scheiben. In der Zelle aber herrschte tiefe Stille.

»Er wird sich hüten! Er kommt nicht!« sagte der Schmied.

»Er kommt sicher!« antwortete der Fürst. »Fallen Sie nur nicht aus der Rolle. Sie bleiben an der Seite des Fensters stehen und antworten; ich halte ihm den Kopf hin. Wenn der Schuß gefallen ist, schweigen Sie. Er muß Sie für todt halten.«

»Wehe dem Kerl! Wenn er doch bald käme! Man müßte doch die Leiter bemerken.«

»Die bemerken Sie nicht vorher. Es ist keine gewöhnliche, sondern eine Steigerleiter.«

»Ach so! Das ist allerdings - Himmeldonner -« Und leise setzte er hinzu: »Da ist der Hallunke!«

Vor dem Fenster, welches so bereits im Schatten lag, war es ganz dunkel geworden. Es klopfte.

»Warten Sie noch!« flüsterte der Fürst. »Er muß denken, daß Sie erst vom Strohsacke aufstehen.«

Erst nach mehrmaligem Klopfen antwortete der Schmied dadurch, daß er das Klopfen erwiderte.

»Aufmachen!« klang es von draußen.

Wolf öffnete die kleine Mittelscheibe des Fensters, die einzige, welche beweglich war. Sie hatte nicht fünf Zoll im Quadrat. Der Mann da draußen legte den Mund an die kleine Öffnung und fragte:

»Wer steckt da drin?«

»Ich,« antwortete der Schmied.

»Wie heißen Sie?«

»Wolf.«

»Das ist gut. Der Hauptmann schickt mich. Ich habe einen Auftrag auszurichten.«

»Wozu?«

»Sie sollen befreit werden. Haben Sie bereits etwas gestanden?«

»Nein, gar nichts.«

»Das ist sehr gut. Können Sie mich hören?«

»Ja.«

»Aber ich Sie nicht. Ich sehe Ihren Kopf gar nicht.«

»Es ist ja dunkel in der Zelle.«

»Kommen Sie weiter her! Ich habe Ihnen höchst Wichtiges zu sagen.«


- 1776 -


»Ich bin ja da!«

»Verdammt! Ich sehe Sie nicht. Halten Sie Ihr Gesicht her! Ich will mit meinem Stocke einmal fühlen, ob Sie auch wirklich da sind. Man muß vorsichtig sein!«

»Mit dem Stocke! Den Stock mit auf der Leiter!« brummte Wolf. »Schuft, das ist die Stockflinte!«

Aber laut fügte er hinzu:

»Da bin ich! Fühlen Sie!«

In diesem Augenblicke schob der Fürst den imitirten Kopf bis hart an das Fenster. Die Stockflinte wurde hereingesteckt. Sie berührte den Kopf. Der Agent fühlte es. Er fragte:

»Ist das Ihr Gesicht?«

»Ja.«

»Schön! Bravo! Das ist's, was ich zu sagen habe!«

Ein eigenthümlicher, zischender Laut - ein schneller Luftdruck, den die Anwesenden alle bemerkten - und der Fürst ließ den Kopf schnell sinken. Es wurde ganz still. Aber bereits nach kurzer Zeit rief es halblaut vom Fenster her:

»Wolf!«

Keine Antwort.

»Wolf! Schmied!«

Und als es auch still blieb, fragte er:

»Warum sagen Sie nichts? Ist Etwas mit Ihnen?«

Er lauschte einige Augenblicke lang herein; dann verschwand er vom Fenster.

»Er ist fort, der Hund!« knirschte Wolf. »Hat er denn wirklich geschossen?«

»Ja,« antwortete der Fürst. »Wir werden es sofort sehen. Kommen Sie heraus in den Corridor. Ich habe übrigens die Kugel fallen hören; ich glaube, sie fiel auf den Strohsack.«

Sie traten Alle aus der Zelle heraus, wo die beiden Schließer mit den Lichtern standen. Der Fürst beleuchtete den falschen Kopf und sagte, auf die Stelle zeigend:

»Hier, sehen! Da ist die Kugel hinein und hier hinten wieder heraus; durch und durch!«

»Warte, verdammte Kröte!« drohte der Schmied. »Dir soll Dein letztes Brod gebacken sein!«

»Jetzt schnell in die andere Zelle, ehe er die Leiter wieder ersteigt!« meinte der Staatsanwalt.

Einige Secunden später befanden sie sich in der Zelle Wolfs des Jüngeren.

»War er da?« fragte dieser seinen Vater.

»Ja.«

»Hat er geschossen?«


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