Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 87.

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»Haben Sie mich verstanden?« fragte endlich der Pfarrer.

»Ja.«

»Also, was haben Sie uns zu bekennen?«

»Nichts.«

Er sagte das in einem sehr eigenthümlichen Tone. Der Assessor raunte dem Geistlichen zu:

»Das klang ja fast wie Hohn!«

»O nein,« antwortete dieser ebenso leise. »Ein Sterbender und Hohn, das wäre ja entsetzlich!«

»O, ich habe Erfahrung gemacht! Fragen Sie weiter!«

Der Geistliche wendete sich wieder an den Gefangenen:

»Wollen Sie etwa sagen, daß Sie kein Sünder sind?«

»Nein.«

»Also gestehen Sie!«

»Ich kann nichts gestehen. Ich bin unschuldig.«

»Aber Sie wollten doch beichten?«

»Ja, wie jeder Andere beichtet.«

»Sie wollen also eine allgemeine Beichte ablegen, so wie man sie bei der Communion nach den Worten des Geistlichen ablegt?«

»Ja.«

»Sind Sie sich keiner besonderen Sünde bewußt?«

»Nein.«

Er zuckte die Achsel und sah den Assessor fragend an. Dieser flüsterte ihm zu:

»Ich sagte es Ihnen ja. Er ist verstockt und wird ohne Geständniß sterben. Ich kenne diese Art von Menschen.«

»Und ich kann nicht wissen, was grad Sie von ihm hören möchten. Wollen Sie ihn fragen?«

»Das wäre ein Verhör, aber keine Beichte. Ich habe kein Recht, zu Untersuchungszwecken das Hinscheiden eines Sterbenden zu erschweren.«

»Nehmen Sie es nicht als Verhör. Er hat gesagt, daß er beichten wolle, und da ich die Sünden, welche ihm zur Last gelegt werden, nicht kenne, so ist es für sein Seelenheil nur vortheilhaft, wenn Sie ihn an sie erinnern.«

Darauf hin trat Schubert nahe an das Bett heran und fragte den Apotheker:

»Sie wissen doch, weshalb Sie gefangen sind?«

»Nein.«

»Sie standen mit dem sogenannten Hauptmann im Bunde?«

»O niemals!«

»Sie haben sich gewisser giftiger Arzneimittel zu Zwecken bedient, welche vom Gesetz verboten sind?«

»Nein.«

»Sie haben Gifte gefertigt, welche man dann dem Riesen Bormann und der Baronin von Helfenstein eingegeben hat.«

»Das ist nicht wahr.«


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»Aber wir haben Zeugen, welche ganz genau wissen und es auch beschwören, daß der Hauptmann bei Ihnen gewesen ist.«

»Auch das ist eine Lüge. Ich will beichten, weil ich ein sündiger Mensch bin; ein Verbrecher aber bin ich nicht. Ich habe mit Ihnen nichts zu thun; ich will nur mit dem Pfarrer sprechen. Lassen Sie mich doch ruhig sterben!«

Da trat der Assessor enttäuscht vom Bette zurück und sagte zum Pfarrer.

»Er ist verstockt. Ich bin überzeugt, daß er schuldig ist. Thun Sie Ihre Pflicht, so, wie Sie es verantworten können!«

Der Geistliche versuchte es, dem Kranken in's Gewissen zu reden, doch ohne Erfolg. Darum entschied er endlich:

»Nun wohl! Es ist mir als dem verordneten Diener der christlichen Kirche das Amt der Schlüssel gegeben. Ich kann binden und lösen, je nachdem der Sünder reuig ist oder nicht. Dieses Amtes werde ich jetzt walten, so wie es mein Gewissen mir gebietet. Sie bekennen sich also nur im Allgemeinen für einen Sünder?«

»Ja.«

»Eine besondere, hervorragende und im Strafgesetzbuche erwähnte That aber haben Sie nicht begangen?«

»Nein, nie!«

»So werde ich Ihnen die allgemeine Beichte vorsprechen. Ist es Ihnen möglich, sie nachzusprechen?«

»Ich bin müde. Das Reden fällt mir schwer.«

»So hören Sie!«

Der Geistliche las ihm langsam und deutlich den Wortlaut der Beichte vor und fragte dann:

»Haben Sie mich verstanden, und ist dies das ganze Sündenbekenntniß, welches Sie ablegen wollen?«

»Ja. Ich weiß weiter nichts.«

»So verkündige ich Ihnen an Gottes Stelle die Vergebung derjenigen Sünden, welche Sie mir gebeichtet haben. Sollten Sie aber Lasten, welche Ihre Seele bedrücken, aus Verstocktheit verheimlicht haben, so kann ich sie Ihnen nicht vergeben. In diesem Falle also werden Sie ohne Absolution sterben und sich am Tage des Gerichtes vor dem allwissenden und allgerechten, ewigen Richter zu verantworten haben. Sterben Sie in Frieden, wenn Sie es können, und Gott sei Ihrer armen Seele gnädig!«

Er sprach den Segen nicht über ihn und entfernte sich mit dem Assessor.

»Schrecklich!« meinte dieser. »Wie wichtig wäre mir ein jedes Wort gewesen, selbst wenn es nur eine Andeutung enthalten hätte! Solche Menschen glauben weder an Gott, noch an eine Ewigkeit. Man kann nur mit Schaudern von ihnen fortgehen!«

Den Fürsten hatte die Botschaft des Staatsanwaltes nicht rechtzeitig angetroffen. Er kam erst nach der Mittagsstunde, als die Expedition in den Gerichtsräumen nach dem Essen wieder begonnen hatte. Er kam nicht allein, sondern er brachte Doctor Zander mit.


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Er ließ sich eben von dem Staatsanwalte und dem Assessor das Vorgekommene erzählen, als der Gerichtsarzt eintrat. Als dieser den jungen Collegen erblickte, nahm er eine sehr reservirte Miene an und sagte:

»Störe ich vielleicht bei einer ärztlichen Consultation?«

»O nein,« antwortete der Staatsanwalt. »Bringen Sie mir vielleicht eine Neuigkeit?«

»Eine Neuigkeit, ja, aber doch etwas bereits Erwartetes. Seidelmann ist soeben gestorben.«

»Ach! Also doch! Wohl in Ihrer Gegenwart?«

»Nein. Ich kam, um nach Horn zu sehen. Dabei wurde mir vom Wachtmeister der Tod des Anderen gemeldet.«

»Mir aber nicht!«

»Bitte, der Tod war soeben erst eingetreten, und ich übernahm die Meldung, welche der Wachtmeister Ihnen schuldig war.«

»Haben Sie nach der Leiche gesehen?«

»Ja. Ich kann nach einer sehr eingehenden Untersuchung nur constatiren, daß Seidelmann wirklich todt ist.«

»Woran gestorben?«

»Unzweifelhaft an Gehirnerschütterung.«

»Fatal, höchst fatal! Mit ihm ist uns ein höchst wichtiger Zeuge entgangen.«

Da meinte der Fürst von Befour:

»Grad weil Seidelmann für uns von solcher Wichtigkeit sein muß, dürfen wir hier nicht das Allergeringste versäumen. Es muß unwiderlegbar constatirt werden, daß er wirklich todt ist. Gehen wir zu ihm.«

Da antwortete der Gerichtsarzt in unterdrücktem Zorne:

»Durchlaucht, ich bin Arzt und zwar Gerichtsarzt. Ich glaube, an dieser Stelle und in dieser Angelegenheit competent zu sein!«

»Bitte, bester Herr Doctor, es fällt uns auch gar nicht ein, an Ihrer Competenz zu zweifeln; nur werden Sie zugeben, daß wir Grund haben, uns den Todten einmal anzusehen.«

»Dagegen kann ich allerdings nichts haben, bitte aber, mich von dieser Ocularinspection zu dispensiren.«

»Es wäre uns aber sehr lieb, wenn Sie sich mit betheiligen wollten!«

Der Arzt fühlte sich aber beleidigt; er antwortete:

»Das ist mir unmöglich. Ich habe andere Pflichten auch. Ich muß soeben zu einem Fieberkranken am Altmarkte.«

»Bitte, sind Sie nicht zunächst Gerichtsarzt?«

»Allerdings, doch habe ich als solcher nicht die Verpflichtung, den Tod eines Menschen zweimal zu constatiren. Selbst wenn ich hier bleiben wollte, würde ich mich nicht mehr mit dieser Leiche beschäftigen können; ich müßte vielmehr zu dem Apotheker Horn, dessen Tod in jeder Minute zu erwarten ist.«

»Also auch er stirbt gewiß?«

»Ja.«

»Das ist allerdings auffällig. Ich bin überzeugt, daß dieser Mann es


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vermag, sich scheintodt zu machen, und da er mit dem todten Seidelmann früher zweifellos in Verbindung gestanden hat, so liegt für uns die Veranlassung, sehr vorsichtig zu sein, gewißlich sehr nahe.«

Der Arzt zuckte beinahe höhnisch die Achseln:

»Sich etwa scheintodt machen, um entfliehen zu können?«

»Ja.«

»Das wäre kühn, nein, das wäre sogar wahnsinnig.«

»Wenn es keinen anderen Weg der Rettung giebt, so wagt man eben das Äußerste.«

»Wie hätte Horn in seiner Zelle zu dem betreffenden Mittel kommen können?«

»Er kann es mitgebracht haben. Jedenfalls ist er auf seine Arretur vorbereitet gewesen.«

»Und wie hätte er es Seidelmann geben können, welcher übrigens ohne Verstand gewesen ist?«

»Hm! Da haben wir freilich ein unübersteigliches Hinderniß. Die Beiden haben sich ja während ihres hiesigen Aufenthaltes gar nicht sehen können.«

»O doch!« fiel da schnell der Staatsanwalt ein. »Der Wachtmeister hat mir mitgetheilt, daß sich Horn infolge seines Blutsturzes in der Krankenstation befunden habe, wo auch Seidelmann liegt, allerdings nur für kurze Zeit. Seidelmann lag ohne Bewegung, wie eine Leiche, und es war für Horn so aufregend gewesen, so ganz allein und im Finstern mit diesem todtenähnlichen Menschen zu sein, daß er sich wieder in seine Zelle schaffen ließ.«

»Ach, das giebt zu denken! Wie nun, wenn Seidelmann nur simulirt hätte, wenn er gar nicht krank gewesen wäre? Es ist ihm das sehr wohl zuzutrauen.«

»Er war krank, er war besinnungslos und unzurechnungsfähig!« fiel der Gerichtsarzt ein.

»Sehen wir uns aber dennoch seine Leiche an!«

»Ich habe keine Zeit dazu!«

Da legten sich die Züge des Fürsten in den tiefsten Ernst. Er sagte:

»Ich habe hier nichts zu befehlen. Will der Herr Staatsanwalt Sie dispensiren, so hat er es zu verantworten.«

Auf diese indirecte Aufforderung wendete sich der Genannte an den Gerichtsarzt:

»Ich muß Sie wirklich bitten, uns zu begleiten, da die Angelegenheit von solcher Wichtigkeit ist.«

»Wenn Sie befehlen, gehorche ich, bitte aber zu bedenken, daß ich keineswegs gezwungen bin, ein Amt weiter zu führen, bei dessen Verwaltung ich auf solche Unannehmlichkeiten stoße, Herr Staatsanwalt.«

Der Genannte zog es vor, nicht zu antworten, und so begaben sich die Herren nach der Krankenstation, wo Seidelmann lag, nackt und nur in ein Betttuch gehüllt.

Der Gerichtsarzt zog das Tuch ganz fort, faßte den Scheintodten bei


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einem Arme und zog an demselben. Der Arm gab nicht nach, sondern der ganze Körper war so steif, daß er sich mitbewegte.

»Glauben Sie, daß bei so einer ausgesprochenen Todesstarre es noch möglich ist, daß er lebt?« fragte der Gerichtsarzt in ironischem Tone.

»Allerdings,« antwortete Doctor Zander schnell.

Sein College fuhr mit dem Kopfe zu ihm herum und sagte in höchstem Erstaunen:

»Ah! Wirklich! Mir vollständig neu!«

»Aber mir nicht, Herr College.«

»Wahrscheinlich sind Sie bedeutend älter als ich!«

»Ich glaube nicht, daß nur das Alter Erfahrung macht. Es kann durch Zufall auch einmal einem Jüngeren ein Blick dahin gestattet sein, wohin ein Älterer noch nicht schaute. Darf ich wohl wissen, wann Seidelmann starb?«

»Vor über einer Stunde.«

»Und bereits so steif? So steif wie Knochen! Bitte, fühlen Sie ihn an! Sein Leib greift sich an wie eine Statue aus Stein oder Metall. Grad die ungewöhnliche Schnelligkeit dieser Starre und der hohe Grad derselben erregt mein Bedenken. Ich gestehe aufrichtig, daß sie mir nicht natürlich vorkommt, will aber keineswegs der Competenz meines verehrten Herrn Collegen vorgreifen. Ich spreche nur eine persönliche Meinung aus.«

Da erklärte der Gerichtsarzt giftig:

»Und ich bescheinige amtlich, nicht aus persönlicher Meinung, daß dieser Mann hier eine Leiche ist!«

»Welcher Prüfung haben Sie diese Leiche unterworfen?« fragte da der Staatsanwalt.

»Derjenigen, welche für mein Urtheil hinreichend ist. Der Mann hat weder Puls noch Athem.«

»Haben Sie ihm nicht vielleicht eine Ader geöffnet?«

»Das war überflüssig.«

»Was meinen Sie, Herr Doctor Zander?«

»Ich meine, daß es immerhin geboten sein dürfte, nach der Circulation des Blutes zu suchen. Ich möchte den Herrn Collegen bitten, eine Ader zu öffnen.«

Das brachte den Gerichtsarzt vollends aus dem Häuschen. Er hielt seinen Zorn nicht mehr zurück und sagte:

»Meine Herren, ich bitte, mir mitzutheilen, ob Herr Doctor Zander anwesend ist zum Zwecke eines ärztlichen Consiliums mit mir!«

Da nahm der Fürst das Wort:

»Ich erhielt die Nachricht von dem bevorstehenden Tode der beiden Gefangenen. Ich hegte Verdacht und begab mich zu Herrn Doctor Zander, welcher mein Vertrauen besitzt. Wir wußten nicht, daß der Herr Gerichtsarzt anwesend sein würde; wir mußten die Umstände nehmen, wie wir sie finden würden. Daher versah sich der Herr Doctor mit den Instrumenten, welche unter Umständen nöthig werden konnten. Das will ich bemerken. Mein Verdacht ist nicht beseitigt worden, sondern er hat sich verstärkt. Das Übrige


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überlasse ich dem Herrn Staatsanwalt. Doch bemerkte ich allen Ernstes, daß ein Mann der Wissenschaft sich nie gekränkt fühlen kann, wenn er einen Fingerzeig erhält, der sich nicht auf seine Person, sondern auf die Sache bezieht.«

Doctor Zander richtete freundlich bittende Worte an den selbstbewußten Collegen; die anderen Beiden sprachen auch zur Sühne, und so konnte er endlich nicht anders, als auf ihre Intention eingehen.

»Nun gut,« sagte er, »ich will nicht länger widerstreben; aber ich bin überzeugt, daß es vollständig unnöthig ist. Haben Sie den ganzen Aderlaßapparat mit?«

»Ja, und sogar noch Einiges dazu.«

»So nehmen Sie selbst die Operation vor; denn ich habe in meinem ganzen Leben noch keine Leiche zur Ader gelassen und werde es auch künftighin nicht thun. Bitte, bewaffnen also Sie sich mit der Fliete oder dem Schnepper, Herr College!«

Das war in sehr hörbarem Hohn gesprochen. Zander aber antwortete in überlegener Ruhe, indem er das Etui und einige Fläschchen aus der Tasche zog:

»O, über den Schnepper und die Fliete sind wir ja längst hinaus. Wir nehmen die Lanzette.«

»Schön! Aber wozu die Fläschchen? Wollen Sie vielleicht das Leichenwasser auf Flaschen ziehen?«

»Warum nicht?«

»Na, wenn es Ihnen Spaß macht, dann meinetwegen. Also, hier liegt die Basilica-Vene!«

Er hatte die Hand des Todten ergriffen und deutete auf die Stelle, an welcher die genannte Ader lag. Es war ja eine Zurücksetzung Zanders, wenn diesem dieser Ort erst gesagt und gezeigt werden mußte. Dieser aber ließ sich nicht aus der Fassung bringen und antwortete:

»Erlauben Sie, daß ich lieber die Mediana-Vene nehme; die liegt ja am Bequemsten.«

Das war eine collegiale Ohrfeige, welche der zornige Mann erhielt. Er trat zurück und schwieg. Zander aber öffnete die Vene.

»Hm!« sagte er. »Kein Blut, nicht einmal ein Tropfen Wasser! Nehmen wir einmal den Fuß.«

Auch da gab es keinen Erfolg. Da stieß der Gerichtsarzt ein befriedigtes Lachen aus und sagte:

»Vielleicht machen die Herren doch nun eine Erfahrung, daß eine Leiche, bei welcher die Todesstarre eingetreten ist, kein Blut mehr haben kann!«

»Noch haben wir die Drosselader und die Stirnvene,« antwortete Zander. »Versuchen wir es mit der Ersteren.«

Kaum war die Lanzette in die genannte Ader eingedrungen, so spritzte eine Flüssigkeit heraus, welche einem schmutzigen Wasser ähnlich sah. Zander hielt eins der kleinen Fläschchen hin, bis es voll war. Freilich währte der Erguß dieses Wassers nur wenige Secunden.


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»Blutwasser, welches in einigen Stunden in Verwesung übergehen wird,« sagte der Gerichtsrath achselzuckend.

Zander aber trat an das vergitterte Fenster, hielt das Fläschchen gegen das Licht und betrachtete es eine sehr lange Weile. Dann steckte er es ein, trat an die Leiche zurück und zog eine Aderbinde hervor. Da konnte sich sein College nicht halten. Er rief:

»Was! Sie verbinden eine Leiche?«

»Ich verbinde alle drei Öffnungen, welche ich gemacht habe, denn ich will nicht, daß dieser Mann sich verblute, falls er ja noch leben sollte.«

»Sie glauben also wirklich noch, daß er leben kann?«

»Ja, es ist die Möglichkeit vorhanden. Es giebt Gifte, nach deren Genuß sich die Thätigkeit des Herzens gar nicht mehr bemerken und nachweisen läßt, außer wenn man mit einem Messer in das Herz selbst stößt. Das aber würde Mord sein. Hört die Wirkung des Giftes auf, so beginnt die Thätigkeit des Herzens wieder; das Blut erhält seine frühere chemische Zusammensetzung und füllt die Adern, und der Todte steht so ruhig wieder auf, als ob er sich zum Schlafe in's Bett gelegt hätte. Dieser Fall scheint mir hier möglich. Ich nehme also dieses Blutwasser mit, um es chemisch zu untersuchen. Diese Untersuchung wird uns Gewißheit geben, ob wir es mit einer Leiche zu thun haben oder nicht.«

Da stieß der Gerichtsarzt ein lautes Lachen aus und rief:

»Wünsche guten Erfolg, Herr College! Adieu, meine Herren!«

Dann rannte er fort. Er hätte sich nicht zurückhalten lassen, selbst wenn die drei Herren den Versuch dazu gemacht hätten. Der Staatsanwalt sagte:

»Ein Mann, mit dem sich niemals reden läßt. Ich hoffe, daß er thut, was er vorhin andeutete. Man stellt doch lieber eine Kraft an, welche auf der Höhe der wissenschaftlichen Erfahrung steht. Bis wann kann Ihre Untersuchung beendet sein, Herr Doctor?«

»Binnen drei oder vier Stunden kenne ich die mechanische Zusammensetzung des Blutes; ob das Letztere ein Gift enthält, das werde ich erst morgen wissen.«

»Sie meinen also, daß wir die Leiche nicht aus sicherer Verwahrung geben?«

»Ich rathe zur Vorsicht, welche ja auf keinen Fall schaden kann.«

Als er die drei Verbände angelegt hatte, entfernten sie sich. Im Corridore kam ihnen der Schließer entgegen.

»Meine Herren,« meldete er, »soeben ist der Apotheker gestorben.«

»Wirklich!« meinte der Staatsanwalt. »Da sollte der Gerichtsarzt noch da sein.«

»Er ist noch da. Der Herr Wachtmeister schickte mich zu Ihnen; ich traf unterwegs den Herrn Doctor und führte ihn in die Zelle des Todten. Er befindet sich noch dort.«

Sie hatten die angegebene Zelle noch nicht erreicht, so trat der Gerichtsarzt heraus. Er sah sie kommen und sagte:


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»Hier giebt es wieder Blut auf Flaschen zu ziehen, meine Herren. Der Giftmischer ist verschieden.«

»Ist er todt?« fragte der Staatsanwalt.

»Ohne allen Zweifel. Vielleicht aber thut der Herr College Zeichen und Wunder und weckt ihn wieder auf.«

Er eilte fort, die Herren aber traten in die Zelle. Doctor Zander ergriff die Hand Horns, untersuchte Puls und Athem und sagte dann:

»Todt! Aber sind wir bei dem Einen vorsichtig gewesen, so können wir es auch bei dem Anderen sein. Da er erst jetzt gestorben ist, wird es genügen, eine Handvene zu öffnen.«

Er hatte recht. Er bekam so viel Blutwasser als zu einer chemischen Untersuchung genügte, und verband die kleine Wunde mit einer Sorgfalt, als ob er einem Lebenden zur Ader gelassen habe.

Jetzt wurde berathen, wo die Todten aufzubewahren seien, und der Staatsanwalt bestimmte, daß der Apotheker zu dem Schuster Seidelmann zu schaffen sei. In der Krankenstation waren sie gut aufgehoben. Von einer Flucht war keine Rede, da die Station ja im Gefängnisse lag.

»Außerdem sind sie ja nackt,« meinte der Assessor. »In diesem Zustande würde es ihnen, falls sie ja wieder lebendig würden, wohl nicht möglich sein, zu entkommen.«

»Und,« fügte der Staatsanwalt hinzu, »ich werde dem Wachtmeister sagen, daß von Stunde zu Stunde die beiden Leichen revidirt werden. Es handelt sich hier um einen Fall, welcher eine solche Vorsicht entschuldigt, obgleich sie dem Herrn Gerichtsarzt lächerlich erscheint.«

Als sich Zander mit dem Fürsten unterwegs befand, zog er die beiden Fläschchen hervor, betrachtete sie nochmals aufmerksam und meinte dann:

»Hier im Wagen auf der Straße ist es heller als in der Zelle. Mir scheint es, als ob dieses Blutwasser eine ganz eigenthümliche Färbung habe. So gesund röthlich sieht Wasser aus, in welchem man frisches, mageres Rindfleisch gewaschen hat. Waschen Sie aber einmal faules Fleisch, dann wird das Wasser ein schmutziges Aussehen erhalten. Ich sehe die Möglichkeit ein, daß ich mich vor diesem Herrn Gerichtsarzt ungeheuer lächerlich mache; aber ich will diese Blamage riskiren. Ich spiele in einer Lotterie, in welcher tausend Nieten gegen einen einzigen Gewinn stehen. Desto größer ist das Glück, wenn ich den Treffer ziehe.«

»Und ich will Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich ein ungewöhnliches Vertrauen zu Ihnen hege. Ihre Kenntnisse sind so bedeutend, wie das Glück groß ist, welches Sie besitzen. Und dieses letztere ist ja nicht das Geringste, was einem Arzte zu wünschen ist. Sie sind ja durch Ihre letzten Curen förmlich berühmt geworden. Wie steht es denn jetzt mit Doctor Holm's Vater?«

»Wir haben nicht weit hin. Wollten Sie mich vielleicht begleiten, Durchlaucht?« fragte Zander lächelnd.

»Das klingt ja verheißungsvoll!«


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»Ja. Ich habe die Electricität in Anwendung gebracht. Es würde mich freuen, Ihnen den Erfolg zeigen zu dürfen.«

»Ich fahre mit. Und wie steht es mit der armen Frau des Theaterdieners Werner?«

»Hm! Wir können ja gleich vom Altmarkte zu ihm fahren. Seine Frau litt keineswegs am Krebse, sondern an einer Gesichtsflechte, welche nur in Folge einer ungeheuer verkehrten Behandlung einen solchen Grad von Gefährlichkeit annehmen konnte. Und dann - - aber ich glaube, daß ich Ihre kostbare Zeit zu sehr in Anspruch nehme!«

»In wiefern? Giebt es noch einen Ort, an den ich mit Ihnen fahren soll?«

»Ja; in meine, nämlich meine Wohnung.«

»Was giebt es da?«

»Da warten nämlich bereits Zwei, welche gar nicht wissen, was sie bei mir wollen, nämlich Marie Bertram und der Mechanikus Fels.«

»Ihr früherer Geliebter?«

»Ja.«

»Was haben Sie mit den Beiden vor?«

»Nun, es versteht sich ganz von selbst, daß ich mich für die Familie Bertram, welche unter Ihrem besonderen Schutze steht, lebhaft interessire. In Folge dessen dachte ich auch an Fels, dessen Mutter als unheilbar Irrsinnige im Bezirkshause war. Ich ging zu ihr und untersuchte sie. Sie war, wie Sie wissen, blind. Ich nahm sie zu mir und habe, ohne ein Wort davon zu sagen, sie operirt.«

»Was! Ist's möglich! War sie denn heilbar?«

»Ich dachte es. Und heute glaube ich, daß die Operation gelungen ist.«

»Eine Irrsinnige, welche sehen wird!«

»O bitte! Es mag kühn von mir sein, aber ich habe den Gedanken gehabt, daß das wiederzugewinnende Augenlicht vortheilhaft auf den Geist der Kranken wirken könne. Ich will heute die Binde entfernen.«

»Und dazu haben Sie das Liebespaar geladen?«

»Ja. Auch hier spiele ich ein gewagtes Spiel; aber ich sage mir, daß nichts zu verlieren, hingegen aber Alles zu gewinnen sei.«

»Sie sind trotz Ihrer Jugend ein außerordentlicher Mann. Gelingt Ihnen das Wagniß mit den beiden gestorbenen Gefangenen, so dürften Sie sehr leicht in kurzer Zeit Bezirksarzt sein.«

»Möglich, daß man mir es anbieten würde, doch fragt es sich, ob ich acceptire. Also, darf ich hoffen, daß Sie sich mit nach meiner Wohnung verfügen, Durchlaucht?«

»Natürlich! Sogar sehr gern! Hier sind wir auf dem Altmarkte. Also, wollen wir zu Holm? So sage ich es dem Kutscher.«

Der Doctor bejahte und in Folge dessen mußte der Kutscher vor dem betreffenden Hause halten. Sie stiegen die drei Treppen empor und klopften an. Hilda öffnete.

Es sah jetzt in der Wohnung bedeutend freundlicher aus als früher.


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Aus der Nebenstube hörten die Eintretenden eine fröhlich lachende, glockenreine Frauenstimme. Holm's Vater saß am Fenster, durch welches er blickte und - eine lange Pfeife rauchte.

»Der Herr Doctor!« sagte er erfreut, indem er sich von dem Stuhle erhob, und wenn auch noch schwerfällig, aber doch einige Schritte ihm entgegen kam, um ihm die Hand zu geben und ihn willkommen zu heißen.

»Was?« sagte der Fürst. »Ist das der vollständig gelähmte Mann, von dem ich gehört habe?«

»Ja, Herr, der bin ich,« antwortete Holm, vor Glück über das ganze Gesicht lachend. »Der Herr Doctor Zander hat ein Wunder an mir gethan. Ich kann es ihm nicht genug danken.«

Da wurde die Thür zum Nebenzimmer geöffnet. Doctor Holm erschien.

»Durchlaucht!« rief er überrascht. »Welche Ehre! Und Doctor Zander? Herzlich willkommen!«

»Durchlaucht? Welche Durchlaucht?« fragte es hinter ihm.

»Siehe es selbst!«

Er trat zur Seite, und es kam die Amerikanerin Ellen Starton herein. Sie erröthete zwar, als sie den Fürsten erblickte, gab ihm aber freimüthig die Hand mit den Worten:

»Das ist freilich eine große Überraschung, Durchlaucht, ich wollte mir heute die Ehre geben, zu Ihnen zu kommen, um mir eine Audienz zu erbitten.«

»Sie sind herzlich willkommen.«

»Ich hatte Ihnen etwas so sehr Hochwichtiges mitzutheilen.«

»Ich werde ganz Ohr sein.«

»Nun ich Sie aber so erfreulicher Weise bereits jetzt sehe, so möchte ich Ihnen diese Mittheilung doch lieber gleich jetzt machen.«

»Ich muß mich Ihnen auch jetzt zur Verfügung stellen. Also bitte! Etwas Hochwichtiges?«

»Ja, aber nur für mich. Lieber Max, ist es nicht eigentlich Deine Sache, es Durchlaucht zu sagen?«

»Ja, eigentlich; aber -«

Sie blickten sich unter glücklichem und einigermaßen verlegenem Lächeln an, bis der Fürst sagte:

»Bitte, bitte, ich mag gar nichts hören! Ich weiß es schon!«

»O nein, gewiß nicht!« antwortete Ellen.

»Soll ich rathen?«

»Ja, bitte?«

»Sie wollen mich einladen?«

»Richtig, richtig! Aber wozu?«

»Zur Verlobung einer sehr berühmten amerikanischen Tänzerin mit einem ebenso berühmten europäischen Violinvirtuosen. Nicht wahr?«

»Ja, es ist errathen; unser Geheimniß ist enthüllt!«

»Ich komme! Wann aber und wo?«


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»Das ist wirklich noch unbestimmt. Hier bei Max ist es zu eng für unsere Gäste und im Hotel Union, wo ich noch wohne, giebt es keinen Saal.«

»Ich wüßte einen!« lachte der Fürst.

»Wirklich? Wo?«

»Muß er groß sein?«

»Nein. Eine kleine Hütte, wo einige glückliche Schiller'sche liebende Paare Platz finden.«

»Das ist bei mir zu finden.«

»Bei Ihnen? O nein!«

»O doch, beste Miß Ellen. Sie werden Ihre Verlobung bei mir feiern; das verlange ich partout. Es giebt gar nichts dagegen zu sagen. Ihr Bräutigam hat mir so bedeutende Dienste geleistet, daß er mir doch jetzt nicht eine Absage geben darf. Also topp! Eingeschlagen!«

Er hielt den Beiden die Hände hin. Doctor Holm zögerte, aber die Amerikanerin war muthiger.

»Ja, unhöflich dürfen wir nicht sein, Max. Also eingeschlagen! Doch unter einer Bedingung!«

»Welcher?«

»Herr Doctor Zander muß mitkommen. Der Mann, welcher unserem Papa den Gebrauch der Glieder wiedergegeben hat und meinem Max die - ah, da kann ich es doch gleich sagen: Wissen Sie, Herr Doctor, was wir eben thun wollten?«

»Ich bitte, es erfahren zu dürfen.«

»Geigen, ja geigen wollten wir!«

Zander machte ein ironisch erstauntes Gesicht und sagte:

»Ist das hier etwas so Seltenes?«

»O, sehr selten!«

»Ich denke, Herr Doctor Holm geigt täglich.«

»Verkehrt, ja; aber heute möchte er die Violine endlich wieder in die Linke nehmen. Wie steht es mit dem Verbande?«

»Na, lassen Sie sehen! Ich hatte mich doch geirrt. Ich glaubte, daß die Heilung in vierzehn Tagen eintreten werde, aber es ist doch eine so viel längere Zeit nöthig gewesen.«

Er entfernte den Verband von der linken Hand Holm's, ließ diesen die Finger bewegen, untersuchte jeden einzelnen derselben und sagte dann:

»Es geht. Aber, bitte, gehen wir lieber sicher. Warten Sie noch einige Tage.«

»O weh!« seufzte Ellen. »Sie sind grausam.«

»Nein, ich bin nicht grausam, sondern ich verfolge nur einen gesellschaftlichen Zweck,« lächelte er.

»Welcher wäre das?«

»Bleibt es dabei, daß ich zur Verlobung geladen bin?«

»Natürlich!«


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»So erlaube ich, daß er bei diesem Feste vor den versammelten Gästen zum ersten Male seine Meisterschaft zeigt, eher aber nicht. Einverstanden, Miß?«

»Ja, darauf gehe ich ein! Er mag also dafür sorgen, daß er sich möglichst bald überzeugt, ob die Hand brauchbar geworden ist oder nicht.«

»Sie ist es; ich garantire.«

Er beschäftigte sich noch kurz mit Holm's Vater und dann verließ er mit dem Fürsten die glückliche Familie, um eine Minute später die vier Treppen zu dem Theaterdiener Werner hinaufzusteigen.

Als sie da eintraten, waren die sämmtlichen Glieder der Familie vorhanden. Emilie und Laura kannten ja den Fürsten und verbargen die Freude nicht, mit welcher sie ihn sahen. Ihr Vater verbeugte sich, so tief es ihm möglich war, und auch seine Frau erhob sich von dem Stuhle, auf welchem sie gesessen hatte.

Früher war ihr Gesicht mit mehreren Tüchern verhüllt gewesen, jetzt aber hatte diese Hülle in Wegfall kommen können. Sie trug nur einen Schirm über den Augen, welche sehr angegriffen waren.

Zander entfernte diesen Schirm, so daß der Fürst das Gesicht sehen konnte.

»Bitte, Durchlaucht,« sagte er. »Vor Kurzem war da weder Haut noch Fleisch zu sehen. Jetzt haben sich die Muskeln gebildet und die Gesichtshaut erscheint. In einem Monate wird Frau Werner auf die Straße gehen können, ohne sehr großes Aufsehen zu erregen.«

Die früher sehr unglückliche Frau brach vor Glück in ein lautes Schluchzen aus, in welches ihr Mann und ihre Kinder einstimmten. Es war eine Scene, welche zu Herzen ging. Der Fürst ergriff die Hand des Arztes, drückte sie herzlich und sagte:

»Fast möchte ich Sie beneiden. So glücklich wie Sie, vermag Unsereiner keinen Menschen zu machen. Ich will aber sehen, ob es mir möglich ist, auch einen kleinen Beitrag zu leisten. Herr Werner, wenn Sie einen Wunsch haben, den ich erfüllen kann, so sprechen Sie!«

»O Durchlaucht!« meinte der brave Mann zaghaft. »Einen Wunsch hätte ich schon, aber -«

»Weiter!«

»Aber er ist zu groß!«

»Na, wir werden ja sehen!«

»Ich möchte gern - gern - «

»Was möchten Sie gern? Sehe ich denn gar so fürchterlich aus, daß Sie nicht zu reden wagen?«

»O nein. Aber Sie haben schon so Viele!«

»Was denn?«

»Diener.«

»Ach so! Sie möchten gern in meinen Dienst treten?«

»Ja. Gott sei Dank! Jetzt ist es heraus!«

»Das ist freilich ein Wunsch, den ich wohl kaum erfüllen kann!«


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Er hatte das sichtlich nur im Scherze gesagt; Werner aber antwortete sehr ernst darauf.

»Das dachte ich mir! Verzeihung, Durchlaucht.«

»Aber ich wüßte eine Stelle für Sie.«

»Wirklich?«

»Ja, und zwar eine Stelle, welche Ihnen behagen würde.«

»Darf ich darnach fragen?«

»Nein. Ich werde Ihnen aber den Contract schicken. Gefällt er Ihnen, so können Sie ihn unterschreiben.«

»Ach, da bin ich gespannt!«

»Ich mache freilich eine Bedingung. Nämlich Derjenige, welcher Ihnen diesen Contract bringt, beansprucht eine Belohnung dafür.«

»Die soll er haben, wenn es in meinen Kräften steht.«

»Es steht in Ihren Kräften und ich werde Ihre Geduld auch nicht sehr lange auf die Probe stellen.«

Das war ein Versprechen, welches die ganze Familie mit Freude erfüllte. Sie hätten freilich am liebsten gleich jetzt gewußt, um was es sich handelte. Auch Doctor Zander, welcher sich für Werner's sehr interessirte, war neugierig und erkundigte sich darnach, als er mit dem Fürsten wieder in dem Wagen saß.

»Es war ein kühnes Versprechen, welches ich gab,« antwortete dieser. »Ich weiß zwar eine Stelle; vielleicht aber ist sie schon vergeben, auch habe nicht ich darüber zu verfügen, aber ich werde doch versuchen, ob es mir gelingt, sie dem braven Manne zu verschaffen. Jetzt nun bin ich gespannt, was ich bei Ihnen sehen und erfahren werde. Also Fels ist mit seiner Geliebten bereits da?«

»Jedenfalls. Ich erwartete die Beiden, als Sie zu mir kamen, um mich nach dem Gefängnisse abzuholen.«

Marie Bertram hatte, wie bekannt, eine Stellung bei Alma von Helfenstein gefunden. Wilhelm Fels, der Mechanikus, war als Gehilfe bei einem Meister eingetreten und befand sich wohl bei demselben. Nur eins bedrückte ihn, nämlich er bekam die Geliebte nicht zu sehen. Er ging täglich des Abends, wenn die Arbeit zu Ende war, an dem Palaste der Baronesse vorüber; er stand ganze Stunden lang auf der Straße und beobachtete die Fenster. Zuweilen war es ihm, als stehe die Geliebte oben und blicke auf die Straße herab. aber wenn er sich dann sehen ließ und ein Zeichen gab, so war sie verschwunden.

Dann kam er auf den Gedanken, ihr zu schreiben. Er schrieb mehrere Briefe, erhielt aber keine Antwort. So kam es, daß er trüber und trüber gestimmt wurde und sich recht einsam und verlassen fühlte. Er hatte nun Niemand mehr; seine Mutter war ja unheilbar wahnsinnig. Dennoch besuchte er sie wöchentlich einige Male, aber sie kannte ihn nicht. Sie wimmerte leise und schmerzlich vor sich hin, wie sie es seit dem Tage gethan hatte, an welchem sich ihr Geist verwirrt hatte.

Vorige Woche nun hatte er sie auch besuchen wollen, war aber mit dem


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Bescheide, daß sie nicht zu sprechen sei, abgewiesen worden. Dasselbe war gestern wieder geschehen. Er befand sich in großer Sorge, und als er heute eine briefliche Aufforderung erhielt, sich am Nachmittage zu einer angegebenen Zeit bei Doctor Zander einzufinden, ahnte er nicht, daß diese Einladung sich auf seine Mutter beziehe.

Er begab sich zu der bestimmten Zeit nach der Wohnung des Arztes, den er von Rollenburg her kannte. Im Vorzimmer saß eine alte Verwandte Zander's, welche er zu sich genommen hatte, um nicht allein zu sein. Er sagte ihr seinen Namen. Sie sah von ihrem Strickstrumpfe weg und über ihre Brille hin ihm in's Gesicht und sagte:

»Treten Sie da durch diese Thür. Der Herr Doctor ist abgerufen worden und wird hoffentlich nicht lange auf sich warten lassen.«

Sie machte dabei ein eigenthümliches, wohlwollend=verschmitztes Gesicht. Und das hatte seinen Grund. Sie hatte nämlich von Zander alle Verhältnisse der Kranken, die jetzt bei ihm wohnte, erfahren; sie wußte also auch, daß Marie Bertram die Geliebte Fels' sei.

Er folgte der Aufforderung und trat in das Zimmer. Am Fenster stand eine schlanke aber volle Mädchengestalt, welche sich, als die Thüre ging, nach derselben umdrehte. Er erschrak freudig, trat schnell auf sie zu und rief:

»Marie! Du hier? Du?«

»Wilhelm! Herr Fels!« antwortete sie verwirrt.

Sie wollte ihm die Hand entziehen, welche er ergriffen hatte, aber er gab dieselbe nicht wieder her.

»Herr Fels! So nennst Du mich?« fragte er. »Welchen Grund hast Du dazu?«

»Den, welchen Du weißt.«

»Ich weiß keinen, gar keinen.«

»O doch!«

»Sage mir ihn, schnell!«

»Nein, nein! Lassen wir das! Was thust Du hier?«

»Ich weiß nicht, was ich soll. Ich wurde bestellt.«

»Ich auch.«

»Du auch? Du hast eigentlich nichts hier zu thun?«

»Nein. Ich erhielt diese Zeilen.«

Sie zog den Brief hervor und zeigte ihm denselben.

»Gerade so wie ich,« sagte er. »Das ist mir räthselhaft. Was mag dieser Doctor Zander von uns wollen!«

»Wir werden es jedenfalls erfahren. Willst Du Dich nicht setzen?«

Sie zeigte auf einen Stuhl und versuchte, ihm ihre Hand zu entziehen. Er hielt sie noch immer fest und antwortete:

»Ja, ich werde mich setzen, wenn Du Dich neben mich setzt. Komm! Ah, nicht? Magst Du nichts von mir wissen?«

Sie wandte sich ab und antwortete nicht.

»Sag es, Marie!« bat er. »Du magst nichts mehr von mir wissen?«


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Sie antwortete nicht. Darum fuhr er fort:

»Hast Du meine Briefe erhalten?«

»Ja,« sagte sie, doch ohne ihn anzusehen.

»Und auch gelesen?«

»Ja.«

»Ich bat Dich, mit Dir sprechen zu dürfen. Ich bat um Antwort, ich gab meine Adresse an. Du schriebst nicht wieder. Nun schrieb ich einen nächsten Brief. Ich bat Dich um eine Zusammenkunft. Ich gab Dir die Zeit und den Ort an. Ich ging hin, aber Du kamst nicht.«

»Ich konnte nicht,« antwortete sie zögernd.

»Warum nicht?«

»Ich hatte keine Zeit.«

»Keine Zeit! Für mich! Auf solche Bitten! Ich habe so viele, viele Male vor dem Hause gestanden, und Du mußt mich auch gesehen haben. Nicht wahr, Du hast mich gesehen?«

Sie nickte, ohne zu sprechen.

»Ich dachte, Du würdest einmal herunterkommen, Du aber kamst nicht. Du hattest auch da keine Zeit?«

»Ja.«

»Das ist traurig! Ich denke nun, daß Du auch fernerhin keine Zeit haben wirst. Du magst nichts mehr von mir wissen. Es soll zwischen uns aus sein. Nicht wahr?«

Sie athmete schwer und stieß erst nach einer Weile hervor:

»Ja, es ist aus!«

»Ganz gewiß und unwiderruflich?«

»Ganz gewiß.«

Da endlich ließ er ihre Hand los, ging langsam zum Stuhle und setzte sich nieder. Sie wankte zum Fenster und blieb dort stehen, mit dem Rücken nach ihm gekehrt. So blieb es eine ziemliche Weile still im Zimmer.

»Marie!« sagte er endlich.

Sie antwortete nicht.

»Warum soll es denn aus sein?«

Auch jetzt erhielt er keine Antwort.

»Weißt Du noch, wie schön es war in der Wasserstraße, wenn wir mit einander auf der alten Ofenbank saßen, und die Mutter ging hinaus, um uns allein zu lassen?«

Sie schluchzte leise vor sich hin.

»Wir waren arm, sehr arm; aber es war schön!«

Sie hielt die Hand an die Augen, antwortete aber nicht.

»Jetzt freilich ist es anders,« fuhr er fort. »Ihr seid reich.«

»Wilhelm!« stieß sie hervor.

»Nun ja. Dein Bruder ist beim Fürsten, und Du bist bei einer Baronesse. Was soll da der arme Mechanikus!«

»Wilhelm, das ist's nicht!«


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»Was denn?«

»Du weißt es.«

»Ach ja, ja, ich weiß es,« sagte er, wie sich besinnend.

»Der arme Mechanikus arbeitete Tag und Nacht, damit seine Mutter nicht hungern sollte und weil er ein Mädchen so sehr, so sehr lieb hatte. Er war unvorsichtig und nahm einiges Arbeitsmaterial; er wollte es nicht stehlen -«

»Wilhelm!« rief sie in bittendem Tone.

»Bei Gott, er wollte es nicht stehlen; er wollte es bezahlen, aber es kam nicht dazu. Er wurde arretirt und mit Gefängniß bestraft. Das ist es, ja, das ist es.«

Da fuhr sie rasch herum und fragte:

»Was soll das sein?«

»Der Grund, warum Du nichts mehr von mir wissen magst. Ich bin gefangen gewesen.«

»Nein, nein, das ist es nicht!«

»O doch! Gewiß!«

»Nein.«

»So sage es mir!«

Sie wurde unter Thränen glühend roth und antwortete:

»Du weißt es ja. Du weißt, wo ich gewesen bin.«

»Nun, wo denn?«

»An der Ufergasse.«

»Du hast doch nicht hingewollt und hast Dich gewehrt. Das weiß ich genau.«

»Und dann bei der Melitta in Rollenburg.«

»Auch dafür kannst Du nicht. Und was hast Du denn dort gethan? Nichts, gar nichts. Wir sind ja gekommen und haben Dich geholt!«

»Wenn auch. Wer in einem solchen Hause gewesen ist, der - -«

Thränen erstickten ihre Stimme. Er aber stand schnell bei ihr, ergriff ihre Hand wieder und fragte:

»Nichts Anderes? Weiter nichts?«

»Nein, weiter nichts.«

»Es soll zwischen uns aus sein Deinetwegen, nicht aber meinetwegen?«

»Ja.«

»Herrgott! Mädchen, was fällt Dir ein! Würde ich Dich aus Rollenburg geholt haben, wenn es aus sein soll?«

»Aber so etwas läßt sich nie vergessen!«

»So etwas? Was denn? Du hast ja gar nichts Unrechtes gethan! Ich habe Alles erfahren, wie es gewesen ist. Der Tod Deines Vaters hat Dich so verstört gemacht. Dazu ich gefangen und Robert gefangen! Du bist ja fast irrsinnig gewesen. Du warst es ja noch in Rollenburg. Erst als Du mich erkanntest, bist Du so langsam wieder zum Bewußtsein gekommen. Geh, Du mußt mich aber doch für einen schlechten Menschen halten!«

Er sagte zwar »Geh«, zog sie aber doch an sich heran, und jetzt ließ


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sie es geschehen. Er blickte ihr in das liebliche Angesicht; sie aber hielt die Augen niedergeschlagen.

»Mariechen!« bat er.

»Wilhelm!«

»Ist's wirklich aus?«

»Ich dachte, es müßte.«

»Und darum kamst Du nicht? Und darum schriebst Du mir nicht? Nur darum allein?«

»Ganz allein,« hauchte sie.

»Ich dachte, Du hättest mich nicht mehr lieb.«

»O sehr, sehr!«

Dabei verbarg sie das Gesicht an seinem Herzen.

»Gott sei Dank!« sagte er. »Was bin ich doch für ein großer Esel gewesen! Weißt Du, was ich hätte thun sollen?«

»Was?«

»Ich hätte schnurstracks zu Dir kommen sollen. Deine Baronesse hätte mir wohl erlaubt, einige Worte mit Dir zu sprechen. So aber habe ich mir dumme Sorgen gemacht und mich ganz unnöthig gegrämt. Das aber wird nun anders. Mariechen, ich sage Dir: Ich schreibe nicht wieder!«

»Nicht?« fragte sie, in seiner Umarmung glücklich zu ihm auflächelnd.

»Nein. Was ich Dir zu sagen habe, kann ich Dir mündlich sagen. Soll ich? Darf ich?«

»Ja.«

»Also wir treffen uns alle Tage vor Eurer Thür, Abends punkt neun Uhr. Gut!«

»Wenigstens heute, morgen und übermorgen. Fällt uns etwas Anderes, Besseres ein, können wir es uns sagen. Jetzt aber darfst Du nicht widersprechen!«

»Das thue ich nicht.«

»Und die Augen zu machen!«

»Gut! So?«

Er gab ihr einen Kuß, daß es laut schallte. Im Nu waren ihre Augen auf.

»Um Gottes willen! Was machst Du!« sagte sie.

»Das hast Du nicht gemerkt? Dann gleich noch einmal! Komm!«

Er wollte ihr noch einen Kuß geben; sie aber wehrte ihn von sich ab und sagte:

»Nein, nein! Die alte Dame draußen hört es ja!«

»Gott bewahre!«

»Freilich!«

»Hätte sie es wirklich gehört?«

»Natürlich! Du bist viel zu laut!«

»Ach so! Na, dann leiser, viel leiser! Komm, Mariechen!«


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Er nahm sie beim Kopfe, hob ihr Gesicht in die Höhe und näherte seinen Mund ganz, ganz langsam ihren Lippen.

»Paß auf!« flüsterte er. »Jetzt sollst nicht einmal Du etwas hören!«

»So gar sehr leise braucht es nicht zu sein!«

»Wie denn? Halb und halb?«

»Ich will es Dir zeigen. So!«

Sie schlang die Arme um seinen Nacken, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn.

»Ach so!« sagte er. »Das muß ich mir merken, und damit ich es nicht vergesse, rasch noch einmal!«

Er küßte sie wieder und immer wieder. Sie entgegnete seine Küsse mit glückstrahlendem Gesichte. Sie waren Beide so vertieft in diese angenehme Beschäftigung, daß sie weder hörten noch sahen, was geschah.

Die Thür hatte sich geöffnet und mit durch den Teppich gedämpften Schritten waren der Fürst und Doctor Zander eingetreten. Sie blickten lächelnd den Beiden zu. Endlich aber sagte Zander laut:

»Gesegnete Mahlzeit, meine Herrschaften!«

Die beiden Ertappten fuhren herum. Marie stieß einen Schrei des Schreckens aus und wußte sich keinen anderen Rath, als daß sie blitzschnell nach dem Fenster sprang und sich dort hinter die Gardine steckte. Fels blieb stehen. Auch sein Gesicht erglühte, aber er verlor doch die Fassung nicht, sondern er antwortete:

»Ich danke, Herr Doctor! Hatten Sie uns vielleicht zu dieser Mahlzeit eingeladen?«

»Ja.«

»Ah! Das ist verwunderlich!«

»Nicht so sehr. Ich wußte, daß Sie Appetit hatten.«

»Woher?«

»Es stand Einer zuweilen vor der Wohnung der Baronesse von Helfenstein und blickte mit solcher Sehnsucht nach den Fenstern, daß ich mir vornahm, ihm seinen Herzenswunsch zu erfüllen. Bitte, Fräulein Bertram!«

Er holte sie hinter der Gardine vor. Wohl selten ist ein Mädchen so roth gewesen wie Marie in diesem Augenblicke. Ihr Gesicht glühte förmlich, und ihre Augen standen voller Thränen der Verlegenheit.

»Bitte, schämen Sie sich Ihrer Liebe nicht!« sagte der Arzt im freundlichsten Tone. »Auch ich habe mir in diesen Tagen eine Geliebte errungen; wir sind also Gefährten des Glückes.«

Vor ihm hätte sie sich vielleicht weniger genirt als vor dem Fürsten; aber der milde Blick des Letzteren stillte endlich auch Mariens Herzklopfen.

»Sie werden jetzt im Ernste fragen, weshalb ich Sie zu mir bestellt habe,« sagte Zander. »Errathen Sie es nicht, Herr Fels?«

»Nein.«

»Hat man Ihnen im Bezirkshause nichts gesagt?«

»Kein Wort.«


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»Ja, ich hatte das gewünscht. Nun aber ist es an der Zeit daß Sie es erfahren. Ihre Mutter befindet sich bei mir.«

»Ach so! Also deshalb war sie nicht zu sprechen!«

»Ja, deshalb. Der Fall interessirte mich. Man hielt ihren geistigen Zustand für unheilbar.«

»Sie aber nicht?«

»Nein.«

»Herrgott, wenn Sie recht hätten!«

»Es wäre absolut unheilbar, wenn nicht die Möglichkeit vorhanden wäre, daß ein früheres Unglück jetzt für sie zum Glücke werden könnte.«

»Welches Unglück, Herr Doctor?«

»Ich meine ihre Blindheit. Ich hatte Gründe, Sie nicht zu benachrichtigen und habe daher nur Ungenaues erfahren, aber nicht wahr, Ihre Mutter ist nicht stets blind gewesen?«

»O nein. Sie wurde es erst vor ungefähr drei Jahren.«

»Aus welchem Grunde?«

»Es kam langsam, so nach und nach, ohne daß man den Grund erkennen konnte.«

»Hm! Das ist mir lieber, als wenn sie infolge eines plötzlichen Ereignisses, zum Beispiel einer Erkältung erblindet wäre. Solche Fälle sind fast stets hoffnungslos. Übrigens haben wir es mit einem nicht unheilbaren Staar zu thun. Haben Sie früher Ärzte gehabt?«

»Zwei. Diese gaben sich weder Mühe noch Hoffnung. Wir waren ja arm und konnten nicht zahlen.«

»Es giebt ja Armenärzte!«

»Das waren die Beiden.«

»Ach so! Nun, ich will Ihnen gestehen, daß ich die Operation gewagt habe.«

»Herr Jesus! Ist sie gelungen?«

»Ich hoffe es. Eine Behauptung kann ich freilich nicht aufstellen. Doch ist heute die Zeit, die Binde zu lüften. Da Sie dabei sein sollen, habe ich Sie kommen lassen.«

»Welch' eine Nachricht! Herr Doctor, ich bin Ihnen bereits so viel Dank schuldig! Sie verpflichten mich ja immer mehr!«

»Was ich thue, macht mir selbst Vergnügen. Ich darf wohl annehmen, daß Ihr Gesicht Ihrer Mutter bekannt sein wird, da sie erst seit nicht langer Zeit blind ist. Und ebenso ist ihr Fräulein Bertram hier bekannt?«

»Sie kennt uns Beide jedenfalls gleich genau.«

»Das ist gut. Ihr erster Blick wird auf Sie fallen. Ich hoffe, daß dieser Blick eine glückliche Wirkung auf den Zustand ihres Geistes hat.«

»Wenn das wäre, Herr Doctor! O, wenn es doch wäre!«

»Gott mag es geben! Ich verhehle aber nicht, daß auch eine gewisse Gefahr vorhanden ist. Sollte ihr geistiger Zustand jetzt noch heilbar sein, was ich aber ganz entschieden bezweifle, so kann ihre Seele durch die zu erwartende


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Aufregung in ewige, hoffnungslose Nacht versinken - oder es kann diese Aufregung eine solche Wirkung auf den Sehnerv haben, daß sie unheilbar wieder erblindet. Ich muß Sie darauf aufmerksam machen. Sie sind der einzige Verwandte der Patientin. Sie haben zu erlauben, ob ich kühn sein darf oder nicht.«

»Seien Sie es; seien Sie es, Herr Doctor! Ich habe alles, alles Vertrauen zu Ihnen!«

»Ich danke! Versuchen wir es also in Gottes Namen. Kommen Sie mit mir!«

Er führte sie in ein anderes Zimmer, dessen Fenster so verhängt waren, daß ein sehr gedämpftes Licht in dem Raume herrschte.

»Bitte, Herr Fels, setzen Sie sich da auf das Sopha und sagen Sie kein Wort. Bewegen Sie sich auch nicht. Sollte Ihre Mutter sprechen, sollte sie fragen, so antworten Sie nur dann, wenn ich Ihnen durch einen Wink die Erlaubniß dazu gebe. Und Sie, Fräulein Bertram, bleiben hier hinter diesem Bücherschrank stehen, bis ich Ihrer bedarf.«

Den Fürsten bat er, sich hinter die Portière zu stellen. Dann begab er sich in das Nebenzimmer, dessen Eingang gerade gegenüber das Sopha stand, auf welchem Fels saß.

Beim Öffnen der Thür konnte man bemerken, daß dieses Nebenzimmer vollständig dunkel sei.

Es trat eine höchst erwartungsvolle Pause ein. Der Sohn der unglücklichen Frau zitterte fast vor Aufregung. Jetzt brachte Zander die Leidende geführt. Ihre Augen waren verhüllt, und zwar so, daß sie die Binde nicht selbst entfernen konnte. In ihrem irrsinnigen Zustande hätte sie dies jedenfalls gethan.

Sie folgte der Hand des Arztes ganz willig. Dabei aber murmelte sie leise klagend:

»Blut! Blut! Er ist todt - todt - - todt!«

Es war ihr nur der plötzliche Tod des Nachbars Bertram im Gedächtnisse geblieben. Wurde etwas früher Geschehenes ihrer Erinnerung wiedergegeben, so war ein Erwachen ihres Geistes möglich. Da hatte Doctor Zander vollständig recht. Und so etwas Früheres waren doch die beiden bekannten Gesichter, welche sie jetzt sehen sollte, falls die Operation eine gelungene gewesen war.

Der Arzt schob einen Stuhl gerade unter die Thüröffnung und setzte die Kranke darauf, so daß sie ihrem Sohne sich gerade gegenüber befand. Dann begann er, die Binde zu lösen.

»Also bitte, keine Unvorsichtigkeit!« flüsterte er.

Dann entfernte er die letzte Hülle.

Frau Fels hielt die Augen noch eine kurze Weile geschlossen. Dann öffnete sie die Lider. Augenblicklich fuhr sie mit beiden Händen darnach.

»Gott!« stieß sie hervor.

Das war ein Wort, welches sie seit langer Zeit nicht gesprochen hatte.


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Sie ließ die Hände wieder sinken und richtete den Blick vorsichtig und blinzelnd auf den Sohn.

»Wer - was - - ach, ach!« stieß sie hervor, und dann hielt sie sich die Augen zu.

Fels hatte mit den Thränen zu kämpfen. Der Arzt aber gab ihm einen strengen Wink, sich zu beherrschen. Jetzt hielt sie die Hände wie einen Schirm über die Augen und betrachtete den Sohn.

»Wer - ach wer - wer ist - ist - -?«

Weiter sagte sie nichts. Sie legte die Hände wieder auf die Augen. Zander band ihr die eine Binde wieder vor. Sie ließ es ganz ruhig geschehen. Er gab Marie und Fels einen Wink, und Beide wechselten ihre Plätze.

»Sie kämpft mit ihrer Erinnerung. Der Geist will erwachen, ist aber noch zu schwach dazu,« flüsterte der Arzt. »Geben wir ihr also, um sie zu unterstützen, ein zweites, bekanntes Bild.«

Er trat wieder hinter die Kranke zurück und entfernte langsam die Binde. Sie öffnete wieder, wie vorhin die Augen, fuhr schnell mit den Händen nach denselben, ließ sie wieder sinken, betrachtete Marie, öffnete und schloß die Augen wiederholt und athmete dabei tief und ängstlich auf.

Dann, mit einem Male, öffnete sie die Augen groß und weit. Ihr Blick wurde bewußt und bewußter, und jetzt rief sie, die Hände verwundert zusammenschlagend:

»Marie!«

Das Mädchen antwortete nicht.

»Marie!«

Abermals keine Antwort.

»Marie, so rede doch!«

Der Arzt nickte zustimmend mit dem Kopfe, und darum antwortete sie mit dem Namen:

»Frau Fels!«

»Gott sei Dank! Ich dachte, Du wärst todt. Du warst still und stumm wie eine Leiche.«

»Meine liebe, gute Frau Fels!« stieß Marie hervor, die ihre Rührung kaum mehr beherrschen konnte. »Sie kennen mich also?«

»Dich? Kind, ich werde doch Dich kennen! Ich habe Durst, gieb mir einmal dort vom -«

Sie hielt inne. Sie hatte sich zu Hause geglaubt, und nun fiel ihr Blick auf eine unbekannte Umgebung. Darüber erschrak sie.

»Mein Gott, wo bin ich denn?« fragte sie.

Jetzt zeigte sich in Zander's Gesicht eine große, fast angstvolle Spannung. Jetzt war der entscheidende Augenblick gekommen. Jetzt konnte ihr erwachender Geist wieder in Nacht versinken.

»Wo bin ich?« fragte sie.

»Hier,« meinte Marie, welche nicht gleich wußte. was sie antworten sollte.


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»Hier? Ja, wo ist denn das? Bei wem denn?«

Zander, welcher hinter der Patientin stand, zeigte auf sich, und darum antwortete sie:

»Beim Doctor Zander.«

»Doctor Zander? Den kenne ich doch gar nicht! Warum bin ich bei dem?«

»Weil Sie krank waren.«

»Krank? Ich?«

Sie sann nach. Sie legte die Hand an die Stirn; sie schüttelte den Kopf; sie konnte sich nicht besinnen. Zander bewegte die Lippen so, daß Marie ihm das Wort Fieber vom Munde lesen konnte. Darum sagte sie:

»Ja, Sie hatten das Nervenfieber. Sie sind erst heute wieder gesund geworden.«

»Das Nervenfieber? Hätte ich gehabt?«

»Ja.«

»War es gefährlich?«

»Sehr. Sie haben phantasirt.«

»Ach ja, jawohl! Jetzt begreife ich es! Das also war das Nervenfieber?«

Sie nickte mit dem Kopfe. Ihre Züge nahmen einen immer mehr geistigen Ausdruck an.

»Jetzt kann ich mich besinnen,« sagte sie. »Ich habe wirklich phantasirt! Habe ich nicht gemeint, daß ich blind bin?«

»Ja.«

»Daß - daß Dein Vater todt ist?«

»Ja.«

»Daß - o mein Gott, das war schrecklich! - Daß Wilhelm gefangen sein soll?«

»Ja, das haben Sie phantasirt.«

»Das - -? Phantasirt - -? O nein, das war ja wirklich! Seidelmann kam und sagte es mir!«

Sie stieß diese Worte voller Angst und fast kreischend aus. Die Gefahr war wieder nahe.

»Ja, Seidelmann sagte es,« fuhr sie fort. »Mein Sohn hat gestohlen! Er ist arretirt!«

Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Auf das eifrige und angstvolle Winken des Arztes antwortete Marie:

»Glauben Sie das nicht, Frau Fels. Glauben Sie es nicht. Sie haben das ja nur im Fieber geträumt!«

»Wirklich? Wirklich?«

»Ja.«

»Er ist nicht gefangen?«

»Nein.«

»Und hat nicht gestohlen?«


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»Nein.«

»Wenn ich das glauben könnte! Wenn es wahr wäre! Aber es war so deutlich, es kann kein Fieber gewesen sein. Wo ist Wilhelm?«

Marie zögerte, da sie nicht wußte, was sie sagen sollte. Darum rief die Kranke schnell:

»Siehst Du, daß es nicht wahr ist, was Du sagst! Du giebst keine Antwort! Wo ist er? Im Gefängnisse!«

Jetzt sah Zander seine Zeit gekommen. Er trat schnell einige Schritte in das andere Zimmer zurück und hustete so laut, daß sie es hören mußte.

»Ist noch Jemand hier?« fragte sie, den Kopf in lauschende Stellung zur Seite legend.

»Es ist der Herr Doctor Zander,« antwortete Marie.

»Bei dem ich mich befinde?«

»Ja.«

»Ich muß mit ihm reden. Gleich, gleich!«

Sie stand vom Stuhle auf und drehte sich um. Er kam langsam auf sie zu und sagte in mildem Tone:

»Regen Sie sich nicht auf, Frau Fels. Sie müssen sich noch schonen. Sie sind noch zu schwach.«

»Gott! So war ich wirklich krank?«

»Gewiß. Sehr krank.«

»Hatte ich das Fieber?«

»Ja. Sie haben sehr viel dummes Zeug gesprochen.«

»Und Wilhelm ist nicht gefangen?«

»Gott bewahre!«

»Beweisen Sie es; beweisen Sie es!«

»Schön! Sie sollen ihn sehen und mit ihm sprechen, wenn ich sicher sein kann, daß Sie sich nicht aufregen.«

»Ich werde ganz ruhig sein. Was soll mich aufregen, wenn ich meinen Sohn sehe?«

»Gut, setzen Sie sich nieder. So, hierher! Und nun warten Sie. Schließen Sie die Augen!«

Sie gehorchte wie ein Kind. Zander winkte dem Sohne. Dieser kam hinter dem Bücherschrank hervor. Sein Gesicht war naß vor Thränen. Er kniete vor ihr nieder.

Mutter, liebe Mutter. »Mutter, liebe Mutter!«

Da schlug sie die Augen auf. Sie sah den Ersehnten vor sich. Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck unendlicher Seligkeit an. Sie legte ihm beide Hände auf das Haupt und sagte mit zitternder Stimme:

»Mein Kind, mein liebes, liebes Kind! Da bist Du ja, da bist Du? Gott segne Dich viele tausend, tausend Male!«

Sie sah seine Thränen, legte sein Gesicht in ihren Schooß nieder und fuhr fort:

»Ja, ich muß lange krank gewesen sein. Nicht?«


- 2088 -


»Sehr lange.«

»Wie lange denn?«

»Wohl ein halbes Jahr.«

»Das glaube ich. So kommt es mir vor, so und so viel länger. Warum aber bin ich hier und nicht zu Hause?«

»Hier hast Du bessere Pflege.«

»Aber wir sind arm, Wilhelm!«

»Herr Doctor Zander thut es umsonst.«

»Der liebe, gute Herr! Hast Du mich oft besucht?«

»Sehr oft.«

»Und ich weiß nichts davon. Ich habe Dich nicht erkannt. Ich habe nur immer phantasirt. Weißt Du, Herr Seidelmann ist mir stets erschienen. Ich fürchtete mich so wegen der Miethe. Er drohte mir.«

»Sie ist bezahlt.«

»Gott sei Dank! Da kann ich ruhig sein. Wie lange muß ich noch hier bleiben?«

»So lange, wie es der Herr Doctor bestimmt.«

Sie wendete das Gesicht nach Zander, und dieser sagte:

»Wir wollen später davon sprechen, liebe Frau. Jetzt bedürfen Sie noch meiner Pflege. Sind Sie nun beruhigt?«

»Ja. Ich danke Ihnen. Ich fühle mich wohl, aber müde. Mein Kopf thut mir weh.«

»So werden Sie sich jetzt zu Bett begeben. Ich möchte haben, daß Sie recht, recht lange und ungestört schlafen. Das wird Ihnen neue Kräfte geben und zu Ihrer schnellen Gesundung Vieles beitragen.«

»Soll mein Sohn bei mir bleiben?«

»Nein. Sie bedürfen ihn während des Schlafes nicht.«

»Auch dort Marie nicht?«

»Nein. Wenn Sie erwachen, werde ich nach ihnen schicken, wenn Sie das wünschen. Ich werde jetzt Ihre Wärterin rufen, der können Sie sich anvertrauen.«

»Eine Wärterin? Auch diese kenne ich nicht. Das Fieber muß sehr schlimm gewesen sein!«

Zander holte die Verwandte aus dem Vorzimmer, von welcher sich die Kranke, nachdem sie von ihrem Sohne und von Marie Abschied genommen hatte, geduldig fortführen ließ. Er schloß die Thür hinter ihr und sagte, indem er tief und erleichtert Athem holte:

»Gott dem Herrn sei Dank, sie ist gerettet!«

Fels streckte ihm beide Hände entgegen und sagte:

»Herr Doctor, wenn ich Ihnen das vergesse, so möge Gott meiner vergessen! Ich bin arm; ich kann Sie nicht bezahlen, aber mein Leben gehört Ihnen.«

Marie weinte vor tiefer Bewegung, und der Fürst, welcher hinter der Portière hervorgetreten war, gab ihm auch die Hand und sagte tief gerührt:


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