Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 96.

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»Ja. Ich habe auch diesen Schlüssel.«

»Auf dieselbe Weise?«

»Ja. Die Baronin dachte, sie hätte ihn verlegt. Sie wollte dem Herrn nichts wissen lassen und hat heimlich einen neuen bestellt. Sie natürlich mußte ihn bekommen.«

»Sind es viele Kostbarkeiten?«

»Na, gar so großartig wird der Fang nicht sein, denn in letzter Zeit stand es nicht so glänzend mit der Herrschaft, das habe ich bemerkt. Aber ein gutes Geschäft machen wir dennoch außer unserer Rache. Wir theilen, und dann heben wir uns die Sachen auf, bis wir sie verkaufen können.«

»Wollen Sie den Gang ins Palais nicht lieber allein machen, Fräulein Neumann?«

»Nein. Ich brauche eine Zweite dazu, und die sind natürlich Sie. Oder wollen Sie vielleicht auf Ihre Rache verzichten?«

»Hm! Es ist doch sehr gefährlich.«

»Sie dauern mich.«

»Wenn man uns erwischt!«

»Kein Mensch wird uns erwischen. Wir sehen nach, ob irgend ein Fenster erleuchtet ist. Ist das der Fall, so können wir es nicht wagen. Sind aber alle Fenster finster, so ist nicht das Mindeste zu befürchten.«

»Man wird es sehen, wenn wir das große Thor öffnen.«

»Das werden wir eben nicht thun. Wir gehen durch das Pförtchen und die Zimmer des Herrn. Es ist mir da jeder Schritt bekannt. Sie leuchten natürlich.«

»Man wird das Licht von unten sehen!«

»Wenn wir es dumm anfangen, ja; aber wir werden es eben nicht dumm anfangen. Ich habe eine kleine Windlaterne, die man beliebig öffnen kann!«

»Es giebt auch noch weitere Unklarheiten. Selbst wenn wir die Geschmeide bekämen, würde es uns nichts helfen. Die beiden Polizisten würden ja sagen, daß sie die Ringe von Mehnert gekauft haben.«

»Der behauptet aber, daß dies nicht wahr ist. Er verkauft ihnen die gestohlenen, behauptet aber das Gegentheil. Er zeigt die Zeichnung zweier Ringe vor, welche er ihnen verkauft haben will, und diese Ringe werden auch bei ihnen gefunden. Dann sind die beiden Spione überführt.«

Die langsam denkende Jette schüttelte den Kopf. Die resolute Zofe aber fuhr in fast strengem Tone fort:

»Also entschließen Sie sich! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Machen Sie mit?«

»Ich möchte doch lieber verzichten!«

»So! Sie sind betrogen worden. Ihr Vater stirbt im Zuchthause oder auf dem Schafot; Ihre ganze Familie ist in's Verderben gestürzt, und dafür lassen Sie ihren lieben Adolph jetzt Hochzeit und dann später Kindtaufe machen!«


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Das wirkte und Jette meinte:

»Ich will mitgehen, wenn nämlich alle Fenster wirklich finster sind, sonst aber nicht.«

»Bleiben Sie hier, ich werde die Schlüssel holen.«

Sie stand auf und trat zu Mehnert, welcher in der Nähe an einem Pfeiler lehnte.

»Nun, haben Sie einen Plan?« fragte er.

»Ja, und zwar einen sehr guten.«

»Kann ich vielleicht mit helfen?«

»Ja. Ich brauche Ihre Hilfe sogar sehr nothwendig.«

»Ich stelle mich gern zur Verfügung.«

»Können Sie denn schweigen?«

»Auf ihren Wunsch wie das Grab.«

»Gut! Sie sollen mich nach Hause führen; aber ich stelle die Bedingung, daß Sie jetzt zuvor nach Hause eilen und mir zwei Damenringe mit nachgemachten Steinen holen.«

»Wozu?«

»Das werden Sie später erfahren. Jetzt ist die Zeit zu kurz.«

»Beschreiben Sie mir die Façon, welche Sie wünschen!«

»Weiß es selbst nicht. Es sollen zwei Ringe sein, welche die beiden Polizisten ungefähr kaufen würden. Außerdem müssen sie Ihnen so bekannt sein, daß Sie sie später ganz genau beschreiben können.«

»Das wäre das wenigste. Also gleich wollen Sie sie haben?«

»Gleich. Doch soll Niemand etwas davon bemerken.«

»Ich gehe sofort!«

Er eilte hinaus. Sie folgte langsamer, nickte aber vorher der Dicken für eine Weile Geduld zu. -

Außer den bisher erwähnten Personen befand sich noch ein Bekannter im Saale, nämlich der lustige Paukenschläger Hauck, der freilich heute nicht bei guter Laune zu sein schien. Neben ihm saß der dritte Violinist. Dieser sagte in einer Pause kopfschüttelnd zu Hauck:

»Mensch, was ist denn heute mit Dir? Du bist ja wie umgewechselt! Was machst Du für ein Gesicht?«

»Ich habe den Bandwurm.«

»Ja, im Kopfe, aber nicht im Leibe!«

»Na, ja. Es wurmt mich.«

»Was denn?«

»Daß ich hier sitzen und Musik machen muß, während Andere tanzen können.«

»Alle guten Geister! Was sind das für Marotten! Solche Gedanken hast Du noch nie gehabt!«

»Aber heute!«

»Ja, das merkt man. Vorhin hast Du Dich um volle vier Takte verzählt! Das ist bei Dir noch gar nicht vorgekommen.«


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»Na, bei so einem Gesicht kann es vorkommen; da kann Einem sogar noch viel mehr passiren.«

»Von welchem Gesichte faselst Du denn?«

»Siehst Du es denn nicht?«

»Sapperment, ich sehe hundert Gesichter! Welches meinst Du?«

»Ach so! Hm, ja! Ich dachte, weil es mir auffällt, müßtest Du auch die Augen dort haben. Siehst Du dort die offene Zimmerthür?«

»Ja; sie ist ja groß genug, denke ich.«

»Es sitzen Leute drin. Aber von hier aus kann man nur die hinterste Tischecke sehen, und daran sitzt sie.«

Der Violinist ließ einen leisen Pfiff hören und sagte:

»Famos! Allerdings famos!«

»Diese Augen!«

»Wie Karfunkel!«

»Das Haar!«

»Viel schöner als bei meiner Alten!«

»Das will ich meinen! Dieses Näschen, und der Mund!«

»Zum Schmatz-, wollte sagen, zum Küssen!«

»Der Hals, die Büste!«

»Die reine Venus!«

»Ja. Das Gesicht hat aber einen wehmüthigen Ausdruck, so wie ein lautloses Verzichtleisten auf - -«

»Auf Milchkaffee!«

»Unsinn! Rede nicht so dumm!«

»Mensch, dieses Mädchen hat Dir's angethan!«

»Vielleicht!«

»Du bist am Ende gar verliebt!«

»Bis über die Ohren!«

»So schütze Dich der heilige Baldrian! Wer verliebt ist, der ist verloren!«

»Du warst auch einmal verliebt.«

»Darum bin ich auch verloren. Ich bleibe die dritte Geige bis an mein sanftseliges Ende. Soll es mit Dir auch so bleiben? Willst Du nicht von der Pauke weg?«

»Freilich will ich weg, und zwar sofort! Einen Walzer möchte ich tanzen mit ihr, so einen sanften, zarten.«

»Ja, so ungefähr

Komm, lieber Heinerich,
Komm, komm und küsse mich!«

»Spaß beiseite! Kennst Du sie?«

»Nein. Du?«

»Auch nicht, Esel! Sonst fragte ich doch nicht!«

»Besten Dank für den neuen Vornamen, den ich da bekomme. Du bist


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aber ein noch viel größerer Esel als ich! Wenn Du wissen willst, wer sie ist, so gehe doch hin und frage sie selber!«

»Ich kann ja nicht fort!«

»Unsinn! Meine dritte Geige ist nicht so nothwendig. Gehe nur getrost, mein Sohn! Ich schlage Deine Pauken.«

»Wenn Du das wolltest!«

»Natürlich will ich es. Du bist wahrhaftig verliebt bis über die Ohren. Weißt Du:

Sieht der Jüngling nur die Jungfrau an,
Gleich fängt das Herz zu pinken an!«

»Sei still mit Deinen Vogelschießreimen und passe lieber auf die Noten auf, wenn Du die Pauken nimmst. Ich will sie Dir anvertrauen.«

»Und ich will Dir den Walzer bestellen. Falle nur nicht hin mit der - lautlosen Verzichtsleiste!«

Hauck verließ das Orchester. Gerade als er an dem Tische vorüberkam, an welchem die Zofe mit der Jette saß, hörte er die Erstere sagen:

»Ja; denken Sie sich diese Werners Tochter im Gefängniß!«

Das war nur Zufall, und er dachte sich auch gar nichts dabei. Als er an die offene Thür kam, erblickte er die im Zimmer sitzende Gesellschaft. Werner saß ihm mit dem Gesichte entgegen und erkannte ihn sofort.

»Herr Hauck! Guten Abend!« grüßte er, ihm die Hand entgegenstreckend. »Wollen wir nicht wieder einmal so einen Streich ausführen?«

»Wie, welchen?«

»Nun, wie damals auf dem Bellevue, wo Sie die Dame machten?«

Die Anwesenden lachten. Sie kannten ja alle den Streich, so wie die ganze Stadt ihn kannte. Auch die drei Mädchen hatten von ihm gehört und betrachteten sich neugierig den jungen Mann, welcher der Held jenes Scherzes gewesen war.

Hauck sah die dunklen, großen Augen Laura's auf sich gerichtet und erröthete wie ein Kind.

»Hier sind meine Töchter, und hier ist Herr und Fräulein Landrock,« stellte Werner die Genannten vor.

Daß das hübsche Mädchen Werners Tochter sei, das überraschte ihn so, daß er unvorsichtig äußerte:

»Was! Ihre Tochter ist sie?«

»Ja, meine Tochter ist sie!«

Jetzt bekam das gute, aufrichtige Gesicht des Paukenschlägers einen ganz unbeschreiblichen Ausdruck, welcher unwillkürlich zum Lachen reizte. Doch er erlangte sehr schnell seine Fassung wieder und antwortete, indem er auf Laura zeigte:

»Diese Dame meinte ich.«

»Laura? Was ist mit ihr?«

»Ich sah sie vom Orchester aus sitzen. Ich kenne alle Damen, welche


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hier verkehren, sie aber kannte ich noch nicht. Darum fiel sie mir auf, und darum - darum -«

»Darum kamen Sie, um zu erfahren, wer sie ist?« fiel ihr Vater ein.

»Ja,« antwortete er aufrichtig.

»Da ist's ein wahres Glück, daß ich es wußte und es Ihnen gleich sagen konnte?«

»Gewiß! Aber es ist auch noch ein anderes Glück dabei.«

»Welches?«

»Nun, der Musikdirector will jetzt einen Walzer anfangen, von dem er wissen möchte, ob er sich gut tanzt oder nicht. Ich soll das probiren. Allein tanzen, das geht doch nicht, und da könnten Sie mir mit Ihren väterlichen Rathschlägen beistehen.«

»Ich? Ich bin doch Ihr Vater nicht!«

»Aber der Vater Derjenigen, welche Diejenige ist, die mit Demjenigen - verstanden?«

»Jetzt, ja. Welche verlangen Sie denn?«

»Fräulein Laura, wenn Sie erlauben.«

»Gern. Greifen Sie zu!«

Das Mädchen sah den jungen Mann mit einem eigenthümlichen Blicke an. War das Angst oder Dank, der aus diesen dunklen Augen leuchtete?

Der Violinist hatte den Walzer erwähnt, und als Hauck nun winkte, begann der Reigen.

Er war Musikus, hatte aber selbst erst außerordentlich wenig getanzt. Bei seinem freisinnigen Wesen war es ihm noch nicht passirt, daß sein Herz ernstlich gefangen gewesen wäre. Jetzt aber war es ihm ganz unbeschreiblich zu Muthe. Es war ihm, als ob er etwas unendlich Kostbares in seinen Armen halte. Und dann, als er mit ihr Solo stand, dachte er wohl daran, daß er sich jetzt mit ihr unterhalten müsse, aber ihm, der sonst so voll bunter Raupen steckte, wollte grad jetzt nichts einfallen. Endlich aber fragte er doch:

»Sie sind wohl wenig hier?«

»Ich war noch gar nicht da,« antwortete sie.

»So gehen Sie anderwärts zum Tanze?«

»Nein. Ich tanze nie!«

»Ach! Wie schade!«

Das klang so aufrichtig, daß sie fragend emporblickte.

»Ich meine, es wäre so schön, wenn man Sie öfter hier sehen könnte,« erklärte er.

»Wem könnte daran liegen!« sagte sie trübe.

»Mir!«

Er erschrak, als er dieses sein eigenes Wort hörte. Er hatte es zurückhalten wollen, aber es war ihm zu schnell entschlüpft. Es kam ihm aus dem Herzen.

»Ihnen?« fragte sie, ihm ernst ins Gesicht blickend. »Das sagen Sie natürlich aus Höflichkeit.«


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»Nein, nein!« antwortete er rasch.

»O, Sie kennen den Vater und haben es für eine Aufmerksamkeit gehalten, mit einer seiner Töchter zu tanzen.«

»Das denken Sie ja nicht. Mit solchen Aufmerksamkeiten gebe ich mich nicht ab. Ich thue nur das, was ich überhaupt gern thue, und diesen Walzer wollte ich eben so sehr gern mit Ihnen tanzen.«

»Warum mit mir?«

Das war keine Koketterie, um irgendeine Schmeichelei zu hören. Sie blickte ihn dabei so ernst, fast traurig an, daß eine Frivolität ganz undenkbar war.

»Weil es hier keine Andere giebt, welche ich engagiren möchte,« antwortete er. »Sie haben da eine Nelke an der Brust, Fräulein Werner. Ich bin ein so großer Nelkenfreund. und doch kommt Unsereiner so selten dazu, an Blumen zu denken: ich - ich -«

Er brachte die Bitte aber doch nicht ganz hervor; sie aber nahm die Blume von der Brust und sagte:

»Sie wollen sie gern haben? Hier ist sie, Herr Hauck!«

»Aber Sie trennen sich nur ungern von ihr?«

»Nein. Ihnen gebe ich sie gern.«

»Warum mir? Ich will einmal gerade so fragen, wie Sie vorhin.«

»Nun, weil hier kein Zweiter ist, dem ich sie geben möchte. Sie sehen, daß ich genau so antworte wie Sie.«

Ein leises Lächeln spielte dabei um ihre Lippen. Er bemerkte das und sagte:

»So sollten Sie öfters lächeln, immer, immer. Sie aber scheinen stets ernst zu sein.«

»Ich habe alle Ursache dazu, für mein Lebelang dem Lachen zu entsagen. Bitte, wir sind an der Reihe.«

Sie gab ihm den Arm, und sie tanzten weiter. Dann führte er sie dem Vater zu und kehrte zum Orchester zurück. Dort saß er still und in sich gekehrt. Er kannte Werner, aber er kannte nicht das Schicksal Laura's. Er hatte ganz zufälliger Weise nichts davon gehört. Was hatten die traurigen Worte zu bedeuten:

»Ich habe alle Ursache dazu, für mein Lebelang dem Lachen zu entsagen?«

Da fiel sein Blick auf die Zofe und auf Jette, welche so eifrig mit einander sprachen. Er dachte jetzt plötzlich an die Worte:

»Ja, denken Sie sich diese Werners Tochter im Gefängniß!«

Es durchzuckte ihn ein plötzlicher Gedanke. Wer war da gemeint? Eine von Werners Töchtern? Etwa gar diese ernste, gute Laura? Waren diese Worte nur zufällig; hatten sie mit Werners Anwesenheit nichts zu schaffen?

Aber da bemerkte Hauck die öfteren zornigen, haßerfüllten Blicke, welche die beiden Mädchen nach der offenen Thür warfen. Da gab es keinen Zufall. Wovon sprachen sie? Was meinten sie?


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Er hielt selbst während der Musik die Augen mehr auf die Sprecherinnen, als auf die Noten geheftet. Er sah Hulda aufstehen und zu Mehnert treten, den er aber auch nicht kannte. Es wurden Worte gewechselt. Mehnert ging, Hulda auch; vorher aber warf sie jenen Blick auf die dicke Jette, und der fiel dem Paukenschläger besonders auf.

Er fühlte sich außerordentlich besorgt. Es war ihm als ob etwas geschehen sollte, was er zu verhüten suchen müsse. Aber er wußte nicht, wie er dieses Letztere anzufangen habe. Später trat Mehnert wieder ein. Auch die Zofe kehrte zurück. Beide sprachen mit einander. Er gab ihr etwas, was sie betrachtete. Dann winkte sie der dicken Apothekerstochter und verließ mit ihr den Saal. Sie hatte etwas bei sich getragen, irgend einen nicht sehr großen Gegenstand, leicht in das Concerttuch eingeschlagen. Zu welchem Zwecke? Warum hielt sie es umwickelt, also verborgen? Und bevor die Beiden den Saal verließen, schweiften ihre Blicke noch drohend nach dem offenen Nebenzimmer. Hauck sah dies ganz deutlich. Es litt ihn nicht länger auf seinem Platze. -

»Du, nimm die Pauken doch noch einmal,« sagte er zu dem dritten Violinisten.

Er verließ eiligst den Saal, um die beiden Mädchen zu beobachten. Er kam noch zeitig genug, sie im Schein der Gaslaternen hinter der nächsten Ecke verschwinden zu sehen und eilte ihnen nach mit dem Vorsatze, ihnen zu folgen, wohin sie auch gehen würden.

Mehnert hatte natürlich der Zofe die beiden bestellten Ringe gebracht. Als sie sich dann mit Jette entfernte, ahnte sie nicht, daß sie einen Beobachter hinter sich habe, der sich vorsichtig im Schatten der Häuser hielt und so leise wie möglich auftrat.

Beide erreichten diejenige Seite des Altmarktes, an welcher das Palais Helfenstein lag; unweit davon der schon bekannte Brunnen mit der Steineinfassung.

»Es giebt kein einziges Licht da oben,« sagte Hulda. »Also ist Niemand da.«

»Vielleicht aber befindet sich Jemand in einem nach hinten hinaus liegenden Zimmer.«

»Nein. Ich kenne die Verhältnisse zu genau. Kommen Sie dort um die Ecke. Da ist das Pförtchen.«

»Wollen Sie nicht lieber allein -?«

»Fällt mir nicht ein! Was wir zusammen besprochen haben, wollen wir auch mit einander ausführen!«

Sie zog die Zaudernde mit sich fort um die Ecke. Hauck folgte langsam und vorsichtig nach. Als er um die Ecke trat, sah er Niemand. Er horchte. Auch zu hören war kein Mensch. Sollten die beiden Mädchen hier so schnell gelaufen sein? fragte er sich. Er eilte indessen rasch weiter, bis zur nächsten Ecke, um zu lauschen. Es war Niemand zu hören und zu sehen.

»Sie sind nicht hierher,« sagte er sich. »Also zurück!«


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Er kam bis wieder fast an die Ecke. Da bemerkte er das Pförtchen, welches ihm vorhin entgangen war.

»Sollten sie da hinein gegangen sein?« fragte er sich. »Das wäre romantisch! In's Palais des Hauptmannes! Zwei Mädchen ganz allein in dieses große, finstere, berüchtigte Gebäude! Nein, das glaube ich doch nicht!«

Er begab sich langsam und sinnend nach der Vorderfronte und musterte die Fenster.

»Teufel!« brummte er. »War das nicht ein blitzschneller Lichtschein? Oder hätte ich mich geirrt?«

Er hielt das Auge scharf auf die Fensterreihen gerichtet, und die Beobachtung wiederholte sich.

»Es ist richtig! Es ist, als ob Jemand da oben mit einer Blendlaterne sei, die nur von Zeit zu Zeit ein Haarbreit geöffnet werde. Aber ich kann mich auch täuschen. Wenn man so starr nach einem Punkte sieht, dann gehen Einem die Augen über. Es wird am Klügsten sein, ich bewache das Pförtchen. Gegenüber ist ein Thorweg, welcher Raum und Dunkel genug bietet. Die Pauken mögen auf mich warten.«

Er hatte ziemlich lange da gesteckt, da hörte er einen Schlüssel klirren; die Pforte öffnete sich, und die beiden Mädchen traten heraus.

»Gräßlich!« sagte die Dicke. »Ich habe vor Angst fast Blut geschwitzt. So etwas thue ich gewiß nicht wieder.«

Diese Worte hörte Hauck, die weiteren aber nicht, da er sich nicht so weit nähern konnte, ohne bemerkt zu werden. Doch folgte er ihnen nach.

»Und doch werden Sie es noch einmal thun müssen,« antwortete ihr die Zofe.

»Um Gottes willen, nicht.«

»Na, beruhigen Sie sich! Ich wollte Ihnen nur ein bißchen Angst machen. Ich führe Sie nicht wieder in Versuchung.«

»Was thun wir jetzt? Theilen wir.«

»Jetzt nicht, und heute nicht.«

»Warum nicht?«

»Dazu ist nicht Zeit. Ich habe zunächst mit dem Goldarbeiter zu sprechen. Das ist das Wichtigste. Er muß seine Instruction erhalten.«

»Und ich meine Hälfte des Geschmeides.«

»Ja doch; aber erst morgen früh. Ich habe Ihnen meine Wohnung genannt. Kommen Sie hin!«

»Aber wir wollen doch wenigstens zählen, wie viele Stücke es sind.«

»Wozu aber? Mißtrauen Sie mir?«

Sie fragte das in so zornigem Tone, daß Jette nun keine Entgegnung mehr wagte. Sie schritten schweigend weiter bis in die Nähe des Tivoli. Dort blieb Hulda stehen und sagte:

»Jetzt gehen Sie in den Saal und senden mir den Goldarbeiter heraus, sagen ihm aber nicht, was geschehen ist.«


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Jette gehorchte, und nach wenigen Augenblicken kam Mehnert, welcher die Zofe stehen sah.

»Jetzt bitte, wo sind Sie solange gewesen?« fragte er.

»Davon später. Kommen Sie!«

»Wohin?«

»In meine Wohnung. Ich denke, Sie wünschen mich nach Hause zu begleiten?«

»Gern, sehr gern! Was haben Sie da? Erlauben Sie mir, es zu tragen!«

»Das geht Sie nichts an. Kommen Sie nur!«

Bis hierher hörte Hauck das Gespräch, dann hatten sie sich zu weit entfernt.

»Sie gehen in ihre Wohnung,« dachte er. »Die muß ich kennen lernen. Was sie da im Tuche trägt, das muß sie aus dem Palais geholt haben. Sie hat den Schlüssel zur Pforte. Ein Geheimniß ist das auf alle Fälle. Ich muß es ergründen. Meine Pauken mögen vor Sehnsucht nach mir zerplatzen; mir ganz egal!«

Der Weg war nicht weit. Hulda hielt bald mit Mehnert vor ihrer Hausthür, zu welcher sie den Schlüssel bei sich hatte.

»Ich wohne jetzt möblirt,« sagte sie. »Man darf Ihre Anwesenheit nicht bemerken. Ziehen Sie Ihre Stiefeln aus!«

»Ah!« fragte er voller Freude. »Ich darf mit hinauf?«

»Ja.«

»So haben Sie mich lieb?«

Er wollte den Arm um sie legen; sie aber wehrte ihm ab und antwortete:

»So weit sind wir wohl noch nicht. Ich habe mit Ihnen zu sprechen, und zwar unbemerkt und ungestört; das ist der Grund, daß ich Ihnen die Erlaubniß gebe, mit bis in mein Zimmer zu gehen.«

Sie traten ein und Hulda verschloß die Thür von innen. Hauck nahm an der anderen Straßenseite Posto und sagte zu sich:

»Hier bleibe ich, selbst wenn es Pflaumenkuchen regnen sollte. Weiß ich, wo sie wohnt, so muß ich auch seine Wohnung erfahren. Ich warte also, bis er wieder aus dem Hause kommt.«

Die Beiden erreichten das in der ersten Etage gelegene Zimmer von den Hausbewohnern unbemerkt. Hulda legte das Packet ab, um die Lampe anzubrennen.

»Das war ein bekannter Ton,« meinte Mehnert. »Das klang gerade so, als ob das Tuch Gold= und Schmucksachen enthielte.«

»Nicht so neugierig! Und sprechen Sie leiser; man hört uns sonst nebenan. Die Wände sind so dünn. Setzen Sie sich da auf das Sopha!«

Er gehorchte, gehorchte nur gar zu gern. Das Licht brannte und Mehnert sah, daß er sich in einem sehr traulich eingerichteten Zimmer befand, in welchem zugleich auch das Bett der Inhaberin stand. Diese zog die


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Stiefeletten aus, um sie mit weichen Pantöffelchen zu vertauschen, wobei ein allerliebstes kleines, weißbestrumpftes Füßchen zum Vorschein kam.

Dann legte sie auch das Tanzkleid ab, um an Stelle desselben ein Negligeejäckchen anzuziehen.

»Sie verzeihen!« sagte sie. »Ich bin ja hier zu Hause. Ich will mir es bequem machen.«

»Thun Sie das, thun Sie das!« antwortete er, indem er die Augen begierig auf die Reize richtete, welche sie entblößen mußte. So schöne, volle weiße Arme hatte er noch nie gesehen und die volle, vom Schnürleib nicht ganz umfaßte Büste war einer Venus würdig.

Sie gewährte ihm diesen Genuß aus Berechnung, doch that sie, als ob sie gar nicht bemerke, daß sie seinem Blicke Punkte geboten habe, welche sonst verhüllt zu bleiben hatten.

»So,« sagte sie, »jetzt kann man freier athmen und nun wollen wir auch mit einander sprechen. Rücken Sie ein wenig hin.«

Sie setzte sich neben ihn auf das Sopha. Dieses letztere war klein und zierlich, so daß die Beiden ganz eng an einander saßen.

»Hätten Sie,« fragte sie, »als Sie mich das erste Mal sahen, es für möglich gehalten, einmal so hier bei mir zu sitzen?«

»Ob es möglich sei oder nicht, darüber habe ich gar nicht nachgedacht. Ich habe nur die Sehnsucht nach Ihnen gefühlt.«

»Ist die denn gar so groß gewesen?«

»Unendlich groß!«

»So ist sie also jetzt befriedigt?«

»O nein, noch nicht.«

»Sie sind ja bei mir!«

»Aber nicht so, wie ich es wünsche.«

»Nun, wie wünschen Sie es denn?«

»Ungefähr in dieser Weise.«

Er legte den Arm um sie, um sie an sich zu ziehen; sie jedoch entwand sich ihm und sagte verweisend:

»Ich sehe, daß Sie keine sehr gute Meinung von mir haben.«

»Wieso? Die Meinung, welche ich von Ihnen habe, ist die allervortrefflichste.«

»Keineswegs. Ich sehe Sie heute eigentlich zum ersten Male, und dennoch muthen Sie mir Zärtlichkeiten zu, welche eine lange Bekanntschaft voraussetzen. Wissen Sie, welchen Mädchen man solche Zumuthungen stellen darf?«

»Was denken Sie, Fräulein Hulda! Die echte, wahre Liebe braucht nicht Jahre, um sich zu entwickeln; sie ist im Augenblicke da und verlangt sofortigen Gehorsam. Wenigstens ist es mir genau so mit Ihnen ergangen. Als ich Sie zum ersten Male sah, da wußte ich, daß mein Leben Ihnen geweiht sein würde.«

»Sind Sie vielleicht im Besitze eines Briefstellers?«

»Nein. Warum?«


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»Ich dachte, Sie hätten diese Worte aus einem solchen auswendig gelernt.«

»Sie sollten nicht spotten!«

»Ich spotte nicht, ich kann aber nicht glauben, daß ich im Stande sei, einen gar so schnellen und tiefen Eindruck zu machen.«

»O, da kennen Sie sich ja gar nicht.«

»Ich glaube, mich sehr gut zu kennen.«

»Nein. Sehen Sie sich an, wie Sie hier sitzen!«

»Nun, wie denn?« lächelte sie verführerisch.

»So, daß man sich alle Gewalt anthun muß, Sie nicht fest und innig in die Arme zu schließen.«

»Gehen Sie! Was haben Sie denn davon, wenn Sie mich in den Armen halten?«

»Was ich davon habe?« fragte er erstaunt. »Fragen Sie im Ernste so?«

»Natürlich!«

»Nun, dann haben Sie noch nie geliebt!«

»Allerdings nicht. Sie dagegen desto öfter.«

»Nie!« betheuerte er.

»Wie? Sie wollen nie geliebt haben und wissen doch so genau, was es mit einer Umarmung für eine Bewandtniß hat? Gehen Sie!«

»Ich habe es auch noch nicht gewußt, sondern ich weiß es erst jetzt in diesem Augenblicke. Denken Sie doch daran, was ich Ihnen im Tivoli erzählte.«

»Was?«

»Nun, wie ich Sie zum ersten Male gesehen habe, so reizend, so entzückend.«

»Wohl reizender als jetzt?«

»Schöner nicht, aber reizender allerdings. Ich gäbe viel darum, Sie wieder so zu sehen.«

»Sie sind ungenügsam. Ich denke, Ihnen genug gewährt zu haben durch die Erlaubniß, jetzt bei mir hier sitzen zu dürfen. Nicht?«

»Sie machen mich durch diese Erlaubniß wirklich glücklich. Ich muß Ihnen dafür Ihren süßen Mund -«

»Nein, nein!« fiel sie schnell ein, ihn von sich abwehrend. »Ich bin nicht mehr so leichtgläubig wie früher.«

»Ich spreche die Wahrheit!«

»Das muß erst erprobt sein. Ich habe einmal einem Manne geglaubt, zum zweiten Male nicht wieder, ohne vorher Beweise zu haben.«

»Fordern Sie von mir diese Beweise!«

»Gut. Sie sagen, ich sei schön, und ich will ehrlich zugeben, daß ich es bin. Ich fühle mich befähigt, einen Mann glücklich zu machen, aber ich verschleudere dieses Glück nicht, ich bringe es nur dem Würdigen entgegen. Der Würdige ist Derjenige, welcher mir zu beweisen vermag, daß er mich wirklich liebt, mehr als alles Andere, daß ich ihm über Alles gehe.«

»Das ist ja bei mir der Fall!«

»Daß ihm kein Opfer für mich zu schwer und zu groß ist.«


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»Ja, so ist es bei mir!«

»Verstehen Sie mich wohl. Ich meine jedes Opfer, alle Arten von Opfern. Er soll nur an mich denken, mir alle Bedenken zu Füßen legen. Soll ich Sie in dieser Weise auf die Probe stellen?«

»Thun sie es!«

Sie legte sich halb sitzend in die Sophaecke zurück, das schöne Köpfchen nach hinten sinkend lassend. War es Zufall oder Berechnung, die Jacke öffnete sich, und ein Schloß des Corsets sprang auf. Sie that nichts, diese Enthüllung wieder zu verschleiern. Sie fragte:

Könnten Sie mir zu Liebe Etwas thun ? »Könnten Sie zum Beispiel mir zu Liebe etwas thun, was andere Menschen ein Unrecht nennen würden?«

»Ja,« antwortete er schnell und bestimmt.

»Irgend ein Vergehen?«

»Ja.«

»Aber nicht ein Verbrechen?«

»Auch das, wenn ich einsehen könnte, daß es mir Ihre Gegenliebe bringt.«

»So wollen wir sehen, ob dies wahr ist. Ich Mitte, daß ich Sie liebhaben könnte - «

»Wirklich, wirklich?« fiel er ein.

»Ja. Aber Sie müßten ein resoluter, thatkräftiger Mann sein. Ich hasse glühend, vermag aber auch ebenso glühend zu lieben. Meine Liebe soll nur Dem gehören, welcher sich Mühe giebt, meinen Haß zu stillen.«

»Sie meinen in Beziehung auf jenen Polizisten?«

»Ja.«

»Sagen Sie mir, was ich thun soll!«

»Werden Sie es thun?«

»Sicher!«

Er war wie trunken vom Anblicke ihrer Schönheit.

»Wenn Sie ihn nun ermorden sollten?«

»Ich thäte es!«

»Oho! Man machte Ihnen den Proceß.«

»Pah! Es sollte mir Niemand etwas beweisen können.«

»Nun, so viel verlange ich gar nicht. Ich will ihn zwar tödten, aber nicht körperlich, sondern moralisch. Er hat als Criminalspion schon Manchen unglücklich gemacht; jetzt soll er selbst in's Gefängniß spazieren. Wollen Sie dazu helfen oder nicht?«

»Sehr gern, wenn ich es vermag!«

»Gut. Sie sollen sogleich einen kleinen Lohn haben. Hier, küssen Sie mich!«

Sie hielt ihm den Mund entgegen und er machte von dieser Erlaubniß sofort Gebrauch. Aber als er sie enger umschlingen wollte, schob sie ihn von sich und sagte:

»Genug für jetzt! Sie sehen, daß ich mit meiner Zärtlichkeit keineswegs geize, aber ich will auch sehen, daß Sie sie verdienen.«


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»Ich wiederhole nur die Bitte, mir zu sagen, was ich zu thun habe.«

»Zweierlei.«

»Ich thue es, und wenn es noch so schwer wäre!«

»Beides ist sehr leicht. Erstens sollen Sie zwei Ringe, welche ich Ihnen gebe, morgen an die beiden Polizisten verkaufen, Jedem einen.«

»Und zweitens?«

»Zweitens sollen Sie später behaupten, daß dies die beiden Ringe gewesen seien, welche Sie mir vorhin im Tivoli gegeben haben.«

»Ich werde es thun, bitte aber um die nothwendige Erklärung, damit ich dabei keinen Fehler mache.«

»Das ist allerdings unumgänglich nöthig. Also hören Sie: Die Pretiosen der Baronin von Helfenstein befinden sich noch in deren Palais. Sie werden gestohlen werden.«

Es zuckte wie eine Erkenntniß über sein Gesicht.

»Sie sind bereits gestohlen!« sagte er.

»Was bringt Sie auf diese Idee?«

»Pah! Dort liegen sie!«

»Werden Sie es verrathen?«

»Was denken Sie! Lieber ließe ich mir die Zunge aus dem Munde reißen.«

»Das verlange ich auch von Ihnen, die tiefste, unverbrüchlichste Verschwiegenheit! Wissen Sie, wer das Palais Helfenstein bewacht?«

»Jene beiden Polizisten.«

»Ja. Ich habe die nöthigen Schlüssel und bin dort gewesen. Sie haben Recht. Die Juwelen liegen hier, dafür steckt in den Effecten eines jeden der beiden Spione einer der Ringe, die Sie mir gegeben haben.«

»Wozu?«

»Begreifen Sie das nicht?«

»Nein, obgleich ich zu ahnen beginne.«

»Nun, sie werden die gestohlenen Ringe von Ihnen kaufen und ihren Bräuten schenken. Der Diebstahl wird entdeckt und man findet bei den beiden Mädchen das gestohlene Gut.«

»Dann werden sie sagen, daß sie diese beiden Ringe von mir haben.«

»Das werden sie allerdings sagen; Sie aber bestreiten das. Sie beschreiben die beiden anderen Ringe und -«

»Ich könnte sogar deren Zeichnungen vorlegen,« schaltete er ein.

»Desto besser. Sie fordern, daß bei ihnen ausgesucht werde. Man muß es thun und wird Ihre Ringe finden, die ich da versteckt habe. Die Wahrheit Ihrer Aussage ist erwiesen und ebenso ist bewiesen, daß sie die Diebe sind.«

»Man wird nach den übrigen Juwelen fragen,«

»Sie werden nicht angeben können, wo diese sich befinden, man wird sie für verstockt halten müssen und ihnen eine desto härtere Strafe dictiren.«

»Ein teuflischer Plan!«


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»Ich räche mich!«

»Und ich stehe Ihnen bei.«

»Das erwarte ich.«

»So schwierig es auch ist.«

»Schwierig? Pah! Das Schwere ist bereits gethan. Die Juwelen sind gestohlen und die Ringe sind versteckt. Es ist nur noch nöthig, zwei der gestohlenen Ringe an sie zu verkaufen. Das ist doch leicht.«

»Ja, das ist leicht. Dann aber die gerichtliche Untersuchung. Da gilt es, fest zu sein.«

»Eben, wenn Sie fest sind, kann Ihnen ja nicht das Mindeste geschehen. Kommen Sie und sehen Sie sich einmal diese Sachen an.«

Sie öffnete das Concerttuch und breitete den Raub vor ihm aus. Er hatte fast gar kein Auge für die kostbaren Steine und deren Fassung. Er blickte nur auf das schöne Mädchen, welches neben ihm stand und gar nicht zu bemerken schien, daß die weite Jacke von den weißen, üppigen Schultern rutschte.

»Was sagen Sie dazu?« fragte sie.

»Vielleicht zusammen zwanzigtausend Gulden werth, mehr nicht. War diese dicke Jette mit?«

»Sie weiß also um Ihren Plan?«

»Ja.«

»Auch von mir?«

»Daß ich sie einweihen muß, weiß sie, mehr aber nicht.«

»Das ist gut. Wahrscheinlich verlangt sie, daß Sie mit ihr theilen?«

»Allerdings.«

»Werden Sie es thun?«

»Scheinbar, ja.«

»Ah! Sie wollen sie täuschen?«

»Natürlich! Sie werden mir einige billige Sachen versorgen, die ich ihr als ihr Antheil gebe. Sie hat diese Gegenstände gar nicht gesehen und wird also zufrieden sein müssen.«

»Sie sind eine Schlaubergerin wie selten Eine! Also zwei Ringe. Ich werde diesen hier nehmen und diesen. Beide haben eine gewisse Ähnlichkeit mit denen, die ich Ihnen gegeben habe. Darf ich sie einstecken?«

»Gewiß. Ich hoffe, daß Sie Ihre Sache zu meiner Zufriedenheit machen werden.«

»Ohne allen Zweifel. Aber, bitte, wollen wir auch ein Wort über den Lohn sprechen, welcher meiner wartet?«

»Ich denke, er soll in meiner Gegenliebe bestehen?«

»Ja, doch ist der Begriff Gegenliebe etwas sehr weit. Wollen wir ihn nicht lieber enger begrenzen?«

»Wie soll das gemacht werden?«

Da ergriff er ihre Hände und antwortete:


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»Hulda, sagen Sie mir, wann ich Sie die Meine nennen darf. Sagen Sie es mir!«

»Die Ihrige? Auch dieser Begriff ist etwas sehr weit. Wollen wir ihn nicht lieber auch enger begrenzen?«

»Dieses Wort kann doch nur eine einzige Bedeutung haben.«

»O nein! Die stolzen Herren der Schöpfung nennen eine Jede, welche sie einmal umarmen, die Ihrige.«

»So meine ich es nicht. Damit wäre ich nicht zufrieden. Ich will Sie ganz haben, ganz, als meine Frau!«

Sie trat einen Schritt zurück, that ganz erstaunt und fragte in reizender Koketterie:

»Wie? Höre ich recht? Heirathen wollen Sie mich? Heirathen?«

»Aber was denn sonst? Was haben Sie sich denn gedacht?«

»Nun, gedacht habe ich mir eigentlich noch gar nichts. Aber wenn es bei Ihnen wirklich so entsetzlicher Ernst ist, so werde ich mir diese Angelegenheit wohl auch von der ernsten Seite betrachten müssen. Also gebe ich Ihnen die kurze und bündige Antwort: Sobald die beiden Polizisten dem Strafrichter überliefert werden, bin ich bereit, Ihre Frau zu sein.«

»Eher nicht?«

»Nein. Erst die Rache und dann die Liebe!«

»Und vorher nicht eine ganz kleine Abschlagszahlung?«

»Was verstehen Sie darunter?«

»Die Verlobung.«

»Ist nicht nothwendig. Es braucht jetzt Niemand zu wissen, daß wir uns kennen.«

»Grausame!«

»Ich will nachsichtig sein. Kommen Sie morgen Abend elf Uhr hierher vor die Thür. Wenn Sie mir dann sagen können, daß die Beiden die zwei Ringe gekauft haben, dürfen Sie mich zum ersten Male umarmen.«

»Sie setzen mich wahrhaftig auf Krankenkost!«

»Sie sind doch auch krank - liebeskrank!«

»Meinen Sie, daß ich durch so magere Diät geheilt werden könne?«

»Ja.«

»O nein, ich werde nur desto kränker.«

»Welche Kost verlangen Sie denn?«

»Eine kräftige. Ungefähr diese!«

Er hatte blitzschnell die Arme um sie gelegt und zog sie fest an sich. Sie sträubte sich und wollte sich loswinden: er aber gab sie nicht frei. Endlich ließ sie den Widerstand fallen und folgte willig, als er sie zu sich auf das Sopha zog. Hier legte sie sich mit verführerischer Innigkeit an ihn, ohne ihm jedoch allzu große Kühnheit zu gestatten. Sie liebte ihn ja noch nicht, sie konnte ihn nur leiden, sie berechnete.

Als er später sich verabschiedete, war sie überzeugt, seine Liebe bis zur willenlosesten Hingebung angefacht zu haben. Er war ihr Sclave geworden,


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das versicherte er ihr, und das glaubte sie auch. Sie brachte ihn vor die Thür und entließ ihn mit einem Kusse.

»Verflucht!« brummte drüben der Paukenschläger. »Dieser Kuß gehörte eigentlich mir, für die vier vollen Stunden, welche ich hier gestanden habe. Doch ist's auch so recht, ich danke dafür. Ja, wenn es diese Laura Werner wäre! Ah, Sapperment! Da hielte ich ihr den Schnabel hin und sie könnte hineinblasen wie in eine A=Clarinette, so lange es ihr beliebte. Aber jetzt muß ich aufmerken, daß mir dieser Kerl ja nicht aus den Augen kommt. Ich will unbedingt wissen, wo er wohnt.«

Er schritt ihm eiligst nach.

Der Weg führte an dem Gerichtsgebäude vorüber. Dort war es dem Musikus, als ob er eine Thür klirren hörte. Drei Gestalten kamen von der Mauer her, da, wo sich ein Seiteneingang befand. Mehnert war von der Seite der Ecke her gekommen. Sie hatten sein Nahen nicht hören können und stießen fast mit ihm zusammen.

»Donnerwetter!« sagte er. »Herr Simeon!«

»Mehnert, Sie?«

»Ja, und - Herrgott, der Freiherr von Tannenstein und Fräulein Tochter in Männerkleidung?«

Das war ihnen vor Überraschung entfahren. Jetzt sagte Simeon in gedämpftem Tone:

»Um Gottes willen, still! Es darf kein Mensch ahnen, daß wir hier waren. Kommen Sie mit nach Ihrer Wohnung, wo wir Ihnen Alles erklären werden.«

Sie eilten von dannen, Hauck hinter ihnen her.

»Schön!« sagte er zu sich selbst. »Also Mehnert heißt dieser Kerl. Der Andere ist ein gewisser Simeon, bei dem ein Freiherr von Tannenstein mit seiner Tochter war, die hatte sich als Mann verkleidet. Das werde ich mir zu merken haben. Sie kamen aus der Seitenthür des Amtsgerichtes. Da ist irgend eine Luderei ausgeheckt worden. Also rasch nach!«

In seinem Eifer trat er zu stark auf. Theodolinde besaß ein außerordentlich feines Gehör.

»Es kommt jemand hinter uns her,« sagte sie.

»Bleiben wir stehen,« meinte Simeon.

Sie thaten es und hörten, daß der hinter ihnen Kommende auch stehen blieb.

»Gehen wir weiter!«

Sie hörten, daß sich der Mann auch in Bewegung setzte. Sie blieben noch einige Male stehen, um zu sehen, ob es sich wirklich um eine Verfolgung handle.

»Ja,« sagte Simeon. »Er hat es auf uns abgesehen. Gehen Sie langsam weiter!«

»Was wollen Sie thun?« fragte der Freiherr.

»Ihn uns vom Halse schaffen.«

Er lehnte sich ganz eng an eine dunkle Hausthür und ließ den Musikus,


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der an der anderen Straßenseite ging, vorüber. Dann zog er den Todtschläger heraus, huschte ihm nach, holte aus - ein fürchterlicher Hieb, ein lauter Schrei - der Getroffene brach zusammen, und der Goldarbeiter eilte davon. -

Er hatte sich punkt ein Uhr am Brunnen des Altmarktes eingestellt, natürlich nicht ahnend, daß Hulda und Jette, die er Beide kannte, einige Stunden früher in ebenso heimlicher Absicht hier vorübergekommen seien.

Er fand den Freiherrn und zu seinem Erstaunen auch dessen Tochter, und zwar in Männerkleidung.

»Nun, wie steht es mit den Schlüsseln?« fragte Herr von Tannenstein.

»Ich habe sie.«

»So kann es wohl losgehen?«

»Ja. Es ist bereits sehr ruhig auf den Straßen. Wir werden es wagen können.«

Als sie das Gerichtsgebäude erreichten, gingen sie zunächst recognosciren. Es war kein Mensch zu sehen oder zu hören. Der Schlüssel öffnete. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu. Dann brannten sie die Blendlaterne an.

»Jetzt sollte Jemand kommen!« sagte der Freiherr.

»Mich würde man nicht fangen,« erklärte seine entschlossene Tochter. »Ich habe da ein scharfgeladenes Doppelterzerol.«

»Damit würden Sie Alles verderben. Der Schuß würde nur Verfolger herbeilocken. Ich habe mir eine bessere Waffe mitgebracht. Sehen Sie. Einen Todtschläger. Der arbeitet ohne Geräusch und sicher. Kommen Sie!«

»Kennen Sie die Örtlichkeit genau?«

»Ganz genau. Ich habe mich natürlich gut unterrichtet.«

Sie horchten bei jeder neuen Biegung des Ganges oder der Treppe. Endlich blieb Jacob vor einer Thür stehen.

»Da ist das Zimmer, welches wir suchen.«

Der Schlüssel öffnete natürlich auch hier. Er steckte mit mehreren anderen kleineren an einem Schlüsselringe. Sie verschlossen auch diese Thür hinter sich, nachdem sie eingetreten waren. Hier nun gab es zwei offene Thüren, welche rechts und links je in ein Nebenzimmer führten. Sie nahmen sich in Acht, den Schein der Laterne nicht so fallen zu lassen, daß er von unten bemerkt werden konnte.

»Da sind wir,« sagte der Freiherr. »Wo aber wird diese Geschichte stecken?«

»In einem offenen Behältnisse jedenfalls nicht, sondern in einem Schranke. Wir müssen eben suchen.«

Schränke befanden sich nur in dem Nebenzimmer rechts. Sie konnten mit Hilfe der mitgebrachten Schlüssel geöffnet werden, und nun begann die Nachforschung.

Sie gaben sich dabei Mühe, ja nicht etwa eine Spur ihrer Anwesenheit zurückzulassen. Endlich fand sich ein Kästchen, in welchem sich das Gesuchte befand.


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»Da ist's!« meinte Jacob Simeon. »Jetzt nun schnell es untersuchen! Sodann müssen wir es wieder zurückschaffen.«

»Wollen erst sehen, ob dies nöthig ist. Zeigen Sie her!«

Theodolinde betrachtete Stoff, Façon und Stickerei aufmerksam beim Scheine der Laterne und sagte dann:

»Wir brauchen es nicht mitzunehmen. Papier und Bleistift giebt's hier genug. Ich fertige genaue Zeichnungen, nach welchen wir die Copien anfertigen. Morgen Abend sind wir fertig und können den Umtausch bewerkstelligen.«

Das war dem Goldarbeiter auch recht. Die Zeichnungen wurden genau angefertigt, dann brachen die Drei wieder auf, natürlich besorgt, Alles genau so zurückzulassen, wie sie es vorgefunden hatten. -

Als unten die Pforte wieder verschlossen war und sie sich nun entfernen wollten, stießen sie, wie bereits erwähnt, auf Mehnert, dem sie nach dessen Wohnung folgten, wobei der Paukenschläger von Jacob Simeon den Hieb erhielt, welcher ihm hätte das Leben kosten können.

Nach einiger Zeit fand ein Nachtwächter den regungslos Daliegenden. Er pfiff Hilfe herbei, um ihn nach der nächsten Hilfsstation schaffen zu lassen, wo er zufällig erkannt wurde. Am anderen Morgen war in den Blättern zu lesen:

»In letzter Nacht fand man den Musikus Hauck, einen jungen, kräftigen Mann, ohne Besinnung auf der Straße liegend, auf. Die ärztliche Untersuchung ergab, daß ein Schlag an den Kopf die Ursache dieses Falles sei. Es läßt sich vermuthen, daß der beinahe tödtliche Hieb mit einem sogenannten Todtschläger ausgeführt worden ist. Da der Patient bis jetzt seine Besinnung noch nicht wieder erlangt hat, so bleibt der Vorgang noch in Dunkel gehüllt. Glücklicher Weise aber steht zu hoffen, daß der Verletzte mit dem Leben davonkommen werde.«

Kurz nach Mittag schlenderten Anton und Adolf der Gasse zu, in welcher Mehnert wohnte.

»Ja,« sagte der Erstere, »es ist so, wie ich sage. Jacob Simeon soll gestern Abend gesehen worden sein. Nachtwächter Nummer Zwanzig will ihn erkannt und auch angerufen haben, doch ist der Kerl schnell enteilt.«

»Es ist allerdings möglich, daß er sich noch in der Stadt aufhält und sich des Nachts nur auf die Gassen wagt. Er mag Wind von dem Verdachte bekommen haben, in welchem er steht. Daß er da so plötzlich verkauft hat und verschwunden ist, gereicht ihm keineswegs zum Vortheile und zur Rechtfertigung. Vielleicht ist bei Mehnert etwas zu erfahren.«

»Schwerlich. Dieser Mensch gefällt mir auch nicht. Er weiß übrigens, daß wir Polizisten sind, und wird sich nicht sehr mit uns einlassen.«

Trotzdem aber traten sie in seinen Laden, um sich die Trauringe auszusuchen. Sie ließen sie natürlich noch bei ihm, um Datum und Namen eingraviren zu lassen. Dann betrachteten sie sich auch die anderen vorhandenen Ringe, mehr in der Absicht, den Ladenbesitzer auszuforschen, als in Wirklichkeit etwas zu kaufen.


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Es kam ihnen auch nichts sehr Verlockendes vor die Augen. Was ihnen gefiel, war zu theuer, und das Billige fand ihren Beifall nicht. Zuletzt sahen sie noch, ganz bei Seite geschoben, eine kleine, einfache Pappschachtel, in welcher sich auf gewöhnlicher Watte zwei Ringe befanden.

»Donnerwetter?« sagte Anton. »Die sind echt!«

»Echt?« lachte Mehnert. »Würde ich echte Steine so in dieser Weise aufbewahren?«

»Nicht echt? Ich möchte Gift darauf nehmen, daß es Diamanten sind!«

»Gute, allerdings sehr gute Nachahmungen, weiter nichts.«

»Wie ist der Preis?«

»Zehn Gulden pro Stück.«

»Was? Zehn Gulden? So billig? Da behalte ich einen.«

»Ich auch,« meinte Adolf.

»Aber ich wiederhole, daß es nur Imitation ist. Wenn die Herren sie wirklich behalten wollen, so -«

»Nun was? Wir behalten sie.«

»So möchte ich fast um eine Bescheinigung bitten, daß ich sie Ihnen als Imitation verkauft habe; es ist einfaches Alenconer Bergkrystall.«

»Diese Bescheinigung sollen Sie haben. Jetzt können wir fast dicke thun. Kein Mensch wird uns beweisen können, daß diese Ringe unecht sind.«

Als sie bezahlt hatten und seelenvergnügt den Laden verließen, lachte Mehnert höhnisch hinter ihnen her:

»In die Falle gegangen! Jetzt ist mir Hulda sicher. Das ist mir außerordentlich leicht geworden, leichter, als ich dachte. Um dieses reizende Mädchen zur Frau zu bekommen, würde man noch ganz andere Dinge thun. Erstens ist sie schön und zweitens nun auch wohlhabend. Das Geschmeide repräsentirt zwar keinen Reichthum, ist aber doch soviel werth, wie ich selbst besitze. Wird sie meine Frau, so verdoppelt sich also mein Vermögen. Wie freue ich mich auf heute Abend!«

Er brauchte nicht bis zum Abend zu warten, denn noch im Laufe des Nachmittags hatte er die freudige Überraschung, die Geliebte bei sich eintreten zu sehen. Als er sie nach der Ursache dieses unerwarteten Besuches fragte, antwortete sie:

»Ich hatte doch nicht daran gedacht, daß diese Jette heute ihre Hälfte abholen werde.«

»War sie bei Ihnen?«

»Ja; aber ich habe mich verleugnen lassen. Ich konnte ihr doch nichts geben. Ich komme jetzt, um mir etwas von Ihnen zu holen, natürlich etwas Unechtes. Sie will gegen Abend wiederkommen; da gebe ich es ihr.«

»Was soll es denn sein?«

»Das ist gleichgiltig. Viel soll es nicht kosten. Die Bezahlung habe ich gleich mitgebracht.«

»O bitte, das ist doch nicht nöthig!«

»Warum nicht? Geschäft ist Geschäft. Daß Sie es mit mir abschließen,


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das ändert nichts an der Sache. Wie viel ist wohl hier dieses Armband werth?«

Sie zog den genannten Gegenstand hervor, den er prüfend betrachtete. Er antwortete:

»Ah, von den Sachen der Baronin von Helfenstein!«

»Natürlich! Würden Sie es als Zahlung annehmen?«

»Von Ihnen, ja, von einem Anderen aber nicht. Es mag über hundert Gulden gekostet haben, aber in Folge der Art und Weise, wie es in Ihren Besitz gekommen ist, verliert es bedeutend an Werth. Man muß den Stein herausnehmen und das Metall dann einschmelzen, der Sicherheit wegen. Ich kann wirklich nicht mehr als fünfzig Gulden bieten.«

»Das genügt. Geben Sie mir für diese fünfzig Gulden andere Schmucksachen, die ich dann dieser Jette geben werde.«

»Schön! Was aber werden Sie mit den übrigen Geschmeidegegenständen anfangen?«

»Die erhalten Sie, natürlich als meine Aussteuer. Sie werden das Gold einschmelzen und die Steine beliebig verwerthen. Sobald diese beiden Spione in Strafe genommen sind, bin ich die Ihrige, und dann erhalten Sie die Sachen. Sind die Zwei vielleicht bereits hier gewesen?«

»Ja.«

»Wirklich? Haben Sie die Ringe verkauft?«

»Gewiß. Es ist Alles ganz gut von statten gegangen.«

»So wird unser Plan gelingen. Hoffentlich dauert es nicht lange, bis sie die Ringe ihren Mädchen geben.«

»Das wird noch heute geschehen, wie ich aus ihren Reden zu errathen vermochte.«

»Gut. Suchen wir also jetzt aus!«

Er gab ihr für fünfzig Gulden minderwerthige Sachen. Sie hatte nichts dagegen, daß er sie dabei mit Zärtlichkeiten überschüttete. Beim Scheiden dann meinte er:

»Es hat mich natürlich gefreut, Sie bei mir zu sehen, eigentlich aber wäre es mir lieber gewesen, wenn Sie nicht gekommen wären.«

»Warum?«

»Ich sollte Sie doch heute Abend aufsuchen, um Ihnen zu berichten, ob es mir gelungen ist, die beiden Ringe an den Mann zu bringen. Nun wünschen Sie vielleicht, daß dieser Besuch in Wegfall kommt. Ich hatte mich so sehr darauf gefreut.«

»Nun, ich will nicht grausam sein. Kommen Sie also!«

Sie war kaum zu Hause angelangt, als die dicke Tochter des Apothekers wiederkam und nun ihre Schmucksachen erhielt. Jette war keineswegs sehr scharfsinnig; sie steckte die Gegenstände zu sich und dachte nicht daran, daß es möglich sei, übervortheilt zu sein.

Der Paukenschläger Hauck hatte den ganzen Tag ohne Besinnung gelegen.


- 2301 -


Erst am Abend meldete die Wärterin, welche ihn zu beobachten hatte, dem Arzte, daß er die Augen geöffnet habe.

»Hat er gesprochen?«

»Nein, kein Wort. Sein Blick ist blöde und verständnißlos. Das Selbstbewußtsein scheint zu fehlen.«

»Hoffentlich wird es bald wiederkehren. Ich werde gleich einmal zu ihm gehen.«

Es stand doch besser, als die Wärterin gemeint hatte. Als der Arzt zu dem Patienten kam, saß dieser aufrecht im Bette und hielt die Hand an diejenige Stelle des Kopfes, an welche er den Schlag erhalten hatte. Sein Blick war nicht mehr blöde wie vorher und erwiderte den Gruß des Arztes.

»Wo befinde ich mich denn?« fragte er dann.

»Im Stadtkrankenhause.«

»Warum denn? Wie bin ich denn hierher gekommen?«

»Man hat Sie, besinnungslos auf der Straße liegend, gefunden.«

»Besinnungslos? Mein Kopf thut weh.«

»Sie müssen einen Hieb erhalten haben, der Sie sofort niedergeworfen hat.«

»Davon weiß ich nichts.«

»Sind Sie nicht mit Jemand in Streit gerathen?«

»Nein. Ich weiß überhaupt gar nicht, wo ich gewesen bin.«

»Das wäre doch eigenthümlich! Sie können sich nicht mehr auf den Ort besinnen?«

»Nein. Seit wann bin ich hier?«

»Seit vergangener Nacht.«

»Welcher Tag ist heute?«

»Dienstag.«

»So muß ich doch gestern im Tivoli gewesen sein, um mit Musik zu machen.«

»Das ist allerdings der Fall. Man hat natürlich von Seiten der Polizei nachgeforscht. Sie sind im Tivoli gewesen, haben sich aber entfernt und sind nicht wieder gekommen.«

»Das wäre sonderbar!«

»Sie wissen also nicht, warum Sie fortgegangen sind?«

»Nein.«

»Aber doch, wo Sie gewesen sind?«

»Auch nicht. Ich weiß nur, wer ich bin und daß ich mich hier befinde.«

»Das ist ein Fall höchst interessanter Gedächtnißstörung, natürlich in Folge des Hiebes, den Sie erhalten haben. Ich hoffe, daß die Erinnerung zurückkehren wird, sobald sich die Anschwellung gesetzt haben wird.«

»Bin ich verwundet?«

»Eigentlich verwundet nicht, auch ist der Knochen nicht entzwei. Jedenfalls aber ist eine Blutansammlung vorhanden. Ist dieses Blut absorbirt, so sind Sie geheilt. So besinnen Sie sich also auf gar nichts, betreffs des gestrigen Abends?«


- 2302 -


»Nicht auf das Geringste.«

»Sie sollen einmal getanzt haben.«

»Getanzt? Das wäre fast ein Wunder. Ich pflege nicht zu tanzen. Wer soll denn meine Tänzerin gewesen sein?«

»Das hat man noch nicht erfahren können. Man hat die betreffenden Erkundigungen bei Ihrem Musikdirector eingezogen. Dieser hat das Mädchen nicht gekannt.«

»Ich muß mich doch wenigstens von ihm beurlaubt haben.«

»Nein, das haben Sie nicht gethan. Sie haben sich einen Walzer bestellt, welcher auch gespielt worden ist, als Sie tanzten. Dann sind Sie nach Ihrem Platze zurückgekehrt, um denselben plötzlich wieder zu verlassen. Sie sind aus dem Saale fortgegangen, ohne wieder zu kommen.«

»Das ist sonderbar! Wo mag ich gewesen sein?«

»Das eben möchte man gern wissen. Vielleicht sind Sie auf der Straße mit irgend einem rohen Menschen in Streit gerathen, der Sie dann niederschlug.«

»Fällt mir nicht ein. Erstens verkehre ich nicht mit rohen Menschen, zweitens streite ich mich mit keinem Anderen, wenigstens in der Weise, daß eine Prügelei entstehen könnte, und drittens bin ich stark und kräftig genug, es in einer Balgerei mit Zweien aufnehmen zu können. Hätte es auf der Straße so etwas gegeben, so müßten doch die Nachtwächter den Lärm gehört haben.«

»Die haben freilich gar nichts gehört. Der Wächter, in dessen Reviere Sie gefunden worden sind, ist vernommen worden und er hat ausgesagt, daß in seinem Bezirke Alles höchst ruhig gewesen sei, bis er Sie gefunden hat.«

»Hm! Fast möchte ich glauben, daß ich hinterrücks niedergeschlagen worden bin.«

»Haben Sie Gründe dafür?«

»Was ich bereits sagte: Ich bin stark genug, es mit Zweien aufzunehmen. Wäre ich offen angegriffen worden, so hätte ich mich sicherlich meiner Haut zu wehren gewußt.«

»Aber die Übermacht!«

»Pah! Da hätte ich um Hilfe gerufen und das müßte der Wächter gehört haben. Man hat mich von hinten niedergehauen mit - ja, mit was denn?«

»Es scheint ein sogenannter Todtschläger gewesen zu sein.«

»Ah! Da haben Sie es! Ein ehrlicher Mensch trägt keinen Todtschläger bei sich. Auch ein Mann, der nur zufälliger Weise in eine Prügelei verwickelt wird, steckt eine so lebensgefährliche Waffe nicht ein. Das thut vielmehr nur Einer, der auf Mord und Todtschlag ausgeht.«

»Diese Argumente lassen sich allerdings hören. Vielleicht ist es auf einen Raub abgesehen gewesen. Wissen Sie genau, was sich in Ihren Taschen befand?«

»Darinnen befindet sich niemals etwas Werthvolles. Ich bin ein armer


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Teufel. Ich pflege bei mir zu tragen ein paar Cigarren von der billigsten Sorte, ein Portemonnaie mit einigen Kreuzern und meine Cylinderuhr, für welche ich sechs Gulden bezahlt habe.«

»Nun, diese Gegenstände hat man bei Ihnen gefunden. Dort auf dem Tische liegen sie. Drei Cigarren, die Uhr und das Geldtäschchen mit wenig über einen Gulden.«

»Mehr habe ich nicht bei mir gehabt. Von einem Raubanfalle kann also keine Rede sein.«

»Trotzdem doch. Vielleicht war es auf einen Anderen abgesehen. Man hat sich geirrt.«

»Das sollte ihnen der Teufel danken! Wenn sie es auf einen Anderen abgesehen haben, so mögen sie doch diesen niederschlagen, nicht aber mich!«

»So etwas kommt aber leider vor.«

»Ja, aber ich glaube doch nicht, daß dies gestern der Fall gewesen ist. Daß ich vom Saale fortgegangen bin, ist eine solche Seltenheit, daß ich unbedingt sehr wichtige Gründe dazu gehabt haben muß. Mit diesen Gründen möchte ich den Angriff auf meine Person in Verbindung bringen.«

»Vielleicht haben Sie Recht. Wenn Sie sich doch nur auf diese Gründe besinnen könnten.«

Der Musikus kratzte sich in den Haaren und sagte:

»Da habe ich nun freilich nicht die blasseste Idee von einer Ahnung. Sie sind Arzt, treiben also vielleicht auch Phrenologie?«

»Ja. Warum fragen Sie?«

»Hier habe ich die Beule. Liegt denn vielleicht gerade an dieser Stelle alberner Weise das Gedächtniß?«

»Nein. Man nimmt an, daß die Organe des Gedächtnisses weiter nach vorn zu liegen.«

»So sind sie mir eben hinuntergerutscht, denn ich habe die Erinnerung an gestern verloren. Es wäre zum Teufel, wenn das Gedächtniß nicht wiederkommen wollte!«

»Da brauchen Sie sich nicht zu ängstigen. Wenn sich die Geschwulst gelegt hat, wird es sich einfinden.«

»Also steckt es in der Geschwulst. Das will ich mir denn doch verbitten. Mein Gedächtniß soll sich an so eine Beule gar nicht kehren. Ich werde es einmal bei den Ohren nehmen. Ich werde ihm ein bischen zu Hilfe kommen!«

Das klang so spaßhaft, daß der Arzt lachend fragte:

»Wie sollen Sie das anfangen?«

»Hm! Das muß ich mir erst überlegen. Wen hat man außer dem Musikdirector nach mir gefragt?«

»Niemand.«

»So. Da hat man sich freilich nicht an die richtige Quelle gewendet, Herr Doctor.«

»Eine bessere als den Director kann es doch nicht geben.«

»Oho! Denken Sie, daß wir dem Alles auf die Nase binden? Von


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unseren Privatsachen erfährt er nichts. Es giebt da gar Vielerlei, was er nicht zu wissen braucht. Gerade so eine Angelegenheit ist es vielleicht gewesen, wegen deren ich den Saal verlassen habe. Dann habe ich mich nicht an den Director gewendet, sondern an meinen Kameraden.«

»So kann dieser am Ende Auskunft geben.«

»Sehr möglich. Er geigt die dritte Violine und da diese leicht ausfallen kann, so pflege ich ihm die Pauken anzuvertrauen, wenn ich meinen Platz einmal verlassen muß. Jedenfalls habe ich das gestern auch gethan.«

»So muß er gefragt werden. Ich werde das dem Untersuchungsrichter melden.«

»Untersuchungsrichter? Hat man denn aus dieser Sache eine Amtsgeschichte gemacht?«

»Natürlich! Es handelt sich doch um einen versuchten Todtschlag. Ist das kein Criminalfall, so giebt es überhaupt keinen.«

»Hm! Ich werde also auch vernommen werden?«

»Allerdings, und zwar morgen hier.«

»Sie meinen, ich solle hier bleiben?«

»Ja.«

»Fällt mir gar nicht ein.«

»Denken Sie nicht daran, daß ich Sie entlassen werde!«

»So gehe ich selbst.«

»Das werde ich verhindern. Sie dürfen Ihre Verletzung nicht so leicht nehmen.«

»Ich bin ja ganz wohl! Der Schädel brummt zwar ein wenig, sonst aber fehlt mir gar nichts.«

»Und doch haben Sie keine Erinnerung! Ihr Fall ist für den Arzt höchst interessant; er muß auf das Genaueste beobachtet werden. Ich lasse sie nicht fort.«

»Aber ich könnte vielleicht schon heute herausbekommen, wer mich geschlagen hat!«

»Wenn Ihnen das möglich ist, dann ist es dem Untersuchungsrichter noch viel leichter möglich. Sie werden hier wenigstens so lange warten, bis er morgen bei Ihnen gewesen ist.«

Hauck blickte nachdenklich vor sich hin. Über sein Gesicht ging jener schelmische Zug, welcher ihm so sehr eigenthümlich war. Dann antwortete er in ergebungsvollem Tone:

»So muß ich liegen bleiben und mich darein ergeben!«

»Ja. Sie werden hier ja viel besser abgewartet und gepflegt als daheim. Und Familie, nach der Sie sich sehnen könnten, haben Sie nicht, wie ich gehört habe.«

»Familie? Das fehlte noch! Ein Mensch, welcher todtgeschlagen werden soll, braucht keine Familie! Ich habe da jetzt etwas ganz Anderes, was mir aber viel Sorgen macht, Herr Doctor.«

»Was denn?«


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