Karl May's dritter Münchmeyer-Roman


Der verlorene Sohn

oder

Der Fürst des Elends.

Roman aus der Criminal-Geschichte.

Fünfter Band


Lieferung 101.

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sondern daß er sogar auch das eingekaufte Pelzwerk weiter verhandelt hatte. Er brannte also mit dem doppelten Betrage durch, über die russische Grenze hinüber. Mein Vater hat sich förmlich todt gearbeitet und gehungert, um die Scharte auszuwetzen; es ist ihm nicht gelungen. Er ist frühzeitig gestorben, an der Auszehrung. Zuweilen kam ein Brief aus Rußland, zuletzt aus Sibirien; darin stand, daß der Oheim steinreich geworden sei, aber seine Adresse war niemals angegeben; er wollte uns nur ärgern.«

»Das sieht ihm ganz ähnlich!« meinte Holm.

»Wie? Kennen Sie ihn denn?«

»Es scheint so.«

»Sapperment!«

»Ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen.«

»Wo denn? Wann denn?«

»Heute, im Thurme. Ich meine diesen Einsiedler Winter.«

»Was? Der sollte -«

»Er scheint Ihr Oheim zu sein.«

»Dieser Mensch? Mit der Truhe, der Kiste und der Lade voller Geld?«

»Ja. Er gab Ihren Namen an; er sagte, er heiße nicht Winter, sondern Hauck, und ich solle an Sie telegraphiren.«

»Warte, Hallunke, ich komme, und zwar sofort!«

Er sprang von seinem Stuhle auf und wollte fort.

»Halt!« gebot der Fürst. »Keine Übereilung! Wir fahren ja mit.«

»Das ist ganz gut; aber ich muß gleich fort!«

»Warten Sie nur diese kurze Zeit! Sie können nicht allein hin. Es ist für Sie vortheilhafter, wenn wir als Zeugen dabei sind, wenn Sie mit diesem Manne sprechen. Übrigens müssen wir den Arzt rufen lassen, um ihn mitzunehmen. Wir brauchen ihn nothwendig.«

Der sanguinische Paukenschläger mußte sich fügen. Es wurde ein Bote nach dem Arzte geschickt und dieser stellte sich sofort ein. Er beruhigte die Herren in Beziehung auf den Oberlieutenant Hagenau. Nach dem Einsiedler gefragt, antwortete er:

»Ich habe das Messer entfernt und ihn verbunden. Aber er hat keine Hoffnung. Ich bin überzeugt, daß er noch heute sterben wird.«

Die Herren stiegen in die Wagen und fuhren weiter, nach Grünbach. Dort wurde im Schlosse abgestiegen, von wo sie sich sofort nach dem Thurme begaben.

Der Fürst lobte die getroffenen Maßregeln und erklärte sich vollständig mit denselben einverstanden. Robert Bertram begrüßte ihn mit großer Freude. Theodolinde wagte nicht, aufzublicken, als die Herren eintraten. Man achtete zunächst gar nicht auf sie. Die nächste Aufmerksamkeit wurde dem Einsiedler gewidmet.

Der Arzt untersuchte ihn und erklärte leise, daß es mit ihm zu Ende gehe; man möge es kurz mit ihm machen.

Der Staatsanwalt verhörte ihn. Der Sterbende gestand in kurzen,


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abgerissenen Worten Alles ein und verlangte nur nach dem Paukenschläger Hauck. Dieser hatte sich bisher im Hintergrunde gehalten, trat aber jetzt herzu.

»Hier bin ich,« sagte er. »Ich heiße Hauck.«

Der Einsiedler betrachtete ihn eine Weile wortlos; dann sagte er:

»Ja, Du bist es. Du siehst genau so, wie Dein Vater, als er in Deinen Jahren war.«

Er konnte nur schwer und langsam sprechen. Er holte tief Athem, bevor er fortfuhr:

»Man hat Dir von mir erzählt?«

»Bist Du der Oheim?«

»Ja.«

»So hat man viel von Dir gesprochen. Ich habe Deine heimtückischen Briefe alle noch. Der Vater ist an der Auszehrung gestorben und die Mutter am Hungertyphus!«

»O mein Gott! Werde ich Vergebung finden?«

»Bitte sie darum, wenn Du sie da oben triffst!«

»Aber Du, Du! Wirst Du mir verzeihen?«

Hauck hatte ihn mit finsteren Blicken betrachtet. Jetzt ging es weich und mild über sein Gesicht. Er antwortete:

»Du stehst vor der Pforte des Todes. Ich vergebe Dir, was ich Dir zu vergeben habe. Stirb in Frieden!«

»Ich danke Dir! Gieb mir Deine Hand!«

Hauck gab sie ihm. Der Sterbende zog ihn zu sich hernieder und stieß mit hastiger, widerlicher Stimme hervor:

»Du kannst mir verzeihen, Du kannst es, denn Du bist der Erbe. Ich habe gescharrt, gescharrt, mehr und immer mehr! O, ich muß es hier lassen. Da liegt es, es ist Dein. Unten in der Truhe liegen meine Papiere. Sie werden beweisen, wer ich bin, und daß also dieses Geld Dir gehört. Ich wollte es genießen, mit einem schönen, jungen Weibe. Sie haben mich gemordet. Dort sitzt sie. Ich habe ihr fünfundzwanzigtausend Gulden geborgt; laß es Dir wiedergeben!«

»Es ist da,« sagte Holm laut. »Ich habe es hier in meiner Tasche.«

Der Einsiedler hatte dies gehört.

»Ah,« sagte er, »sie hat es nicht! Das ist gut! Schafft sie in das Zuchthaus, die Mörderin! Komm her, mein Neffe! Ich will Dir sagen, wie viel ich Dir hinterlasse. Es ist - ist - ist -«

Seine Rede erstarb in einem unverständlichen Lallen. Sein Blick wurde starr, seine Augen schlossen sich. Er schwieg. Der Paukenschläger entzog ihm seine Hand und trat zurück. Es flimmerte ihm um die Augen, es summte ihm um die Ohren. Reich, reich, reich! Er mußte fort, hinaus, mußte frische Luft athmen. Er ging und strich wohl einige Stunden lang im Walde umher.

Als er zurückkehrte, stand Holm vor der Thür.

»Wo stecken Sie denn?« fragte dieser. »Die Herren haben auf Sie gewartet.«


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»Warum? Ich denke, man hat Anderes zu thun!«

»Das ist längst vorbei. Fräulein Theodolinde hat Alles gestanden. Kette und Kinderzeug sind in dem Schlosse gefunden worden. Kommen Sie herauf.«

»Endlich!« sagte der Fürst, als die Beiden eintraten. »Wir haben uns Ihrer Angelegenheit bemächtigt. Er ist richtig. Der Todte ist Ihr Oheim.«

»Der Todte? Ist er todt?«

»Ja. Sie sind der Erbe. Sie sind ein reicher Mann.«

»Dem Himmel sei getrommelt und gepfiffen! Wie hoch beläuft sich der Krimskrams?«

»Weit über neunzigtausend Gulden.«

»Neun - zig - tau - -«

»Ja. Natürlich aber geht davon die landesübliche Erbschaftssteuer ab.«

»Sakkerment! Die wird doch nicht etwa hunderttausend Gulden betragen?«

»Schwerlich,« lachte der Fürst.

»Und wann erhalte ich das Geld? Heute?«

»Nein. Das wird einstweilen Alles versiegelt.«

»O weh! Ich dachte, ich könnte mir die Taschen gleich so recht voll sacken!«

»Da müssen Sie freilich Geduld haben! Übrigens sind Sie verpflichtet, Ihren Onkel zu begraben.«

»Gern, sehr gern! Ich will ihn so tief begraben lassen, daß er seine Freude daran haben soll! Aber dazu gehört Geld, und ich habe keins. Ich bin blutarm. Wenn ich nur wenigstens heute etwas bekommen könnte. Ich habe Schulden und so weiter!«

»Und eine Laura! Nicht?«

»Freilich, freilich!«

»Na, wir wollen es wagen, Ihnen etwas auf Abschlag zu geben. Ich werde es verantworten. Wie viel wollen Sie? Fünf Gulden, oder zehn?«

»Fünf? Zehn? Ich falle in alle Ohnmächte!«

»Nun wie viel denn?«

»So viele Tausend!«

»Gemach, gemach! Ich kann mich in Ihre Lage denken und will Ihnen die Freude nicht verderben. Sie sollen zweitausend Gulden erhalten. Hier ist Papier. Quittiren Sie!«

Hauck that einen Sprung, daß er mit dem Kopfe an die Decke stieß. Er quittirte und erhielt das Geld.

»Jetzt sind Sie hier fertig,« sagte der Fürst. »Der Ortsvorsteher bekommt den Thurm in Verwahrung. Wenden Sie sich an ihn wegen des Begräbnisses.«

Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er verhandelte in aller Eile mit


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dem Vorsteher das Nöthige und machte sich dann schleunigst davon, nach dem Dorfe zu.

Dort ging er zum reichsten Bauer und fragte:

»Haben Sie eine Kutsche?«

»Ja.«

»Für wieviel fahren Sie mich im Galopp nach Wildau?«

»Zwanzig Gulden.«

»Hier sind sie! Sofort angespannt!«

In Wildau angekommen, bestellte er sich eine Extramaschine mit Wagen erster Classe und telegraphirte Folgendes nach der Residenz:

»Herrn Theatercassirer Werner. Altmarkt 13, vier Treppen im Hinterhause.
Ich komme mit Extrazug. Schnell nach dem Bahnhofe. Bringen Sie das ganze Volk mit, wie es leibt und lebt!«

Als Werner dieses Telegramm erhielt, wußte er gar nicht, was er davon halten solle. Glücklicher Weise kam Adolf, um Emilie zu besuchen. Dieser las die Worte und meinte dann:

»In Wildau aufgegeben? Dorthin ist heute der Fürst mit mehreren Beamten. Jetzt passiren gar wunderliche Dinge. Es fehlt zwar die Unterschrift, aber Sie müssen doch hinaus nach dem Bahnhofe.«

»Mit der ganzen Familie?«

»Ja. Ich gehe auch mit.«

Draußen angekommen, erkundigte sich Adolf bei der Betriebsinspection und erfuhr, daß allerdings in ungefähr zehn Minuten eine Extramaschine erwartet werde, welche angekündigt worden sei. Er ließ sich also den Perron öffnen und begab sich hinaus, mit dem ganzen Volke, wie es leibte und lebte.

Der Extrazug kam und hielt. Der Zugführer sprang ab und öffnete unter einer tiefen Verbeugung die Thür zum Coupee erster Classe. Wer stieg aus? Der Paukenschläger! Er kam sofort auf die Harrenden zu.

»Schön! Meine Depesche erhalten?« sagte er.

»Ah! Sie sind es?« fragte Werner. »Wie kommen Sie zu einem Extrazug?«

»Das will ich Ihnen erzählen. Kommen Sie nur herein. Wir lassen uns ein separates Zimmerchen geben.«

Sie folgten ihm ganz erstaunt. Fast vermutheten sie, daß er übergeschnappt sei. Noch mehr Angst aber bekamen sie, als er dem Kellner befahl, ein feines Frühstück nebst Wein zu bringen und ein Dutzend Flaschen Champagner kalt zu stellen.

»Wundern Sie sich nicht!« lachte er. »Ich bin ein sehr solider Kerl. Heute habe ich Veranlassung, mich zu freuen. Heute will ich einmal verschwenderisch sein - das erste und das letzte Mal im ganzen Leben. Ich habe nämlich hunderttausend Erbschaftssteuer in meine Tasche zu stecken. Also, kommen Sie!«

In dem separaten Zimmerchen ging es dann so lustig her, daß die im


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Saal befindlichen Gäste den betreffenden Kellner nach der Ursache fragten. Er antwortete:

»Da hat ein armer Teufel ganz unerwartet eine große Erbschaft gemacht und sich ebenso unerwartet mit Laura Werner, der Tochter des Theatercassirers, verlobt. Diesen braven Leuten ist das Glück zu gönnen!«

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Natürlich dauerte es nicht lange, so hatten sich die Ereignisse der letzten Nacht nicht nur in der Residenz, sondern im ganzen Lande herumgesprochen. Dadurch wurde bekannt, was weitere Kreise bisher noch nicht gewußt hatten, nämlich daß Robert Bertram, der Pflegesohn des armen Schneiders, nicht nur der Verfasser der berühmten Heimaths=, Tropen= und Wüstenbilder, sondern der verlorene und wiedergefundene Sohn des ermordeten Freiherrn Otto von Helfenstein sei.

In Folge dessen wurde man doppelt gespannt auf den Ausgang des Monstre= und Criminalprocesses, welcher alle Welt jetzt in Athem hielt.

Freilich gab es bei diesem Processe eine solche Masse von Arbeit zu bewältigen, daß Monat um Monat verging.

Nach den Landesgesetzen mußte jeder Proceß binnen höchstens zwölf Monaten ausgetragen sein. Hier aber war dies eine Unmöglichkeit. Das hohe Ministerium erklärte öffentlich, daß diese Ausnahme nicht zu vermeiden sei.

Holm war indessen mit Hilda und Ellen nach Italien gegangen - Hagenau hatte sich ihnen angeschlossen, denn er war jetzt Hilda's erklärter Bräutigam.

Droben im Gebirge, zwischen Brückenau und Schloß Hirschenau, gab es seit längerer Zeit ein reges Leben. Der Fürst von Befour hatte ein bedeutendes Areal gekauft und ließ da auf einer Höhe, welche zu einer Seite fast senkrecht in die Tiefe fiel, nach außerordentlich detaillirten Angaben ein Schloß bauen.

Das brachte der armen Bevölkerung reichen Erwerb, zumal das Schloß schnell fertig werden sollte und also eine desto bedeutendere Anzahl Menschen beschäftigt werden mußte.

Alma von Helfenstein hatte von diesem Bau gehört; sie war dem Geliebten einige Male mit dem Wunsche nahegetreten, ihn in's Gebirge zu begleiten, um den Neubau in Augenschein zu nehmen, doch hatte er sie stets gebeten, ihm zu Liebe davon abzusehen.

Endlich, endlich war der Proceß so weit gediehen, daß er zur Verhandlung gelangen konnte. Ein so außerordentlicher Fall stand in den Annalen der Criminalgeschichte noch gar nicht verzeichnet. Tausende und Abertausende bemühten sich, Eintrittskarten zu erlangen - vergebens. Die berühmtesten Rechtslehrer und Polizisten aller Länder kamen herbei, um beizuwohnen. Die Journalistentribüne war zum Ersticken besetzt. Reporter standen auf allen Treppen und alle anliegenden Straßen waren mit Menschen gefüllt.

So ging es Tag um Tag. Die Verhandlung dauerte über sechs Wochen. Dann wurde das Urtheil gesprochen.


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Am meisten Aufsehen erregte es, als man erfuhr, daß der Hauptzeuge und zugleich Derjenige, der Alles entdeckt hatte, nämlich der Fürst von Befour, eigentlich der vor über zwanzig Jahren unschuldig verurtheilte Gustav Brandt sei. Ihm wurde eine geradezu fieberhafte Theilnahme gewidmet, und wo er sich sehen ließ, drängten sich die Menschen an ihn, nur um ihn zu sehen. Er hatte alle Verhüllung abgelegt und zeigte sein natürliches Gesicht, so daß der Fürst von Befour gar nicht mehr in ihm zu erkennen war. Übrigens wußte man, daß er das Fürstenthum Befour in letzter Zeit an Frankreich verkauft und auf Titel und Rang eines Fürsten verzichtet habe. Er wollte wieder Brandt heißen, da nun die Ehre dieses seines Namens wieder hergestellt war. Freilich sollte er viele, viele Millionen für sein Fürstenthum erhalten haben.

Das sich über sehr viele Personen erstreckende Urtheil lautete:

Der Baron Franz von Helfenstein, sogenannter Hauptmann und Waldkönig zum ehrlosen Tode durch den Strang. Der Sohn des Schmiedes Wolf wurde freigesprochen. Sein Vater hatte Alles auf sich genommen.

Der Riese Bormann erhielt fünf Jahre Zuchthaus, der Jude Salomon Levi ebensoviel und dessen Frau zwei Jahre, Judith, ihre Tochter, erhielt ein Jahr Gefängniß.

Herr August Seidelmann, der Fromme, wurde zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurtheilt, und Diejenigen, welche an seinem Mädchenhandel theilgenommen hatten, erhielten ebenso ihren Lohn. Der Apotheker Wolf mußte auch nach Rollenburg, ebenso Jacob Simeon und sein früherer Gehilfe Mehnert, dessen Geliebte Hulda das gleiche Schicksal traf, während die dicke Jette ihres offenen Geständnisses wegen sich einer milderen Strafe erfreute.

Auch Doctor Mars erhielt seine Strafe. Er wurde für moralisch unfähig erklärt, seine Anstalt fort zu leiten, und mußte dieselbe aufgeben.

Die Leda wurde zu zehn Jahren, ihre Mutter zu fünf Jahren Zuchthaus verurtheilt.

Herr Baumgarten, der Director des Circus Real, wanderte für drei Jahre in das Zuchthaus, während sein Bruder, der Intendant, abgesetzt wurde und sich für mehrere Monate im Gefängnisse umsehen durfte. Auch der Director der Claqueurs erhielt eine Gefängnißstrafe, während Herr Kunstmaler und Balletmeister Arthur eine sehr ernste Verwarnung mit nach Hause nahm.

Alle Mitglieder der Bande des Hauptmannes waren entdeckt worden und Jeder erhielt eine seiner Theilnahme angemessene Strafe. Auch Theodolinde von Tannenstein wanderte in das Zuchthaus. Man hat nie wieder etwas von ihr gehört.

Was nun die Baronin Ella betrifft, so war sie ihrem Vorsatze, sich an ihrem Manne zu rächen, treu geblieben. Sie hatte Alles entdeckt und Alles gestanden und damit manche Schwierigkeit aus dem Wege geräumt und in so manches Dunkel Licht gebracht. In Rücksicht auf dies ihr offenes Geständniß war sie zwar zum Tode verurtheilt worden, doch war man überzeugt, daß der König sie begnadigen werde. Aber am Tage nach dem Urtheilsspruche meldeten


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die Blätter, daß Baronin Ella todt sei. Sie hatte ein Fenster ihrer Zelle zerbrochen und sich mit einem Glassplitter die Pulsader geöffnet.

Ihr Mann, Baron Franz, wurde wirklich hingerichtet und zwar öffentlich, auf dem Marktplatze, vor einer nach vielen Tausenden zählenden Volksmenge. Er starb eines schrecklichen Todes, wimmernd wie ein Kind, die Henkerskechte mußten ihn tragen, so schwach war er vor Feigheit und Angst.

Jetzt gab es Frieden und Ruhe im Lande. In der Hauptstadt herrschte die vollste Sicherheit und im Gebirge schien man das Paschen ganz verlernt zu haben.

Es war natürlich, daß die Personen, welche sich im Unglück zusammengefunden hatten, jetzt im Glück daran dachten, sich für immer mit einander zu vereinigen. Alle Welt wußte, daß Brandt, der Försterssohn, in Kurzem die Baronesse Alma von Helfenstein heirathen werde. Wo aber würde die Hochzeit stattfinden? Das wußte Alma selbst noch nicht.

Sie hatte in dieser Beziehung dem Geliebten schon manche Frage vorgelegt, er hatte ausweichend geantwortet. Sie solle sich nur vorbereiten, in Beziehung auf ihre Toilette und alles Andere, den Ort aber werde er selbst dann bestimmen.

So verging die Zeit. Eigenthümlicher Weise gab es jetzt recht viele Brautpaare, welche nicht wußten, wo sie die Hochzeit feiern sollten. Hätte man mehr in sie gedrungen, so hätte man vielleicht erfahren, daß Brandt, der frühere Fürst von Befour, daran schuld sei. Er hatte alle diese Paare in heimlicher Weise in Beschlag genommen.

Da kam die Rede wieder einmal auf das neue Schloß, welches Brandt bauen ließ, und Alma bat, es sehen zu dürfen, obgleich es noch lange nicht fertig sei.

»Gut,« antwortete er, »fahren wir übermorgen hinauf. Die Bahn bringt uns nach Brückenau und dann nehmen wir Pferde.«

So geschah es. Als sie sich im Bahncoupee gegenübersaßen, lächelte er so eigenthümlich geheimniß= und verheißungsvoll vor sich hin, daß es ihr auffallen mußte.

»Du hältst mir irgend etwas verborgen, lieber Gustav?« sagte sie. »Gestehe es!«

»Ja, ich will es Dir gestehen«. antwortete er.

»Was ist es?«

»Ein Glück. Warte nur noch kurze Zeit.«

Als sie in Brückenau anlangten, hielt eine prachtvolle Equipage, mit vier echten Arabern bespannt, vor dem Perron. Brandt führte die Geliebte zu dem Wagen.

»Ist er Dein?« fragte sie.

»Nein, Dein, mein Herz. Was Du jetzt anblickst, sobald wir die Stadt verlassen, ist Alles Dein.«

Im Galopp ging es von dannen. Bald sahen sie rechts den Gottes=Segen=Schacht liegen. Vor dem Orte gab es einen hohen Triumphbogen.


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Da stand der Pfarrer, der alte Förster Wunderlich und auch Eduard Hauser an der Spitze der ganzen Gemeinde, um die Herrschaft willkommen zu heißen. Böller krachten und die Glocken läuteten. Sie stiegen aus.

»Das überrascht mich,« sagte Alma.

»Diese ganzen Ländereien gehören uns. Ich habe sie gekauft,« erklärte er.

Der alte, brave Wunderlich drückte dem einstigen »Vetter Arndt« kräftig die Hand. Er sowohl, wie Hauser und der Pfarrer wurden von Brandt für morgen zur Hochzeit geladen. Alma hörte das.

»Hochzeit? Morgen?« fragte sie. »Bei wem?«

»Das ahnst Du nicht?« antwortete er zärtlich.

»Etwa bei uns?« lächelte sie. »Das ist unmöglich.«

»Wollen sehen!«

Sie fuhren weiter. Nach einer Weile ließ er mitten im Walde, mitten auf der Straße halten. Da führte links ein schmaler Fußweg in das Gebüsch hinein. Er ergriff Alma's Arm und schlug diesen Weg mit ihr ein.

Sie fragte nicht, sie ließ ihn gewähren.

Der Weg führte immer steiler und steiler bergan. Alma blieb zuweilen für einen Augenblick stehen, theils um Athem zu holen, theils um sich erstaunt umzublicken.

»Wie seltsam!« sagte sie. »Es ist hier ganz genau so, wie in der Tannenschlucht, da links die Tiefe und da oben vor uns der hohe Aussichtspunkt.«

Er lächelte vergnügt in sich hinein und führte sie weiter. Endlich erreichten sie die Höhe. Da standen einige Büsche. Sie schritten um diese herum und dann, ja dann stieß Alma einen Ruf des Entzückens aus. Sie befanden sich auf einem schmalen, von einem festen Geländer eingefaßten Felsplateau, von welchem aus man eine weite, weite Fernsicht über Wald und Berg bis hinab in das Niederland genoß. Das Gesicht Alma's strahlte vor Entzücken.

»Ist das möglich?« fragte sie. »Ganz genau wie auf dem Tannenstein. Welch' eine Überraschung, mein lieber, lieber Gustav! Welche eine Überraschung, mein lieber, lieber Gustav!«

Sie schlang die Arme um den Geliebten und küßte ihn zärtlich auf die Lippen.

»Weiß Du noch?« fragte er, auf das Geländer deutend.

»Was?«

»Hier lehnten wir, und ich nannte Dich meinen lieben, süßen Sonnenstrahl.«

»Ja. Und da kamen die Beiden, der Cousin -«

»Den ich da hinabwerfen wollte -«

»Und der Hellenbach -«

»Den ich dann ermordet haben sollte!«

»Bitte, denken wir nicht an diese Beiden! Aber die Täuschung ist wirklich zu groß. Wie hast Du das Alles fertig bringen können? Man glaubt wirklich, auf dem Tannenstein zu sein. Und da führt auch der Weg rechts in


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die Büsche, ganz so, als ob man da nach Schloß Hirschenau gelangen könne. Das liebe Schloß! Daß es damals abbrannte! Ich hatte meine Kinderjahre dort verlebt.«

Er nahm ihre Arm in den seinigen und führte sie weiter, zwischen die Büsche hinein. Als sie da eine Strecke fortgegangen waren, fragte er:

»Kannst Du Dich noch erinnern, wie Schloß Hirschenau ausgesehen hat?«

»O, sehr gut. Ich glaube, ich könnte es sofort in allen Details auf Papier zeichnen.«

»So wie das?«

Er deutete aufwärts. Sie hatten den Rand des Buschwerkes erreicht. Alma blickte auf. Da lag es, ihr Geburtsschloß, welches die Schmiede weggebrannt hatten, ganz, ganz genau wie früher!

Sie sagte kein Wort, aber sie biß sich auf die Lippen, um ihre Thränen zu besiegen; es gelang ihr nicht, sie stürzten sich doch hervor, unaufhaltsam und gewaltig.

»Gustav, mein Gustav!« schluchzte sie. »Wie lieb mußt Du mich haben!«

Er zog sie innig, innig an sich und antwortete:

»So lieb, daß ich es Dir gar nicht sagen, gar nicht zeigen und beweisen kann.«

»Ich ahne es: das ist der neue Bau, den Du vor mir so geheim gehalten hast?«

»Ja.«

»Du wolltest mich überraschen. Wie heißt das Schloß?«

»Brandtenstein. Der König wollte es so haben, es sollte nach meinem Namen genannt sein.«

»Es ist recht so. Hirschenau konntest Du es doch nicht nennen, da es dieses ja schon giebt. Dort wird Robert mit seiner Fanny wohnen.«

»Komm, mein Herz! Da fährt unser Wagen bereits den Schloßberg heran.«

Sie schritten weiter. Im Schloß sah man nur die Equipage und den Kutscher, sonst keinen Menschen. Die Beiden stiegen die Freitreppe empor. Alles, Alles war ganz genauso wie in ihrem Heimathsschlosse. Natürlich suchte Alma sogleich die Gemächer auf, welche so lagen wie diejenigen, welche sie damals bewohnt hatte. Das Vorzimmer war genau so wie ihr früheres. Sie schlug vor Freude die Hände zusammen und trat an das Fenster.

»Schau!« sagte sie. »Was ist das für ein Ort da unten, lieber Gustav?«

»Brandenstein.«

»Das ist ja ganz neu!«

»Ja, ich habe es neu gebaut, auch die Kirche. Und weißt Du, wer da wohnt?«

»Wie kann ich das wissen!«

»Alle Diejenigen, welche ich in letzter Zeit kennen lernte. Alle Die,


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welche meiner Hilfe bedurften, welchen ich als Fürst des Elendes eine Wohlthat erweisen konnte, habe ich hierher gerufen. Sie sollen hier wohnen als meine Unterthanen und an mir einen guten Herrn und Vater haben.«

Sie blickte ihm innig in das Gesicht und sagte:

»Du Guter! Und Dich konnte man für einen Mörder halten!«

»Wir wollten daran doch nicht wieder denken! Bitte, komm weiter!«

Er öffnete die Thür. Sie brachte vor Erstaunen kein Wort hervor. Auch diese Räume stimmten genau, aber da saßen doch ihre Nähterinnen und alle Diejenigen, welche an ihrer Ausstattung und Hochzeitstoilette zu arbeiten hatten. Diese Alle hatte sie heute doch in der Residenz gelassen.

Brandt ließ ihr keine Zeit zur Besinnung. Er führte sie fort, einen Corridor hin, bis ein Diener herbei eilte und eine hohe, breite Flügelthür aufriß. Hatte sie bisher an jeder Thür Kränze und Guirlanden bemerkt, so bildete der Saal, in den sie jetzt traten, einen wahren Blumengarten. Aber nicht Blumen allein gab es hier, sondern auch Menschen, und zwar Menschen, bei deren Anblick Alma nun sofort wußte, woran sie war.

Sie erblickte nämlich Doctor Holm mit Ellen, Oberlieutenant von Hagenau mit Hilda, ihren Bruder Robert mit Fanny von Hellenbach, Fels mit Marie Bertram, Adolf und Anton mit ihren Bräuten, den Paukenschläger mit der seinigen, Eduard Hauser mit seiner jungen Frau, Förster Wunderlich mit Frau Barbara, Magda Petermann mit Doctor Zander, dem jetzigen Gerichtsarzte, Wally Petermann mit Eduard von Randau, kurz und gut, Alle waren da, Alle, und sie stimmten mit lauten Jubelrufen in den Tusch ein, welchen die anwesende Musikcapelle ausbrachte.

Im Nu waren die Beiden umringt und es zeigte sich, welcher Liebe und Ehrerbietung sich der einstige Polizist und Försterssohn erfreute. Er und seine herrliche Braut wurden fast erdrückt, er mußte sich förmlich mit ihr aus der liebevollen Umzingelung flüchten.

Er führte sie zunächst noch weiter im Schlosse herum. Dabei fragte sie:

»Aber was soll der herrliche Altar, welcher unten in dem Saale errichtet war?«

Er drückte sie an sich und flüsterte ihr in das Ohr:

»Hochzeit morgen!«

Sie nickte mit glückseligem Lächeln und fragte:

»Und die Anderen mit?«

»Außer Robert und Fanny Alle, welche noch unvermählt sind. Ich darf mich einigermaßen den Gründer ihres Glückes nennen und will sie bei mir sehen an dem Tage, an welchem mein süßer Sonnenstrahl für ewig mein eigen wird. Ist es Dir recht so?«

»Alles, was Du thust, ist mir recht, Du Guter. Ich habe keinen Willen als nur den Deinige. Ich sage wie Ruth: Dein Volk ist mein Volk und Dein Gott ist mein Gott. Wo Du hingehst, da gehe ich auch hin und wo Du begraben wirst, da will ich auch begraben sein!«


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Und es war Hochzeit am nächsten Tage, ein Hochzeitsfest, an welchem Viele, Viele Theil nahmen und über welches sich das ganze Land freute.

Eben ordnete sich im großen Banketsaale der Zug, um nach dem Altarsaale zu gehen, da öffnete sich die Flügelthür und - der König trat ein, gefolgt von einigen Cavalieren. Er schritt auf das außerordentlich überraschte Brautpaar zu, begrüßte es und sagte mit erhobener Stimme:

»Ich kann an diesem wichtigen Tage nicht fern von Ihnen sein. Mein Herz hat mich zu Ihnen getrieben, um zu den Geschenken, welche ich hier sehe, auch das meinige zu legen. Sie haben, fern von hier, ein Fürstenthum erworben und, in mein Land zurückgekehrt, demselben wieder entsagt. Sie haben mir seltene, wichtige Dienste geleistet. Einst raubte man Ihnen, dem Unschuldigen, die Ehre, der Richter hat sie Ihnen zurückgegeben; aber Ihr Freund und König will sein Ja und Amen dazu sprechen. Gustav Brandt, knieen Sie nieder!«

Es herrschte lautloses Schweigen. Brandt gehorchte. Der König nahm sich eine goldene Kette nebst Stern vom Halse, hing sie ihm um und sagte:

»Wir stehen und knieen nicht inmitten eines Ordenscapitels, aber da oben waltet Gott und hier steht Ihr Monarch, das ist genug. Ich verleihe Ihnen hiermit das Kreuz eines hohen Hausordens in Brillanten. Sie wollen nicht Fürst genannt werden, nun wohl, so heiße man Sie Baron. Trägt bereits dieses neuerbaute Schloß Ihren Ehrennamen, so will ich denselben weiter verewigen auf Kind und Kindeskind.«

Er zog seinen Degen, legte ihn dreimal kreuzweise auf Brandt's Nacken und sagte dabei:

»Gustav Brandt, ich schlage Sie zum Ritter meines Hausordens. Ritter Brandt, ich schlage und ernenne Sie zum Freiherrn von Brandtenstein. Freiherr von Brandtenstein ich schlage und ernenne Sie zum Baron Brandt von Brandtenstein. Der gute Gott segne Ihr Haus und Geschlecht und mache an Kindern und Kindeskindern gut, was an der Unschuld des Stammvaters gefrevelt worden ist! Amen!«

Kein Jubelruf erhob sich, Alle waren still und stumm, denn Aller Augen standen voller Thränen. Endlich fuhr der König fort:

»Jetzt erheben Sie sich, Baron Brandt von Brandtenstein, und erlauben Sie mir, Ihrer lieben, alten Mutter meinen Arm zu geben, um als Hochzeitsführer Sie und Ihre schöne Braut an Gottes Altar zu geleiten!«

Erst jetzt löste sich der Bann. Erst rief Einer laut sein »Hoch!« Dann aber stimmten die Anderen alle ein, und die Grundfesten des Schlosses schienen zu erzittern unter dem donnernden Jubel, mit welchem die Anwesenden ihrem Könige an den Ort folgten, an welchem der »süße Sonnenstrahl« sich für ewig mit dem Geliebten vereinen sollte.


 


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