Lieferung 52

Deutscher Wanderer

13. September 1884

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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»Es wird noch Mehrere, noch Viele, Viele geben, welche ebenso denken. Diese werden nicht so dumm sein, sich der Armee anzuschließen, um für geringe Löhnung und elendes Kommisbrod sich todtschießen zu lassen, sondern sie werden eigene, freie Compagnien bilden und, ohne ihre Gesundheit, ihre Freiheit und ihr Leben zu riskiren, ihre nächste Pflicht erfüllen, nämlich vor allen Dingen auf ihren persönlichen Vortheil zu sehen.«

»Das wäre gar nicht übel. Aber das geht ja nur dann, wenn man Krieg hat.«

»Nun, den werden wir wohl haben!«

»Mit wem?«

»Donnerwetter! Mit wem anders, als mit diesen Deutschen, an denen wir Rache für Sadowa zu nehmen haben!«

»Was geht uns Franzosen Sadowa an!«

»Du bist ein Dummkopf! Stehen wir nicht an der Spitze der Civilisation oder - - -«

»Ja,« unterbrach ihn der Andere lachend, »wir stehen an der Spitze der Civilisation, denn Du heißest Brecheisen, und mich nennt man den Dietrich!«

»Mache keine albernen Witze! Selbst in unserm Handwerke sind wir den Deutschen weit überlegen. Der Deutsche ist ein Tölpel in jeder Beziehung. Er bekommt seine Weine und Moden, seine Seiden- und seine Leder-Waaren, seine Parfüms und Odeurs, seine ganze Bildung von uns. Wir sind seine Herren. Er aber hat es gewagt, mit Oesterreich Krieg zu führen und Frieden zu schließen, ohne uns zu fragen. Er hat seitdem unsere Politik auf jede mögliche Art und Weise durchkreuzt. Wir wollen Rache für Sadowa und er muß Haue haben! Ich sage Euch, daß so Etwas in der Luft liegt. Wohin man kommt, hört man von weiter nichts als von Depeschenwechsel und Krieg sprechen. Und macht man Augen und Ohren auf, so hört man nicht nur, sondern man sieht auch, daß überall eine gewisse Aufregung herrscht und daß allerlei heimliche Anstalten getroffen werden, welche sich nur auf den baldigen Ausbruch eines Krieges beziehen können.«

»Und steht das mit Deinem alten Capitän in Beziehung?«

»Natürlich. Er wird nämlich einer der höchsten Commandanten der Franctireurs sein.«

»So muß man ihn kennen lernen. Wo wohnt er, und wie heißt er denn?«

»Er wohnt in Schloß Ortry bei Thionville und heißt Albin Richemonte. Er soll bereits ein steinalter Herr sein und die Kriege und Siege des ersten Kaiserreichs mitgemacht haben. Er ist ein Held der Kaisergarde und steht mit den höchsten Herrschaften des Hofes in Verbindung. Daher hat man ihm diesen Posten anvertraut. Er sendet jetzt geheime Emissairs umher, und einer dieser Leute hat mich beauftragt, für ihn anzuwerben.«

»Alle Donner! Das klingt ja recht ernsthaft!« rief Dietrich.

»Ernsthaft ist es auch! Dieser alte Capitän soll irgendwo ein ungeheures Lager von Waffen und Munition aller Art haben, bereits seit Jahren angelegt, und von Tag zu Tag wird es immer mehr vervollständigt. Er hat in den nahen Departements bereits angeworben und nun, wie ich bereits sagte, seine Emissairs nach Paris geschickt, um weitere Theilnehmer zu engagiren. Jede Compagnie darf sich ihre Officiers und Unterofficiers selbst wählen, nur unter der Bedingung, daß das Obercommando respectirt werde. Machen wir mit, so können wir Officiers werden. Nach Stand und Vergangenheit wird nicht gefragt, auch nach dem Alter nicht;


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nur wird vorausgesetzt, daß sich allein tüchtige Kerls melden. Wenn Ihr wollt, so werde ich den Emissair morgen mitbringen.«

»Bringe ihn mit! Bringe ihn mit!« lautete die Entscheidung Aller.

Auch der Changeur stimmte begeistert mit ein. Er hatte der Auseinandersetzung mit allergrößter Aufmerksamkeit gelauscht, und bei der Erwähnung, daß man sich seine Chargen selbst wählen könne, schien sich auf seinem lachenden Gesichte die Gewißheit auszudrücken, daß er bei seinen körperlichen und geistigen Vorzügen ganz sicher eine Officiersstelle bekommen werde.

Es wurde noch einige Zeit lang über dieses Thema, über die Gewißheit, daß man bald Krieg haben werde, gesprochen, dann trat der Wirth, Vater Main, aus dem hinteren Raume ein. Er setzte sich zu seinen Gästen und nahm einige Minuten lang an diesem Gespräche Theil, dann aber gab er Sally einen heimlichen Wink.

Das Mädchen verstand ihn sofort, aber der Changeur hatte ihn auch bemerkt, that aber so, als ob er gar nicht hingesehen habe.

Sally erhob sich und brachte ihrem Herrn ein Glas; dann nahm sie an dem Eckplatze, auf welchem sie sich vorher befunden hatte, ihren Sitz wieder ein. Der Changeur war überzeugt, daß dieses scheinbar ganz unabsichtliche Arrangement nur ihm allein gelte. Man wollte ihn vom Tische entfernen.

Daß er richtig geahnt habe, zeigte sich in Kurzem. Sally gab ihm einen Wink, sich zu ihr zu setzen. Er berechnete, daß es am Klügsten sei, ihr zu folgen. Darum nahm er seinen Wein, verließ den Tisch und setzte sich zu ihr. Als er dabei einen heimlich forschenden Blick auf den Wirth warf, bemerkte er ein sehr befriedigtes Lächeln auf dem Gesichte desselben.

Aber auch Brechstange hatte den ganzen Vorgang mit beobachtet und verstanden. Er neigte sich zu dem Wirthe herunter und fragte leise:

»Warum soll der Changeur von dem Tische fort, Vater Main?«

»Jetzt nicht,« antwortete der Gefragte. »Er merkt es sonst, daß wir von ihm sprechen.«

Aber in diesem Augenblicke traten mehrere neue Gäste ein. Sie setzten sich an einen anderen Tisch, wurden da von Sally bedient und sprachen dabei so laut unter einander, daß der Wirth nicht mehr befürchtete, von dem Changeur gehört zu werden, darum sagte er, zwar leise, aber doch so, daß er von den bei ihm Sitzenden gehört werden konnte:

»Ich traue ihm nicht.«

»Warum denn nicht?« fragte der Dietrich.

»Er ist mir zu nobel. Er hat etwas an sich, welches mir sagt, daß er nicht zu uns gehört.«

»O, ich halte ihn im Gegentheile für ehrlich und sicher.«

»Ich möchte darauf schwören, daß Du Dich täuschest.«

»Er hat doch ganz aufrichtig zu verstehen gegeben, daß er Wechselfälscher ist! Und erst vorhin sagte er, daß er wieder sehr gute Geschäfte gemacht habe.«

»Damit kann er Dich und Euch täuschen, mich aber nicht. Trinket meinetwegen mit ihm, so viel und so oft Ihr wollt; das kann mir ja ganz lieb sein, denn er macht tüchtige Zechen; aber laßt ihm ja niemals etwas von unsern Geschäften merken. Ich halte ihn für einen Geheimpolizisten.«

»Unsinn! Daß er selbst die Polizei zu scheuen hat, weiß ich ganz sicher.«

»Wieso?«

»Habt Ihr Euch seinen Bart und seine Haare einmal genau angesehen?«

»Wozu das?«

»Nun, sie scheinen schwarz zu sein, sind es aber nicht. Ich habe sie heute wieder scharf geprüft. Zwischen dem Schwarzen und der Haut sind sie, allerdings kaum zu bemerken, von hellerer Farbe. Ich meine, daß Bart und Haar blond sind. Er hat sie seit einigen Tagen nicht nachgefärbt. Wäre diese Verstellung nöthig, wenn er mit der Polizei auf gutem Fuße stände?«

»Das beweist noch nichts. Er kann das Haar gefärbt haben, um nicht zufällig von Einem der Unserigen, der ihn einmal gesehen hat, erkannt zu werden.«

»Warum dann aber die Perrücke?«

»Welche Perrücke?« fragte der Wirth erstaunt. »Sein Haar kann zwar gefärbt sein, ist aber jedenfalls sein eigenes.«

»Und dennoch trägt er zuweilen Perrücke. Als er das vorletzte Mal hier war, wollte er sein Taschentuch nehmen, zog aber an Stelle desselben eine Perrücke aus der Tasche.«

»Wie benahm er sich dabei?«

»Er lachte ganz gleichmüthig.«

»Er wurde also nicht verlegen?«

»Nein. Er wußte ja, daß er bei Leuten war, welche auch zuweilen gezwungen sind, sich auf diese Weise unkenntlich zu machen.«

Der Wirth wiegte den Kopf hin und her und sagte bedenklich:

»Und auch das beweist noch nicht, daß er es ehrlich mit uns meint. Ein Geheimpolizist weiß auch falsche Haartouren zu gebrauchen. Hat der Changeur jemals aufrichtig gesagt, wo er ein Geschäft gemacht habe?«

»Allerdings nicht. Er hat das auch nicht nöthig. Niemand wird ihm das abverlangen.«

»Oder habt Ihr Etwas gehört oder gelesen, was darauf schließen läßt, daß er wirklich Changeur ist, das heißt, daß er nur von Wechselfälschung lebt? Solche Fälschungen kommen in Paris massenhaft vor; das ist ja wahr; aber stets ist der Thäter eine den Betheiligten bekannte Persönlichkeit. Daß es aber hier einen Menschen giebt, welcher sich nur auf dieses Fach legt und stets unentdeckt bleibt, darüber habe ich noch kein einziges Anzeichen bemerken können. Ihr seid noch jung und habt die Schule noch nicht durchgemacht, welche ich hinter mir habe. Mich täuscht und betrügt man nicht so leicht. Wißt Ihr denn etwa, wo er wohnt? Hat er Euch das gesagt?«

»Ja,« antwortete Brecheisen.

»Das sollte mich wundern. Nun, wo wohnt er denn?«

»In der Rue de Paradis.«

»Welche Nummer und wie viele Treppen?«

»Wir haben so weit nicht gefragt. Wir wissen nur, daß er von hier nie weiter einkehrt, sondern stets nach Hause geht und dann allemal diese Richtung auch wirklich einschlägt.«

»Wir müssen uns klar über ihn werden. Wir müssen ihn beobachten. Willst Du das übernehmen?«


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»Ja,« antwortete Brecheisen. »Ich bin aber überzeugt, daß wir nur bemerken werden, daß er uns nicht täuscht. Er hat ein nobles Aussehen und Auftreten, aber das gehört ja zu seinem Fache. Du meinst, Vater Main, daß ich ihm nachgehen soll?«

»Ja. Wenn Du siehst, daß er wirklich in der Straße des Paradieses wohnt, so trittst Du eine Weile nach ihm ein und erkundigst Dich beim Portier nach ihm.«

»Ich vermuthe, daß dieser Mann sich weigern wird, mir Auskunft zu ertheilen.«

»Meinst Du wirklich?« sagte der Wirth im Tone der Verlegenheit. »Da kennst Du mich sehr schlecht. Was ich will, das führe ich auch aus; ich habe die Mittel dazu. Hat die Polizei ihre heimlichen Verbündeten unter uns, welche uns seiner Zeit verrathen, so habe ich meinen Verbündeten bei der Polizei, welcher mir zu Diensten steht. Daher kommt es, daß ich niemals zur Anzeige oder in Strafe komme. Ist etwas gegen mich oder meine Freunde im Werke, so werde ich sofort benachrichtigt.«

»Donnerwetter! Wenn das wirklich so ist, so bist Du allerdings ein ungewöhnlicher Schlaukopf, Vater Main!«

»Pah! Es kostet mich einiges Geld. Ihr könnt Euch natürlich denken, daß ich meinen Verbündeten gut besolden muß. Um keinen Verdacht zu erregen, lasse ich zuweilen irgend einen müßigen Bummler, welcher nicht zu uns gehört, bei mir abfangen. Das macht mir keinen Schaden, sondern es bringt mir nur Nutzen, weil ich damit den Herren des Sicherheitsdienstes Sand in die Augen streue. Daher will ich auch über diesen Changeur klar werden, um zu wissen, wie ich ihn zu behandeln habe. Verdient er mein Vertrauen nicht, so benachrichtige ich die Polizei, daß ein Mensch, den ich für einen Schwindler halte und der sich selbst für einen Fälscher ausgiebt, bei mir verkehrt. Er wird dann abgefangen.«

»Du vergissest, Vater Main, daß er sich nicht direct und offen einen Changeur genannt hat. Er hat es uns nur ahnen lassen und duldet es nebenbei, daß wir ihn so benamsen.«

»Das ist egal. Mein Freund bei der Polizei hat mich in den Besitz von einigen Marken gesetzt. Ich gebe Dir eine davon. Du wirst Dich bei dem Portier also als Geheimpolizist legitimiren können, und er ist in Folge dessen gezwungen, Dir Rede und Antwort zu stehen.«

»Wie? Du hast Marken?« fragte der Einbrecher freudig erstaunt. »Welch ein Glück! Im Besitze einer solchen Medaille ist man ja sicher, niemals ergriffen zu werden.«

»O doch! Und dann würde man entdecken, von wem die Marken stammen. Ich wende sie daher nur zu ungefährlichen Zwecken an. Du wirst also dem Changeur nachschleichen, dann aber sofort nach hier zurückkehren, um mir die Marke wieder zu überbringen.«

»Wann soll das geschehen? Heute noch?«

»Ja. Ich mag nicht länger im Unklaren über ihn sein.«

»Aber wir haben ja heute mehr zu thun!«

»Vielleicht sind wir fertig, wenn er geht. Wir haben noch anderthalbe Stunde bis zum Schlusse der Oper. Es ist also möglich, daß er sich bereits vorher entfernt. Er wird heute nämlich nicht spielen; denn ich habe dafür gesorgt, daß diejenigen, mit denen er oben sein Spiel zu machen pflegt, heute gar nicht kommen.«

»Wieder schlau.«

»O, ich mußte das nicht blos seinetwegen thun, sondern auch unsers Unternehmens wegen. Ich erleide dadurch, da mir das Spiel viel einbringt, allerdings eine Einbuße; aber wenn heute unser Coup gelingt, so werden wir ein horrendes Geld einnehmen.«

»Ist der alte General wirklich so reich?«

»Er besitzt Millionen. Die Dame ist seine einzige Verwandte, seine Enkelin. Er hat sie außerordentlich lieb und wird ganz in Verzweiflung sein, wenn er hört, daß sie verschwunden ist. Hunderttausend Franken wird er zahlen, um sie wieder zu bekommen.«

»Eine ungeheure Summe!« meinte Dietrich, indem seine Augen begierig leuchteten. »Aber das Unternehmen ist auch gefahrvoll.«

Der Bajazzo hatte bisher schweigend zugehört. Jetzt fragte er:

»Alle Teufel! Ihr wollt doch nicht etwa die Enkelin eines Generales entführen?«

»Warum nicht?« antwortete der Wirth.

»Sprechen wir lieber nicht davon!« rieth Brecheisen. »Wer garantirt uns, daß dieser alte Bajazzo uns nicht verräth!«

Der Wirth machte eine eigenthümliche Handbewegung und sagte in einem höchst selbstbewußten Tone:

»Keine Sorge! Der Alte ist uns sicher. Ich garantire für ihn, ich selbst! Ist das genug?«

»Diese Bürgschaft nehmen wir an, Vater Main. Aber bist Du seiner auch wirklich sicher?«

»So sicher, wie meiner selbst. Nicht wahr, Hanswurst? Denkst Du noch an den Knaben mit dem Löwenzahn damals? Das kann uns auch noch ein schönes Geld einbringen.«

Der Bajazzo antwortete schnell und mit ängstlicher Miene:

»Still, still! Ich mag jetzt davon nichts hören! Wir sprechen später darüber. Ich bin deswegen nach Paris gekommen. Redet lieber von Eurer heutigen Angelegenheit. Das scheint mir wichtiger zu sein.«

»Hast Recht, Alter!« nickte der Wirth. Und sich wieder zu den Andern wendend, fuhr er fort: »Ein Jeder von Euch hat seinen Posten, und ich habe mich überzeugt, daß sie wirklich nach der Oper fährt. Das ist eigentlich Alles, was zu sagen ist.

Du, Brechstange, machst den Fiakerkutscher. Das Geschirr wird zur rechten Zeit bereit stehen. Die Nummer ist bereits aufgeklebt und wird dann wieder abgemacht. So wird die Polizei irre geführt. Haartouren und Bärte findet Ihr im hinteren Zimmer, und an der Mauer wird die Pforte zur rechten Zeit offen sein. Gelingt der Streich, so theilen wir; gelingt er aber nicht, so werdet Ihr erwischt, ich aber habe nichts riskirt, denn mir wird Niemand etwas nachweisen können. Es liegt also in Eurem eigenen Interesse, Euch Mühe zu geben. Jetzt genug davon!«

Er erhob sich und trat zu den Gästen, welche zuletzt angekommen waren. Dabei warf er einen Blick nach dem Changeur. Er fühlte sich beruhigt, denn der Fälscher saß mit dem Rücken gegen den Tisch, an welchem er erst gesessen hatte, und war in das Damenspiel vertieft, mit welchem er sich die Zeit vertrieb. Er hatte also jedenfalls auf den Wirth und die Anderen gar nicht geachtet.


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Und doch täuschte sich Vater Main.

Als der Changeur sich zu Sally gesetzt hatte, war diese herangerückt und hatte, ihm liebevoll in die Augen blickend, gesagt:

»Endlich! Endlich habe ich Dich allein bei mir! Du Böser! Warum wolltest Du nicht gleich her zu mir kommen?«

Sie war früher jedenfalls ein sehr schönes Mädchen gewesen. Sie war jetzt noch hübsch und verführerisch, allerdings nur für Einen, welcher sich über die Zeichen hinwegsetzt, welche ein unkeuscher Lebenswandel im Wesen einer jeden Gefallenen zurückläßt.

Er schüttelte leise den Kopf und antwortete:

»Was hast Du für ein Recht dazu, mich bei Dir zu haben?«

»Das Recht der Liebe!«

»Pah! Mir machst Du nicht weiß, daß Du mich liebst!«

Sie zog erstaunt den Kopf zurück, sah ihn forschend an und sagte in vorwurfsvollem Tone:

»Du glaubst nicht, daß ich Dich liebe? Hast Du Gründe dazu?«

»Ja,« antwortete er kurz und ernst.

»So sage sie!«

»Vor allen Dingen einen: Du spielst mit Vater Main unter einer Decke!«

»Pst! Nicht so laut! Er könnte es hören!«

Da aber traten eben jene neuen Gäste ein, und die laute, lebhafte Unterhaltung, welche diese führten, gaben dem Changeur Gelegenheit, in dem Thema weiter fortzufahren:

»Er hört es nicht. Also antworte mir.«

»Ich stehe in seinem Dienste, also muß ich ihm gehorchen.«

»Auch gegen mich?«

»Gegen Dich, Arthur? Was habe ich gegen Dich gethan?«

»Er wollte, daß ich dort fortgehen solle. Er winkte Dir, und Du riefst mich hierher. Du verbündest Dich also mit ihm gegen mich. Ist das nicht so?«

»Nein.«

»Was sonst?«

»Es war das nur eine Geschäftsrücksicht. Er hat mit den Andern irgend ein Geschäft zu besprechen. Du solltest nichts davon hören. Das ist Alles.«

»Was für ein Geschäft ist es?«

»Ich weiß es nicht.«

»Ah, Du bist zurückhaltend. Und da soll ich an Liebe glauben!«

Sie liebte den schönen Mann mit der ganzen Gluth, welche Mädchen dieser Art fühlen, wenn sie einem ihnen moralisch überlegenen Menschen eine tiefere und dauerndere Theilnahme widmen. Sie sah sich in die Enge getrieben und sagte:

»Arthur, ich habe Dich so lieb, daß ich für Dich sterben könnte. Das würde mir nicht schwer werden, denn dieses Leben ist mir doch zur Last. Es passirt allerdings sehr viel in diesem Hause, was Niemand wissen und erfahren darf; selbst ich weiß nicht Alles; aber das Wenige, was ich weiß, würde ich Dir nicht verschweigen, wenn ich sähe, daß ich Dir nicht zuwider wäre. Du aber kannst mich nicht leiden!«

Sie hatte das im Tone so ehrlicher Aufrichtigkeit, so innigen Bedauerns gesprochen, daß er sich des Mitleides nicht erwehren konnte.

»Warum denkst Du denn, daß ich Dich nicht leiden kann?« fragte er freundlicher, als er bisher mit ihr gewesen war.

»Das fragst Du noch? Wie oft sind wir allein gewesen, und selbst, wenn das nicht der Fall ist, bekümmert sich kein Mensch um Das, was wir thun. Hast Du mir jemals vermuthen lassen, daß Du ein Interesse für mich hast? Du kommst herein und setzest Dich zu Andern, wenn Gäste da sind. Und bin ich allein, so suchst Du Dir einen fernen Stuhl. Berühre ich Dich ja mit der Hand, so zuckst Du zusammen, gerade wie vorhin. Hast Du mich jemals mit einem Finger berührt? Nein! Und als ich Dich kürzlich um einen Kuß bat, da wurdest Du so zornig, wie ich es Dir bei Deinem stillen Wesen gar nicht zugetraut hätte!«

»Sally, ein Mädchen darf nicht um einen Kuß bitten!«

»Aber wenn sie so sehnlichst einen wünscht und doch keinen erhält!«

»So muß sie Geduld haben. Du kennst die Liebe nicht. Gerade wenn man sie überlaut ruft, zieht sie sich zurück.«

Er hatte unwillkürlich ihre Hand ergriffen. Es war dies das erste Mal, daß es geschah, und bei dieser Berührung trieb ihr der Herzschlag das Blut empor, daß ihr Gesicht vor Glück erglühte. Dieses arme Mädchen war vielleicht ohne eigenes Verschulden durch die Verhältnisse von Stufe zu Stufe in die Tiefe getrieben worden. In einer Weltstadt steigt und fällt man leichter als anderswo, auch moralisch.

»Sie zieht sich zurück?« fragte sie aufathmend. »Sie wäre also dennoch da und wollte blos sich nicht erblicken lassen?«

Sie sah ihm dabei so warm, so innig, so sehnsüchtig in die Augen, daß er, ganz ohne es zu wollen, ihre Hand drückte.

»O,« meinte er, »sie will sogar, daß man nicht einmal von ihr spricht, wenigstens so lange nicht, bis sie selbst das Wort ergreift.

Sie schüttelte traurig den Kopf.

»Ich verstehe Dich nicht ganz. Ich höre nur, daß ich schweigen soll, und ich werde schweigen. Aber als ich Dich stets so kalt sah, während Andere so viel anders sind, so dachte ich, daß mein Herr doch Recht haben könne.«

»Recht? Worin?«

»Er hält Dich für einen Polizisten. Er traut Dir nicht.«

»Da ist er allerdings kein sehr scharfsinniger Mann. Er traut mir nicht! Also deshalb mußte ich den Tisch verlassen?«

»Ja, deshalb.«

»Er hätte mich ruhig und unbesorgt sitzen lassen können. So lange er mir nicht schadet, hat er auch von mir nichts Schlimmes zu erwarten. Aber neugierig bin ich doch, zu wissen, was es ist, weshalb man mich forttrieb.«

»Ich weiß es auch nicht.«

»Wirklich nicht?«

»Nein,« antwortete sie im Tone der Aufrichtigkeit. »Ich kann Dir allerdings anvertrauen, daß er einer der berühmtesten Hehler der Hauptstadt ist, aber beweisen könnte selbst ich ihm nichts. Er duldet niemals, daß man ihn beobachtet. Um ein solches Geschäft scheint es sich auch heute zu handeln.«


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»So geht es mich allerdings nichts an. Schweigen wir also darüber!«

»Daraus sehe ich, daß Du allerdings kein Detective bist, denn ein solcher würde mich so weit wie möglich ausfragen. Wenn Vater Main nämlich eine Sendung gestohlener Waaren erwartet, so ölt er stets zuvor die Angeln der alten Thür ein, welche sich hinten in der Mauer befindet.«

»Das hat er heute also auch gethan?«

»Ja. Ferner verbietet er uns, das Schänklokal zu verlassen. Erst wenn die Waare geborgen und der Hof wieder leer ist, meldet er, daß wir nun wieder hinaus dürfen.«

»Dieses Verbot hat er auch heute ausgesprochen?«

»Ja. Wir dürfen nicht einmal die Treppe empor. Er muß eine ungewöhnlich bedeutende Sendung erwarten, denn er hat ein Zimmer des dritten Stockes ausgeleert. Unbegreiflicher Weise aber hat er einige Möbels hineingesetzt.«

»Ich befürchte, daß er zu viel wagt und trotz seiner List doch einmal erwischt wird. Es sollte mir sehr leid thun, wenn auch Du dann in Verdacht kämst!«

»Thät es Dir wirklich leid?« fragte sie erfreut. »Natürlich würden auch wir arretirt, wenn man ihn ergreift. Aber man würde uns doch laufen lassen müssen!«

»Ich würde lieber vorher laufen!«

»Wohin? Wer nimmt mich weg? Wer nimmt mich auf? Von einem Mädchen meines Standes mag kein Mensch Etwas wissen. Wir sind verloren. Wer rettet uns!«

»Giebt es nicht Rettungshäuser und Magdalenenstifte?«

Sie sah in groß an.

»Das sagst Du mir? Du?« fragte sie. »Soll ich in ein solches Haus gehen, um mich dort Parade führen zu lassen? Ist der Mensch ein Material, an welchem man Experimente macht? Habe ich mich dann einige Jahre gut geführt, so bekomme ich ein Zeugniß, daß ich eine gebesserte Sünderin bin, der man doch aus Mitleid Vertrauen schenken und irgend eine Arbeit geben möge. Nein! Entweder sterbe ich hier, oder ich steige aus diesem Elende empor an einen Ort, an welchem man mich nicht kennt, an welchem ich leben und arbeiten kann, ohne mich bis an das Ende meiner Tage schämen zu müssen!«

Er fühlte, was sie sagen wollte; er begriff, daß sie nicht ganz Unrecht habe, obgleich sie ihren Gedanken nicht den gehörigen Ausdruck zu geben vermochte. Dieses Mädchen besaß doch vielleicht noch genug Kraft, sich aufzuraffen, und so sagte er, von Mitleid bewegt:

»Wenn Du nun die Mittel hättest, ein anderes Leben zu beginnen, würdest Du niemals wieder Kellnerin eines solchen Ortes werden?«

»Niemals, nie! Ich würde lieber arbeiten, daß mir die Haut von den Händen fiele. Aber woher soll ich diese Mittel nehmen? Ich habe Niemand, der sich mein erbarmt!«

Die Thränen waren ihr in die Augen getreten. Er fühlte sich aufrichtig bewegt und meinte:

»Hast Du nicht mich?«

»Dich? O ja, an Dich würde ich glauben! Dir traue ich es zu, daß Du mir helfen möchtest! Aber es wäre ja Wahnsinn, zu glauben, daß Du mich zu Dir nehmen wolltest.«

»Ich sehe, daß Du verständig bist, Sally. Du liebst mich, und ich hege eine innige Theilnahme für Dich; aber unsere Wege führen uns auseinander. Dennoch werde ich Dich bitten, eine Summe von mir anzunehmen, welche Dich in den Stand setzt, ein gutes Mädchen und dann vielleicht auch eine glückliche und geachtete Frau zu werden.«

Sie war bleich geworden. Ihr Auge ruhte auf ihm mit einem Ausdrucke, den er nicht zu definiren vermochte. Was für Regungen kämpften jetzt in ihrem Innern mit einander? Hatte sie vielleicht doch einen Augenblick lang geglaubt, daß sie die Frau dieses Mannes werden könne, den sie ja doch auch nur für einen mit den Gesetzen Zerfallenen halten mußte? Endlich, endlich kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück. Sie ergriff seine beiden Hände und fragte leise und mit bebenden Lippen:

»Wolltest Du das wirklich thun, Arthur, wirklich?«

»Ja,« antwortete er, »und zwar gern, sehr gern!«

Da legte sie die Hände wie betend zusammen, blickte ihn mit rührender Dankbarkeit in das Gesicht und flüsterte:

»O mein Gott, so könnte ich zu meinem Bruder gehen!«

»Wie? Du hast einen Bruder?«

»Ja. Wir waren Waisenkinder und wurden von einer alten Frau erzogen, mit welcher wir betteln gehen mußten. Mein Schicksal kennst Du. Mein Bruder war glücklicher. Er entfloh dem Weibe, weit fort von Paris, und wurde Knecht auf einem Gute. Das ist er noch. Vielleicht bringt er es so weit, daß ich dort einen Dienst finde!«

»Das wollen wir uns überlegen. Morgen komme ich wieder und werde Dir Bescheid sagen. Jetzt wollen wir nach dieser Aufregung ein kurzes, beruhigendes Spielchen machen.«

Er griff nach dem Damenbrete, welches auf dem nahen Fenster lag, und begann, die Steine zu ordnen. Er hatte zwei Gründe dazu. Einmal wollte er von dem jetzigen Thema ablenken, und sodann sagte er sich, daß es ihm während des Spieles vielleicht gelingen werde, Etwas von der leisen Unterhaltung zu hören, die hinter ihm geführt wurde.

Sally spielte leidlich Dame. Sie war glücklich, bei dem Geliebten sitzen zu dürfen, und hatte nichts gegen seinen Vorschlag einzuwenden. Er war ein Meister und ihr weit, sehr weit überlegen; aber dennoch that er vor jedem Zuge, als ob er denselben reiflich überlegen müsse. Während dieser Augenblicke lauschte er aufmerksam hinter sich, und es gelang ihm wirklich, Einiges zu vernehmen.

»Ist der alte General wirklich so reich?« hörte er fragen.

»- - - - - hunderttausend Franken wird er bezahlen, um sie wieder zu bekommen,« lautete die Antwort, deren ersten Theil er nicht hatte verstehen können.

»- - - eines Generales entführen?« klang es weiter.

Jetzt mußte der Changeur einen Zug thun. Sally sprach einige kurze, bemerkende Worte, und erst dann hörte er hinter sich wieder die flüsternde Stimme des Wirthes:

»- - - Fiakerkutscher - - - Nummer - - aufgeklebt - - - Haartouren und Bärte - - so theilen wir - - - mir wird Niemand Etwas nachweisen können.«

Dies waren lauter Worte und Satztheile, welche für ihn keinen Zusammenhang hatten. Er konnte nicht entscheiden, ob etwas Vergangenes erzählt oder etwas Folgendes verabredet werde; aber doch machten die Worte den Eindruck auf ihn, daß sie werth seien, gemerkt zu werden.

Der Wirth hatte sich erhoben, trat erst an den andern Tisch und nachher zu ihm mit der Bemerkung:

»So recht, Changeur! Spiele mit der Sally. Nach dem Spielzimmer wirst Du heute ja doch nicht kommen.«


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»Warum nicht?«

»Weil heute nicht gespielt wird. Die Kameraden haben abgesagt.«

»Mir recht. Ich hatte überhaupt gar nicht die Absicht, lange hier zu bleiben. Ich gehe heim.«

»O nein; bleib noch hier!« bat Sally.

»Bis diese Partie zu Ende ist; dann gehe ich. Ich bin müde vom letzten Geschäfte und muß schlafen.«

»Aber morgen kommst Du wieder? Ganz bestimmt?«

»Ja.«

Der Wirth war an das Büffet getreten. Niemand blickte jetzt her. Da ergriff sie seine Hand, drückte sie an ihre Lippen und flüsterte:

»Diesen Kuß, diesen einzigen, mußt Du mir erlauben! Er ist besser als derjenige, den ich immer von Dir haben wollte.«

Er bezahlte seine Zeche und ging. Kaum war er zur Thür hinaus, so trat der Wirth vom Büffet, wo er in einem Kästchen gesucht hatte, zu Brecheisen und sagte halblaut:

»Hier ist die Polizeimarke. Schnell nach.«

»Giebt es denn genug Zeit dazu?«

»Vollständig! Nur spute Dich, daß Du ihn nicht aus den Augen verlierst!«

Der Einbrecher steckte die Marke zu sich und eilte dem Davongegangenen nach.

Der Changeur schritt ziemlich langsam die Straße entlang. Zwischen zwei Laternen angekommen, wo die Beleuchtung nur eine sehr spärliche war, da in diesem entlegenen Stadttheile die Lampen weiter aus einander waren als im Innern der französischen Metropole, warf er, ohne halten zu bleiben, einen raschen Blick zurück. Ungefähr fünfzig Schritte zurück bemerkte er einen Mann, mit einer Blouse bekleidet und einem breitkrämpigen Hut auf dem Kopf. Der Mann kam gerade an einer Laterne vorüber, deren Schein hell auf ihn fiel.

»Das ist Levier, Brecheisen!« murmelte der Changeur. »Er wird mir folgen, um zu sehen, ob ich wirklich an dem Orte wohne, welchen ich angegeben habe.«

Seinen Weg weiter verfolgend, machte er an den Ecken die Bemerkung, daß Brecheisen sich wirklich hinter ihm hielt. So gelangte er in die Rue de Paradis und an das Haus, in welchem er wohnte. Vor demselben brannte eine Laterne, und auch der Flur war von Gas erleuchtet. Er grüßte den Portier, welcher an seinem offenen Fensterchen saß, und begab sich dann nach dem Hofe. Im Hinterhause schritt er die beiden Treppen, welche auch erleuchtet waren, empor und stand nun vor zwei unweit neben einander liegenden Thüren. An beiden waren je eine Visitenkarte befestigt. Auf der einen stand »Arthur Valley, Schreiber«, und auf der andern war »Guillaume Fredoq, Statist« zu lesen.

Er zog einen Schlüssel und öffnete die erstere Thür. Das Zimmer, in welches er trat, war finster, bald aber hatte er ein Licht angebrannt. Jetzt zog er den Schlüssel von außen ab und verriegelte die Thür von innen. Das Stübchen war nur spärlich möblirt. Aus demselben führte eine verschlossene Seitenthür nach dem zweiten Zimmer, an dessen Thür der andere Name gestanden hatte. Er öffnete diese Seitenthür und trat in den andern Raum.

»So!« lächelte er vor sich hin. »Jetzt war ich der Schreiber Arthur Valley, und nun will ich der Statist Guillaume Fredoq werden. Niemand im Hause ahnt, daß diese beiden Personen ein und derselbe Kerl sind. Auf diese Weise führe ich jede Beobachtung irre.«

Er öffnete einen Kleiderschrank, zog einen andern, höchst eleganten Anzug an, setzte eine schwarze Haartour auf und legte sich einen ebenso schwarzen Backenbart an. Eine Brille vollendete die Verwandlung. Nachdem er einen nach der neuesten Facon gearbeiteten Hut aufgesetzt und ein zierliches Stöckchen genommen hatte, nahm er vom Fensterbrette zwei kleine Kieselsteine und steckte sie sich in den Mund, den einen rechts und den andern links.

Nun löschte er das Licht aus und verließ das Zimmer, dasjenige nämlich, an dessen Thür der Name Fredoq stand. Als er diese Letztere hinter sich verschlossen hatte, waren seit seinem Eintritte durch die erste Thür kaum fünf Minuten vergangen.

Mit fast unnachahmlicher Nonchalance schaukelte er sich die Treppe hinab und über den Hof hinüber. Als er den Flur erreichte, stand Brecheisen noch am Fenster des Hausmannes.

Der Einbrecher hatte nämlich erst einige Minuten verstreichen lassen, ehe er eingetreten war. Dann hatte er den Hausmann in dem selbstbewußt höflichen Tone, welcher der Polizei eigen zu sein pflegt, gegrüßt und die Frage ausgesprochen:

»Ach, mein Lieber, kennen Sie vielleicht den jungen Mann, welcher vor drei Minuten von der Straße kam?«

»Ja,« antwortete der Gefragte, indem er den Blousenmann mit nicht sehr großer Ehrfurcht musterte. »Warum sollte ich ihn nicht kennen? Er wohnt ja in diesem Hause.«

»Im Vorderhause?«

»Nein, sondern hinten.«

»Wie ist sein Name?«

»O, Monsieur, wollen Sie mir nicht vorher sagen, wer Sie sind? Ich habe die Pflicht, zu erfahren, wer sich nach den Bewohnern dieses Hauses erkundigt.«

Brecheisen zog gravitätisch seine Marke hervor, hielt sie dem Hausmann vor das Gesicht und fragte:

»Genügt Ihnen das?«

Sofort verbeugte sich der Hüter des Einganges und antwortete in einem um Vieles höflicheren Tone als vorher:

»Gewiß genügt das, gewiß, Monsieur! Ich bin natürlich zu jeder Auskunft, welche ich zu geben vermag, sehr gern bereit. Bitte, fragen Sie!«

»Wie also heißt der junge Mann?«

»Arthur Valley. So steht hier auf der Bewohnerliste.«

»Was ist er?«

»Schreiber.«

»Seit wann wohnt er hier?«

»Seit vielleicht zwei Wochen erst.«

»Hat er viel Verkehr im Hause?«

»Nein. Er erhält nie Besuch und hält sich stets allein.«

»Aber er geht viel aus?«

»Täglich einmal.«

»Ist er des Nachts oft außer dem Hause?«

»Nie. Er kommt um die jetzige Zeit oder noch früher, und geht erst am andern Tage zur Zeit der Dämmerung aus, ganz entgegengesetzt seinem lüderlichen Nachbar, diesem Statisten Fredoq, welcher um die gegenwärtige Zeit ausgeht


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und des andern Tages zur Dämmerzeit erst wiederkommt. Ich hoffe nicht, daß Sie einen unlieben Grund haben, sich nach dem höchst soliden jungen Manne zu erkundigen!«

»O nein! Er ging an mir vorüber, und eine Aehnlichkeit verleitete mich, ihn mit einem Andern zu verwechseln.«

In diesem Augenblicke tänzelte der Changeur an ihnen vorüber und zum Thore hinaus. Er pfiff ein Liedchen vor sich hin, schien sich gar nicht um sie zu bekümmern, kam aber nach zwei Augenblicken wieder bis an das Thor zurück und sagte:

»Heda, Alter! Wenn Jemand nach mir fragen sollte, ich bin fort!«

»Sehr wohl, Monsieur Fredoq!«

Keiner hatte den Passirenden erkannt. Auch seine Stimme hatte in Folge der Kieselsteinchen anders geklungen. Als er verschwunden war, meinte der Hausmann zu dem scheinbaren Polizisten:

»Das war der Statist. Heda, Alter, ruft er mich! Wie freundlich dagegen dieser brave Monsieur Valley grüßt!«

»Nicht ein Jeder hat die gleiche Bildung, mein Lieber,« antwortete Brecheisen. »Nehmen Sie meinen Dank für Ihre freundliche Auskunft! Gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Der Einbrecher begab sich nach der Taverne zurück und setzte sich wieder bei seinen Genossen nieder. Der Wirth kam herbei, um seine Marke zurück zu bekommen, und fragte:

»Nun, was hast Du erfahren?«

»Daß wir ihm trauen können. Er kommt an jedem Abende regelmäßig nach Hause und geht erst zur Dämmerungszeit des nächsten Tages wieder aus. Das könnte er nicht, wenn er ein Polizist wäre. Er hält sich ganz einsam, und ich denke, daß er diese Abgeschiedenheit zur Anfertigung seiner gefälschten Dokumente benutzt.«

»Wenn das so ist, so habe ich mich allerdings in ihm geirrt. Aber macht, daß Ihr mit Eurem Absynth fertig werdet. Es wird bald Zeit, Euch anzukleiden und Euch auf Eure Posten zu begeben!«

Unterdessen war der Changeur bis nach dem nächsten Halteplatz der Fiaker gegangen.

»Nach der großen Oper!« befahl er, in einen der Wagen steigend, der sich sofort mit ihm in Bewegung setzte.

Er fuhr die Straße de Faubourg Sanct Denis hinab, bog dann rechts in die Boulevards Bonne Nouvelle, Poissonnière und Montmartre ein, und hielt nun vor der großen Oper, welche sich mit der andern Seite an die Straße Lepelletier lehnte und später, im October 1873 leider vom Feuer zerstört wurde. Sie fand ihre Auferstehung in prächtiger Form am Boulevard des Capucines.

Als er ausgestiegen war, den Kutscher bezahlt hatte und nun in das berühmte Gebäude trat, hatte er eine ganz andere Haltung angenommen als vorher dem Hausmann gegenüber. Der Kutscher hatte gar nicht bemerkt, welch' eine Verwandlung mit seinem Fahrgaste vorgegangen war. Dieser hatte nämlich die Perrücke und den Vollbart wieder abgenommen.

Welchen Eindruck machte er jetzt gegen vorher, da er in der Blouse bei der Kellnerin gesessen hatte! Das feine Habit stand ihm ausgezeichnet. Er glich in seinem gemessenen, vornehmen Wesen ganz einem Manne, der sich bewußt ist, den bevorzugten Kreisen der Aristokratie anzugehören.

Im Innern des Musentempels angekommen, bemerkte er, daß Zwischenakt sei, und begab sich sogleich nach dem Foyer. Dieses machte einen blendenden Eindruck. Zwischen reich besetzten Büffets wandelten Herren und Damen oder standen in Gruppen beisammen, um mit einander zu plaudern.

Sein Auge flog forschend umher, und dann flog ein Lächeln des Glückes und der Befriedigung über sein schönes Antlitz. Er hatte gefunden, was er suchte. Zwei Damen standen in einem lebhaften Gespräch beisammen, eine ältere und eine junge. Von der Ersteren war weiter nichts zu sagen, als daß sie ein sehr vornehmes Aussehen hatte; bei der Jüngeren aber mußte jeder Blick, der auf sie fiel, unwillkürlich verweilen.

Sie war von Mittelgröße, eine ächte Französin, dunkelblond und von Eleganz umflossen. Das dunkel rosenfarbige Seidenkleid, in eine schwere Schleppe auslaufend, schmiegte sich so eng um die Taille, daß man, mit dem Auge von den runden, vollen Hüften abgleitend, eine so seltene Schlankheit geradezu bewundern mußte, zumal der Oberkörper sich dann zu einer beinahe üppigen, entzückenden Büste aufbaute. An Brust und Schultern ging der seidene Stoff in kostbare Spitzen über, deren durchbrochene Muster einen göttlichen Busen und einen schneeweißen Nacken hindurchschimmern ließen. Dieselben Spitzen drapirten sich in leichten Falten von der Achsel hernieder. Aus ihnen glänzten zwei Arme hervor, wie sie Canova nicht herrlicher hätte meiseln können. Fleischig voll und doch den Regeln der Schönheit über alle Beschreibung angemessen, zeigten sie am Ellbogen die seltene Zierde eines Grübchens, welches sinnberückend wirkte, und gingen dann zu zwei Händchen herab, welche einem Kinde anzugehören schienen.

Das Haar wurde einfach getragen und war nur mit einer Rose geschmückt, wie ebenso eine dunkle, zum Aufbruche bereite Knospe an dem Busen duftete. Und doch war an dieser Dame das Gesicht das Allerschönste! Die geistvollen und doch kindlich frohen Augen, diese klare, reine, unschuldige Stirn, das feine Näschen, der schalkhaft geschnittene, süß lächelnde Mund, die zarte und doch volle Formung der leicht angehauchten Wangen, das Alles spottete jeder Beschreibung.

Und während sie sprach, war jede Bewegung ihrer bezaubernden Gestalt, ihrer Arme und ihrer Hände so schön, so harmonisch, als hätte die Göttin der Anmuth ihre oft so schwer zu befolgenden Gesetze in diesem einzigen Wesen zur unwiderstehlichsten Incarnation gebracht.

Sie schien gar nicht zu bemerken und zu wissen, daß Aller Augen sich an ihrer Schönheit weideten und mancher Blick begeistert und verlangend auf ihr haften blieb. Sie stand so unbefangen da, als ob es gar keine Herren in der Nähe gebe, deren Herzen einen lebendigen Pulsschlag in sich trugen. Aber doch, doch, zwei Augen hatte sie bemerkt, zwei Augen, welche sich mit einem großen, strahlenden Blick auf sie gerichtet hatten, und da, da schlug sie, leise erröthend, die langen, schweren, wie aus den Fäden glücklicher Träume gewebten Wimpern hernieder.

Wer war es, dem diese Augen gehörten? Kein Anderer als der Changeur!

Er schritt langsam auf sie zu und nahe an ihr vorüber. Kein Mensch hätte sagen können, daß er sie sähe und sie ihn. Er hatte ja mit diesem herrlichen Wesen noch kein einziges Wort gesprochen. Er hatte sie nur hier gesehen, hier und in der Loge des ersten Ranges, welche an die seinige


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stieß. Er nahm am Büffet eine kleine Erfrischung und sie eine Minute später auch. Ihre Blicke trafen sich nicht. Sie kannten einander ja nicht; sie waren einander ja vollständig fremd! Dann ertönte das Zeichen, daß in kurzer Zeit der neue Act beginnen werde. Sie ging, und er folgte ihr. Auf dem Corridore, welcher vom Foyer nach den Logen führte, sah er eine Knospe liegen. Es war diejenige, welche sie an ihrem Busen getragen hatte. Er bückte sich schleunigst und hob sie mit einer Hast auf, als sei er ein armer Diamantenwäscher und habe den größten Edelstein der Welt gefunden. Er drückte die Rose an seine Lippen; er sog ihren süßen, würzigen Duft ein, und es war ihm, als habe er damit einen Theil der Seele Derer eingeathmet, an deren Brust die Blüthe vorher geschimmert hatte.

Er trat in seine Loge. Seine Nachbarin befand sich ganz allein in der ihrigen. Sie schien nicht zu ihm herüber zu blicken; er durfte sie ja auch gar nicht grüßen; aber warum flog gerade jetzt eine so tiefe, glühende Röthe ihr über Stirn, Wangen und Nacken, so daß sie das Battisttuch mit einer unwillkürlichen Bewegung zu ihrem Gesichtchen erhob? Hatte sie vielleicht dennoch bemerkt, daß ihre Rose jetzt einen Platz an seiner Brust gefunden hatte? Hatte sie diese Rose ohne ihr Wissen verloren, oder war ihre Hand der Bewegung ihres Herzens gefolgt, um, da sie ihn hinter sich wußte, ihm ein duftendes Zeichen zu geben, daß - -

Da erhob der Dirigent den Tactstock, und der Act begann.


Ende der zweiundfünfzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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