Lieferung 73

Deutscher Wanderer

7. Februar 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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Der Alte zog den Grafen mit sich fort. Auch Fritz hatte diese Unterredung mit angehört. Jetzt sagte er leise:

»Gratulire, Herr Doctor! Hauptschlüssel! Donnerwetter!«

»Ja, das ist ein Zufall, dem wir vielleicht sehr viel zu verdanken haben werden. Wie gut, daß Du sie bemerktest.«

»Und wie ebenso gut, daß Sie gerade dort die Laterne aufmachten. Ich hätte übrigens den Alten für klüger gehalten. Er ist wirklich leichtsinnig.«

»Das denke ich nicht. Er kann es wirklich nicht für möglich halten, daß Jemand in seiner Gegenwart in diesen unterirdischen Raum eindringt, um ihm seine Hauptschlüssel zu stehlen.«

»Nun können wir Alles genau durchsuchen.«

»Für heute werden wir das unterlassen.«

»Ah! Wie schade. Warum?«

»Hast Du nicht gehört, daß der Alte zurückkehren wird? Ich werde mich sehr hüten, mich von ihm überraschen zu lassen.«

»Wir müssen nur vorsichtig sein.«

»Aber wir wissen nicht, ob diese Vorsicht hinreichend sein wird. Die beste Vorsicht ist jedenfalls, für heute auf alles Weitere zu verzichten. Wir kennen die Räumlichkeiten nicht. Es ist sehr leicht geschehen, daß man in eine Falle geräth, von der man keine Ahnung hatte.«

»So gehen wir also?«

»Nein, wir bleiben.«

»Sapperment! Diese Beiden sind ja fort.«

»Ganz richtig. Aber ich bleibe dennoch, bis der Alte wieder da gewesen ist. Ich muß sehen, ob er zuschließt und dann beruhigt ist. Es kommt für mich viel darauf an, zu wissen, ob er Unruhe oder gar Bedenken hegt.«

»Schön! So können wir uns einstweilen hier umsehen!«

Müller schloß die Thür wieder zu und öffnete dann die Laterne vollständig. Auch hier befanden sie sich in einem großen Gewölbe, welches bis an die Decke mit Kisten und Fässern angefüllt war.

»Jedenfalls Waffen und Pulver,« meinte Fritz. »Donnerwetter! Ein einziges Lichtfünkchen in eines dieser Fässer und die ganze Prosit die Mahlzeit flöge in die Luft. So eine Güte möchte ich mir thun.«

»Und mit in die Luft fliegen.«

»Oho! Ich würde mich bei Zeiten salviren. Man müßte eine Zündschnur legen, welche lang genug wäre, so, daß man sich bis zum Augenblicke der Explosion in Sicherheit befände.«

»Es wäre jammerschade um diese reichen Vorräthe.«

»Jawohl. Welch eine Beute für uns.«

»Und doch kann, selbst wenn wir Sieger wären, sehr leicht der Fall eintreten, daß uns diese Beute verloren geht.«

»Wieso? Lieber würde ich sie in die Luft sprengen als zugeben, daß sich die Franctireurs mit diesen Gewehren gegen uns bewaffnen.«

»Eben diesen Fall meine ich ja.«

»Also doch in die Luft. Hm. Wir müssen auf alle Fälle sehen, aus was diese Vorräthe bestehen.«

»Ja, wir werden diese Gänge und Gewölbe genau untersuchen. Freilich gehört dazu viel Zeit.«

»Und dabei werden wir von dem Alten überrumppelt.«

»Ich dachte eben auch daran. Man müßte ein Mittel finden, ihn abzuhalten, herunter zu kommen.«

»Welches Mittel meinen Sie?«

»Man müßte darüber nachdenken.«


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»Warum erst viel nachdenken? Ein solches Mittel ist sehr leicht gefunden.«

»Bist Du wirklich so außerordentlich scharfsinnig?«

»Ja. Ich habe bereits eins.«

»Das geht ja außerordentlich schnell.«

»Schnell denken und gut denken, das ist ein Vorzug, den der Soldat haben muß.«

»Nun, so sage Dein Mittel.«

»Man macht den Alten krank und bettlägerig, so daß er sein Zimmer nicht zu verlassen vermag.«

»Der Gedanke ist nicht schlecht. Aber wie willst Du eine Krankheit hervorbringen?«

»Sie vergessen, daß ich Kräutersucher bin.«

»Ja, und außerordentlicher Pflanzenkenner. Aber ich weiß denn doch nicht, ob man sich auf Dich verlassen könnte. Du wirst Deine Studien wohl schwerlich weiter gemacht haben als bis zum Wegebreit und zur Brennnessel.«

»Oho! Ich kenne meine Mittel! Ich würde dem Alten ein Tuch voll Stechapfel geben.«

»Nicht übel!«

»Oder eine Schürze voll Tollkirschen.«

»Das wirkt.«

»Einen Tragkorb voll Taumellolch.«

»Immer besser.«

»Oder einen Sack voll Bovist und Fliegenschwamm.«

»Dann wären wir den Capitän ganz und gar los. Nein, eines solchen Radicalmittels wollen wir uns ja nicht bedienen.«

»Nun, so weiß ich etwas Besseres.«

»Was?«

»Doctor Bertrand.«

»Der? Was ist mit ihm?«

»Ich wende mich an ihn und bitte ihn um ein Mittel, durch welches der Mensch absolut unfähig wird, das Bett zu verlassen.«

»Das ist zu gefährlich.«

»O nein. Das Mittel soll nur auf einige Tage wirken.«

»Gewiß. Ich würde vor der Anwendung eines solchen Medicamentes auch gar nicht zurückschrecken. Aber ich meine, daß es für uns gefährlich ist.«

»Wir nehmen die Medicin doch nicht ein.«

»Nein. Ich weiß nicht, ob ich mich dem Doctor anzuvertrauen gedächte.«

»O, der ist verschwiegen. Ihm können Sie Ihr ganzes Vertrauen schenken.«

»Möglich. Aber er gehört jetzt zur hiesigen Bevölkerung, und da ist es jedenfalls besser, daß man sich gar nicht an ihn zu wenden braucht. Aber horch! Man kommt!«

Er öffnete leise die Thür. Er hatte sich nicht geirrt, denn er sah den Capitän zurückkehren. Dieser trug eine Laterne in der Hand und einen Schlüssel in der anderen. Er schloß die betreffende Thür zu und entfernte sich dann.

»Ob er wirklich ganz ohne allen Verdacht ist?« fragte Fritz.

»Ganz und gar. Er hat ganz das Aussehen und Thun eines Mannes, welcher nicht die geringste Ursache zur kleinsten Befürchtung hegt.«

»Nun, dann segne ihn der Himmel für dieses Vertrauen. Wir werden uns alle Mühe geben, es zu täuschen! Gehen wir nun?«

»Warten wir einige Augenblicke. Ich muß, ehe ich von hier aufbreche, erst überzeugt sein, daß er sich vollständig zurückgezogen hat.«

»Und wann untersuchen wir diese Räume?«

»So bald wie möglich!«

»Das ist mir unangenehm, da ich morgen und übermorgen nicht anwesend bin.«

»Nun, es ist mir auch lieber, Dich dabei zu haben. Wenn also nicht ein Grund zur Eile eintritt, so werde ich warten, bis Du zurückgekehrt bist.«

»Ich danke! Wissen Sie, welche Ansicht ich über den Gang da draußen hege?«

»Nun?«

»Daß er in kerzengerader Richtung nach Schloß Ortry führt!«

»Das ist auch meine Meinung. Das Schloß und das Waldloch liegen gerade in derselben Richtung auseinander, welche der Gang einschlägt. Meine Vermuthung geht sogar noch weiter als die Deinige.«

»Daß der Gang noch weiter als bis zum Schlosse führt?«

»Nein, weiter nicht. Ich meine aber, daß er zwei Seitengänge in sich aufnimmt!«

»Ah! Woher oder wohin?«

»Rechts nach dem alten Thurme und links nach der Ruine, in der Du beinahe ergriffen worden wärst.«

»Sapperlot! Das ist sehr leicht möglich. Es hat früher eine Ritterburg hier gegeben, und man weiß ja, daß sich unter diesen Raubnestern gewöhnlich viele Gänge, Gewölbe und Verließe befanden. Wie gut, daß wir die Schlüssel haben!«

»Die werden uns hierbei nur wenig nützen, wenn mich meine Vermuthung nicht täuscht.«

»Es sind ja Hauptschlüssel, die Alles schließen!«

»Doch nur Thüren.«

»Nun ja, das ist's ja, was ich meine.«

»Ich aber denke, daß die Gänge gerade so durch einen Stein verschlossen werden, wie derjenige, in dem wir uns gegenwärtig befinden.«

»Das kann allerdings zutreffen. Uebrigens ist uns das so ziemlich gleich. Wir kennen ja das Geheimniß.«

»Und werden es auszunützen wissen. Halte Dich nur nicht zu lange bei dem Begräbnisse auf. Man weiß nicht, was passiren kann, und in unserer Lage kann jede einzelne Minute kostbar sein.«

»Das weiß ich. An dem Begräbnisse liegt mir eigentlich gar nichts. Viel lieber säße ich mit Nanon im Walde beisammen.«

»Auf dem Kräutersacke!«

»Ja, Herr Doctor. Jedenfalls ist mir dies doch noch angenehmer, als mit ihr bei Sturm, Regen, Blitz und Donner durch die Mosel zu schwimmen.«

»Glaubs, lieber Fritz! Nun aber wird der Alte völlig verschwunden sein. Wir wollen also gehen.«

Sie brachen auf. Müller verschloß die Thür und steckte die Schlüssel ein. Auf dem Rückwege bediente er sich ganz ohne Scheu der Laterne; er war überzeugt, daß jetzt ein Grund zu weit getriebener Vorsicht nicht vorhanden


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sei. Sie gelangten, nachdem sie den beiden Zugangssteinen ihre Lage wieder gegeben hatten, in das Freie und traten den Heimweg an.

An dem Orte, wo dies schon einige Male geschehen war, trennten Sie sich. Dabei wurden nicht viele Worte gemacht, da alles Nöthige bereits besprochen worden war.

Müller gelangte auf seinem gewöhnlichen Wege, nämlich dem Blitzableiter, in sein Zimmer, wo er sich zur Ruhe legte.

Fritz hatte einen weiteren Weg. Er ging mit sich über sehr Verschiedenes zu Rathe. Besonders ging ihm der Gedanke an das Mittel, den alten Capitän krank zu machen, im Kopfe herum und als er bei der Heimkehr noch Licht in der Studierstube des Doctor Bertrand bemerkte, klopfte er leise an die Thür desselben und trat ein.

Der Arzt wunderte sich nicht wenig, noch mitten in der Nacht diesen Besuch zu erhalten.

»Monsieur, Sie?« fragte er. »Es muß etwas sehr Nothwendiges sein, was Sie zu mir führt. Ist Jemand krank?«

»Nein, Herr Doctor,« lächelte der Wachtmeister. »Es ist vielmehr sogar Jemand ganz todt und eine andere Person soll erst krank werden.«

»Ganz todt? Ah! Eine Leichenschau? Und krank werden? Das verstehe ich nicht.«

»So muß ich mich verständlicher machen.«

»Ich bitte Sie darum. Setzen Sie sich, und stecken Sie sich hier eine von diesen Cigarren an.«

»Mit Vergnügen, denn Sie pflegen nichts Schlechtes zu rauchen.«

Fritz wußte ganz genau, wie er mit dem Arzte hielt. Dieser hatte ihm genug Andeutungen gegeben, daß er sich gegebenen Falles auf ihn verlassen könne. Der Wachtmeister brannte sich ganz ungenirt eine Cigarre an, nahm Platz und sagte:

»Ich bin Ihr Diener, Herr Doctor, Ihr Kräutermann, also Ihr Untergebener und da - -«

»Ah pah, lieber Herr,« fiel da der Doctor schnell ein. »Sie beginnen mit vollständig falschen Prämissen. Ich bin nicht Ihr Herr, Ihr Prinzipal, sondern Ihr Freund und stelle mich Ihnen zur Verfügung.«

»Danke bestens! Würden Sie mir einen Urlaub von zwei Tagen geben?«

»Gern. So lange Sie wollen. Sie wissen ja eben so gut wie ich selbst, daß Sie nicht von mir abhängig sind. Sie wollen reisen?«

»Ja.«

»Wohin?«

»Zu dem Todten ,von welchem ich sprach und den Sie glücklicher Weise nicht beschauen brauchen. Er wird nicht wieder lebendig. Er ist ein Verwandter von Mademoiselle Nanon, nämlich ihr Pflegevater. Sie will beim Begräbnisse gegenwärtig sein, und da hat sie mich gebeten - -«

»Sie zu begleiten?« fiel der Arzt ein.

»Ja, so ist es.«

Bertrand lächelte vielsagend, verbeugte sich und meinte:

»Gratulire,«

»Zu der Leiche? Ah, das ist nicht gebräuchlich.«

»Nein, sondern zu der Eroberung.«

»Hm. Das ist eine zweifelhafte Geschichte. Nicht ich habe sie, sondern sie hat mich erobert.«

»Es ist ganz das gleiche Glück. Wie ich Mademoiselle Nanon kenne, so würde ich sie selbst heirathen, wenn - -«

»Wenn ich es mir gefallen ließe, Herr Doctor. Da ich es mir aber auf keinen Fall gefallen lasse, so - - verstanden?«

»Verstanden,« lachte Bertrand. »Also über das Eine sind wir uns klar. Wie nun das Andere?«

»Der, welcher krank werden soll?«

»Ja.«

»Na! Hm! Das ist eine eigenthümliche Sache. Ich quäle mich umsonst, dazu die richtige Einleitung zu finden.«

»So bitte, sprechen Sie ohne Introduction.«

»Gut! Schön! Ich kenne nämlich einen Menschen, einen schlechten Kerl, um den es gar nicht schade wäre, wenn ihn der Teufel holte.«

»Das ist sehr unchristlich gedacht.«

»Sehr christlich sogar, denn das Christenthum lehrt ja von einem Teufel, welcher umhergeht und die Menschen verschlingt. Uebrigens war dieses »Teufel holen« nur ein bildlicher Ausdruck. Ich meinte den Tod anstatt den Teufel und wollte sagen, daß es nicht schade wäre, wenn dieser Mensch zu seinen Ahnen versammelt würde.«

»So, so. Weiter.«

»Dennoch will ich ihn nicht ganz und gar todt machen.«

»Sehr mild und liebenswürdig.«

»Ja; ich finde das auch. Er soll nämlich nur für kurze Zeit krank werden.«

»Das ist ein ganz eigenthümlicher Vorsatz, lieber Herr.«

»Ich habe nämlich alle Gründe dazu.«

»Und ich errathe, warum Sie zu mir kommen, um es mir zu sagen.«

»Das ist mir lieb. Ich wünsche nichts Unbilliges; ich verlange und beabsichtige nichts, was verbrecherisch wäre. Der Mann, von welchem ich spreche, hat nämlich gewisse Absichten, welche ich nicht zu Stande kommen lassen darf. Ich kann sie aber nur dann verhindern, wenn es mir möglich ist, ihn für einige Tage an das Zimmer, an das Bett zu fesseln.«

»Hm! Er ist es also, der krank werden soll?«

»Ja.«

»Ich will nicht fragen, von wem Sie sprechen. Ich kenne Sie und vertraue Ihnen. Aber Eins muß ich fragen: Weiß der Herr Doctor Müller von der Sache?«

»Ja.«

»Billigt er sie?«

»Ganz und gar.«

»Hat er gesagt, daß Sie sich in dieser Angelegenheit an Jemand, an mich wenden sollen?«

»Nein. Ich selbst habe ihm diese Proposition gemacht.«

»Und er hat seine Genehmigung ertheilt?«

»Er hat sie mir nicht gerade verweigert; er hat das Gespräch abgebrochen.«


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»Ich verstehe das. Er hat gewußt, daß ich Ihnen nicht zu Diensten stehen darf.«

Er machte bei diesen Worten eine so eigenthümliche Miene, daß Fritz ein geistig wenig begabter Mensch gewesen wäre, wenn er ihn nicht sofort verstanden hätte. Er sagte darum:

»Das weiß auch ich. Es war auch gar nicht meine Absicht, eine Bitte an Sie zu richten. Aber die Sache begann, mich zu interessiren, und da ich noch Licht bemerkte, glaubte ich, Sie für einen Augenblick stören zu dürfen. Giebt es wirklich Mittel, Krankheiten hervorzurufen?«

»Gewiß!«

»Aber diese Mittel sind gefährlich?«

»In der Hand des Laien, ja. Der Arzt ist öfterer in der Lage, sie anzuwenden.«

»Sapperlot! Der Arzt macht also öfters seine Patienten krank?«

»Ja, und zwar, um Schlimmeres abzuwenden. Ich werde Ihnen dies an einem Beispiele erklären. Ich impfe eine Person, das heißt, ich bringe einige vorübergehende unschädliche Pusteln hervor, damit diese Person vor der oft lebensgefährlichen Blatternkrankheit bewahrt bleibe.«

»Das ist leicht einzusehen. Ich bin ebenso. Ich habe im Kriege als Soldat einem Feinde mit dem Säbel Eins in den Arm versetzt, damit ich ihm nicht den Kopf entzwei zu hauen brauchte. Auch mein Mittel ist, wie Sie zugeben werden, in der Hand des Laien gefährlich. Ihre Mittel sind nur in der Apotheke zu haben?«

»Eigentlich! Doch giebt es auch Aerzte, welche eine eigene Hausapotheke besitzen.«

»Das ist bequem.«

»Und zuweilen auch nothwendig. Es giebt mitunter Patienten, denen man den Gang in die Apotheke oder die Ausgabe des Geldes ersparen will oder ersparen kann. Kommt zuweilen Jemand zu mir, den der Zahn schmerzt, warum soll ich ihn erst in die Apotheke schicken, wenn ich ein Mittel selbst habe, welches fast augenblicklich hilft?«

»Sapperlot! Das ist gut! Das freut mich!«

»Wieso?«

»Weil auch ich fürchterliche Zahnschmerzen habe.«

»Seit wann?«

»Seit drei Tagen.«

»Wo?«

»Rechts im Schneidezahn und links in den zwei hintersten Backzähnen.«

»O weh! Wollen Sie einmal zeigen?«

»Ja. Hier!«

Er trat mit der ernsthaftesten Miene vor den Arzt hin und öffnete den Mund so weit er konnte. Bertrand nahm mit ebenso ernster Miene das Licht zur Hand, leuchtete in die Mundhöhle, führte den Finger ein und fragte:

»Ist das der betreffende Schneidezahn?«

»Ja.«

»Und sind dies die beiden Backzähne?«

»Ja, sie sind es.«

»Nun, dann haben Sie die Güte, einen Augenblick zu warten. Ich werde Sie sofort bedienen. Zahnschmerz ist ein böses Ding. Man kann ihn nicht schnell genug los werden.«

»Das ist wahr. Ich will Vivat rufen, wenn er endlich einmal vorüber ist!«.

»Das wird in zwei Minuten der Fall sein.«

Der Arzt hatte, als er in die Mundhöhle leuchtete, zwei glänzende Reihen der prachtvollsten, gesundesten Zähne gesehen. Dennoch brachte er jetzt einen Kasten herbei, welcher ein sehr verhängnißvolles Aeußere hatte. Er öffnete ihn, und Fritz erblickte eine Sammlung jener allerliebsten Instrumente, Schlüssel und Geisfüße, bei deren bloßen Anblick der Schmerz zu verschwinden pflegt.

»Was ist das?« fragte er, einigermaßen bestürzt.

»Das sind meine Zahnbrecher.«

»Alle Teufel! Sind denn die bei mir nothwendig?«

»Leider sehr.«

»O weh! Das ist eine verdammte Geschichte!«

Es war dem Wachtmeister jetzt zu Muthe, als ob ihn alle zweiunddreißig Zähne schmerzten.

»Es muß aber überstanden werden,« meinte Bertrand. »Der Schneidezahn wird wohl noch zu retten sein; aber die beiden Backzähne sind unwiederruflich hin und verloren. Sie müssen heraus.«

»Das brauchten sie mir aber nicht anzuthun, nachdem sie bereits so lange Zeit mit mir zusammen gelebt haben.«

»Sie sind ganz angefressen.«

»Das ist eigenthümlich. Wer soll sie angefressen haben, da sie es doch sind, deren größte Leidenschaft das Fressen war? Giebt es denn nicht eine friedlichere Auskunft? So eine Art freiwillige Vereinbarung?«

»Die giebt es allerdings.«

»So möchte ich bitten!«

»Ich muß Ihnen aber sagen, daß Ihnen damit nicht gedient sein kann!«

»Warum?«

»Diese Vereinbarung hat keinen langen Bestand. Der Zahnnerv läßt sich vorübergehend betäuben, fängt aber bald wieder an.«

»Aber es ist doch humaner, menschlicher gehandelt, wenn ich diesen Nerv nicht sofort tödte, sondern ihm vor der Hand einen kleinen Klapps gebe, damit er gewarnt ist.«

»Das ist Ihre Ansicht, aber die meinige nicht. Also, wollen wir?«

Er zog den größten seiner Schlüssel hervor und machte eine Bewegung, als gälte es, einem Elephanten den Stoßzahn aus dem Kopfe zu drehen.

»Danke bestens!« wehrte Fritz ab. »Lassen Sie die Zange wo sie ist, und versuchen wir es lieber einmal mit einigen Tropfen. Haben Sie nicht Zimmttinktur oder Odoatine?«

»Ich habe Beides, kann Ihnen aber den Schmerz nicht lindern. Ein ganz neues Mittel giebt es allerdings, welches den Zahnschmerz augenblicklich und für immer stillt; aber ich kann dieses Mittel nur genauen Bekannten geben.«

»Warum?«

»Es hat eine gefährliche Seite. Ein Tropfen auf den Zahn stillt alles Weh; eine größere Quantität aber


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in das Essen oder Trinken macht den, der es genießt, für Tage lang zum Patienten, der das Bett nicht verlassen kann.«

»Das ist heimtückisch!«

»Ja. Und wie leicht kommt eine Verwechslung vor!«

»In das Essen, anstatt auf den Zahn!« nickte Fritz verständnißinnig.

»Und vierzig Tropfen, anstatt eines einzigen.«

»Ja; man verzählt sich zuweilen. Man müßte also mit diesem Mittel sehr vorsichtig sein. Riecht es stark?«

»Nein, gar nicht.«

»Welche Farbe hat es?«

»Es ist hell wie Wasser.«

»Schmeckt es schlecht?«

»Es hat gar keinen Geschmack. Gerade darum ist es so außerordentlich gefährlich, weil es von Dem, der es genießt, also gar nicht bemerkt wird.«

»Sind die Nachwehen schlimm?«

»Die giebt es nicht. Das ist wieder eine gute Seite dieses Mittels.«

»So ist es mir doch noch lieber als alle Ihre Zangen und Bohrer. Darf ich es versuchen?«

»Ja. Hier haben Sie das Fläschchen. Also einen einzigen Tropfen, nicht aber vierzig!«

»Sapperlot! Wenn ich mich nun verzähle und gar achtzig nehme?«

»Das ist unmöglich, es enthält wohl nicht mehr als vierzig Tropfen.«

»Wie gescheidt. Da bin ich beruhigt. Und die Rechnung?«

»Ich nehme nichts, stelle aber die Bedingung, daß ich Ihnen die beiden Backzähne ziehen darf, wenn diese Tropfen nicht helfen sollten.«

»In diesem Falle helfen Sie sicher. Gute Nacht, mein bester Herr Doctor!«

»Gute Nacht, und glückliche Reise, mein Lieber!«

Als Fritz sich in dem Stübchen befand, welches er bewohnte, warf er einen Blick auf die farblose Flüssigkeit, welche sich in dem Fläschchen befand.

»Gewonnen,« sagte er. »Man muß das Eisen schmieden, so lange es heiß ist. Dieser gute Doctor ist doch ein braver Kerl. Der alte Capitän wird doch dran glauben müssen. Nun lege ich mir den Reiseanzug bereit und schlafe noch ein Stündchen.«

Er that dies, ohne zu besorgen, daß er die Zeit verschlafen werde. Er war Soldat und hatte die Gewohnheit, stets dann zu erwachen, wenn es nothwendig war. Während er sich ankleidete, unterhielt er sich mit sich selbst.

»Und nun soll ich bei der Polizei Anzeige machen. Es ist vielleicht besser, ich unterlasse es. Ich muß wirklich gewärtig sein, man hält mich fest. Vielleicht treffe ich diesen Amerikaner unterwegs. Und ist dies nicht der Fall, so gebe ich, wenn ich in Thionville auf dem Bahnhofe eintreffe, einen Zettel mit der Warnung ab. Ehe sie mich da festhalten, bin ich wieder fort. Ja, so und nicht anders wird es gemacht. Der Herr Rittmeister wird es mir wohl verzeihen, wenn ich dieses Mal nicht ganz genau nach Ordre handle.«


Ende der dreiundsiebzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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