Lieferung 88

Deutscher Wanderer

23. Mai 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


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10.
Ulane und Zouave.

Es war Mittag, die Stunde, in welcher der gewöhnliche Bürger seine Hauptmahlzeit einzunehmen pflegt. Darum zeigten sich die sonst so belebten Straßen der Stadt ziemlich menschenleer, und selbst auf dem Marktplatze erblickte man nur einen einzigen Menschen, welcher auf ein Haus zuschritt, dessen Aeußeres darauf schließen ließ, daß die Bewohner zu den sogenannten besseren Ständen zu rechnen seien.

Er hob sein Auge zur ersten Etage empor, und sein Gesicht erhellte sich zusehens, als er eine Person bemerkte, welche an einem der mit feinen Gardinen versehenen Fenster stand.

»Endlich,« murmelte er. »Endlich treffe ich ihn einmal daheim! Nun werde ich wohl auch endlich einmal zu meinem Gelde kommen oder doch wenigstens eine feste, bestimmte Antwort erhalten!«

Er hatte nicht bemerkt, daß die Person, als sie ihn erblickte, sofort vom Fenster zurückwich, ganz wie Jemand, der sich nicht sehen lassen will.

Der Flur des Hauses machte einen höchst vornehmen Eindruck. Er zeigte eine von korinthischen Säulen getragene, reich mit Stuccatur verzierte Decke und öffnete sich rechts auf eine breite Treppe, deren polirre Geländervasen große, glanzblätterige exotische Gewächse trugen. Oben, dem Ankömmling entgegen, war an der Doppelthür auf einem glänzenden Messingschilde in gothischen Buchstaben der Name »Franz von Wilden, Premierlieutenant,« zu lesen.

Er drückte an den Porzellanknopf des electrischen Läutewerkes, und hinter der Thür erklang der feine, silberne Ton einer Glocke. Es war, fast möchte man den Ausdruck gebrauchen, ein Miniaturtönchen, ein Liliputzeichen, nicht als ob dasselbe einem Angehörigen des kriegerischen Standes gelte, sondern viel eher einer niedlichen, zart besaiteten Dame, für deren Gehörsnerven der Klang eines kräftigeren Tones beleidigend sein würde.

Die Thür sprang in Folge einer mechanischen Vorrichtung auf und schloß sich hinter dem Eintretenden auf dieselbe Weise wieder, ohne daß es dazu die Hilfe seiner Hände bedurft hätte.

Der Vorsaal, in welchem er sich jetzt befand, war mit feinen Kupferstichen versehen, welche Liebesscenen aus der griechischen Mythologie darstellten, während man in der Wohnung eines Offiziers viel eher Maneuvre-, Kriegs- und Schlachtenbilder erwartet hätte. Zwei Blumentische standen voll blühender Pflanzen, welche einen feinen aber durchdringenden Duft verbreiteten. Ein Marmorschwan, welcher auf seinen schneeweißen, ausgebreiteten Flügeln eine bronzirte Muschel trug, war bereit, Visitenkarten in der Letzteren aufzunehmen, und auf mehreren niedlichen Tischchen und Consölchen erblickte man eine ganze Sammlung jener bunten Nippes, welche irgend einer barocken Idee ihr Dasein verdanken und nur als Souvenirs an gewisse Personen oder Ereignisse eine Art von Bedeutung erlangen können.

Neben dem Schwane befand sich die Thür, welche in das Vorzimmer führte. Dieses, jetzt allerdings noch nicht geöffnet, hätte viel eher für das Wohnzimmer einer Dame gehalten werden können! Die Fenster wurden verhüllt von englischen Tüllgardinen, welche sich unten noch mehrere Fuß breit auf den Smyrnateppich legten, der den ganzen Zimmerboden bedeckte. Sämmtliche Meubles waren in auffallender Zierlichkeit gehalten. Zahlreiche Toilettegegenstände bedeckten den Spiegeltisch, und auf den beiden anderen Tischen sah man nichts als aufgeschlagene Photo-


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graphie-Albums, in denen man eine Heerschau über alle bedeutenden und unbedeutenden Künstler und Künstlerinnen der Gegenwart und letzten Vergangenheit halten konnte. Eine einzige Ausnahme machte ein Kistchen voll Cigarretten, in welches soeben der in diesem Vorzimmer jetzt Anwesende griff, um sich eine derselben anzubrennen.

Dieser Mann saß, bequem zurückgelehnt, in den weichen Polstern einer mit grünem Plüsch überzogenen Causeuse. Seine gegenwärtige nonchalante Haltung glich ganz derjenigen eines Mannes, welcher sich in den besten Verhältnissen weiß und gewohnt ist, an das Leben hohe Forderungen zu machen. Und doch trug er nur die Livree eines Dieners.

Diese Letztere war mäusegrau mit amaranthfarbenem Aufschlage und Vorstoß. Die schwarzen Sammethosen, welche in graue Gamaschen verliefen, waren mit breiten Silberhäfteln versehen, und silbern waren auch die Rock- und Westenknöpfe, auf denen man, rund um das freiherrliche Wappen herum, in erhabener Schrift die Devise »Noblesse éternellement« lesen konnte.

Die schmale, weit zurücktretende Stirn dieses Mannes verlief, obgleich er wohl noch nicht dreißig Jahre zählte, in eine große glänzende Glatze; die Ohren waren groß, ein Umstand, welcher durch den Mangel an Kopfhaar sehr hervorgehoben wurde. Desto dichter aber standen die Haare der oberhalb der Nasenwurzel ineinander laufenden Brauen, welche man recht gut mit dem Ausdrucke Borsten bezeichnen konnte. Die Nase war lang, schmal und scharf geformt, und ihre Flügel zeigten jene hervorstehende, aufgeblasene Bildung, welche man vorzugsweise bei leicht erregbaren Personen zu beobachten pflegt. Die Oberlippe war im Verhältnisse zu dem Gesichte viel zu breit und das Kinn ebensoviel zu kurz, dafür aber von jener widerlichen, unschönen Form, welche nur bei stark entwickelten Kauwerkzeugen vorkommt und auf Sinnlichkeit, Genußsucht, vielleicht sogar auf Rücksichts- und Gefühlslosigkeit schließen läßt.

Die Augen dieses Mannes waren klein und schienen etwas schief zu stehen, fast wie beim mongolischen Typus. Vielleicht aber erhielt man diesen Eindruck in Folge eines leichten Schielens, welches aber nur dann zu beobachten war, wenn der scharfe, stechende Blick dieser Augen sich auf einen bestimmten Punkt fixirte.

Dies zeigte sich, als draußen das Zeichen der Glocke erscholl. Der Diener hatte geraucht und nahm, ohne sich zu erheben, eine neue Cigarrette. Erst als er diese langsam und bedächtig in Brand gesteckt und dann einige lichte, duftende Wölkchen von sich geblasen hatte, ließ er ein halblautes aber gebieterisches »Herein!« hören. Dabei richteten sich seine Augen mit einem Ausdrucke nach der Thür, in welchem sich die Summa aller möglichen negativen Charaktereigenschaften zu erkennen gab, ohne daß man das Recht gehabt hätte, das Dasein einer einzelnen derselben psychologisch zu beweisen. Es war der Blick eines Menschen, vor welchem man sich zu hüten hat.

Ganz dasselbe mochte auch der Eintretende empfinden, welcher den Diener mit einer Verbeugung begrüßte, die beinahe ängstlich zu nennen war.

Der Lakai blies ganz in der Haltung eines vornehmen Mannes eine abermalige Rauchwolke von sich und fragte dann:

»Was wollen Sie?«

»Darf ich fragen, ob der Herr Oberlieutenant zu sprechen sind?« lautete die Antwort.

»Ja, fragen dürfen Sie allerdings. Leider aber sind der gnädige Herr nicht zu Hause.«

»Ich glaube aber doch, ihn am Fenster bemerkt zu haben!«

»Da haben Sie sich geirrt.«

»Ich möchte überzeugt sein, richtig gesehen zu haben. Wollen Sie nicht die Güte haben, sich zu überzeugen, ob der gnädige Herr vielleicht nach Hause gekommen sind, ohne daß Sie es bemerkt haben!«

»Das ist überflüssig. Der Herr Oberlieutenant können doch nicht ohne mein Wissen durch dieses Zimmer gekommen sein, in welchem ich mich stets befunden habe. Was wollen Sie übrigens?«

»Ich wollte mir gestatten, ihm meine Rechnung zu präsentiren.«

»Legen Sie dieselbe her. Ich werde sie ihm bei seiner Rückkehr sofort überreichen.«

»Das ist schon sehr oft geschehen, ohne - ohne - ohne - -«

Er stockte. Der Lakai richtete sich jetzt doch ein Wenig empor und fragte:

»Nun, ohne - -? Was wollten Sie sagen?«

»Ohne daß ich Zahlung erhalten habe!«

»Ach so, so so! Geld wollen Sie haben? Brauchen Sie das so nothwendig?«

»Allerdings. Bedenken Sie, daß ich bereits über vier Jahre die Uniformen des Herrn Oberlieutenants, welcher, nebenbei bemerkt, sehr anspruchsvoll ist, fertige, ohne bisher einen Pfennig erhalten zu haben! Der gnädige Herr sind niemals zu Hause zu treffen.«

»Das ist Ihre Schuld. Wir können doch nicht wissen, wann Sie kommen. Und selbst wenn wir es wüßten, werden Sie doch nicht verlangen, daß wir gerade zur Zeit, in der Sie belieben, zu Hause sind.«

Der Schneider wurde über diese Worte zornig und das gab ihm den Muth, etwas kräftiger zu antworten, als es sonst geschehen wäre:

»Das habe ich auch nicht verlangt. Was ich aber verlangen kann, ist, vorgelassen zu werden, wenn ich komme, falls der Herr Oberlieutenant anwesend ist!«

»Das wird auch geschehen!«

»Nun, so melden Sie mich! Ich habe Ihren Herrn am Fenster stehen sehen.«

Da legte der Lakai die Cigarrette weg, kam hinter dem Tische hervor und trat auf ihn zu.

»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß Sie sich irren,« meinte er scharf, indem er einen giftigen Blick auf den Handwerker schoß; »der gnädige Herr sind nicht zu Hause; dabei muß es sein Bewenden haben!«

»Nun, so bin ich gezwungen, die Rechnung abermals in Ihre Hände zu legen. Aber wenn der Herr Oberlieutenant sich fortgesetzt vor mir verleugnen läßt, so darf es ihn auch nicht Wunder nehmen, wenn ich einen ungewöhnlichen Weg einschlage.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Wenn die Rechnung bis morgen früh nicht beglichen ist, sende ich sie unverzüglich an die Regimentscommandantur


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ein. Kann ich den Herrn Lieutenant niemals sprechen, so wird es der Herr Oberst wohl besser verstehen, ihn anzutreffen und vorgelassen zu werden.«

Der Diener machte eine Armbewegung, als ob er dem Sprecher einen Schlag versetzen wolle; er besann sich jedoch und antwortete:

»Mensch, das ist eine Frechheit ohne Gleichen! Glauben Sie etwa, daß wir kein Geld haben, Sie zu bezahlen?«

»Wir wollen dahingestellt sein lassen, was frech ist, meine Rede oder Ihre Behauptung, daß Ihr Herr nicht zu Hause sei. Und was ich glaube? Nun, ich glaube vor allen Dingen, daß ich Wort halten werde. Adieu!«

Er drehte sich nach der Thür, um zu gehen. Der Diener aber hielt ihn am Arme zurück und sagte:

»Mann, das werden Sie nicht wagen.«

»Ich wage dabei nicht das Mindeste und gebe Ihnen hiermit mein Ehrenwort, daß ich es thun werde!«

Da stieß der Lakai ein höhnisches Lachen aus und antwortete:

»Was fällt Ihnen ein! Ihr Ehrenwort! Ein Schneider und Ehrenwort! Unendlich lächerlich! Thun Sie übrigens was Ihnen beliebt. Damit Sie sehen, daß wir Geld haben, will ich Ihnen für Ihren Weg ein Trinkgeld geben.«

Er griff langsam in die Tasche und zog einige Münzen hervor.

»Ein Trinkgeld?« meinte der Andre. »Ich danke! Bezahlen Sie vor allen Dingen die Rechnung!«

»Es wird geschehen! Hier haben Sie! Aber, können Sie mir herausgeben? Sie sollen einen Thaler erhalten, und ich habe nur Zwanzigfrankenstücke.«

Der Schneider bewegte abwehrend die Hand und meinte lächelnd:

»Lassen Sie! Ihre Zwanzigfrankenstücke kennen wir. Ich bin ein einfacher Mann, aber doch nicht so dumm, auf einen solchen französischen Mumpitz einzugehen. Uebrigens bin ich als Meister nicht gewöhnt, Trinkgelder anzunehmen; das ist nur die Angewohnheit von Dienstpersonen, wie Sie eine sind. Ich verzichte also auf Ihren Thaler, selbst wenn Sie wirklich im Besitze eines Zwanzigfrankenstückes sein sollten. Also, morgen Mittag Bezahlung, oder die Rechnung geht auf die Commandantur! Adieu!«

Er verließ nach dieser Drohung das Zimmer so rasch, daß dem Lakai gar keine Zeit blieb, noch ein Wort zu sagen. Der Letztere schien ganz perplex zu sein über diese »Frechheit«, wie er es genannt hatte und nur unwillkürlich, aus reiner Gewohnheit drückte er an den Knopf, welcher sich hier im Vorzimmer befand und mit dem Mechanismus zum Oeffnen der vorderen Thür in Verbindung stand. So entkam der Schneider, ohne daß sich das Donnerwetter, welches er vielleicht erwartet hatte, über ihn entlud.

Der Lakai stand noch eine ganze Weile auf derselben Stelle und starrte nach der Thür, hinter welcher der unwillkommene Besuch verschwunden war, dann murmelte er grimmig vor sich hin:

»Ich glaube gar, daß dieser Kerl Wort hält! Was da machen?

Woher Geld nehmen? Wir haben ja keins! Verdammt! Daß er »wir« sagte, also in der ersten Person der Mehrzahl sprach, ließ auf ein eigenthümliches, vielleicht gar intimes Verhältniß zwischen dem Herrn und dem Diener schließen. Dieser, Letzterer, schritt einige Male im Zimmer auf und ab und fuhr nach einigen Augenblicken des Nachdenkens in seinem Selbstgespräche fort:

»Dieser verdammte Zwirnheld muß bezahlt werden! Aber wie? Wo giebt es noch eine Quelle, aus welcher wir noch schöpfen könnten? Wer borgt uns Geld? Es ist nicht angenehm, der Diener eines Herrn zu sein, welcher fort und fort mit solchen Fatalitäten zu kämpfen hat. Aber - hm! - sind diese Verlegenheiten nicht mein Werk? Ist das nicht die Rache für die Bertha, welche er mir weggeschnappt und verführt hat, so daß sie nun als Kindesmörderin seit sechs Jahren im Zuchthaus sitzt? Ja, rächen, rächen werde ich mich! Schlau, fein, raffinirt, wie es kein Zweiter fertig bringen würde.«

Da ertönte das Glöckchen abermals. Er drückte an den Knopf und dann klopfte es an die Vorzimmerthür.

»Herein!« gebot er.

Derjenige, welcher diesem Ruf folgte, war auch ein herrschaftlicher Diener, wie man auf den ersten Blick erkannte. Er trug eine Livree von hellblauer Farbe mit ponceau Kragen, Aufschlägen und Batten, verziert mit starken, goldenen Brust- und Achselschnüren. Seine Gestalt war knochig und breit, sein Gesicht eckig, unschön und von tiefen Blatternarben verunziert. Sein dichtes rothes Haar stand, weil kurzgeschoren, stoppelartig gerade in die Höhe. Seine Nase, mehr noch als die Wangen, von den Blattern zerrissen, strebte mit ihrer breiten Spitze ebenso nach aufwärts, so daß sie seinen dicken, wulstigen Lippen jede physiognome Beschattung entzog. Und doch war dieses unschöne Gesicht nicht häßlich. Es hatte einen vertrauenerweckenden Ausdruck, und wer in die blauen, offenen Augen sah, mußte überzeugt werden, daß dieser Mann ein braver Kerl, ein biederer, ehrlicher Charakter sei, obgleich sein Aeußeres nicht für eine so farbenreiche Livree geeignet sei.

»Gut'n Tag, Herr Kuno!« grüßte er ihn höflich vertraulicher Weise. »Wie gehts, wie stehts? Is der Herr Lieutenant daheeme?«

Der Lakai warf sich in eine vornehme Haltung und antwortete kühl:

»Willkommen, Monsieur Heinrich! Uns geht es natürlich gut, wie immer, und der Herr Lieutenant befinden sich in seinem Zimmer. Sie wollen zu ihm?«

»Is nich grad nothwendig. Sie könnens ja ooch besorgen. Ich bringe nämlich nix weiter, als nur eenen Brief für ihn.«

Das Gesicht des Lakaien nahm einen höchst freundlichen Ausdruck an.

»Einen Brief?« fragte er. »Von Ihrem Herrn oder vom Fräulein?«

»Vom Herrn, nämlich vom gnädigen Herrn, aber nick vom Fräulein, nämlich gnädigen Fräulein! Oder denken Se etwa, daß meine Herrschaft nich grade so gnädig is wie die Ihrige?«

Kuno zuckte die Achsel und antwortete, ziemlich hochmüthig lächelnd:

»Unsere Ahnen gehen bis zur Zeit Kaiser Karls des


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Großen hinauf, mein bester Monsieur Heinrich. Wie weit aber wohl die Ihrigen?«

Heinrich lachte fröhlich vor sich hin und antwortete:

»Die Unsrigen? Hm, die loofen nich hin bis zum großen Karl; das fällt ihnen ganz und gar nich ein, sondern se bleiben hübsch derheeme. Dafür aber haben mer Geld, riesiges Geld, schauderhaftes Geld!«

»Pah, wir wenigstens ebenso! Wir haben Adel, Geld und Geschmack!

»So? Wir etwa wohl nich?«

»Hm! Sehen Sie Ihre Livree an! Welche schreienden Farben! Hellblau mit Klatschrosenroth! Ist das geschmackvoll? Wir hätten anders gewählt.«

»Mein lieber Herr Kuno, diese Farbe is ponysooh, aber nicht Klatschrose. Ich bin der Heinrich Knofel aus Stützengrün bei Rodewisch und meines Zeechens een Bürstenbinder gewesen; ich habe manchen Pinsel gemacht und muß mich also doch off Farben verstehen. Hellblau mit Ponysooh is der Ausdruck eener vornehmen Familchenverwandtschaft, verbunden mit eleganter Gesinnung, nebst Reichthum


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und feiner Behandlung der Dienstboten und des Stallpersonals. Sie aber, Herr Kuno, welche Farben haben denn Sie dagegen?«

»Grau und Amaranth. Das sind gedämpfte, noble Farben. Grau ist das Vornehmste, was es giebt, und die Amaranthpflanze gilt als Symbol der Ewigkeit und Unsterblichkeit. Paßt das nicht ganz genau auf unsere Devise, Noblesse éternellement

»Hm! Was Ihre Noblesse zu bedeuten hat, das kann ich mir ja denken; aber was das Eternellemang bedeutet, das weeßich nich. Aber das weeß ich ganz genau, daß Sie nich grau sind, sondern mäusegrau, und vor den Mäusen habe ich die Ratten, nämlich Rattengift, weil sie ganz gewaltig mausen. Und auf diese Amaranthfarbe, die in's Violette spielt, da verstehe ich mich als eenstmaliger Pinselmacher sehr genau. Sie wird aus Alaun, Gummi, Soda und Ferlebuckholz gemacht, was in Wasser gekocht wird, und auf Alaun, Gummi und Soda nebst Ferlebuck braucht keen Mensch nich übermäßig stolz zu sein. Ihre schwarzen Hosen sehen ganz nach Geestlichkeet, also nach Hochzeit und Kindtaufe; das möchte sein, aber daß Gamaschen darüber sind, das ist doch nur deshalb, daß die Hochzeit und die Kindtaufe nich gar zu staubig ausfallen sollen. Ich an Ihrer Stelle thäte mir auf diese Livree nich soviel einbilden, mein lieber Herr Kuno!«

Der Lakai zuckte verächtlich die Achseln.

»Was verstehen Sie?« meinte er. »Sie gehören zum jungen Adel, zur neugeborenen Haute-volée und haben noch gar keine Erfahrung. Ihr Haar muß sich im Dienste weit anders gefärbt haben, ehe Sie über solche Dinge mitsprechen können. Merken Sie sich das.«

»Da habe ich doch wenigstens Hoffnung; bei Ihnen ist sie aber schon längst vorüber, denn Sie haben schon gar keene Haare mehr. Ich bin nämlich der Heinrich Knofel aus Stützengrün bei Rodewisch und verstehe mich auf Haare sehr genau; das weeß ich also ooch sehr genau, daß Sie nich 'mal Talent besitzen, ooch nur een leidlicher Pinsel zu werden. Hier is der Brief. Geben Sie ihn ab, aber machen Sie ihn nich schmutzig, damit es nich heeßt, daß ichs gewesen sei. Leben Sie wohl, Herr Kuno und schöne Adieu! Er drückte selbst auf den Knopf, so daß die vordere Thür aufsprang und war im nächsten Augenblicke verschwunden. Der ehrliche Stützengrüner war nicht so dumm wie ihn der Lakai hatte nehmen wollen.

Dieser stand mit tief gerunzelter Stirn da und blickte zornig auf den Brief, welchen er empfangen hatte.

»Ein malitiöser Kerl!« brummte er. »Ich werde es ihm anstreichen! Man sagt, daß er seinem Herrn einmal einen großen Dienst erwiesen habe und daß dieser ihn aus diesem Grunde engagirt habe und große Stücke auf ihn halte, obgleich dieser gewesene Bürstenbinder sich eher zum Borstenwisch, als zum Diener einer feinen Herrschaft eigne. Nicht einmal Hochdeutsch spricht er! Aber ich werde ihn ausstechen. Sobald sein Fräulein von meinem Herrn gekapert ist, wird mein Einfluß schon hinreichen, den Grobian aus dem Hause zu bringen. Jetzt aber muß ich den Brief abgeben. Ich bin neugierig, was er enthält.«

Er öffnete eine Thür, schritt durch ein zweites, leeres Zimmer und trat dann in ein drittes, in welchem sich der Premierlieutenant befand.

Dieses war - würde man sagen - ganz à la Marquard ausgestattet, üppig, weich und sinnlich, wie das Boudoir einer Balleteuse, welcher das heiße Blut prickelnd durch die Adern pulsirt. Der Lieutenant lag lang ausgestreckt auf einer seidenen Chaise longue. Der Schlafrock von feinstem Sammet, welcher ihn umhüllte, ließ nicht ahnen, daß man sich in der Wohnung eines Offiziers befinde, dessen Vater mit dem Range eines Generalmajors bekleidet war. Er hatte einen Band von Paul de Kock in der Hand, schien aber in dem Buche wenig oder gar nicht gelesen, sondern dasselbe pour passer le temps ergriffen zu haben. Er wendete sich halb nach dem Diener um und fragte gähnend:

»Was wollte der Kerl schon wieder?«

»Er brachte die Rechnung.«

»Mag warten! »Er will nicht länger warten.«

»Was denn?«

»Wenn morgen Mittag die Rechnung nicht beglichen ist, so will er sie an die Commandantur einsenden.«

Jetzt drehte sich der Offizier vollends herum und sprang von der Chaise longue auf, so daß man ihn genau betrachten konnte.

Er mochte ungefähr sechsundzwanzig Jahre zählen. Seine Gestalt war mittelgroß und schlank; sein Gesicht gehörte zu denen, welche man in der Jugend hübsch, aber niemals männlich finden kann. Es hatte bereits etwas Blasirtes, Ueberdrüssiges an sich und zeigte eine Blässe, welche man krankhaft glänzend hätte nennen mögen. Trotz des Schnurrbartes, welcher die Oberlippe bedeckte, bemerkte man seinem Munde doch jenen eigenwilligen Schnitt und jene eigenartige Lippenfülle an, welche später auf einen grausamen und sinnlichen Character schließen lassen. Die grauen, kalten, herzlosen Augen schienen weiter als gewöhnlich aus einander zu stehen, was dem Gesichte einen nach beiden Seiten oder hinten lauernden Ausdruck gab. Die Nasenwurzel lag tief eingedrückt unter dem Stirnrande und sandte nach den unteren Augenlidern jene bläulichen Depressionen hinüber, die man nur bei Personen, welche schnell und viel gelebt haben, zu beobachten pflegt. Wenn trotz alledem das Gesicht hübsch zu nennen war, so konnte das ja nur einfache Geschmackssache sein. Hundert Andere hätten es vielleicht für gewöhnlich, ja für unsympathisch gehalten. Alles in Allem lag ein Ausdruck darin, als ob es sich noch von Innen heraus, wo ja verborgene und unberechenbare Kräfte walten, zu entwickeln habe.

»An die Commandantur einsenden?« rief er aus. »Ist der Mensch verrückt?«

»Wohl nicht,« antwortete der Lakai gleichmüthig. »Er denkt, daß dann der gnädige Herr gezwungen sein werde, zu bezahlen.«

»Aber er wird mich dadurch ruiniren.«

»Jedenfalls. Er muß also bezahlt werden!«

»Womit? Hast Du Geld?«

Der Lakai trat unter gut gespieltem Erschrecken einen Schritt zurück.

»Ich?« fragte er. »Geld? Wie soll ich Geld haben? Der Herr Lieutenant hat ja seit bereits zwei


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Jahren nicht die Güte gehabt, mir mein Salair auszuzahlen.«

»Spitzbube! Und dennoch hast Du Mittel genug, um es gegenwärtig mit mir aufnehmen zu können! Sind Dir nicht alle Deine kleinen außergewöhnlichen Dienstleistungen so gut, ja so übermäßig nobel bezahlt worden, daß Du Dir ein kleines Vermögen gesammelt haben mußt?«

»O weh! Mit diesem Vermögen ist es schlecht! Meine vielen Verwandten sind alle arm und der Herr Premierlieutenant wissen, daß ich ein gutes, mildthätiges Herz besitze.«

Der Offizier stieß ein kurzes, ironisches Lachen aus.

»Ja, Du bist gut wie der Habicht und mildthätig wie der Fuchs. Aber, denkst Du, daß dieser Schneider seine Drohung wirklich ausführen werde?«

»Ich bin sogar überzeugt davon.«

»Alle Teufel! Was ist da zu machen!«

»Hm! Ich weiß keinen Rath!«

»Zunächst ist es mir auch noch gar nicht eingefallen, einen solchen von Dir zu verlangen, Bursche! Aber, was hast Du da?«

»Einen Brief, welchen der Diener des Herrn von Ociului brachte.«

»Der Heinrich? Zeig her!«

Diese Worte waren mit sehr bemerkbarer Hast gesprochen.

Er zog den Brief dem Lakaien förmlich aus der Hand, schnitt das Couvert mit einem Messerchen auf und las:

»Den Herrn Premierlieutenant Baron Franz von Wilden für morgen Abend neun Uhr zur Geburtstagsfeier seiner Tochter Elma ergebenst einzuladen, erlaubt sich
                 Illo von Flakehpa-Ociului.«

Das vorher so finstere Gesicht des Lieutenants erheiterte sich.

»Ich werde für morgen Abend zum Geburtstagsfeste eingeladen,« sagte er.

Das Gesicht des Dieners nahm einen pfiffigen Ausdruck an, hinter welchem aber noch etwas Lauerndes steckte, was Wilden nicht bemerkte.

»Wie schade, daß dieses Fest nicht schon heute gefeiert wird!« sagte der Lakai.

»Wie so?«

»Weil der Schneider bis morgen Mittag bezahlt sein will. Herr von Ociului ist steinreich. Es bedürfte bei ihm nur eines Wortes,

»Schweig!« herrschte ihn der Lieutenant an. »Wie könnte es mir einfallen, mich an ihn zu wenden!«

»Aber bis zu Ihrem Herrn Papa ist es zu weit, als daß wir bis morgen - - oder wollen wir an ihn telegraphiren?«

»Behalte Deine Vorschläge für Dich! Bringe mir lieber die Uniform! Es ist Zeit, die Posten zu inspiciren.«

Der Ton, in welchem diese Worte gesprochen wurden, war bei Weitem nicht derjenige, welchen ein anderer Herr angeschlagen hätte, einen anmaßenden Diener zurecht zu weisen. Der Lakai mußte doch wissen, daß er sich schon Etwas erlauben dürfe. Es war überhaupt ungewöhnlich, daß ein Lieutenant sich einen gallonirten Lakaien hielt, anstatt sich von einem Soldaten seiner Compagnie bedienen zu lassen.

Kuno gehorchte und trat bald mit den Uniformstücken ein, welche er seinem Herrn anlegte. Dieser war gewohnt, sich wie ein Kind ankleiden zu lassen. Er hielt es nicht für seinem hohen Stande angemessen, dabei selbst Hand anzulegen. Nach kurzer Zeit schritt der Premierlieutenant über den Markt hinweg und dem äußeren, nördlichen Theile der Stadt entgegen.

Dort lag ein mehrere Stockwerke hohes, aus starken Quadersteinen aufgeführtes Gebäude, oder genauer gesagt, ein Gebäudecomplex, welcher einige finstere Höfe umschloß und von einem Garten umgeben wurde, welchen eine Mauer von der Außenwelt trennte.

Diese Mauer war über zehn Fuß hoch und mit scharfen eisernen Spitzen gekrönt. Im Garten blühte keine Blume; es wurden da nur nüchterne Küchengewächse gebaut. Sämmtliche Fenster des ernsten Bauwerkes - ein Schloß aus alter, alter Zeit - waren mit starken, festen Gittern, viele auch noch obendrein mit blechernen Kästen versehen, welche sich nur nach oben öffneten und also einem spärlichen Lichtstrahl den Eingang erlaubten, und Demjenigen, welcher hinter dem Fenster stand, in Folge dessen nicht gestatteten, etwas Anderes zu sehen, als einige Quadratzoll des Himmels, der für ihn nur Gerechtigkeit aber kein Erbarmen zu zeigen schien.

Dieses alte, finstere Schloß diente als Wohnung Solcher, welche gegen die bestehenden Gesetze gesündigt hatten - es war das Zuchthaus zu Grollenburg. Dieser Name hatte sich in den Sprachgebrauch des Landes so eingebürgert, daß »nach Grollenburg kommen« ebenso viel hieß wie Insasse des Zuchthauses werden.

Die Mauer, welche das Letztere umgab, hatte nur ein einziges Thor, einen dunklen, tunnelähnlichen Eingang. Wie viele Tausende hatten ihn betreten! Und mit welchen Gefühlen war dies geschehen! Der Eine war gekommen, völlig zerschmettert von der Wucht des Schicksales, welches über ihn hereingebrochen war, der Andere betäubt und gelähmt, so daß es ihm noch nicht möglich war, den ganzen Umfang seines Geschickes zu ermessen. Ein Dritter hatte die Thür hinter sich zuschlagen hören und war gleichgiltig gewesen gegen den dumpfen Klang dieses Geräusches. Ein Vierter hatte am ersten Tage seiner Gefangenschaft bereits an den letzten gedacht, während ein Fünfter die Gewißheit mit sich gebracht hatte, daß er die Mauern, welche ihn jetzt umschlossen, lebend nie wieder verlasse. Er wußte, daß man einst nur seine Leiche hinaustragen werde in einem engen, zierlosen Sarge nach dem Winkel der Verachteten im Friedhofe, oder in einem eisenbeschlagenen Kasten nach der Anatomie der nahen Universitätsstadt.

Sie Alle, nur Wenige ausgenommen, ließen in der hinter ihnen verschlossenen Freiheit Verwandte zurück, denen ihre Liebe gehörte und welche von dem gewaltigen Schlage unschuldig mitgetroffen wurden. Das war eine Strafschärfung, welche kein Richter mit in mildernde Berechnung gezogen hatte.

Nach diesem Thore lenkte Premierlieutenant von Wilden seine Schritte. Es öffnete sich ihm ohne vorherigen Befehl, denn der Militärposten, welcher dahinter stand, hatte durch ein kleines Guckloch das Nahen seines Vorgesetzten


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bemerkt. Er salutirte, als derselbe eintrat und, den militärischen Gruß kaum erwidernd, an ihm vorüberschritt.

Alle Höfe und Gänge des Detentionshauses waren mit Posten besetzt, welche der Lieutenant jetzt zu inspiziren hatte. Einzelne Gefangene schritten geschäftig an ihm vorüber und rissen ehrfurchtsvoll die häßlichen Mützen vom Kopfe. Er bemerkte es gar nicht. Diese Geschöpfe waren für ihn keine Menschen mehr. Es wäre eine Schande für ihn gewesen, sie zu sehen.

In einem der Höfe schritten weibliche Gefangene im Gänsemarsche, Eine hinter der Andern, langsam im Kreise herum. Sie durften weder rechts noch links abweichen, nicht mit einander sprechen, sich nicht irgend welches Zeichen geben und mußten die Reihenfolge, in welcher sie marschirten, genau einhalten. Sie hatten ihre halbe Erholungsstunde; sie hielten ihren Spaziergang, täglich dreißig Minuten, wenn das Wetter und die Arbeit es erlaubte. Sie erblickten den glänzenden Offizier und senkten erbleichend oder erröthend die Augen. Eine Jede dachte, ein Blick seines Auges könnte sie treffen - welche Verlegenheit, welche schmerzliche Scham dann! Aber sie konnten ruhig sein. Er schritt an ihnen vorüber, ohne eine Einzige nur mit dem Blicke zu streifen. Aber er zog sein Taschentuch, um sich damit das Gesicht zu fächeln, als ob er einen Pesthauch bemerke, den er von sich abzuwehren habe.

Als er seinen Rundgang beendet hatte, begab er sich zum Anstaltsdirector, um ihn zu fragen, ob er auch zur morgigen Feier geladen sei und dabei noch einige dienstliche Obliegenheiten zu erledigen.

Der Beamte befand sich in seinem Expeditionszimmer. Vor der Thür desselben waren einige Zuchthäuserinnen aufgestellt, welche der Reihe nach eingelassen werden sollten, da der Director mit ihnen zu sprechen hatte. Die Eine wollte um die Erlaubniß bitten, ihren Eltern zu schreiben; die Andere glaubte, sich über irgend Etwas beschweren zu müssen; die Dritte hatte sich eines Versehens schuldig gemacht und sollte nun ihre Disciplinarstrafe dictirt erhalten. Für sie Alle aber war es ein Schweres, vor dem strengen Beamten zu erscheinen. Sie hatten hier keine individuellen Berechtigungen, sie waren dem socialen Verbande ausgeschieden worden und trugen Nummern. Diese Nummern waren auf ihre Kleidungsstücke genäht; diese Nummern standen in den Actenstücken, Listen und Arbeitsbüchern und mit ihrer Nummer wurde auch eine Jede gerufen. Sie Alle hatten ihre Namen für die Zeit ihrer Gefangenschaft verloren.

Aufrichtig gestanden, war ihre Furcht vor dem Director unbegründet. Er war ein verdienter, rauher, aber biederer Offizier, welchem man nach seiner Verabschiedung diesen ernsten Posten anvertraut hatte. Er stammte aus bürgerlicher Familie, hatte ein menschenfreundliches Herz und folgte der Stimme desselben, so oft es nöthig war. Natürlich hatte er zu berücksichtigen, daß er ein Beamter des Strafvollzuges sei, und wenn er auch geneigt war, seine Pfleglinge für nichts Anderes, als für moralisch Kranke zu halten, so mußte er doch der Strenge des Gesetzes volle Rechnung tragen.

Bei ihm trat der Premierlieutenant ein und wurde von ihm kameradschaftlich freundlich empfangen. Er wollte sich, im Falle er störe, entschuldigen, doch fiel ihm der Director schnell in die Rede:

»O bitte, bitte, Herr Oberlieutenant! Ich habe meine Sprechstunde, die ich allerdings nicht unterbrechen möchte; doch bin ich fast zu Ende; dann stehe ich zur Verfügung. Sie dürfen hören, was hier verhandelt wird. Staatsgeheimnisse sind es ja nicht. Bitte, nehmen Sie für einige kurze Minuten Platz!«

»Ganz wie Sie befehlen, Herr Major.«

Wilden gab dem Director diesen Titel, da derselbe als Major verabschiedet worden war. Es war ihm gar nicht lieb, hier warten zu müssen, in dieser dunklen Stube mit den vergitterten Fenstern, er der Zweig eines berühmten Stammbaumes bei moralisch verkommenen Subjecten, bei Diebinnen und Mörderinnen! Er schob den Stuhl bei Seite und nahm auf demselben in der Weise Platz, daß er mit dem Gesichte nach dem Fenster saß und keine der Eintretenden anzusehen brauchte.

Der Director setzte seine Beschäftigung fort. Es wurde eine der Gefangenen nach der Anderen vorgelassen. Die Reihenfolge richtete sich nach der Nummer, welche sie trugen, und wurde von einer Aufseherin, welche draußen stand, bestimmt. Eine Jede erhielt ihren Bescheid, streng oder mild, je nach der Veranlassung, welche sie herbeigeführt hatte.

Dem Lieutenant wurde die Zeit ungeheuer lang. Er fühlte sich im höchsten Grade ennuyirt von dem Zwange, hier mit Leuten, welche er zum Auswurfe der Menschheit rechnete, in einem Raume beisammen zu sein, ihre Reden anhören und dieselbe Luft wie sie athmen zu müssen. Da öffnete sich die Thür und die Aufseherin meldete:

»Nummer Zweiundsiebzig, die Letzte, Herr Major!«

»Ah, zweiundsiebzig! Herein mit ihr!«

Der Ton, in welchem er diese Worte sprach, war ein sehr freundlicher. Dem Oberlieutenant fiel auf, daß die Gefangene, welche er eintreten hörte, nicht laut grüßte, wie die Anderen es gethan hatten. Der Major begann:

»Ich habe Dich rufen lassen, um Dir eine erfreuliche Nachricht mitzutheilen. Du hast nach den ersten zwölf Monaten Deiner Gefangenschaft Dein erstes Gnadengesuch gemacht, und es wurde, wie vorauszusehen war, abschlägig beschieden. Eine Kindesmörderin läßt man nicht bereits nach einem Jahre gehen. Jetzt hast Du die Hälfte Deiner Strafzeit hinter Dir, und da Deine Führung eine vorzügliche gewesen ist, so habe ich ein zweites Gesuch abgesandt, ohne Dich davon zu benachrichtigen. Die Resolution ist jetzt eingegangen, Seine Majestät hat sich veranlaßt gesehen, in Anbetracht der großen Jugend, in welcher Du sündigtest, und in Folge Deines Wohlverhaltens Dir die zweite Hälfte der Strafe zu erlassen. Du bist begnadigt.«

Ein lauter Aufschrei erfolgte. Der Lieutenant rückte auf seinem Sitze hin und her. Er dachte, daß diese Kindesmörderin viel anständiger hätte antworten sollen als durch so einen dummen, unhöflichen Schrei. Und ebenso ärgerte er sich über die Freundlichkeit des Directors. Einem Frauenzimmer, welches ihr Kind umgebracht hat, sagt doch kein vernünftiger Mensch, daß er mit ihrer Führung zufrieden ist!

Die Gefangene war bleichen Gesichtes eingetreten, hatte sich gegen den Director stumm verneigt, aber nicht gewagt,


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ihn oder den Oberlieutenant anzusehen. Doch war ihre Blässe nicht diejenige der Angst und Furcht. Sie zitterte leise, und um ihren Mund zuckte es wie eine tiefe, mühsam niedergekämpfte Bewegung. Auf ihrer schönen, weißen Stirn glänzte es feucht. Sie hatte ganz das Aussehen eines Mädchens, welches sich unter dem Einflusse einer gewaltigen Scham befindet.

Sie trug, wie alle weiblichen Gefangenen, einen Rock von grobem Zeuge, eine Jacke von demselben Stoffe, eine Zwillichschürze und eine häßliche Haube, welche den Kopf so bedeckte, daß nur das Gesicht frei blieb. Diese Kleidungsstücke hatten einen so unschönen, garstigen Schnitt, daß es unmöglich war, die Linien, welche der Körper bildete, zu erkennen. Dennoch aber umgab diese Gefangene ein eigenthümliches Etwas, dem zu Folge man sich sagen mußte, daß sie in einem andern Anzuge ungewöhnlich schön sein müsse.

Als der Director zu sprechen begonnen hatte, hatte sie für einen Augenblick ihre Augen aufgeschlagen, große, himmelblaue Augen von seltener Reinheit, in denen es gelegen hatte wie ein stilles, nagendes Leid, welches an dem Leben zehrt. Bei der Nachricht, daß sie begnadigt worden sei, hatte sie die Hände zusammengeschlagen, jenen Schrei ausgestoßen und sich dann, matt vor Ergriffenheit, an den Thürpfosten gelehnt.

»Du kannst nach der Ordnung des Hauses zwar erst morgen früh entlassen werden,« fuhr der Director fort; »da es mir aber nicht möglich ist, Dich noch einmal vorzulassen, so will ich das, was ich Dir zu sagen habe, gleich jetzt bemerken.«

Er räusperte sich und fuhr dann fort:

»In Folge Deines guten Verhaltens ist Dir die Polizeiaufsicht erlassen; dennoch aber wirst Du, wie jeder andere Abgehende, über das Weichbild der Stadt gebracht und hast Dich geradewegs in Deine Heimath zu begeben und Dich dort zu melden. Wer das nicht thut und sich kurz nach seiner Entlassung hier etwa noch sehen läßt, wird polizeilich streng bestraft. Hast Du Verwandte daheim?«

»Ja, Herr Major,« antwortete sie leise, als ob sie sich scheue, ihre Stimme hören zu lassen.

»Was für welche?«

»Den Vater und einen Bruder.«

»Hier habe ich Deine Haus- und Einlieferungsacten, aus denen ich ersehe, daß Dein Vater Brand heißt und Forstwärter ist. Als solcher wird er wohl schwerlich die Mittel besitzen, Dich - - -«

Er wurde durch einen Ruf unterbrochen, welchen der Lieutenant ausstieß. Dieser hatte sich nämlich, als er die beiden Worte Brand und Forstwärter hörte, umgedreht, und zwar mit einer Schnelligkeit, welche verrieth, daß ein sehr reges Interesse der Grund zu dieser unwillkürlichen und unbeherrschten Bewegung sein müsse. Er erblickte die Gefangene, sprang auf und rief:

»Donnerwetter! Du bist es, Bertha?«

Da erhob das Mädchen ihre beiden Hände und hielt sie ihm entgegen, als ob sie ihm abwehren wolle. Eine dunkle Röthe bedeckte ihr Gesicht. Sie rief unter einem gewaltig hervorbrechenden Schluchzen:

»Herr Lieutenant! O mein Gott, ich dachte, Sie sollten mich nicht erkennen!«

Der Director sah den Offizier erstaunt an und fragte:

»Wie, Sie kennen sich?«

Da warf der Gefragte den Kopf hochmüthig zurück. Er zürnte sich selbst, daß er sich hatte vom Augenblicke fortreißen lassen. Das mußte wieder gut gemacht werden. Darum antwortete er unter einer Geberde der tiefsten Verachtung und in eiseskaltem Tone:

»Pah! Dieses Subject diente bei meinen Eltern, bevor sie des Mordes wegen arretirt wurde. Das ist die ganze berühmte Bekanntschaft. Nur zu meiner allergrößten Verwunderung höre ich, daß sie begnadigt worden ist. Eine solche Milde ist mir geradezu unbegreiflich!«

Der alte Director schüttelte ernst den Kopf und sagte:

»Mir will scheinen, als ob wir nicht die Erlaubniß hätten, den König zu kritisiren, wenn er von seinem schönsten Vorrechte, Gnade zu üben, Gebrauch macht!«

»Es kann mir auch nicht einfallen, der Krone das Begnadigungsrecht abzusprechen,« entgegnete der Lieutenant frostig; »ich wollte nur sagen, daß es mich höchst unangenehm berührt, es in diesem Falle ausgeübt zu sehen. Eine Kindesmörderin verdient keine Gnade, sondern halbe Kost und täglich die Peitsche!«

Die Gefangene fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen; es war, als ob sie dort einen scharfen, gewaltigen Schmerz gefühlt habe. Ihre Augen öffneten sich groß und weit, als ob sie eine gespensterhafte Erscheinung vor sich sehe. Dann aber zuckte ein sprühender Blitz aus ihnen hervor; sie that einen raschen, energischen Schritt vorwärts und sagte, vor Erregung bebend:

»Herr Major, Herr Director, ich bin sechs lange, ewig lange Jahre gefangen gewesen; ich habe meine Strafe verdient und sie in Demuth und Ergebung getragen; hier aber ist mir diese Ergebung eine Unmöglichkeit. Ich bin nicht allein Schuld; ich bin verführt worden, mit allen Kniffen und Künsten, mit Versprechungen und Betheuerungen, denen ich in meiner Unerfahrenheit Vertrauen schenkte, verführt und dann verlassen worden. Ich habe damals meinen Verführer nicht genannt; ich liebte ihn noch und liebte ihn bis zum gegenwärtigen Augenblicke. Ich wollte ihm die Schande ersparen, seinen Namen in den Untersuchungsacten einer Mörderin verzeichnet zu sehen. Jetzt aber hat er gezeigt, daß er eines solchen Opfers nicht werth ist, und ich will Ihnen seinen Namen nennen. Hier steht er, der Herr Baron von Wilden, der meinen Sinn bethörte, meinen Verstand umstrickte, meinen Widerstand mit Gewalt besiegte und mich dann in den Abgrund der Schande und Entehrung stürzte. Ich hatte später eingesehen, daß er mir seine glänzenden Versprechungen nicht halten könne; aber es wäre ihm leicht gewesen, als ich von seinen Eltern hinausgeworfen wurde, als Niemand mich bei sich aufnehmen wollte und ich mich fürchtete, meinem armen, braven Vater vor die Augen zu treten, mich wenigstens für kurze Zeit vor dem Hunger zu bewahren. Er entzog mir seine Hilfe. Ich war ohne Obdach und Nahrung: die Schmerzen der Geburt raubten mir die Ueberlegung; der innere Jammer und die äußere Qual, sie leiteten meine Hände zum verhängnißvollen Griffe - das unschuldige Kind lag erwürgt vor meinen Füßen. Was ich dann gethan habe, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß ich später mich nach der Polizei schleppte, um mich selbst anzuzeigen.


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Ich habe bereut und gebüßt. In mehr als zweitausend Nächten habe ich auf meinem harten Lager mit dem Bewußtsein meiner Schuld gekämpft, welches mich immer und immer wieder in die fürchterliche Versuchung führte, auch meinem Leben ein Ende zu machen. Der Gedanke an Gott und meinen alten Vater hat mich davon abgehalten. Und während ich hinter den Mauern und Eisengittern dieses Hauses als Nummer zweiundsiebzig mit solchen finstern Gedanken und Geistern kämpfte und solche seelische Martern erduldete, was geschah mit meinem Verführer? Was that und fühlte er? Ein König hat Gnade geübt; aber Der, welcher die eigentliche Schuld trägt an dem, was ich verbrach, er, der vor Gott ebenso der Mörder seines Kindes ist, wie ich die Mörderin bin, er sagt, daß ich nicht Gnade verdiene, sondern Hungerkost und täglich die Peitsche! Ich habe ihn geliebt, und ich habe ihn geschont; Gott aber ist gerecht; er kennt seine Schuld und wird ihn richten!«


Ende der achtundachtzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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