Lieferung 95

Deutscher Wanderer

11. Juli 1885

Die Liebe des Ulanen.

Original-Roman aus der Zeit des deutsch-französischen Krieges von Karl May.


// 1505 //

Müller war leichter hinab gerutscht als er sich gedacht hatte.

»Da bin ich!« sagte er, als er den Boden unter seinen Füßen fühlte.

»Station Hölle! Fünf Minuten Aufenthalt!« verkündete Herr Hieronymus Aurelius Schneffke.

»Vielleicht auch etwas länger.«

»Habe keine Lust dazu!«

»Befinde ich mich einmal hier, so will ich doch auch genau wissen, wo ich bin.«

»Dazu gehört eine Laterne.«

»Habe ich.«

»Sapperment! Sie scheinen Tag und Nacht bereit zu sein, als Einbrecher einzusteigen.«

»Man muß hier stets au fait sein. Aber, Herr Schneffke, was treiben Sie im Walde?«

»Studien.«

»Was für welche?«

»Geologische und geognostische, wie Sie sehen. Ich untersuche das Erdinnere.«

»Sie sollten das Herumspazieren lieber bleiben lassen!«

»Warum?«

»Sie verunglücken stets dabei.«

»Das will ich ja! Ich bin ein großer Freund des Unglücks, vorausgesetzt, daß es mich selbst betrifft, aber keinen Andern.«

»Sonderbare Passion!«

»Ja, ein jeder Mensch hat seine Mucken.«

»Also was wollten Sie im Walde?«

»Es wurde mir so unheimlich in dem Neste Thionville. Ich brauche frische Luft - -«

»Glaubten Sie, hier unten frische Luft zu finden?«

»Na, was das betrifft, so bin ich allerdings auf einen solchen Rutsch nicht ausgegangen.«

»Sie konnten Hals und Beine brechen!«

»Keine Sorge! Ich falle weich! Ich schlenderte so in meinen Gedanken durch den Wald; da kriegte die Erde ein Loch und ich schoß hinab. Unten kam ich gerade auf denjenigen Theil zu sitzen, auf welchem die Engel keine Flügel haben, sondern etwas höher. Auf diese Weise habe ich weder mir noch den Steinplatten hier einen Schaden gethan.«

»Wirklich! Steinplatten giebt es hier. Wollen die Lampe anzünden.«

Beim Scheine des Lichtes bemerkten sie nun, daß das Loch genau viereckig war, also auf künstliche Weise hergestellt. Sie befanden sich in einem Gange, welcher etwas mehr als Manneshöhe und eine Breite von fünf Fuß hatte.

»Wo giebt es Thüren?« fragte Müller.

»Da vorwärts und auch rückwärts.«

»Haben Sie sie gefühlt?«

»Ja. Ich tappte mich fort und bin an drei Thüren gewesen. Weiter aber getraute ich mich nicht. Diese Gegend scheint ganz von Schächten und Gängen durchzogen zu sein.«

»Die Thüren waren natürlich geschlossen?«

»Ja.«

»Was für Schlösser?«

»Keine Hänge-, sondern Kastenschlösser.«

»Wollen einmal sehen, ob mein Schlüssel paßt.«

»Ah! Auch Schlüssel haben Sie mit? Immer also auf dem Qui vive

»Das ist nothwendig.«


// 1506 //

Müller steckte den Schlüssel in das Schloß der ersten Thür, welche sie erreichten. Er paßte.

»Sapperment, das klappt wie Pudding!« meinte der Maler. »Bin neugierig, was da drinnen steckt.«

Müller öffnete. Das kellerartige Gewölbe war leer, und den gleichen Erfolg hatte das Oeffnen von noch zwei weiteren Thüren.

»Wir müssen die Untersuchung unbedingt fortsetzen,« meinte Schneffke.

»Ich meine das Gegentheil: Wir kehren an die Oberwelt zurück.«

»Warum? Man muß doch wissen, wer oder was hier steckt.«

»Erstens ist das zu gefährlich - -«

»Warum?«

»Es kann leicht da oben Jemand vorübergehen und den Stamm im Loche bemerken.«

»Das ist allerdings war.«

»Und sodann habe ich keine Zeit und Sie auch nicht.«

»Ich? Pah, ich bin nicht beschäftigt.«

»Sie werden aber Beschäftigung erhalten. Fritz Schneeberg ist nach Thionville gegangen, um Sie zu suchen.«

»Wozu?«

»Sie sollen zu Miß de Lissa kommen.«

»Zu der Engländerin?«

»Ja.«

»Die eine Gouvernante war?«

»Wenigstens die Sie für eine Gouvernante gehalten haben.«

»Sapperlot! Sollte sie mich doch noch heirathen wollen?«

»Das weniger. Sie sollen einem dort anwesenden Herrn einen Liebesdienst erweisen.«

»Was für einen Dienst? Soll ich ihn etwa rasiren?«

»Nein, das nicht.«

»Oder einen abgerissenen Knopf anflicken?«

»Nein. Der Herr ist ein Amerikaner und heißt Deep-hill - - -«

»Ah, der! Er sitzt immer mit der Engländerin im Garten und schnauzt die Leute an, welche zufälliger Weise einmal ein paar Zaunlatten abbrechen.«

»Hm; haben auch Sie welche abgebrochen?«

»Nur zwei. Das ist doch wenig genug.«

»Und da wurde er grob?«

»Außerordentlich.«

»Darum sagte er mir, daß er mit Ihnen zusammengerathen sei.«

»Sagte er das? Nun, ich habe mir nicht viel daraus gemacht. Wenn er sich etwa mit der Befürchtung quälen sollte, daß ich vor Schreck oder Angst die Staupe bekommen habe, so beruhigen Sie ihn, Herr Doctor. Ich habe ihm überhaupt bereits gesagt, daß er mich jedenfalls einmal sehr nothwendig brauchen wird.«

»Wozu?«

»Zur Enthüllung eines Geheimnisses.«

»Vielleicht meinen Sie dasselbe Geheimniß, in Beziehung dessen er Sie sprechen möchte.«

»Welches?«

»Seine Kinder.«

»So hat dieser Monsieur Schneeberg bereits geschwatzt? Na, ich bin nicht rachsüchtig und trage keinem Menschen Etwas nach. Dieser Amerikaner hat mich angebellt wie der Mops den Mond. Der Mond aber lächelt trotz des Mopses, und so soll auch mein gnadenreiches Licht diesen Herrn Deep-hill in friedlich-poetischem Schimmer belächeln.«

»Schön! Sie treffen auch Schneeberg bei ihm.«

»Das ist mir sehr lieb. Ich will Ihnen aufrichtig sagen, daß ich nur Schneebergs wegen von dieser Sache gesprochen habe. Er liebt diese Nanon Charbonnier - - -«

»Ah! Das wissen Sie?«

»Ja. Ich habe sie doch von der Birke aus belauscht!«

»O weh!«

»Allerdings o weh! Denn ich rutschte von der Birke herunter und kugelte grad vor das Pärchen hin.«

»Wieder einmal Pech!«

»Das nennen Sie Pech? Sehen Sie meinen Bauch und meine Taille an! Bin ich nicht etwas zum Kugeln gemacht? Wenn ich ausrutsche, stürze, falle, kugele oder rolle, so erfülle ich nur die mir von der freundlichen Natur so gnadenvoll gegebene Bestimmung. Also Schneeberg liebt die Nanon. Er ists, der mich gestern aus der Patsche befreit hat, und so soll er die Nanon bekommen.«

»Wer wird Sie aus der heutigen Patsche befreien?«

»Sie jedenfalls.«

»Nun, haben Sie da nicht auch für mich eine Dame als Belohnung in petto?«

»Wollen sehen! Also, um bei Schneeberg zu bleiben, möchte ich haben, daß der Amerikaner ihm zu Dank verpflichtet wird. Ich selbst aber möchte verborgen bleiben, so hinter den Wolken, ganz so wie das Schicksal, wenn es seine geheimnißvollen Fäden von der Spindel leiert. Der Amerikaner muß ihm dann aus reiner Dankbarkeit seine Tochter geben.«

»Also können Sie wirklich beweisen, daß Nanon seine Tochter ist?«

»Mit Leichtigkeit.«

»Dann werden Sie wohl oder übel hinter Ihrer Wolke hervortreten müssen.«

»Ist mir nicht lieb.«

»Schneeberg kann doch den Beweis nicht führen.«

»Warum nicht?«

»Ist er im Besitze des Materiales?«

»Ich übergebe es ihm.«

»Und selbst dann ist es eine Frage, ob er es so zu verwenden verstehen wird wie Sie, der Sie es aus erster Hand überkommen haben, wie es scheint.«

»Na, ich denke, ein preußischer Ulanenwachtmeister wird doch so viel Grütze im Kopfe haben, daß er es versteht, aus einigen Namen und Thatsachen - - - Donnerwetter!«

»Alle Teufel!« hatte nämlich Müller hervorgestoßen, und erst in Folge dessen bemerkte Schneffke, daß er es verrathen hatte, was er wußte.

»Was wollen Sie mit dem Ulanenwachtmeister sagen?« fragte Müller.

»Hm!« brummte der Maler verlegen.

»Heraus damit!«

»Na, es war so so!«

»Ihr So So genügt mir nicht! Sie befinden sich jetzt in einer gefährlichen Lage, Herr Schneffke! Wissen


// 1507 //

Sie, daß es in jetziger Zeit nicht gerathen ist, hier in Frankreich einen Anderen als preußischen Ulanenwachtmeister zu bezeichnen?«

»Mag sein.«

»Es kann das für den Betreffenden leicht sehr schlimme Folgen haben.«

»Das weiß ich.«

»Und für Sie auch.«

»Wieso?«

»Es könnte Jemand auf den Gedanken kommen, Ihnen den Mund zu stopfen.«

»Würde ihm nicht leicht werden!«

»Pah! Wenn nun ich es wäre, der auf diesen Gedanken käme?«

»So würde ich mich hüten, das Maul dahin zu halten, wo es gestopft werden soll, Herr Rittmeister.«

Königsau fuhr zurück.

»Mensch!« sagte er. »Jetzt sagen Sie, wie Sie dazu kommen, hier die Worte Wacht- und Rittmeister zu gebrauchen!«

»Und wenn ich mich weigere?«

»So jage ich Ihnen auf der Stelle eine Kugel durch den Kopf. Sehen Sie?«

Er ließ das Licht des Laternchens auf den Revolver fallen, den er hervorgezogen hatte.

»Na,« lachte Schneffke, »ich glaube nicht, daß Sie einen Königlich Preußischen Landwehrunteroffizier so mir nichts Dir nichts niederschießen werden.«

»Ah! Preußischer Unteroffizier?«

»Ja. Verzeihen Sie, daß ich hier das Honneur unterlasse. In der Unterwelt haben die Instructionsstunden ihre Wirkung verloren.«

»Was treiben Sie eigentlich in Frankreich?«

»Allerhand Allotria.«

»Das habe ich gehört. Ihr Leib- und Lieblingsallotria aber scheint das Purzelbaumschlagen zu sein.«

»Wird mitunter auch gemacht.«

»Soll ich etwa denken, daß Sie sich im - - Auftrage hier befinden?«

»Allerdings.«

»Ah! Wer hat Sie dazu kommandirt?«

»O, es ist nicht das, was Sie denken. Der Auftrag, welchen ich bekommen habe, ist ein rein privater. Er hat nicht ein Stäubchen Militairisches an sich.«

»Aber Sie sprechen von Wacht- und Rittmeistern!«

»Was ich da weiß, das habe ich zufälliger Weise erfahren.«

»Nun, was wissen Sie?«

Müllers Ton war immer strenger geworden. Er stand vor dem Maler wie der Vorgesetzte vor dem Untergebenen. Schneffke aber ließ sich in diesem Augenblicke gar nicht imponiren. Sein Ton war ganz so, als ob es sich um eine äußerst gewöhnliche und gleichgiltige Angelegenheit handle.

»Was ich weiß?« fragte er. »Nun, ich weiß, daß sich sogenannte Eclaireurs in Frankreich befinden.«

»Spezieller!«

»Spezieller der Herr Rittmeister von Hohenthal von den Husaren.«

»Sapperment!«

»Mit dem Wachtmeister Martin Tannert. Beide waren erst in Paris; jetzt befinden sie sich in Metz.«

»Mensch, das wagen Sie, zu sagen?«

»Ja. Ferner befinden sich in Frankreich der Ulanenwachtmeister Fritz Schneeberg und - -«

»Und? Nun?«

»Und der Herr Rittmeister Richard von Königsau.«

»Wo?«

»Der Wachtmeister ist Pflanzensammler in Thionville.«

»Und der Rittmeister?«

»Ist Erzieher auf Schloß Ortry.«

»Alle Teufel! Mann, wer hat Ihnen das verrathen?«

»Kein Mensch. Tannert ist mein bester Freund. Ich traf ihn als Weinagent auf Schloß Malineau. Herrn von Hohenthal sah ich in Metz. Es versteht sich ganz von selbst, wie ich mir die Anwesenheit dieser Herren zu erklären habe.«

»Aber ist Ihnen auch der Wachtmeister Schneeberg persönlich bekannt?«

»Nein.«

»Oder der Rittmeister von Königsau?«

»Auch nicht.«

»Wie können Sie also die Anwesenheit dieser Beiden wissen?«

»Tannert sprach davon.«

»Der Unvorsichtige! Ich werde ihn zur Bestrafung bringen.«

»Verzeihung, Herr Doctor, es war nicht Unvorsichtigkeit, sondern ganz das Gegentheil von ihm. Ich habe in Malineau vieles erlauscht; ich wollte nach Ortry. Beides sagte ich dem Freund Tannert. Er war gezwungen, mir die Anwesenheit der beiden Herren mitzutheilen, erstens um mich vor Fehlern zu bewahren und zweitens, um mich mit Dem, was ich erlauscht hatte, an den Herrn Rittmeister von Königsau zu wenden.«

»Ah, so! Aber Sie befinden sich trotzdem in einer keineswegs beneidenswerthen Lage.«

»Wieso?«

»Sie sind ein schwatz- und plauderhafter Mensch. Ich muß mich also Ihrer versichern!«

»O weh!«

»Ja. Und ferner haben Sie so ungeheuer viel Pech, daß ich befürchten muß, in dieses Ihr Pech zu gerathen, falls ich Sie thun und treiben lasse, was Sie wollen.«

»Und was wollen Sie da mit mir thun?«

»Ich werde Sie über die Grenze schaffen lassen bis in die nächste preußische Garnison, wo Sie internirt bleiben, bis Sie keinen Schaden mehr verursachen können.«

»Wer wird mich eskortiren?«

»Eben der Wachtmeister Schneeberg.«

»Herr Doctor, das werden Sie nicht thun!«

»O doch!«

»Nein, und zwar aus verschiedenen Gründen.«

»Welche könnten das sein?«

»Erstens wäre nicht ich, sondern Schneeberg würde der Arrestant sein!«

»Wieso?«

»Weil ich nur auf der Station zu sagen brauche, daß er ein preußischer Unteroffizier ist. Ich wäre ihn ja augen-


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blicklich los. Er würde sofort eingesponnen, und ich könnte gehen, wohin ich will. Wäre ich dann rachsüchtig, so - - hm!«

»Was?«

»So wäre es auch um Sie geschehen!«

»Wieso?«

»Ich brauche nur an diesen liebenswürdigen Herrn Capitän Richemonte zu schreiben. Er ist ein so großer Freund der Preußen, daß er Sie vor lauter Entzücken sogleich umarmen würde, freilich nicht mit den Armen, sondern mit Stricken oder Handschellen.«

»Kerl, Sie, Sie sind ein Filou!«

»Merken Sie Etwas? Uebrigens dürfen Sie mich nicht so falsch beurtheilen. Ich habe scheinbar allerdings sehr viel Pech, aber das ist auch nur scheinbar.«

»Daß es nur Schein sei, müssen Sie wohl erst beweisen!«

»Dieser Beweis fällt mir sehr leicht. Mein Pech ist, genau genommen, immer nur Glück.«

»Ah!«

»Jawohl. Wünschen Sie spezielle Beweise?«

»Ja.«

»Nun, in Trier versäumte ich den Zug - -«

»Ich hörte davon.«

»Dadurch wurde es mir erspart, bei dem Bahnunglück den Hals zu brechen.«

»Das ist so übel gar nicht vorgebracht.«

»Hier stürzte ich in's Loch. Dadurch haben Sie einen neuen unterirdischen Gang entdeckt. Oder sollten Sie denselben bereits gekannt haben?«

»Nein. Es ist eine neue Entdeckung, welche ich da mache.«

»Sehen Sie! Kurz und gut, es mag mir passiren, was da nur will, Pech, Malheur, Unglück, es läuft allemal auf ein Glück, auf einen Vortheil, auf ein befriedigendes Ereigniß hinaus; das ist sicher!«

»Zufall!«

»Nicht ganz. Sie haben mich Filou genannt. Ich gebe meinen Mitmenschen allerdings Gelegenheit, sich über mich zu erheitern. Aber meinen Sie wirklich, daß ich da stets der Ungeschickte, der Pechvogel bin?«

»Was sonst?«

»Ist es denn gar nicht möglich, daß meinerseits ein klein Wenig Absicht oder Berechnung dabei ist?«

»Hm! Möglich ist es!«

»Und meinen Sie, daß einem braven preußischen Unteroffizier gegenüber Ihr Geheimniß in Gefahr gerathen kann? Ich werde mir viel eher den Kopf abhacken lassen. Darauf können Sie tausend Eide schwören.«

»Na, ich wollte ja auch nicht sagen, daß ich die Meinung habe, in Ihnen einen Verräther zu sehen.«

»Das sollte mir auch leid thun. Uebrigens habe ich die gute Angewohnheit, Allen, mit denen ich in Berührung komme, Glück zu bringen.«

»Dann sind Sie ja ein ganz und gar werthvoller Mensch.«

»Ja, mein Werth ist gar nicht hoch genug zu schätzen. Diesem Deep-hill gebe ich seine Kinder und diesem Schneeberg seine Geliebte. Es sollte mich wundern, wenn ich nicht auch in die erfreuliche Lage käme, Ihnen nützen zu können.«

»Wollen es wünschen. Vielleicht bringt Ihr Fall in dieses Loch mir Das, wornach ich längst gestrebt habe.«

»Was ist das?«

»Privatangelegenheit.«

»Entschuldigung! Ich fragte nicht aus zudringlicher Neugierde. Also werden Sie mich wirklich über die Grenze transportiren lassen, mein verehrtester Herr Doctor?«

»Hm! Ich will davon absehen.«

»Besten Dank! Die Belohnung wird auch sofort kommen.«

»Wissen Sie das so gewiß?«

»Ja, wenn nämlich meine Vermuthung die richtige ist.«

»Nun, was vermuthen Sie?«

»Ich habe über diesen Master Deep-hill so meine Gedanken und Vermuthungen. Er ist ein reicher Amerikaner. Er kommt zu dem Capitän. Dieser Letztere agitirt auf das Aeußerste gegen Deutschland. Deep-hill ist sein Verbündeter, er bringt ihm Geld und zwar sehr viel Geld.«

»Hm! Sie sind nicht ohne Scharfsinn!«

»Finden Sie? Weiter! Dieser Deep-hill aber ist nicht ein Amerikaner, sondern ein französischer Edelmann, ein Feind Deutschlands. Wie wäre es, wenn wir ihn nach Deutschland, nach Berlin entführten?«

»Er hat bereits mit dem Capitän gebrochen.«

»Wirklich? Da ist er sehr klug gewesen. Aber das ist immer nur ein halber Erfolg. Er ist dennoch Franzose! Er ist nicht als sicherer Mann zu betrachten. Man muß ihn nach Berlin bringen. Er muß ein Deutscher werden.«

»Wie wollen Sie das fertig bringen?«

»Indem ich ihn heute, morgen oder übermorgen, ganz wann es Ihnen beliebt, mit nach Berlin nehme.«

»Das wollten Sie ausführen?«

»Ganz gewiß.«

»In welcher Weise?«

»O, er wird ganz närrisch darauf sein, mit mir nach Berlin zu gehen. Kommen Sie nachher auch mit zum Apotheker?«

»Ja.«

»Nun, so werde ich Ihnen den Beweis liefern, daß ich meiner Sache äußerst sicher bin.«

»Sie machen mich wirklich neugierig. Eigentlich ist es sehr unvorsichtig von uns, hier so lange zu verweilen. Ich denke, wir kehren an die Oberwelt zurück.«

»Schön! Wer steigt voran?«

»Sie. Ich werde den Stamm halten.«

»Aber dann wird er sich drehen, wenn Sie nachfolgen!«

»Haben Sie keine Sorge. Ich komme schon hinauf.«

»Soll ich vielleicht oben halten?«

»Nein. Sie sind zu schwer. Treten Sie nicht wieder auf das Moos; der Boden könnte sich abermals unter Ihnen öffnen. Wenn Sie oben anlangen, müssen Sie sich einen kräftigen Schwung geben, um sich über das Moos hinüberzuschnellen. Werden Sie das fertig bringen?«

»Ich werde einen wirklichen Panthersprung thun.«

»Schön! Also, fassen Sie an!«

»Gut! Jetzt! Eins - zwei - drei! Müller setzte einiges Mißtrauen in die Kletterkunst des


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dicken Pechvogels; aber dieser schob sich schnell und sicher in die Höhe, und dann rief er von oben:

»So! Da bin ich! Der Sprung ist gelungen!«

Einige Augenblicke später stand Müller neben ihm. Es gelang, den Stamm aus dem Loche zu ziehen und das Letztere so zu verschließen, daß von der Oeffnung nichts zu sehen war.

»Nun muß der Baum wieder an seinen Ort!« sagte Müller.

»Ich werde ihn hintragen!

»Nein. Sie wissen nicht, wo er gelegen hat. Sie müssen sogleich nach der Stadt. Werden Sie sich von hier aus auch wirklich zurecht finden?«

»Sehr leicht!«

»So gehen Sie! Auf Wiedersehen!«

»Adieu, Herr Doctor!«

Er ging. Als er eine Strecke weit fortgegangen war, blieb er einen Augenblick stehen und murmelte:

»Verfluchte Geschichte! Stürze ich in dieses verteufelte Loch! Wäre der Doctor nicht gekommen, so hätte ich da unten entweder verhungern müssen, oder ich wäre wieder in die Hände dieses famosen Capitän gerathen. Dieser Königsau ist ein famoser Kerl, klug, listig und kühn bis zur Verwegenheit - aber mich über die Grenze transportiren, hm, das war doch der reine Pudding! Als Müller den Baumstamm wieder zur Stelle geschafft hatte, begab er sich nach dem Schlosse, und nahm, in der Nähe desselben angekommen, die Haltung eines unbefangenen Spaziergängers an.

Vorher war der Briefträger gekommen und auf dem Hofe dem alten Capitän begegnet.

»Für mich Etwas?« fragte dieser.

»Nein.«

»Für wen sonst?«

»Für das gnädige Fräulein.«

»Brief?«

»Ja.«

Marion befand sich bei Nanon und Madelon, als sie den Brief erhielt. Er trug den Poststempel Etain. Das befremdete sie, da sie dorthin keine Correspondenz hatte. Aber die Erklärung kam sogleich, als sie ihn las. Ihr freudiges Lächeln verkündete den beiden Andern, daß der Inhalt ein guter sei.

»Wißt Ihr, wo dieser Brief geschrieben wurde?« fragte sie.

»Wie können wir das wissen?« antwortete Nanon.

»Auf Schloß Malineau.«

»Wirklich? Ah! Von wem denn?«

»Hört!«

Sie las vor:

          »Meine gute Marion!
Dir für Deine lieben Zeilen herzlich dankend, bin ich gezwungen, Dich um Entschuldigung zu bitten, daß ich Dir nicht eher geantwortet habe. Aber wir hatten so viel zu thun, daß mir das Schreiben zur Unmöglichkeit wurde.
   Jetzt nun benutze ich die erste freie Viertelstunde, um Dir mitzutheilen, daß ich mit Großpapa auf Malineau angekommen bin, um die nächste Zeit hier zu verweilen.
   Wäre es Dir denn nicht möglich, meine herzige Freundin, mir Deine Gegenwart zu schenken? Ich sehne mich so sehr nach Dir; ich habe Dir so viel zu erzählen und nach Ortry zu kommen, das geht ja nicht. Du weißt, welche Furcht ich vor diesem alten, weißbärtigen Capitän habe.
   Also komme, komme recht bald. Großpapa sagt seine dringende Einladung und mit größter Ungeduld erwartet Dich Deine
          Ella von Latreau.«

Marion hatte noch das letzte Wort dieses Briefes auf den Lippen, da klopfte es höflich an, und Müller trat ein. Er sah den Brief in Marion's Händen und sagte also:

»Ich störe. Entschuldigung! Ich würde mich sofort zurückziehen, aber ich komme mit einer Bitte, welche ich nicht gern aufschieben möchte.«

»Sie sind mir zu jeder Zeit willkommen, Herr Doctor,« antwortete Marion. »Sprechen Sie also die Bitte aus. Ich werde ja sehen, ob es sehr schwer ist, Ihnen die Erfüllung derselben zu gewähren.«

»Ich habe sie nicht an Sie, gnädiges Fräulein, sondern an diese beiden Damen zu richten.«

»Unter vier Augen?«

»Nein. Haben die beiden Demoiselles vielleicht Zeit, einen Spaziergang nach Thionville zu unternehmen?«

»Wann?«

»Allerdings sofort.«

»Was sollen wir dort?« fragte Nanon.

»Doctor Bertrand erwartet Sie.«

»Bertrand? Sofort? Das muß eine wichtige Veranlassung haben, wie sich vermuthen läßt.«

»Sie vermuthen freilich richtig.«

»Wissen Sie, was wir bei ihm sollen?«

»Ja.«

»Dürfen wir es erfahren?«

»Hm! Ich weiß das nicht genau. Ich denke vielmehr, daß ich jetzt nicht davon sprechen sollte.«

»O, dann ist es etwas Schlimmes!«

»Nein, nein, sondern im Gegentheile etwas sehr Erfreuliches.«

»Wirklich? Nun, dann dürfen Sie es uns auch sagen. Bitte, bitte, Herr Doctor!«

Er zuckte zögernd die Achsel. Aber Marion nahm sich der beiden Damen an, indem sie zu dem Schweigsamen sagte:

»Werden Sie auch zu mir so schweigsam bleiben, wenn ich Ihnen sage, daß ich sehr wißbegierig bin?«

»Wer kann da widerstehen, gnädiges Fräulein! Es handelt sich nämlich um das Geheimniß, welches die Abstammung dieser Damen umgiebt.«

Sofort eilten Nanon und Madelon auf ihn zu. Die Eine faßte ihn hüben und die Andere drüben. Beide bestürmten ihn mit dem Verlangen, mehr zu hören.

»Ich habe wohl bereits mehr gesagt, als ich sagen sollte,« meinte er.

»Wer hat Ihnen denn verboten zu sprechen?«

»Niemand.«

»Nun, so dürfen Sie ja reden!«

»Ich möchte Ihnen die Ueberraschung nicht verderben.«


// 1510 //

»Wollen Sie etwa, daß wir unterwegs vor unbefriedigter Neugierde sterben?«

»Nein; so grausam bin ich freilich nicht.«

»Also, bitte, bitte!«

»Nun, es hat sich eine Spur entdecken lassen, welche, wenn sie verfolgt wird, auf den Namen Ihres Vaters führt.«

»Unseres Vaters?« fragte Madelon schnell. »Eine Spur von ihm? Wer hat sie gefunden?«

»Ein Maler, welcher - - -«

»O,« fiel Nanon schnell ein, »wohl der wunderbare kleine Dicke, welcher vom Baume stürzte?«

»Der wird es sein, Mademoiselle Nanon.«

»Wir sollen ihn bei Bertrand treffen?«

»Ja.«

»Warum kommt er nicht lieber hierher?«

»Er scheint sich, wie so viele Andere auch, vor dem Herrn Capitän zu fürchten. Er traf mich und hat mich gebeten, Ihnen seine Bitte mitzutheilen.«

»Dann müssen wir zu ihm! Schnell, schnell, Madelon!«

»Ich werde sogleich anspannen lassen,« meinte Marion.

»Bitte, nein, nicht anspannen,« bemerkte Müller.

»Warum nicht?«

»Ich habe Gründe, dem Herrn Capitän noch nicht merken zu lassen, um was es sich handelt. Gehen Sie zu Fuße. Thun Sie so, als ob Sie einen einfachen Spaziergang unternehmen.«

»Und ich? Wenn ich doch mit dürfte!«

Die beiden Schwestern blickten Müller fragend an. Er nickte mit dem Kopfe und antwortete:

»Die Angelegenheit soll für das gnädige Fräulein kein Geheimniß sein. Ich selbst werde auch kommen.«

»Sie auch? Da gehen wir alle Vier zusammen.«

»Bitte, mich zu dispensiren! Ich möchte nicht haben, daß der Herr Capitän mich mit Ihnen gehen sieht.«

»Aber unterwegs können Sie zu uns stoßen?«

»Vielleicht.«

»Dann schnell, Madelon! Komm, wir wollen rasch ein wenig Toilette machen!«

Die beiden Schwestern gingen. Marion legte Müllern die Hand auf die Achsel und fragte zutraulich:

»Sie wissen noch mehr, als Sie sagten?«

»Vielleicht, gnädiges Fräulein!«

»Darf ich es wissen?«

Der Blick, den sie dabei auf ihn richtete, war so sprechend. Es lagen in ihm die Worte:

»Ich selbst würde Dir Alles, Alles anvertrauen. Warum willst Du Geheimnisse vor mir haben.«

»Ja, Ihnen will ich es sagen. Der Vater der beiden Damen scheint gefunden zu sein.«

»Mein Gott, welches Glück! Wo ist er?«

»In Thionville.«

»Kenne ich ihn?«

»Sehr gut. Er war Gast auf Ortry.«

»Wirklich? Wer? Wer?«

»Deep-hill.«

Sie trat erstaunt zurück.

»Dieser - der?« fragte sie.

»Ja.«

»Ein Amerikaner?«

»Es ist kein Amerikaner, sondern ein Franzose, sogar ein französischer Edelmann, ein Baron de Bas-Montagne.«

»Woher wissen Sie das?«

»Wir haben Freundschaft geschlossen.«

»Das ist allerdings eine Nachricht, welche die beiden Damen mit Entzücken erfüllen wird. Auch ich freue mich mit ihnen. Aber, da fällt mir ein, daß ich eine Frage an Sie richten muß.«

»Welche?«

»Bitte, lesen Sie!«

Sie gab ihm den Brief, den sie soeben erhalten hatte. Als er ihn gelesen hatte, fragte sie:

»Soll ich diesen Besuch unternehmen?«

»Dieser Brief kommt ganz zur glücklichen Zeit.«

»Also ich soll?«

»Ja. Weiß der Capitän davon?«

»Nein.«

»Sehr gut! Es kann nämlich nothwendig werden, daß Sie Ortry verlassen, ohne ihm zu sagen, wohin Sie gehen. Lassen Sie also Niemandem Etwas wissen.«

»Aber Madelon und Nanon wissen es bereits.«

»Sie werden wohl schweigen.«

»Warum aber läßt Doctor Bertrand diese Beiden zu sich kommen? Sie wohnen ja hier und Deep-hill auch.«

»Dieser Letztere nicht mehr.«

»Nicht? Ich habe ihn allerdings seit gestern nicht gesehen. Aber verabschiedet hat er sich nicht.«

»Es war ihm unmöglich. Er war gefangen.«

»Gefangen? Wo?«

»In den unterirdischen Kellern.«

»Herrgott! Wohl so, wie man mich einsperren wollte?«

»Ja, gerade in demselben Keller.«

»Aber warum?«

»Der Capitän wollte ihm sein Geld abnehmen und ihn dann ermorden.«

»Jesus, mein Heiland! Wer hat ihn befreit?«

»Ich!«

»Sie und Sie und immer wieder Sie! Mir ist so angst. Ich befinde mich unter Teufeln! Herr Doctor, führen Sie mich aus dieser Hölle!«

»Wohin, gnädiges Fräulein?«

»Wohin Sie nur immer wollen.«

Sie blickte ihm voll und groß in die Augen. Es lag auf ihrem schönen Angesichte neben aller Angst ein so großes Vertrauen, daß er vor Dankbarkeit hätte vor ihr niederknieen mögen. Er beherrschte sich aber und sagte:

»Ich bin ein armer Lehrer, gnädiges Fräulein. Wenn Sie des Schutzes bedürfen, so sind Mächtigere bereit, Ihnen denselben zu gewähren.«

Sie wendete sich ab. Hatte sie etwas Anderes hören wollen? Es war fast, als ob sie ihm zürne. Aber bald drehte sie sich ihm wieder zu und sagte:

»Und doch ist es mir, als ob ich gerade unter Ihrem Schutze am Sichersten sein würde. Von Ihnen kommt Alles, was hier gut und erfreulich ist. Ich möchte wetten, daß auch nur Sie es sind, welcher den Vater Nanons aufgefunden hat.«

»Daß er der Vater ist, habe ich nicht geahnt. Zugeben aber will ich, daß er ohne mein Einschreiten eine Leiche sein würde.«


// 1511 //

»Welch ein Glück, einen Vater zu finden! Herr Doctor, mir ist stets, stets so gewesen, als ob ich vaterlos sei. Ich kann und kann und kann diesem schwachsinnigen Mann, den ich doch Vater nennen muß, unmöglich die Liebe eines Kindes entgegenbringen. Und meine Mutter - - todt! Zwar sagten Sie, daß sie möglicher Weise noch am Leben sei, aber - - -«

Sie stockte. Er hatte sich vorgenommen, ihr noch nichts zu sagen, aber in dem jetzigen Augenblicke floß ihm das Herz über. Er sagte:

»Ich pflege mir ein jedes Wort genau zu überlegen, gnädiges Fräulein!«

»Das weiß ich; aber dennoch sind Sie dem Irrthume unterworfen. Sie irren sich!«

»Diesesmal nicht.«

»Wie? Sie wollen wirklich behaupten, daß Liama, meine Mutter, noch lebe?«

»Ich behaupte es noch jetzt.«

»Sie müssen sich irren!«

»Nein. Ich sage Ihnen sogar, daß Sie dieses Schloß nicht ohne Ihre Mutter verlassen werden.«

Ihre Augen wurden größer und ihre Wangen entfärbten sich. Es war, als ob sie einen Geist erblicke.

»Herr Doctor,« stieß sie hervor, »was soll ich von diesen Worten denken?«

»Daß sie wahr sind. Ihre Mutter lebt. Sie selbst haben sie gesehen.«

»Damals am alten Thurme? Das war ihr Geist.«

»Nein. Sie war es selbst. Ich kann es Ihnen beweisen.«

»Wie denn? Wie?«

»Wollen Sie Ihre Mutter sehen?«

»Ich begreife Sie nicht!«

»Nehmen Sie das, was ich sage, ganz wörtlich. Ich habe mit Liama gesprochen.«

»Herr Gott! Ists wahr?«

»Ja.«

»Wann?«

»Als der Capitän krank war. Die Krankheit kam von mir, gnädiges Fräulein.«

»Wieso?«

»Ich gab ihm Tropfen, welche ihn für diese kurze Zeit an das Lager fesselten. Dadurch gewann ich Muse, in seine Geheimnisse einzudringen.«

»Herr Doctor, Sie sind ein räthselhafter, vielleicht ein fürchterlicher Mensch, und doch habe ich ein so unendliches Vertrauen zu Ihnen.«

»Bitte, halten Sie dieses Vertrauen fest. Ich werde es nie, nie täuschen. Ich habe während der Krankheit des Capitäns nach Liama gesucht.«

»Und sie gefunden?«

»Ja.«

»Lebend, wirklich lebend?«

»Ich sagte bereits, daß ich mit ihr gesprochen habe.«

Marion ließ sich ganz kraftlos auf einen Sessel nieder.

»Was höre ich da!« sagte sie leise. »Träume ich, oder ist es wirklich die Wahrheit?«

»Es ist die Wahrheit.«

»Aber wie kann sie leben, da sie doch begraben worden ist! Wer könnte eine solche Täuschung wagen?«

»Der Capitän.«

»Aus welchem Grunde?«

»Das ist mir noch ein Räthsel, welches ich aber hoffentlich noch ergründen werde.«

»Ich muß mich fassen. Ich bin meiner Sinne kaum mächtig; aber ich will ruhig und objectiv sein. Sagen Sie, wo sich Liama befindet!«

»In einem Gewölbe unter ihrem Grabe.«

»Dort haben Sie sie gesehen?«

»Und mit ihr gesprochen.«

»Fragte sie nach mir?«

»Ja.«

»Mein Jesus! Wollte sie mich nicht sehen?«

»Nein. Sie hat geschworen todt zu sein und auf ihr Kind zu verzichten.«

»Ist das wahr?«

»Ja.«

»Dann ist sie es nicht; dann ist es eine Andere!«

»Warum?«

»Kann eine Mutter auf ihr Kind verzichten? Kann eine Mutter sich zu Etwas hergeben, was man nicht anders als Betrug und Schwindel nennen muß? Kann sie sich dazu hergeben und obendrein ihr Kind verlassen?«

»Ja.«

Dieses Wort war mit so fester Betonung gesprochen, daß sie rasch zu ihm aufblickte.

»Welcher Ton!« sagte sie. »Ich bin überzeugt, daß auch Sie einer liebenden Mutter eine solche That nicht zutrauen. Hab ich Recht, Herr Doctor?«

»Sie haben Unrecht. Gerade weil es eine liebende Mutter war, hat sie sich dazu bestimmen lassen.«

»Können Sie das erklären?«

»Ja. Liama ist verschwunden, um ihr Kind zu retten. Der Capitän hat ihr gedroht, dieses Kind zu tödten, wenn sie ihm nicht gehorche. Sie hat ihm Gehorsam geleistet, um ihr Kind zu retten. Um es nicht noch jetzt in Gefahr zu bringen, verzichtet sie noch heut, ihr Kind zu sehen, obgleich all ihr Denken an demselben hängt.«

Da sprang Marion von ihrem Sitze auf. Ihre Augen glühten wie Irrlichter. Ihre Stimme klang fast heiser, als sie jetzt sagte:

»Herr Doctor, Sie wissen, wie sehr ich Ihnen vertraue. Ich schwöre darauf, daß Sie mir nie eine Unwahrheit sagen werden, und dennoch frage ich Sie jetzt noch einmal: Irren Sie sich wirklich nicht? Haben Sie in Wirklichkeit mit Liama gesprochen?«

»Ich entsage dem Himmel und der Seeligkeit, wenn ich mich geirrt habe! Glauben Sie mir nun?«

»Ja, ja, nun glaube ich es! Es ist entsetzlich, fürchterlich! Meine Mutter, meine arme, arme Mutter! Aber ich werde sie rächen, so fürchterlich rächen, wie das Verbrechen ist, welches man an ihr und mir verübt hat. Herr Doctor, darf ich sie sehen?«

»Sie will nicht!«

»Aber ich, ich will sie sehen!«

»Ich gehorche.«

»Wann also?«

»Heute Abend. Können Sie um Mitternacht das Schloß verlassen, ohne bemerkt zu werden?«


// 1512 //

»Wenn ich es will, so kann ich es. Wissen Sie, was ich thun werde?«

»Ich ahne es.«

»Nun?«

»Sie werden mit Liama von Ortry fortgehen?«

»Nein. Ich werde mit Liama in Ortry bleiben. Ich werde die Polizei der ganzen Umgegend in die Gänge dieses Schlosses führen; ich werde - - - ah, was werde ich thun! Ich weiß es selbst noch nicht!«

Sie befand sich in einer unbeschreiblichen Aufregung. Und gerade jetzt kehrten die beiden Schwestern zurück.

»Schweigen Sie!« raunte Müller ihr leise zu; dann entfernte er sich.

Als kurze Zeit später die drei Damen die Freitreppe hinabstiegen, kam der alte Capitän gerade aus dem Stalle. Er trat ihnen entgegen und fragte:

»Du hast einen Brief bekommen?«

»Von wem?«

»Von der Person, welche ihn geschrieben hat!«

Diesen Ton hatte er von ihr noch nicht gehört, trotzdem sie sich in letzter Zeit öfters so kampfbereit gezeigt hatte. Und so hatten auch ihre Augen ihn noch nicht angeblitzt wie jetzt. Das war nicht allein Haß; das war eine förmliche Herausforderung. Er aber war nicht der Mann, sich in dieser Weise abweisen zu lassen. Er sagte:

»Das versteht sich ganz von selbst. Eine solche Antwort mußt Du einem Kinde oder einem Irrsinnigen geben, aber nicht mir. Ich frage: Woher ist der Brief?«

»Du wirst ihn controllirt haben!«

»Nein. Ich bin ja überzeugt, daß Du es sagen wirst!«

»Du hast seit Kurzem immer Ueberzeugungen, welche sich später als hinfällig erweisen.«

Sie wendete sich ab. Er aber faßte sie am Arme.

»Halt! Wohin?«

Da schleuderte sie seinen Arm von sich und antwortete:

»Das geht Sie nichts an, Herr - - Richemonte!«

Sie ging, an ihrer Seite die beiden Schwestern. Er war wie an die Stelle gebannt; es schien ihm unmöglich zu sein, ein Glied zu bewegen. In seinem Innern kochte es. Der Athem wollte ihm versagen. Nur mit Mühe stöhnte er vor sich hin:

»Ich ersticke! Was war das? Dieses Verhalten! Diese Worte! Diese Blicke! Was ist heut mit ihr? Sie muß eine Waffe gegen mich gefunden haben, sonst würde sie so einen Widerstand unmöglich wagen! Sie hat Etwas vor! Wo geht sie hin? Ich muß es erfahren! Er rief den Stallknecht.

»Hast Du die Damen gehen sehen?« fragte er.

»Ja.«

»Wohin haben sie sich gewendet?«

»Nach dem Walde.«

»Du schleichst ihnen nach, um zu erfahren, wohin oder zu wem sie gehen! Aber wenn Du es so dumm anfängst, daß sie Dich bemerken, jage ich Dich zum Teufel!«

Damit wendete er sich ab und suchte sein Zimmer auf. In demselben schritt er ruhelos auf und ab. Die Minuten wurden ihm zu Ewigkeiten. Endlich kam der Knecht zurück.

»Kerl, wo treibst Du Dich herum!« herrschte ihn der Alte an. »Du mußt doch längst wissen, wohin sie sind!«

»Nach Thionville ist weit, Herr Capitän!«

»Ah, nach der Stadt sind sie?«

»Ja.«

»Du bist ihnen gefolgt?«

»Ja. Sie wollten doch wissen, zu wem sie gehen würden.«

»Nun, zu wem?«

»Zu Doctor Bertrand.«

»Schön! Es ist gut!«

Er drehte sich ab, zum Zeichen, daß der Knecht sich entfernen solle. Dieser sagte aber:

»Noch Eins, Herr Capitän!«

»Nun?«

»Wissen Sie, von wem die Damen erwartet wurden?«

»Du hast es einfach zu melden, nicht aber mir Räthsel aufzugeben! Verstanden?«

»Der Maler stand am Fenster.«

»Welcher Maler?«

»Der mit dem Grafen von Rallion kam. Ich habe mir den Namen nicht merken können.«

»Haller?«

»Ja, Haller hieß er!«

»Unsinn. Dieser Maler ist weit, weit weg von hier.«

»Er ist da, in Thionville, bei Doctor Bertrand. Er stand am offenen Fenster und begrüßte die Damen von Weitem.«

»Mensch, Du irrst Dich!«

»Ich kann es bei allen Heiligen beschwören!«

»Wenn Haller wirklich nach Thionville käme, so wäre ich der Erste, den er aufsuchte.«

»Aber er war es wirklich!«

Jetzt war es doch unmöglich, länger zu zweifeln. Was war das? Haller zurück, ohne zu ihm zu kommen? Das Verhalten Marions, welche vorher einen Brief erhalten, aber den Schreiber verheimlicht hatte? War dieser Brief von Haller, dem eigentlichen Grafen Lemarch? Hatte er sie darin zu Bertrand bestellt? Weshalb? Das mußte untersucht werden.

»Spanne sogleich an!« befahl er.

Als er dann in den Wagen stieg, herrschte er dem Kutscher die Worte zu:

»Nach Thionville! Bei Doctor Bertrand halten!«

Er konnte nicht wissen, daß der Stallknecht den Pflanzensammler für den vermeintlichen Maler Haller gehalten hatte, welche Beide sich ja außerordentlich ähnlich waren.

Als vorher Fritz Schneeberg mit dem Amerikaner die Stadt erreicht hatte, bat er diesen, zu Bertrand zu gehen. Er selbst werde sich nach dem Maler umsehen. Deep-hill ging direct nach dem Zimmer, welches Emma von Königsau bewohnte. Er klopfte leicht an und als er dann auf ihren Zuruf eintrat, sprang sie mit einem halblauten Rufe freudiger Ueberraschung von ihrem Sitze auf.

»Monsieur Deep-hill! Ah! Wieder hier!«

»Um Ihnen zu zeigen, daß ich unversehrt bin,« fügte er hinzu, ihr weißes Händchen küssend.

»Wo aber waren Sie?«

»In Gefangenschaft.«

»Unmöglich!«


// 1513 //

»O doch!« nickte er, indem er Platz nahm.

»Aber die Polizei kann doch nicht einen solchen faux-pas begehen, einen Mann wie Sie in Gewahrsam -«

»Die Polizei? O nein, die war es nicht. Ich befand mich in den Händen eines bodenlos niederträchtigen Schurken.«

»Wer ist er?«

»Capitän Richemonte.«

»Ah! Was wollte er bezwecken?«

»Mir einige Millionen abnehmen und dann mich jedenfalls zu meinen Vätern versammeln.«

»Ist's möglich?«

»Ja. Sie kennen diesen Menschen ja zur Genüge!«

»Ich?« fragte sie, ihn mit dem Ausdrucke der Spannung in das Gesicht sehend.

»Ja, Sie, die Sie seine Feindin sind!« lächelte er.

»Wie kommen Sie zu dieser Annahme?«

»Auf dem einfachsten Wege: Ihr Herr Bruder hat es mir mitgetheilt.«

»Mein Bruder - -?«

»Ja. Bitte, beunruhigen Sie sich nicht, gnädiges Fräulein. Er hat mir anvertraut, daß Sie ebenso incognito, oder pseudonym hier sind wie er.«

Sie war natürlich verlegen geworden.

»Ich weiß nicht, welche Deutung ich Ihren Worten zu geben habe, Herr Deep-hill!« stieß sie hervor.

»Es ist mir sehr erklärlich, daß Sie sich durch meine Worte befremdet fühlen. Aber was ich seit gestern erlebt habe, hat mich Ihrem Herrn Bruder so nahe gebracht, daß er Vertrauen zu mir gefaßt hat. Sie sind keine Engländerin.«

»Was sonst?«

»Eine Preußin.«

»Mein Gott! Welche Unvorsichtigkeit!«

»Bitte, erschrecken Sie nicht. Ich habe beinahe auch Lust, selbst ein Preuße zu werden.«

»Hat er Ihnen auch unseren wirklichen Namen genannt?«

»Er hat mir die Geschichte Ihrer Familie erzählt, doch ohne einen Namen zu nennen.«

»So muß ich ihm allein die Verantwortung überlassen!«

»Es trifft ihn keine Verantwortung. Ich bin sein Freund. Ich weiß, was er hier will und bezweckt, aber ich werde ihn nicht verrathen. Er hat mich vom Tode errettet.«

»Er?«

»Ja, er und dieser brave Fritz Schneeberg, welcher jetzt in der Stadt umherläuft, um einen Menschen zu suchen, von welchem ich niemals geglaubt hätte, daß er mir nützlich werden könne.«

»Wen?«

»Den dicken Maler, welcher die Zaunlatten abbrach.«

»Schneffke? Was soll er?«

»Zu Ihnen kommen. Da habe ich wirklich vergessen, Ihnen sogleich die Hauptsache mitzutheilen. Man will sich nämlich bei Ihnen ein Rendez-vous geben. Ich muß bitten, die Schuld nicht auf mich zu werfen. Ihr Herr Bruder ist es, der dieses Arrangement entworfen hat.«

»Wer soll kommen?«

»Er, ich, Schneeberg, Schneffke und die Damen Nanon und Madelon von Schloß Ortry.«

»Eine wahre Völkerversammlung! Zu welchem Zwecke?«

»Die eigentliche Veranlassung bietet meine Person. Ich muß annehmen, daß Ihnen meine eigentlichen Verhältnisse unbekannt sind, gnädiges Fräulein.«

»Ich weiß, daß Sie Deep-hill heißen und Banquier in den Vereinigten-Staaten sind.«

»Deep-hill ist die wirkliche Uebersetzung meines französischen Namens. Eigentlich nenne ich mich Baron Guston de Bas-Montagne. Ich vermählte mich mit einer Deutschen, welche mich während meiner Abwesenheit verließ und die beiden Kinder, zwei herzige kleine Mädchen, mit sich nahm. Ich habe lange, lange Jahre nach ihr gesucht, sie aber nicht gefunden. Heute nun erfahre ich, daß sie gestorben sei, daß aber die beiden Mädchen noch leben.«

Sie hatte ihm mit Theilnahme zugehört und fragte nun:

»Wer brachte Ihnen diese Nachricht?«

»Ihr Herr Bruder.«

»Von wem mag er das haben?«

»Von Schneeberg oder Schneffke.«

»Wunderbar! Ich gönne es Ihnen von ganzem Herzen, das Glück, die Kinder noch am Leben zu wissen; aber man muß da sehr vorsichtig sein. Sind Beweise vorhanden?«

»Man will sie mir bringen.«

»Und wo sind die Kinder?«

»Jetzt in Ortry.«

»Was? Wie? In Ortry?«

»Ja. Der Herr Doctor Müller gab mir die Versicherung.«

»Wer mag das sein?«

»O, wenn Sie es hören, werden Sie sich wohl förmlich bestürzt fühlen!«

»Ist es denn gar so schrecklich?« fragte sie lächelnd.

»Schrecklich nicht, aber - ahnen Sie denn nichts?«

»Wie könnte ich ahnen? Ich bin in Ortry nicht bekannt.«

»Aber grad die beiden Betreffenden kennen Sie.«

»Wohl kaum.«

»Ganz gewiß sogar! Bitte, gnädiges Fräulein, denken Sie nach. Zwei Schwestern - auf Ortry jetzt!

Sie schüttelte langsam den Kopf.

»Wie alt?« fragte sie dann.

»Achtzehn.«

Da hob sie den Kopf schnell empor. Glühende Röthe bedeckte ihr Gesicht. Es war, als ob sie erschrocken sei.

»Doch nicht - etwa - Nanon?« fragte sie.

»Grad diese!«

»Und Madelon?«

»Ja.«

»Das sind Ihre Töchter?«

»Man will es mir beweisen!«

Sie war außerordentlich bewegt. Sie trat an das Fenster und blickte stumm hinaus. Er sah, wie ihr Busen auf- und niederwogte und das gab ihm einen Stich in das Herz. Er sah sehr jung aus. Er war auch eigentlich nicht alt; er hatte nur früh geheirathet. Er hatte gehofft, das Herz dieser Miß de Lissa zu gewinnen, und aber nun -? Schämte sie sich, dem Vater so großer Töchter, von denen sie die eine sogar Freundin nannte, ihre Theilnahme gezeigt zu haben?


Ende der fünfundneunzigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Die Liebe des Ulanen

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