Der Weg zum Glück - Teil 33

Lieferung 33

Karl May

12. März 1887

Der Weg zum Glück.

Vom Verfasser des »Waldröschen«, »Verlorner Sohn«, »Deutsche Helden« etc.


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- lich, daß sie es vergaß, sich auch noch weiter zu verleugnen. Der Finkenheiner fuhr von seinem Baumstumpfe empor.

»Was!« schrie er auf. »Von wem redest da? Wer, wer ist eine Rabenmuttern?«

»Ich.«

»Du? Du? Warum?«

»Da, schau her, wannsts wissen willst!«

Sie trat ganz nahe zu ihm heran, nahm das Tuch vom Kopfe und hielt ihr Gesicht vor das seinige.

»Schau mich an! Kennst dies Gesichten noch?«

Er erkannte ihre Züge trotz der Dunkelheit und trotz der Länge der Zeit, in welcher er seine Frau nicht gesehen hatte. Er taumelte förmlich zurück.

»Anna!«

Das klang fast wie Entsetzen.

»Heiner!« antwortete sie.

Sie sank vor ihm in die Knie.

Dabei sank sie vor ihm in die Kniee und blieb in dieser Stellung vor ihm liegen.

Er rang mit sich selbst. Er wollte sprechen und brachte doch kein Wort, keinen Laut hervor. Sie hörte es, daß er förmlich nach Luft schnappte.

»Heiner!« flehte sie weinend. »Tritt mich mit den Füßen! Spuck mich an! Schlag mich mit dera Faust! Ich will Dirs gar noch danken, denn ich habs verdient. Aberst sei nur nicht so still! Das macht mir Angst. Was hast? Was schnaufst? Kannst keinen Athem erhalten? Sag ein Wort, sag eins!«

Er ließ einige unarticulirte Laute hören. Sie sah, daß er taumelte. Da sprang sie auf und legte den Arm um ihn, um ihn zu stützen.

»Heiner, setz Dich nieder, sonst fallst mir um!«

»An - na, An - na!« kam es beinahe röchelnd hervor. »Du - Du - Du selberst bists!«

»Ja, ja, ich! Aberst bleib stark, bleib ruhig! Mach Alles mit mir, Alles, nur fall mir nicht um!«

»Mein Gott - - und mein Herr! Die Anna ist da, die Anna!«

Er brach, trotzdem sie ihn hielt, langsam zusammen nieder in's Moos, legte den Arm auf den Baumstumpf und den Kopf auf den Arm und begann, wahrhaft herzzerbrechend zu weinen. Sie kniete neben ihm nieder und betete inbrünstig:

»Mein Vatern im Himmeln, gieb ihm, daß ers ertragen mag! Laß mich sterben, gleich hier auf der Stell, aberst gieb, daß es ihm nix schaden mag!«

Dann lehnte sie die gesenkte Stirn neben Heiners Kopf auf den Baumstumpf und weinte mit.

Beide waren so von ihrem Schmerz gefangen, daß sie für nichts Anderes Augen und Ohren hatten. Sie hörten nicht ein leises, leises Räuspern, das ganz in der Nähe erklang. Es war ganz so, wie wenn Einer eine tiefe, tiefe


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Rührung kaum überwinden kann und dabei unvorsichtig laut einmal kräftig durch die Nase athmet.

So knieten die Beiden eine ganze Weile neben einander. Endlich erhob die Frau den Kopf.

»Heiner,« bat sie, »kannst noch nicht sprechen? Sag mir ein Wort! Nur ein ganz kleines!«

Da erhob auch er den Kopf.

»Sei still!« antwortete er. »Ich hab glaubt, daß dera Schlag mich trifft, aber der liebe Herrgott hat mich dafür behütet. Jetzt wart einen Augenblick!«

Grad hier an diesem Baumstumpf pflegte er zu sitzen. Er war ein sparsamer Arbeiter. Selbst den kleinsten Holzabfall pflegte er aufzuheben und mit nach Hause zu nehmen, wenn er ein Bündel zusammen hatte. Dabei pflegte er das harzige Holz von dem andern zu scheiden. Für das Erstere erhielt er einige Pfennige, wenn er es verkaufte. Er wußte, daß er solches Holz hier liegen hatte. Er griff hin und nahm ein Stück davon, dann holte er ein Streichholz aus der Tasche. Es flammte auf und er brannte das harzige Stück an. Er leuchtete mit demselben der Frau in das Gesicht. Sie ließ es sich gefallen. Sie bewegte sich nicht und hielt den Blick angstvoll auf sein Gesicht gerichtet, welches sie beim Scheine der kleinen Flamme auch erkennen konnte. Nun blies er das Licht aus, warf den Spahn weg und sagte:

»Ja, Du bists, Du bists! Jetzt seh ichs deutlich. An dera Stimm hätt ich Dich nicht derkannt. Bleich bist, bleich wie dera Tod. Hast wohl rechte Aengsten vor mir?«

»Ja, große Angst.«

»Das brauchst nicht, Anna. Ich hab Dir doch vorhin sagt, daßt Dich nicht zu fürchten brauchst!«

»Da hast denkt, die Anna ist weit fort, und ich bin eine Fremde. Nun aberst bin ich selbern da!«

»Das machts nicht anderst.«

»So willst wirklich nicht auf mich zanken?«

»Nein. Komm, steh auf, Anna!«

Er ergriff sie mit seiner einen Hand.

»Nein!« sagte sie. »Ich werd hier vor Dir knieen, bist mir sagst, daßt mir vergeben hast!«

»Das hab ich ja bereits sagt. Ich hab keinen Groll mehr gegen Dich im Herzen. Steh also auf aus den Knieen und setz Dich neben mich her!«

Ehe er es verhindern konnte, hatte sie abermals seine Hand ergriffen. Sie hielt sie so fest, daß er sie ihr nicht entziehen konnte und bedeckte sie mit Küssen.

»Heiner, Heiner!« schluchzte sie. »Ich bin nimmer werth, daß die lieben Sterne vom Himmel auf mich niedern scheinen. Und grad weilst nicht zürnst, weilst so gut bist und so barmherzig, darum steht meine Schuld viel größern als bisher vor mir. Jetzt, wannt ich ungeschehen machen könnt, was ich Dir


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than hab, ich gäb mein Leben hin, ja, mit tausend Freuden gäb ichs hin, hier auf dera Stellen!«

»Ungeschehen kannsts nicht mehr machen, Anna. Also kannst nix weitern thun, als es vergessen.«

»Vergessen? Das ist unmöglich!«

»Warum? Schau, ich habs auch vergessen!«

»Vergeben hasts, Du Großmüthiger, aber vergessen kannsts nicht. Daß Einer um sein ganzes Lebensglück, um sein Vermögen und um seine Gesundheiten bracht worden ist, das kann bei ihm nicht in Vergessenheit gerathen.«

»Wannsts so meinst, so hast freilich recht. Aberst man braucht doch nicht mehr mit Zorn daran zu denken. Schau, ich hab viel gelitten, aberst Du hast noch mehr erduldet. Du hast einen Wurm in Dir getragen, welcher immer nagt und fressen hat, und ein Feuern, das nie verlöscht ist. Ich hab nachhero doch noch Freuden habt an denen Kindern. Du aberst hast keine Freud finden können niemals nicht.«

»O Gott, da hast Du Recht, sehr Recht. Ich bin oft, sehr oft nahe dran gewest, mir das Leben zu nehmen. Aberst da ist mir der Gedank an den lieben Gott kommen und an Dich und die Kindern. Euch hab ich noch mal sehen wollt und nachhero wird dera Herrgott ein Einsehen haben und mich sterben lassen, ohne daß ich mich an mir selberst vergreifen muß.«

»Das ist schrecklich! Nein, so darfst nicht denken. Schau, jetzunder denk ich nimmer an das Herzeleid, sondern daran, wie lieb ich Dich habt hab und wie groß das Glück gewest ist, bevor der Claus kommen ist. Ich bin ein Krüppeln, doch glaub ich an den lieben Herrgott, der für den Sperlingen sorgt und für die Blum auf dem Felde. Der wird mich nicht verderben lassen und uns erlauben, das Vergangene zu vergessen und ein neues Leben zu beginnen.«

»Ein neues Leben? Unmöglich!«

»Nix ist unmöglich, wanns der liebe Gott will.«

»Aberst das ist - - ich weiß ja auch gar nicht, was da hast sagen wollen.«

»Ich hab meint, daßt nicht die Frauen von dem Silberbauern worden bist damals.«

»Das freilich.«

»Nun, so bist ja noch die meinige.«

»Heiner!« rief sie auf.

»Odern meinst halt nicht?«

»Wir sind geschieden!«

»Das thut nix. Man kann sich wiedern nehmen.«

»Wie? Was? Ich hör da wohl nicht richtig!«

»Wirsts schon richtig hört haben. Willsts wohl nicht glauben, daß ich Dir so gut gewest bin?«

»Das glaube ich.«

»Oder willsts nicht glauben, daßt Deine Fehlern längst bereut hast?«


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»Gott ist mein Zeuge, wie sehr ich sie bereue und wie sehr ich um ihretwillen gelitten hab.«

»Nun, warum solls da nicht grad so werden können, wies früher mal gewest ist?«

Sie schwieg. Sie starrte im Finstern zu ihm herüber, so daß er ihre Augen förmlich leuchten sah.

»Heiner,« sagte sie, »ich denk, Du hast mir vergeben!«

»Ja, freilich!«

»Warum sinnst dann auf eine solche Rach?«

»Auf eine Rach? Das fallt mir nicht ein!«

»O doch! Denn nur eine Rach kanns sein, wegen der Du so zu mir redest.«

»Das begreif ich nicht. Willsts mir erklären?«

»Du willst so thun, als ob ich noch das größte Glück haben könnt, ein Glück, das so groß ist, daß ich nicht im Traum und nicht im Wahnsinn daran denken könnt, und nachhero, wann ichs glaub, dann willst mich auslachen und verspotten.«

»Ich Dich auslachen und verspotten? Herrgottsakra! Wanns mir ein Andrer sagen thät, dem wollt ichs wohl zeigen! Ich schlüg ihn in Grund und Boden! Nein, was ich sag, das ist mein heiliger Ernsten.«

»Nein, nein, unmöglich!«

»So! Willst beim Seiltänzern bleiben?«

Sie schwieg.

»Bist etwan seine Frauen?«

»Nein, Gott bewahre!«

»Oder lebst mit ihm, als obt sie wärst?«

»Heiner, ich habe ein einzig Mal nicht an meine Ehr gedacht; seit jener Zeit aberst hats Keinen gegeben, der mich hat anrühren dürfen. Ich bin beim Seiltänzer, weil er mir helfen soll, mich an dem Silberbauern zu rächen. Daß er das kann, davon werd ich Dir noch verzählen. Er will mich zwar zu seiner Frauen haben, aber er wird sich das aus dem Kopf schlagen müssen.«

»So! Also bei ihm willst nicht bleiben. Was aber willst anfangen späterhin?«

»Es wird mir schon ein gutern Gedank kommen oder eine Gelegenheiten, die ich ergreifen kann.«

»Diese Gelegenheiten ist eben jetzt da, und Du mußt sie eben nur schnell dergreifen.«

»Nein, nein! Deine Frauen kann ich nicht sein.«

»So hassest mich?«

»O Himmel! Ich und Dich hassen! Wann ich bei Dir sein dürft, nicht als Frauen, sondern als eine ganz geringe Magd, so wollt ich mir die Händ blutig arbeiten, um Dich zu dernähren und ein freundlich Wort von Dir zu erhalten. Nachhero, wannst mich mal freundlich anschaun thätst, so könnt ich mir gar kein größer Glück mehr denken.«


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»Ist das wahr, Anna?«

»Soll ich schwören?«

»Nein, nein! Ich wills liebern glauben.«

»Schau, Heiner, nachhero, als ich von Dir fort gewest bin, da hab ich erkannt, daß nur Du es gewest bist, den ich lieb habt hatte. Dera Claus hat mich mit Reden trunken macht, und als ich nachhero wiedern nüchtern war, da hab ich erkannt, welch ein Glück ich mir verscherzt hatte. Ich hab Dich betrogen und eine Schand auf mich laden, die niemals nicht von mir herabnommen werden kann.«

»Ich nehm sie herab!«

»Du kannst nicht!«

»O, ich kann! Wannt wiedern meine Frauen bist, so ist ja Alles gut und richtig!«

»Was würden die Leutln sagen?«

»Sie würden das sagen, was ich ihnen vorsag, nämlich es ist damals Alles ein Irrthum gewest. Du bist mir nie untreu worden; ich hab mich irrt, und weil ich Dich beleidigt hab und Dir nicht traut, so bist von mir fortgangen und wir sind schieden worden.«

»Das - das wolltst sagen?« rief sie.

»Ja, Anna, das thu ich gern und gewiß.«

Sie griff sich mit den Händen nach dem Herzen.

»Jetzt, jetzt kommt die richtige Strafen, die ärgste und die schlimmste Strafen, die es nur geben kann,« sagte sie. »Heiner, jetzt möcht ich gleich in die Erd hinein sinken und ganz vergehen und verschwinden vor Scham und vor Reu, daß ich so schlecht an Dir handelt hab. Mir ists ganz so, als könntest mich hier auf dera Stell tödten mit Deiner Barmherzigkeit.«

»Nein, tödten will ich Dich nicht, Anna. Leben sollst bleiben, noch lange leben, für mich und für unsere Kindern.«

»Das wär ein Glück, das ich nicht fassen könnt! Es ist so groß, daß ich nicht mal nur den Anfang davon richtig ausdenken kann.«

»So gar groß ists halt doch wohl nicht. Wer einen Mann bekommt, der für den Tag sich nur zwanzig Pfennige derschnitzt, der braucht nimmer von so einem großen Glück zu reden. Du würdst fast mit hungern und sehr darben müssen. Jetzt aberst haben wir den Schwiegersohn; der backt uns wohl das Brod und für das Andere werden wir wohl selberst sorgen können.«

»Wie gern wollt ich hungern, wann ich nur bei Dir sein könnt! Aberst so voller Vergebung kann doch kein Mensch sein!«

»Anna, ich hab Dir ja bereits sagt, daß ich selberst auch mit schuld gewest bin! Und jetzunder bin ich kein Junger mehr, der die Eifersuchten in dera Taschen stecken hat, sondern ein Alter, der über einen solchen Fehlern nimmer fleischlich denkt. Wannts noch mal mit mir versuchen willst, so soll kein Mensch wagen, die Nasen über uns zu rümpfen.«

Sie kniete noch vor ihm. Eine solche Milde war unerhört. Sie schlang


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die Arme um seine Kniee, preßte das Gesicht an dieselben und weinte - weinte - weinte!

Er legte seine Hand leise auf ihren Kopf und schwieg. Dann, als ihr Schluchzen leiser und leiser geworden war, bis er es nicht mehr hörte, sagte er in mildem Tone:

»Weißt Anna, als ich damals drunten an dera Mühlen im Gras sessen hab und Du auf dera Bank? Da hab ich den Kopf auf Dein Knie legt und Dir sagt, wie seelensgut ich Dir bin.«

Sie holte tief, tief Athem, ohne zu antworten.

»Damals,« fuhr er fort, »damals ist mir mein Herz so weit gewest, als ob die ganze Welt drin Platz haben könnt. Und jetzt, da ich ein alter Kerlen bin mit grauem Haar und nur dem einzigen Arm, da ists mir ganz genau wiedern ebenso.«

»Heiner!« antwortete sie.

»Ja, mir ists, als ob ich Dir jetzunder grad noch mal die Liebesverklärung machen müßt. Nur hast Dich verkehrt hersetzt. Damals hast Ja zu mir sagt, als ich Dich fragt hab, obst meine Frauen werden wolltst. Und jetzt? Was sagst nun dieses Mal?«

»Heiner! Ich kanns nicht fassen!«

»Hasts doch schon faßt, nämlich mich, bei denen Beinen. Willsts nicht festhalten, Anna?«

»Ach, wie gern, wie gern!«

»So thus!«

»Nein. Es ist nicht zu glauben!«

»So will ich Dir was sagen, Anna. Wannst mich partutemang nicht wiedern haben willst, so kann ich Dich nicht zwingen; aberst eine Freuden kannst mir machen.«

»Wenn ich kann, mit tausend Freuden.«

»So geh jetzt mit mir. Ich will Dir unsere Kindern zeigen. Willst sie sehen?«

»Was!« rief sie aus. »Ich soll sie sehen?«

»Ja, freilich!«

»Jetzt? Noch heut am Abend?«

»Willst wohl nicht?«

»Mein Heiland! So eine Freuden, ob ichs auch wohl aushalten kann! Ich glaubs noch nicht.«

»Wirsts schon überstehen,« lächelte er.

»Solln sie aberst auch mich sehen?«

»Natürlich!«

»Nein, nein! Das geht nicht!«

»Warum nicht?«

»Ich - muß mich schämen!«

»Hab ich Dir nicht bereits sagt, daßt dies nicht nöthig hast? Und woher wissens denn, daßt die Muttern bist?«


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»Ja, wannts ihnen nicht sagen willst?«

»Soll ichs verschweigen?«

»Ja. Wannt mir versprichst, daßt nix sagen willst, so will ichs wagen, mitzugehen.«

»Nun gut, so werd ich nix sagen, Anna.«

»Hältst aberst auch Wort?«

»Ich hab mein Wort noch niemals brochen, also werd ich wohl auch jetzt die Wahrheit sagt haben. Gehst also mit?«

»Fast trau ich mich nicht, Ja zu sagen. Schau, es ist mir ganz so, als ob heut der jüngste Tag wär und ich sollt in das Fegefeuern und in die Höllen gehen; da aberst kommt der liebe Heiland herbei, nimmt mich bei dera Hand und führt mich in alle Himmeln hinein, wo die Engeln jubilirn in Ewigkeit!«

»Und mir ists, als ob ich lange, lange Jahre krank gewest wär, und heut bin ich zum ersten Mal aus dem Bett stiegen und sitz am Fenstern und athme die frischen Luft und schau hinaus, da wo die liebe Sonne scheint und tausend Rosen und Nelken und Levkoyen blühen. Komm Anna, gieb mir die Hand! Der Herrgott hat mich und Dich gerächt an dem Silberbauern. Damit hat er sagt, daß die Trennung zu End sein soll, und so wollen wir mit nander heim gehen.«

Er ergriff ihre Hand. Sie entzog sie ihm nicht, aber sie ging noch nicht sogleich mit; sie blieb noch stehen und sagte zu ihm:

»Wegen dem Silberbauern hab ich Dir vorhin das Richtige doch nicht sagt, Heiner.«

»So sags jetzunder!«

»Jetzt kannst wohl wissen, warum ich trotz des Abends im Wald spazieren gangen bin?«

»Ich kanns mir schon denken.«

»Hier, da auf dera Blößen, hab ich zum letzten Mal mit Dir sprochen. Am andern Tag warst krank und ohne Besinnung, und ich ging fort. Heut, als ich nach Hohenwald kam, hab ich gleich sofort hierher mußt. Mein Herz hat mir keine Ruhe lassen. Da bin ich am Bach gangen bis zur Mühlen hin. Da hab ich sessen und nach dem Fenster schaut, weißt, dasjenige, wo -«

»Weiß schon, Anna!«

»Es war Licht in dera Stuben.«

»Der Herr Ludewigen wohnt darinnen, ein feiner, vornehmer und gelehrter Herr, der ein paar Tagen hier bleiben will.«

»Als ich die Mühlen sah und das Fenstern, da ists mir gewest, als ob mir das Blut nur immer so aus dem Herzen tropft; ich hab weint, ach so sehr weint! Dann ist Einer schnell laufen kommen, grad auf mich zu. Ich bin aufisprungen, sonst wär er über mich wegstürzt. Ich hab ihn angeschaut und er mich. Das Licht ist aus dem Fenstern grad in sein Gesicht und in meins kommen, und wir haben uns derkannt. Der Silberbauern wars. Er ist über mich so derschrocken, daß er zur Seit sprungen ist vor Entsetzen, den


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Damm hinab und grad in's Rad hinein. So ists kommen und so ists gewest.«

»So, also so! Siehst nun ein, daß es Gottes Fügung war? Deinetwegen hat er mich in's Rad hinabworfen, daß ich den Arm verlieren mußt, und grad Deinetwegen ist er heut hinabstürzt und hat auch grad denselbigen Arm brochen. Gott ist der Gerechte. Er läßt nicht mit sich spotten. Aug um Aug und Zahn um Zahn. Seine Mühlen mahlen langsam, mahlen aberst schrecklich klein. Wolln ihn also immerst vor Augen haben und im Herzen und uns hüten, fernere Sünd zu thun. Und eine Sünd wärs ganz gewiß, wannt denen Kindern nicht ihre Muttern geben wolltst. Komm, und schau sie Dir an!«

Er zog sie mit sich fort und sie folgte ihm ohne abermalige Unterbrechung. Beide waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie gar nicht bemerkten, daß sich hinter ihnen eine hohe, breite Gestalt aus dem Moose erhob. Es war - Herr Ludewig.

Dieser hatte in sein Zimmer zurückkehren wollen, doch als er in den niedrigen Hausflur trat, fühlte er sich - wohl auch mit in Folge der ihm ungewohnten engen räumlichen Verhältnisse - von dem Geschehenen so ergriffen, daß er es vorzog, noch für kurze Zeit im Freien zu bleiben. Er trat also wieder zur Thür heraus.

Da sah er den Finkenheiner, dessen ganze Persönlichkeit ihm bereits vorher höchst interessant vorgekommen war. Die Haltung des Alten war in diesem Augenblicke eine solche, daß sie Ludwigs Aufmerksamkeit fesselte. Der Heiner stand gesenkten Hauptes da, gestikulirte mit seinem einen Arm in der Luft herum und stieg dann in einer Weise den Damm empor, als ob er irgend etwas sehr Geheimnißvolles vor habe. Ludwig folgte ihm langsam über den Damm hin bis zum Wege, der in den Wald führte.

Was wollte der Heiner jetzt, bei dieser Dunkelheit, im Forste? Jedenfalls war es kein gewöhnlicher Grund, welcher ihn veranlaßte, diesen Weg einzuschlagen. Ludwig folgte ihm also. Der Weg war so weich, daß man die Schritte nicht leicht hören konnte; er konnte sich also ganz nahe hinter dem Heiner halten.

Dieser bog dann links vom Wege ab und in den Wald hinein. Auch jetzt folgte ihm Ludwig. Es war hier freilich schwieriger, fortzukommen, und so kam es, daß er ihn bald verlor. Doch ging er trotzdem noch eine Strecke in gerader Richtung weiter und kam in Folge dessen auf die Blöße. Da hörte er die ersten Worte, welche zwischen Heiner und Anna gewechselt wurden. Er ging näher, neugierig, was da für ein Gespräch geführt werde. Es konnten Wilddiebe, Schmuggler oder sonst Leute sein, welche Ursache hatten, ihr Wesen im Dunkeln zu treiben. Als er unbemerkt so nahe gekommen war, daß er jedes Wort deutlich verstehen konnte, ließ er sich hinter ihnen in das Moos nieder und horchte. Auf diese Weise wurde er Zeuge der ganzen ergreifenden Unterredung und lernte einen Blick in die Verhältnisse des armen Löffelmachers thun. Zugleich aber fiel dabei ein düsteres Streiflicht auf den Silberbauer,


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mit dem er heute gefahren war und der auf ihn bereits einen sehr abstoßenden Eindruck gemacht hatte.

Als dann der Heiner den Kienspan anbrannte, konnte Ludwig die Züge der Frau ganz deutlich erkennen. Sie mußte früher allerdings schön gewesen sein, ja, die einstige Schönheit war noch nicht verschwunden. Die Frau mochte nicht viel über vierzig Jahre alt sein, und wenn die Folgen der bisherigen Leiden und Entbehrungen überstanden sein würden, so war zu erwarten, daß sie einen höchst stattlichen Eindruck machen werde. Der Heiner sah dagegen viel älter aus, als er war. Er hatte weit mehr noch als sie unter den Folgen ihres Fehltrittes gelitten.

Als die Beiden dann aufbrachen, folgte ihnen Ludwig nicht. Er kehrte, erst langsam und vorsichtig zwischen den Bäumen hindurch und dann den bereits beschriebenen Waldweg entlang, ins freie Feld und nach der Mühle zurück.

Der Heiner war mit seiner Anna kaum aus dem Walde heraus getreten, so hörten sie, daß ihnen Jemand entgegen kam.

»Wer mag das sein?« fragte er. »Komm zur Seite.«

Sie wichen einige Schritte seitwärts. Ein Mann wollte an ihnen vorüber. Der Heiner erkannte ihn.

»Sepp! Wurzelsepp!«

»Was? Wer ist da?« fragte der Angeredete, indem er stehen blieb.

»Kennst mich denn nicht gleich an dera Stimmen?«

»Ja, nun freilich. Der Heiner! Dich such ich.«

»Hier?«

»Ja, wo sollst sein, wannt nicht daheim bist und nicht in dera Mühlen. Dich kennt man schon. Du schlafst sogar, wanns Dir einfallt, draußen im Wald auf Deiner Blößen.«

»Ich war auch eben dort.«

»Hab mirs denkt. Aberst, Sappermenten! Bist ja nicht allein! Hör mal, ich glaub gar, Du hast ein Rothkatherl fangt und schaffsts jetzunder heim, damits Deine Mehlwurmern fressen soll!«

»Hasts derrathen. Fangt hab ichs und heimschaffen thu ichs. Ich laß es gar nimmer wiedern fort.«

»So mags nur gut singen und pfeifen!«

»Das wirds gar gern thun.«

»Glaubs aberst nicht.«

»Warum?«

»Den Vogel, den kennt man schon. Der hat keine rechte Stimmen. Da ists gefehlt.«

»Da bist auf dem falschen Weg. Diesen Vogel, den kennst halt freilich nicht.«

»Oho!«

»Ja. Kennen thust ihn wohl, aber sehen hast ihn noch nicht, noch gar niemals nicht.«


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»Da willst mich narren. Wer solls sein, als die Feuerbalzern, die bei Dir wohnt.«

»Die! Denkst also das!«

»Ja, denn eine Andre wirst nicht heimführen.«

»Na, eine Andre ists aberst doch. Und was für Eine!«

»Wohl eine gar Schöne oder Junge?«

»Die Willkommenste, die's nur geben kann.«

»Himmelsapperloten! Da bin ich freilich neubegierig, wers ist. Darf ich sie mir mal anschaun?«

»Wann sie's leiden will, ja.«

»Warum soll sie's nicht leiden? Der Wurzelsepp ist noch ein ganz hübscher Bub, so daß ein Dirndl nur ihre Freuden haben kann, wann ers anschaut.«

Er brachte sein Gesicht nahe an das ihrige.

»Nun, hasts schon kennt?«

»Nein, das ist freilich eine Fremde. Du, Heiner, läufst doch nicht etwan gar auf Freiersfüßen?«

»Grad das ists, worauf ich lauf.«

»So will ich Dich vergratuliren. Nimmst mich doch zum Brautführern?«

»Ja, Dich am Liebsten.«

»Topp?«

»Topp!«

Sie schlugen ein. Der Sepp machte Spaß, dem Heiner aber war es Ernst. Der Letztere fuhr fort:

»Jetzt nun brauchst nicht in den Wald. Gehst liebern mit mir?«

»Nein. Ich geh zur Mühlen, wo ich schlafen will. Ich wollt Dich nur aufsuchen, um Dir zu sagen, wie es mit dem Silberbauern steht. Ich war bereits fort, bin aberst nachher nochmals hin, um zu derfahren, was er zu hoffen hat.«

»Ist der Arzt kommen?«

»Ja. Er hat den Kopf schüttelt.«

»So stehts schlimm?«

»Ja. Von wegen dem Arm, das hätt keine sehr große Sorg gemacht. Es ist kein Blutverlust gewest, und so seltsam der Fall ist, so thät er doch bald heilen. Aberst der Bauern hat auch noch ein Bein an zwei Stellen brochen und eine Rippen dazu. Das macht die Sach schlimm.«

»So kommt er nicht davon, obgleich die Silbermartha ihn wohl gut pflegen wird.«

»Die? Die ist nicht daheim. Es heißt, sie ist vom Vatern fortgangen, doch ists noch nicht zu glauben. Wer weiß, wo's steckt. Morgen komm ich zu Dir hinaus in den Wald, da können wir weitern drüber sprechen. Gute Nacht!«

Er ging, und die Beiden setzten ihren Weg auch fort. Sie gingen, um nicht Neugierigen zu begegnen, nicht durch das Dorf, sondern hinter demselben


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weg. Da begegnete ihnen der Müller, welcher sich still wunderte, daß sein Schwiegervater mit einer fremden Frau ging. Er berichtete, daß er soeben Liesbeth nach Hause begleitet habe.

Als sie die Flachsdörre erreichten, sahen sie, daß droben in der Wohnung des Heiner noch Licht brannte. Die Stube wurde nicht von einem Kienspane erleuchtet, sondern, ganz wie zu Liesbeth's Geburtstag, von der Lampe. Die alte, gute Barbara hatte dafür gesorgt, daß ihre spätere junge Herrin Petroleum im Hause habe.

»Da droben wohnen wir,« sagte er.

»Mein Gott! In dera Flachsbrechen!«

Damals als sie sich noch in der Gegend befand, war das Gebäude noch nicht zum Bewohnen eingerichtet.

»Brauchst keine Sorg zu haben. Es ist nicht gar schlimm da droben. Die Liesbetherl sorgt halt dafür, daß Alles recht hübsch fein und saubern ist. Komm nur gern mit!«

»Ich weiß gar nicht, wie mirs ist. Es treibt mir eine gar große Aengsten aus.«

»Das ist die Freud.«

»Die Freud? Vielleicht ists auch was Andres. Die Kindern können sehr leicht meine Richtern sein, die mich verdammen werden.«

»Wo denkst hin! Ich sag Dir, daß sie gar nicht wissen, daß die Muttern noch lebt.«

»Wer willst nun sagen, daß ich bin?«

»Das weiß ich selbern noch nicht. Gieb mir da einen guten Rath. Wer willst sein?«

»Ja, das mußt bessern wissen als ich.«

»Eine Verwandte von jenseits dera Grenz?«

»Das geht nicht.«

»Warum nicht?«

»Wann ich eine Verwandte bin, so muß ich doch auch bei Euch bleiben als Gast.«

»Das sollst auch!«

»O nein gar! Das geht nicht.«

»Den Grund möcht ich kennen.«

»Nein, nein! Ich bleib im Gasthof.«

»Bei dem Seiltänzern? Ist der Dir liebern als ich und die beiden Kindern?«

»Das fragst auch nicht aus dem Herzen heraus. Du mußt ja einsehen, daß -«

»Nun ja,« unterbrach er sie munter. »Ich sehs schon ein. Also komm heraufi. Das Andre wird sich schon bald finden.«

Er ergriff ihre Hand, die er nicht wieder los ließ, und führte sie ins Haus und die Treppe empor. Er öffnete die Thür. Hanns saß zeichnend am


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Tisch und das Liesbetherl stand im Begriff, den Ofen für morgen früh vorzurichten.

»Der Vatern!« sagte sie, sich umdrehend. »Du warst ja schnell fort. Wo bist gewest?«

»Ich hab einen Gast holt, den ich Euch hier mit bring. Da, schaut ihn Euch an!«

Er schob Anna in die Stube. Ein einziger Blick der Frau zeigte ihr die Armuth der Bewohner, aber auch die Wirthschaftlichkeit des jungen Mädchens. Hanns konnte wegen seiner Schwäche nicht gut vom Stuhl empor; Liesbeth aber trat der Eintretenden entgegen, reichte ihr freundlich die Hand und sagte:

»Schau, das ist schön von Dir, daßt uns aufsuchst. Einen Gast hab ich halt gar zu gern; aberst leidern kommt Niemand zu uns.«

Sie war vor Freude roth geworden. Auf dem Gesicht ihrer Mutter aber wechselte die Röthe mit der Blässe. Die unglückliche und doch so glückliche Frau mußte alle ihre Kraft zusammen nehmen, sich zu beherrschen.

»Ja,« sagte der Heiner. »Du thust doch grad ganz so, als obt sie schon kennen thätst!«

»Der Vatern wird sie schon kennen, und da ists mir halt gar gern willkommen.«

»So hast wohl den Vatern sehr lieb?«

Diese Frage sprach Anna aus. Ihre Stimme zitterte und über ihr Auge legte sich ein feuchter Schleier. Liesbeth horchte ganz eigenthümlich auf, als sie diese Stimme hörte. Ihr Blick nahm einen forschenden Ausdruck an. Sie antwortete:

»Ja freilich hab ich den Vatern lieb. Und das dort ist Hanns, der Brudern. Er ist krank und kann nicht gut aufistehen. Wannt seine Händen haben willst zum Willkommen, so mußt zu ihm gehen.«

Da ging Anna hin, streckte ihm die Hand entgegen und fragte:

»Wirst auch Du mich willkommen heißen?«

Er hatte ihre Hand ergreifen wollen, zog aber die seinige wieder zurück, erröthete, fuhr sich mit der Hand nach dem Herzen, ergriff dann aber hastig ihre Rechte und antwortete:

»Freilich bist herzlich willkommen, denn Dich hab ich gern und sehr lieb.«

Das war die Stimme des Blutes, welche Gottes Stimme ist. Dem Heiner traten rasch die Thränen aus den Augen.

»Ja, habt sie lieb!« sagte er. »Sie ist eine gute und liebe Base aus - aus - aus Steinegg über der Grenz herübern. Wir sind frühern gar sehr gut bekannt mit nandern gewest. Nicht wahr, Bas?«

»Ja,« antwortete Anna.

Sie mußte die Lippen mit Gewalt zusammenpressen, um nicht in lautes Weinen auszubrechen; aber die Thränen stürzten ihr über die Wangen.

Da that Liesbeth einen raschen Schritt auf sie zu, ergriff sie bei der Hand, sah ihr mit einem unbeschreiblichen Blick in das Gesicht und sagte:


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»Du weinst! Dera Vatern weint! Herr mein liebern Gott, ich weiß, warum Ihr weint! Ich weiß, wert bist. Muttern, meine Muttern, meine liebe, liebe, liebe Muttern! Bist wiedern kommen! O meine arme, gute, liebe Muttern Du!«

Sie schlang die Arme um sie. Sie hing an ihrem Halse und weinte und lachte aus thränenden Augen. Der Sohn fuhr vom Stuhle auf.

»Mutter!« rief er. »Haben wir denn noch eine Mutter? Ist sie nicht todt?«

»Nein,« rief Liesbeth. »Sie ist nicht todt. Der Wilhelm hat mir sagt, daß sie noch lebt. Und hier ist sie. Das ist sie. Ich kenne sie. Da drin, da drin im Herzen hats ruft, daß es die Muttern ist, die Muttern, die Muttern!«

Hanns flog hinter dem Tisch hervor, als ob er völlig gesund sei, und auf sie zu.

»Ists wahr? Bists? Bist unsere Muttern?«

»Ja, ja, Ihr guten, lieben, armen Kinder!« schluchzte sie, indem sie vor Wonne und Schmerz in die Kniee brach.

Sogleich knieten die drei Anderen neben ihr. Vater und Mutter, Bruder und Schwester, die Vier hielten sich eng umschlungen und weinten, weinten, weinten.

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Sechstes Capitel.

Die Sirene.

Die Bahnhofsglocke war zum zweiten Male geläutet worden. Von fernher ertönte ein schriller Pfiff der Locomotive, zum Zeichen, daß der erwartete Zug nahe. Ein Aechzen, Stöhnen und schmerzendes Kreischen rollender Räder - der Zug fuhr im Perron ein.

Der Zug hielt. Die Schaffner eilten an die Thüren, um dieselben zu öffnen.

»Station Lindenberg!« ertönte ihr Ruf.

Die Wagen entleerten sich, denn hier wurde auf die hier einmündende Sekundärbahn, welche westwärts in die Berge und an die österreichisch-bayrische Grenze führte, umgestiegen.

Eine junge Dame stand auf dem Perron. Ihr Köpfchen, welches sich nach rechts und links wandte, um besorgt forschend die Aussteigenden zu betrachten, ließ vermuthen, daß sie irgend einen Passagier oder eine Reisende erwarte. Schon schienen alle Ankommenden die Coupées verlassen zu haben, da öffnete sich am hintersten Wagen die Thür, welche unachtsamer Weise von außen wieder zugeworfen war, noch einmal und es stieg eine in ein elegantes Reisegewand gekleidete Dame aus.

Sie war blond, sehr üppig gebaut. Schon beim ersten Blicke auf sie


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mußte man sich sagen, daß sie den besseren, vielleicht sogar den höheren Ständen angehöre. Sie blieb am Coupée stehen und blickte sich forschend um.

Da fiel das Auge der erst erwähnten jungen Dame auf sie.

»Ah, doch, endlich!« sagte die Wartende in erfreutem Tone zu sich selbst und dann eilte sie auf die Andere zu.

Diese sah sie kommen und kam ihr einige Schritte mit ausgestreckten Armen entgegen.

»Milda!« rief sie aus. »Schon glaubte ich, Du seiest verhindert worden.«

»O nein, liebe Asta. Beinahe fühlte ich Sorge. Ich sah so Viele aussteigen, nur Dich nicht. Hast Du mein Telegramm unterwegs erhalten, in welchem ich Dich benachrichtigte, daß ich Dich hier abholen werde? Ich hatte es Bahnhof Brünn zum Ausrufen unter den Passagieren adressirt.«

»Freilich habe ich es erhalten. Der Portier rief so laut: >Baronesse Asta von Zelba aus Wien!< Alle Welt wurde aufmerksam auf mich. Hätte ich es nicht erhalten, so würde ich mich hier nicht so nach Dir umgeblickt haben.«

»So ist es also geglückt, und nun herzlich willkommen, meine liebe, liebe Asta!«

Sie umarmten und küßten sich. Es war ein reizendes Bild, eine höchst interessante Gruppe, welche diese beiden Mädchen boten. Beide jung, schön, sichtlich wohlhabend und hochstehend. Die Eine blond, hoch, voll, eine fast mehr als königliche Gestalt, die Andere ein Wenig kleiner, fein, aber äußerst elegant, brünett und von jener Schönheit, welche zwar nicht im ersten Augenblicke alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, dann aber für immer fesselt.

»Und ists weit, daß Du mir entgegengekommen bist, Milda?« fragte die Blonde.

»Eine ziemliche Strecke. Wir haben volle zwei Stunden zu fahren, bevor wir ankommen. Aber ich wollte Dich gern so bald wie möglich begrüßen.«

»Das ist so reizend, so lieb von Dir. Aber ich habe gar nicht gewußt, daß dieses Schloß Steinegg so weit entfernt von der übrigen Welt gelegen ist.«

»Es liegt in den Bergen, hart an der Grenze, aber wirklich reizend. Ich bin ganz glücklich darüber, daß Vater es gekauft hat.«

»Und wann geht der Zug?«

»Wir haben eine volle Stunde zu warten.«

»Dann also hinein in den Wartesalon!«

Einer der Schaffner hatte indessen ihre Effecten aus dem Coupée genommen.

»Wartezimmer erster Classe!« befahl sie.

Er trug die Sachen hinein und erhielt ein so reichliches Trinkgeld, daß er ihr ein Honneur machte, als ob er einen sehr hohen Offizier oder eine Prinzessin vor sich habe.

Die beiden Freundinnen setzten sich an einen der wenigen Tische. Lindenberg war keine große Station. Das Bahnhofsgebäude war klein und so faßte das Wartezimmer erster Classe nur wenige Personen. Da viele der eben


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Ausgestiegenen auf den Zug der Sekundärbahn warteten, und Andere, welche mit demselben Zuge fahren wollten, sich auch nach und nach auf dem Bahnhofe einstellten, so waren die Tische sehr bald so besetzt, daß nur eine kleine Anzahl von Stühlen noch frei stand.

»Also Du findest Schloß Steinegg hübsch?« fragte Asta. »Das freut mich. Ich hatte Sorge, daß Du Dich enttäuscht fühlen könntest.«

»Das gar nicht. Steinegg ist nicht nur hübsch, sondern geradezu reizend. Es liegt hoch oben auf dem Felsen, weißt Du, so recht wie eine frühere, alte romantische Ritterburg. Und unten am Fuße des Berges breitet sich zwischen Waldesgrün das Städtchen aus, schmuck und sauber, wie eine Perle zwischen lauter Smaragden.«

»Du wirst ja förmlich poetisch!«

»Ich bin geradezu begeistert von unserer neuen Besitzung. Schade, daß Vater erst so spät kommen kann!«

»Leider! Es ist nicht immer bequem, eine solche Hofcharge zu bekleiden. Uebrigens hat er sich doch wegen Deiner Abwesenheit zuweilen einsam gefühlt, und ich habe meiner Freundespflicht genügt und Deine Stelle zu vertreten gesucht.«

»Dafür muß ich Dir großen Dank wissen, zumal Vater jetzt weniger als früher der Mann ist, mit welchem man die Einsamkeit gern theilen mag.«

»Ja, weißt Du, in aller Aufrichtigkeit, er ist doch ein ziemlicher Brummbär!«

»Brummbär wohl nicht, aber schwermüthig. Es muß irgend ein Kummer an seinem Frohsinn nagen. Ich habe mich vergeblich bemüht, zu entdecken, was sein Gemüth beschwert. Ich habe bei ihm in Wien wirklich nicht behaupten können, daß ich die Freuden der Residenz genießen durfte. Ich bin vielmehr eine Einsiedlerin gewesen.«

»Und jetzt wieder!«

»O nein. Es giebt im Orte einige Personen, mit denen ich gern verkehre.«

»Im Orte? Also in dem kleinen Neste Steinegg?«

»Ja.«

»Du scherzest. Eine Baronesse von Alberg kann sich doch nicht an irgend eine Bewohnerin einer solchen winzigen Provinzialstadt anschließen!«

Es war ein hochmüthiger, beinahe harter, abstoßender Zug, welcher der Schönheit ihres reizenden Gesichtes in diesem Augenblicke Eintrag that. Ihre Freundin bemerkte es und antwortete mit einiger Reserve:

»Nun, von einem förmlichen oder wohl gar innigen Anschließen habe ich doch nicht gesprochen. Es ist so zu sagen eine Art Höflichkeitsverkehr, und die Ansprüche, welche man bei einem solchen macht, sind ja nicht unschwer zu befriedigen.«

»Ja, Du bist freilich immer leicht zu befriedigen gewesen. Das ist wahr!«


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Milda sah über diese Bemerkung, welche einen Vorwurf enthielt, hinweg und antwortete:

»Du kannst Dir ja denken, daß ich zu einem wirklich geselligen Verkehr ja gar keine Zeit habe. Die umfangreiche Einrichtung eines Schlosses zu beaufsichtigen, das ist eine Anstrengung, welche Einem wenig Ruhe und Muße läßt. Darum freue ich mich Deiner Ankunft. Du wirst mich unterstützen und Dein bekannter, vorzüglicher Geschmack wird alle Lücken ergänzen, welche ich an mir so zu beklagen habe.«

»Ja, dazu bin ich sehr gern bereit. Freilich der Wirthschaft werden wir uns nicht ausschließlich widmen können. Es giebt noch Anderes, was unser volles Interesse in Anspruch nehmen wird.«

»Anderes?«

»Ja, und zwar höchst Interessantes.«

»Was könnte das sein?«

»Etwas, was Du niemals errathen würdest.«

»So will ich lieber gar nicht rathen und Dich also bitten, es mir gleich mitzutheilen.«

»Ja, ich brenne vor Begierde, es Dir zu sagen. Ich werde nicht der einzige Besuch sein, welchen Du auf Schloß Steinegg empfängst.«

Milda machte nicht ein Gesicht, als ob sie sich über diese Mittheilung erfreut fühle.

»Noch anderen Besuch?« fragte sie.

»Ja. Du scheinst nicht davon erbaut zu sein?«

»Ich weiß ja nicht, wen Du meinst.«

»Nun, ich habe Dir ja gesagt, daß es sich um etwas sehr Interessantes handelt. Ah!«

Der letztere Ausruf war mit ganz eigenartiger Betonung ausgesprochen, etwa so, wie Einer, dem etwas Unangenehmes widerfährt, >Nanu!< sagen würde. Er galt einer Person, welche soeben eingetreten war, sich im Zimmer umgesehen hatte und nun langsam auf den Tisch, an welchem die beiden Mädchen saßen, zugeschritten kam.

»Ich glaube gar, dieser Mensch will sich hieher zu uns setzen!«

»Er hätte ein Recht dazu. Dieses Local ist ja ein öffentliches,« meinte Milda in versöhnlichem Tone.

»Was nennst Du öffentlich! Es muß selbst in größter Oeffentlichkeit, und da gerade erst recht, darauf gesehen werden, daß ein jeder die Würde seines Standes zu wahren vermag. Ah, wirklich, der Mensch wagt es, der Strolch!«

Der, von welchem sie sprach, trug kurze Hosen, so daß seine Kniee nackt hervorblickten, Wadenstrümpfe und derbe, rindslederne Bergschuhe. In seinem breiten, wollenen Gürtel steckte eine kurze Tabakspfeife. Aus der Tasche seiner Weste hing eine dünne, messingene Uhrkette. Sein Halstuch war von Baumwolle und sehr leger gebunden. Der breite Kragen des groben Hemdes war weder gestärkt, noch geplättet. Sein Hut war alt und zerknillt und der Stock,


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welchen er in der Hand hatte, schien einfach im Walde abgeschnitten worden zu sein. Sein Gesicht war - schön, männlich schön, scharf und kühn gezeichnet, und gewisse Parthieen desselben ließen vermuthen, daß es noch vor kurzer Zeit sehr wetterbraun gewesen sei.

Dieser junge Mann war kein Anderer als - der Krikelanton. Er trug seine alte, ärmliche Gebirgstracht.

»Grüß Gott!« sagte er. »Mit Verlaubnissen, meine Damen!«

Milda nickte leise; Asta aber that, als ob sie ihn weder gesehen noch seinen Gruß gehört habe.

»Gehens mal ein Bierl her!« sagte er zu dem Kellner, welcher soeben vorüber ging.

Der dienstbare Geist brachte das Verlangte, und der Krikelanton zog ein kleines, altes Beutelchen aus der Tasche und suchte die nöthige Anzahl einzelner Kupferkreuzer aus demselben hervor.

»Kellner,« sagte Asta, »nicht wahr, hier ist der Wartesalon erster Classe?«

Ja, meine Dame.«

»Dürfen Passagiere anderer Classen hier verkehren?«

»Verkehren? Ja.«

»Ich denke, das ist untersagt!«

»Nein, nämlich der nothwendige Verkehr. Es kann doch vorkommen, daß ein Passagier niederer Classe mit einem höherer Classe zu sprechen hat.«

»Davon spreche ich nicht. Ich frage, ob ein Passagier niederer Classe hier Platz nehmen und sein Bier verzehren darf grad wie Einer, welcher für erste Classe bezahlt.«

»Nein.«

»Nun, dann sorgen Sie schleunigst dafür, daß dieser Mann hier sich dahin plazirt, wohin er gehört.«

Der Anton that, als ob ihm dies gar nicht gelte. Er setzte das Glas an den Mund und that einen kräftigen, vergnügten Schluck aus demselben, setzte es wieder nieder und schnalzte mit der Zunge wie Einer, dem es sehr gut geschmeckt hat.

»Haben Sie es, gehört?« fragte der Kellner.

»Was?«

»Sie sollen dahin gehen, wohin Sie gehören.«

»Da bin ich bereits schon.«

»So? Wohin gehören Sie?«

»Hierher auf dem Bahnhofen.«

»Sie befinden sich aber gegenwärtig im Wartesalon der ersten Classe!«

»So? Das ist halt schon richtig. Da will ich ja auch sein.«

»Ach so!« dehnte der Kellner. »Sie wollen erster Classe fahren, Sie etwa?«

»Ja. Habens vielleichten was dagegen?«

»Mit Ihren einzelnen Kreuzern!«


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Da blitzte der Anton ihn aus seinen dunklen Augen an und fragte ihn:

»Hörens mal, Sie guts Gschnappsel, wer sinds dann eigentlich, daß mir in dieser Weisen kommen?«

»Ich bin der Kellner hier. Verstanden!«

»Na, da sinds auch was rechts! So ein Bierl einschenken und herumitragen und den Frack schwenken und mit dera Servietten wedeln, das kann halt ein jeder dumme Jungen. Ich will nicht sagen, daß Sie auch einer sind, mich abern lassens aus, sonst fang ich auch an zu wedeln, aberst halt nicht mit dera Servietten!«

Er hatte das so laut gesagt, daß man es durch das ganze Zimmer hören konnte. Die Herrschaften wurden aufmerksam auf ihn. Der Kellner warf sich in Positur und antwortete:

»Was, auch noch grob werden wollen Sie! Das fehlte noch; hier im Wartesaale erster Classe. Ich fordere Sie hiermit auf, das Zimmer zu verlassen.«

»Du armes Männerl, Du hättst das Geschicken, mich aufzufordern! Du bist ein dienstbarer Geisten. Wann ich außigehen soll, so muß es mir ein ganz Anderer sagen als Du bist.«

»Gut! Der Andere soll sogleich kommen!«

Er ging, und der Anton nahm so ruhig und gleichmüthig einen zweiten Schluck Bier, als ob nicht das Geringste vorgekommen sei. Jetzt kam der Wirth, an seiner Seite der Kellner.

»Da sitzt er,« sagte der Letztere.

Kein Mensch im Zimmer sprach ein Wort. Alle wollten erfahren, was gesprochen wurde, und wie der arme Gebirgler sich verhalten werde.

»Mein Kellner hat Ihnen befohlen, das Local zu verlassen?« fragte der Wirth.

Der Anton nickte.

»Gesagt hat ers, aberst befohlen hat er mirs nicht, denn er hat mir nix zu befehlen!«

»Er hat es an meiner Stelle gethan!«

»So? Wer sinds dann eigentlich?«

»Der Wirth.«

»Das will ich schon bereits gelten lassen, denn das geht doch ein Bisserl weitern hinaufi: erst dera Kellnern und nachhero dera Wirthen. Dann bin ich neubegierig, wer nun noch kommen wird!«

»Niemand. Ich befehle Ihnen, zu gehen, und Sie haben zu gehorchen!«

»So! Und wenn ich nun nicht gehorch?«

»So lasse ich Sie mit Gewalt hinausbringen!«

»Das könnens versuchen! Ich werds gar gern darauf ankommen lassen.«

»Also Sie gehen nicht freiwillig?«

»Nein!«

»So hole ich Polizei!«


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»Das machens ja, mein scharmanter Herr Wirthen. Die Polizeien wird Ihnen sodann sagen, obs hier jemand hinauswerfen können, der herkommen ist, um mit dera Eisenbahn zu fahren. Für solche Passagiererln sind die Stuben da!«

»Aber die erste Classe nicht für Sie!«

»So! Fahrt Ihr Herr Kellnern etwan erster Classen? Dann, wann nicht, so soll er bei Denen bedienen, die niedriger Classe fahren! Verstanden!«

Die Anwesenden steckten die Köpfe zusammen. Sie waren überzeugt, daß er nicht herein gehöre; aber daß er sich nicht werfen ließ, sicherte ihn ihrer stillen Sympathie. Nur Asta von Zelba sagte in befehlendem Tone zum Wirthe:

»Bitte, beenden Sie diese widerwärtige Scene! Es ist ja ein Skandal!«

»Sofort, gnädiges Fräulein! Ich hole Polizei!«

Er ging und kehrte baldigst mit dem Stationär zurück. Dieser machte ein sehr grimmiges Gesicht, faßte den Anton bei der Schulter und sagte ganz einfach:

»Komm Bursche! Hier bist Du am unrechten Platz!«

Da stand der Anton langsam auf. Schon glaubten die Anwesenden, daß er dem Polizisten folgen werde; aber er wirbelte nur die Spitzen seines prächtigen Schnurrbartes in die Luft und sagte:

»Hörens mal, zunächst verbitt ich mir das Du! Ich glaub nicht, daß ich mit Ihnen oder Sie mit mir die Schweinen gehütet haben! Und das Wort Burschen, das könnens meinetwegen anwenden, wanns mal mit sich selberst reden! Und wo ich am richtigen oder am falschen Platzen bin, das muß ich am Allernbesten wissen. Ich bin höflich hereinikommen, hab grüßt und um Erlaubnissen beten, mich hierher setzen zu dürfen. Weiterst hab ich nix zu thun, und weiterst hab ich auch nix than. Ich hab auch mein Bierl zahlt, und nun möcht ich doch fast wissen, warum ich hier nicht sitzen bleiben darf!«

»Weil Sie nicht hier herein gehören!«

»So? Wer sagt das?«

»Ich. Oder fahren Sie vielleicht erster Klasse?«

»Ja.«

»So - o - o - o - o! Das glaube ich nicht. Sie sehen gar nicht nach erster Classe aus!«

»Na, nach welchern sehens dann wohl Sie aus?«

»Werden Sie nicht grob!«

»Ach, aberst Sie haben wohl das Recht, mit denen Passagieren erster Classen grob zu sein? Da werd ich mich doch mal bei dera vorgesetzten Behörden derkundigen. Wann Einer sein Geldl zahlt wie ein jeder Andrer und nix than hat, gar nix, und muß sich vom Kellnern, vom Wirthen und sodann auch noch von dera Polizeien verinjuriren lassen, das ist mir schon die rechte Art und Weisen. Da werd ich doch mal gleich beim Ministeri anfragen. Verstanden!«


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»Sie haben nicht zu räsonniren. Zeigen Sie mir Ihr Billet erster Klasse!«

»Das hab ich noch nicht.«

»So gehen Sie eben fort! Hier dürfen nur solche Leute verkehren, welche sich durch den Besitz des Billets legitimiren können.«

»Wann kein Billetenschaltern offen ist, so kann ich mir keins kaufen. Und nun seins doch mal so gut, und fragens die andern Herrschafterln nach denen Billeten! Gar Mancher, der gut hier herein gehört, wird sich noch keins kauft haben.«

»Das ist wahr!« ließ sich ein Herr hören.

»So sagen Sie, wer Sie sind?« fragte der Polizist. »Ich bin dera Anton Warschauer geheißen.« 

»Ach, etwa gar der Krikelanton?« fragte der Wirth.

»Ja.«

»So, also der Wilddieb.«

»Was? Wilddieb sagst? Na da werd ich Dir sogleich einen Gamsbock schießen, dent heimitragen magst!«

Er holte aus und gab dem Wirth eine Ohrfeige, daß der Getroffene sofort niederstürzte. Da sprang der Polizist auf den Anton ein, faßte ihm beim Arme und herrschte ihn an:

»Mensch, Sie vergreifen sich an dem Wirth! Jetzt sind Sie mein Arrestant!«

»So? Dann verarretiren Sie vorher den Wirthen, der mich beleidigt hat!«

»Was ich thun werde, das haben Sie mir nicht zu befehlen. Sie sind ein Ruhestörer und renitenter Mensch. Sie müssen bestraft werden. Kommen Sie! Vorwärts marsch!«

Da trat der Herr herbei, welcher bereits vorhin gesprochen hatte, und sagte zum Polizisten:

»Sie haben nicht das mindeste Recht, diesen Herrn zu arretiren. Er hat sich ganz anständig betragen. Er ist provocirt worden von einer Dame, welche selbst noch nicht bewiesen hat, daß sie sich im Besitze eines Billetes erster Classe befindet. Daß er dem Wirthe eine Ohrfeige gegeben hat, ist kein Grund zur Arretur. Der Wirth hat ihn geschimpft, und ich an seiner Stelle hätte ebenso mit einer Ohrfeige geantwortet. Ihr Verhalten ist auch nicht correct. Sie sind über Ihre Befugnisse hinausgegangen; das muß ich ernstlich rügen!«

»So!« meinte der Polizist kleinlaut. »Wer sind Sie denn, mein Herr?«

»Der!«

Er zog eine große, glänzende Medaille aus der Tasche und zeigte sie ihm.

»Herrgott! Verzeihung, allergnädigst - - -«

»Still! Entfernen Sie sich!«


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Der Polizist ging; der Kellner verschwand, und der Wirth trug in aller Stille seine Ohrfeige hinaus. Der Anton aber sagte zu dem Fremden:

»Habens auch von Herzen Dank, gnädiger Herr! Es gefreut mich halt sehr, daß doch Einer hier wesen ist, der da wußt hat, was Gerechtigkeiten ist!«

Er setzte sich wieder nieder. Es war still in dem Salon. Da ließ sich Asta's Stimme laut hören:

»Bitte, Milda, komm! Vielleicht giebt es draußen anständigere Umgebung als hier!«

Sie stand auf und verschwand hinter der Thür des andern Wartezimmers. Milda von Alberg befand sich sichtlich in größter Verlegenheit. Sie war glühend roth geworden. Sie wollte die Freundin nicht verlassen, aber auch nicht vor so vielen Leuten durch ihre Entfernung constatiren, daß sie die Ansicht Asta's theile. Der Krikelanton sah das. Er kam ihr zu Hilfe:

»Gehens in Gottes Namen mit hinaus, Fräulein,« sagte er. »Ich weiß halt ganz genau, daß Sie nicht so sind wie die Andre. Sie, wanns auf Sie ankommen wär, Sie hätten mich nimmer fortweisen lassen. Dazu ist halt Ihr Gesichterl zu lieb und zu gut. Also gehens immer!

»Bravo, bravo!« riefen mehrere Stimmen.

Milda erglühte wie eine Rose. Sie blieb noch ein kleines Weilchen sitzen und entfernte sich dann.

Draußen im Wartezimmer zweiter Classe saß ihre Freundin. »Nun, kommst Du endlich?« fragte diese in zürnendem Tone. »Das scheint doch beinahe, als ob Du mich verleugnen wolltest, als ob Du Dich meiner schämtest.«

»Was denkst Du! Ich folgte nicht sofort, um den Affront nicht zu vergrößern.«

»Affront? Wer hat ihn verursacht? Ich oder dieses Subject, welches uns in dieser Weise blamirte?«

»Bitte; Asta, regen wir uns nicht weiter auf; freuen wir uns vielmehr, daß wir einander wieder haben! Ich bitte Dich!«

Die schöne Blondine zog die Stirne in Falten, zuckte die vollen Schultern, was ihr ein äußerst indignirtes Aussehen gab, und antwortete:

»Nun ja, Du bist immer ein klein Wenig plebejisch gesinnt gewesen. Nimm mirs nicht übel; aber ich gebe es auf, Dich zu ändern. Vergessen wir also dieses so unangenehme Intermezzo, obgleich ich am Allerliebsten wieder umkehren und nach Wien zurückfahren möchte. Ich denke aber an die höchst interessante Bekanntschaft, welche ich bei Dir machen werde.«

»Ich wüßte nicht, wen Du meinen könntest!«

»Nun, aus Schloß und Stadt Steinegg ist es allerdings Niemand. Darauf kannst Du Dich verlassen. Ich glaube nicht, daß es dort eine Person giebt, welcher ich meine Beachtung schenken werde.«

»Ich hoffe doch!«

»Ich? Wem zum Beispiel?«


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»Da ist zum Beispiel eine mir sehr sympathische Dame: Frau Bürgermeister Holberg. Sie ist Wittwe - - -«

»Hm! Eine Bürgermeisterswittwe! Fi donc!«

»Eine sehr gebildete Dame!«

»Dame? Doch bürgerlich?«

»Nun, meinst Du, daß es keine bürgerliche Dame geben könne?«

»Nein, die kann es freilich nicht geben. Eine Dame muß meiner Ansicht nach unbedingt von Adel sein. Also Deine Freundin kann mir nicht imponiren.«

»Das wird sie auf keinen Fall. Ihr ganzes Wesen ist gar nicht aufs Imponiren angelegt. Sie ist eine sehr liebe, stille, bescheidene Seele, welche ihren reichen Schatz an Kenntnissen und Erfahrungen kaum ahnen läßt, weißt Du, so eine tief angelegte Natur, aus welcher man immer neue Schätze empor fördert, sobald sie sich Einem einmal geöffnet hat.«

»Also eine Art Schacht?« spottete Asta.

»Ja,« antwortete Milda, über den Spott hinweggehend, »wirklich ein reicher Schacht.«

»Oder ein Stollen, eine Kohlengrube. Einmal von Weitem werde ich sie mir wohl ansehen; aber nahe kommen werde ich ihr auf keinen Fall. Kohlengruben haben für mich stets etwas Beängstigendes. Ich lasse sie Dir also über, ohne in die geringste Concurrenz mit Dir zu treten. Lieber werde ich mich mit der neuen Bekanntschaft sehr eingehend beschäftigen.«

»So sage mir doch endlich, wen Du meinst!«

»Es wird Dich außerordentlich überraschen, es zu vernehmen. Du liebst ja auch die Kunst.«

»Also sprichst Du von einem Künstler oder von einer Künstlerin?«

»Von Einem, nicht von Einer natürlich.«

»Und den willst Du bei mir kennen lernen?«

»Ja.«

»Auf Schloß Steinegg?«

»Freilich.«

»Da dürftest Du Dich täuschen. Außer eben Frau Bürgermeister Holberg, welche eine angenehme Stimme hat, sehr reizend singt und mit mir zuweilen musicirt, giebt es auf und in Steinegg keine Person, welcher ich den Rang eines Künstlers zusprechen möchte.«

»Schon wieder diese Frau Bürgermeisterin! Ich spreche aber ja von gar keiner sich in Steinegg befindenden Person, sondern von einem Herrn, welcher aus Wien kommen wird, sich Dir vorzustellen.«

»Aus Wien? Ein Künstler? Ich weiß wirklich nicht, welcher das sein könnte. Mit welcher Abtheilung der Kunst beschäftigt er sich?«

»Mit dem Gesange.«

»Also ein Sänger? Ich wüßte keinen einzigen Sänger der Hauptstadt, welcher Veranlassung haben könnte, sich mir auf Schloß Steinegg vorzustellen.«


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»Das ist eben das Hochinteressante, daß Du ihn gar nicht kennst!«

»Ach! Also ein Herr Deiner Bekanntschaft?«

»Nein, auch nicht. Ich habe ihn weder gesehen noch gehört; aber ich brenne vor Begierde, ihn kennen zu lernen.«

»Aber, liebste Asta, so begreife ich nicht, aus welchem Grunde er grad zu mir will!«

»Aus dem sehr einfachen und sehr triftigen Grunde, daß Dein Vater ihn zu Dir schickt.«

»Mein Vater?« fragte Milda erstaunt. »Der? Der schickt mir einen Sänger?«

»Ja, meine Liebe!«

»Unglaublich! Mein Vater, welcher mich zwar nicht meiner Ansicht nach, sondern zufolge des Urtheils Anderer fast zu streng, beinahe klösterlich erzogen hat, mein Vater, welcher so unausgesetzt jede männliche Bekanntschaft vor mir fern hielt, sendet mir einen Künstler, einen Sänger nach Steinegg, welches ich, wie er weiß, in solcher Einsamkeit bewohne!«

»So ist es.«

»Du muß Dich irren, vollständig irren!«

»O nein. Er hat mir sogar, bevor ich abreiste, gewisse Instructionen in Beziehung auf diesen jungen Herrn ertheilt.«

»Also jung sogar! Ich begreife nicht!«

»Ich werde es Dir erklären müssen.«

»Natürlich bitte ich Dich sehr darum!«

»Nun, Du kennst doch den Professor der Musik, Weinhold?«

»Freilich. Er war mein Clavier- und Gesangslehrer, eine ausgesprochene Capacität in seinem Fache.«

»Nun, dieser Professor hat eine neue Gesangesgröße entdeckt, einen Tenor, der ohne Gleichen sein soll.«

»Ach! Wo?«

»Das ist Geheimniß, wenigstens konnte ich bisher nichts Gewisses erfahren. Dein Vater weiß es, aber er scheint Discretion versprochen zu haben, denn ich vermochte mit allen meinen Bitten nicht, ihm eine Mittheilung abzulocken.«

»Das klingt ja außerordentlich geheimnißvoll!«

»Ist es auch, ist es auch wirklich. Also besagte Stimme ist entdeckt worden, irgendwo und vor ganz kurzer Zeit. Der Professor hat den Betreffenden mit nach Wien gebracht und ihm im Stillen den ersten Unterricht ertheilt. Der Sänger scheint ein Unicum zu sein, denn nicht nur seine Kehle ist einzig, sondern auch seine übrige Begabung soll eine so brillante sein, daß er in Zeit von wenigen Wochen Fortschritte zu verzeichnen hat, zu welchen bei Anderen Monate und wohl gar noch längere Fristen gehören. Du weißt, daß der Professor eben als Capacität bei den hohen und höchsten Herrschaften Zutritt hat. Auch wird er von ihnen in seinem Hause besucht. Eines Tages steigt die Fürstin Metternich vor seiner Thür aus dem Phaeton, um ihn irgend einer Composition zu interviewen. Sie gelangt, da seine Vorsaalthür zufälliger Weise


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offen steht, in seine Wohnung, ohne klingeln zu müssen. Niemand hat eine Ahnung von ihrer Gegenwart - da hört sie vom Vorzimmer aus eine Stimme - eine männliche, wunderbare Stimme, welche zur Pianobegleitung ein Lied singt. Sie hat noch nie so eine Stimme gehört, sie, welche die Künstler aller Länder und Welten gehört hat. Sie lauscht, sie hört das Lied zu Ende und ist unendlich entzückt und begeistert. Sie öffnet die Thür, ohne anzuklopfen, und überrascht den Professor beim Unterrichte, welchen er seinem neuen Findling giebt. Er muß erzählen, und die Folge ist, daß die neue Stimme zur Soirée der Fürstin befohlen wird. Der Professor weigert sich, er will nicht, aber er muß. Am Abend trägt der neu Entdeckte einige Piéçen vor, natürlich vor höchsten Herrschaften, und erntet einen Beifall, wie er noch gar nicht gehört worden sein soll. Alle Welt will ihn nun hören. Alle Salons sind ihm geöffnet. Eine der allerhöchsten Damen, ich weiß nicht, ob eine der Erzherzoginnen oder gar die kaiserliche Majestät selbst, wünscht auch, ihn zu hören. Er erhält Audienz und singt mit ganz dem gleichen Erfolge. Eine Stimme wie die seinige soll noch gar nie gehört worden sein. Der hohe Herr Gemahl wird herbei gebeten; er hört den Sänger auch und ist für dessen Stimme so begeistert, daß er sich für seine Ausbildung auf das Lebhafteste zu interessiren beginnt. Der von Gott Begnadete soll sich nicht vorzeitig in den Salons verausgaben, sondern er soll studiren, ernsthaft arbeiten, um baldigst zur Vollkommenheit zu gelangen. Dazu aber ist Wien für ihn der Ort nicht. Man würde ihm keine Ruhe gönnen; er müßte singen, singen und immer wieder singen und fänd dabei nicht eine Stunde Zeit zur Ausbildung. Darum muß er fort, und zwar an einen Ort, welchen Niemand kennt, damit er nicht von den Kunstenthusiasten aufgesucht und entführt wird. Man wendet sich an Deinen Vater, und dieser ist ganz entzückt, Schloß Steinegg zur Verfügung stellen zu können.«

»So also ist es, so!«

»Ja. Du begreifst, daß es Deinem Vater ganz bedeutende Chancen macht, sich auf diese Weise den höchsten Herrschaften verbinden zu können. Der unbekannte Sänger ist bereits persona grata und wird es später unbedingt noch mehr werden. Also kannst Du Dich rüsten, ihn so zu empfangen, daß - - - verstehst Du mich?«

»Vollständig!«

»Der Professor kommt auch mit. Es soll auf Schloß Steinegg ganz im Stillen einige Monate lang geübt werden, und dann soll er plötzlich und ganz unvorhergemeldet mit einer bedeutenden Leistung an die Oeffentlichkeit treten. Und nicht blos der Professor allein soll an seiner Ausbildung arbeiten, sondern es sind noch zwei andere Personen dazu ausersehen.«

»Noch zwei Lehrer, welche nach Steinegg kommen?«

»Lehrerinnen!«

»O wehe!«

»Nicht o wehe, sondern ganz das Gegentheil!«

»So wird mein liebes Steinegg ja zur wirklichen Unterrichtsanstalt!«


Ende der dreiunddreißigsten Lieferung - Fortsetzung folgt.



Karl May: Der Weg zum Glück

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